Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

IZ3W/182: Interview mit dem Hiphop-Musiker Yan Gilg über sein Stück "A nos morts"


iz3w - informationszentrum 3. Welt - Ausgabe Nr. 313 - September/Oktober 2009

A nos morts - die vergessenen Befreier


Mit Hiphop-Songs und poetischen Texten, Break-Dance und einer hinreißenden Choreograhie vor historischen Fotos und Filmausschnitten erinnert die zeitgenössische Performance »A nos morts« an die Millionen Soldaten aus den französischen Kolonien, die 1914-18 an vorderster Front für Frankreich gekämpft haben und die im Zweiten Weltkrieg mithalfen, Europa vom Faschismus zu befreien. Heute weitgehend vergessen, erweist ihnen das Projekt »Mémoires Vives« aus den Straßburger Banlieues seinen Respekt, indem es ein bedeutendes, aber verdrängtes Kapitel der Geschichte in moderner Form auf die Bühne bringt.

»Die vergessenen Befreier« (A nos morts). Hiphop-Tanztheater in Erinnerung an die französischen Kolonialsoldaten von Compagnie Mémoires Vives (Straßburg) in französischer Sprache mit deutschen Untertiteln.
Mit Yan Gilg, Farba Mbaye, Maeva Heitz, Sovannak Nam, Ibrahima M'Bodji, Christophe Roser, Yassine Allouache, Mickaël Stoll.
Die Deutschlandpremiere war am 20.9. um 20.00 Uhr im Haus der Berliner Festspiele, Schaperstraße 24, 10719 Berlin, www.berlinerfestspiele.de


»Die Geschichte hat mich eingeholt«
Interview mit dem Hiphop-Musiker Yan Gilg über sein Stück »A nos morts«


Karl Rössel: Die Geschichte der Kolonialsoldaten, der »Tirailleurs«, ist in Frankreich wie in Deutschland nahezu vergessen. Wie seid Ihr auf die Idee gekommen, das Thema als Hiphop-Tanztheater auf die Bühne zu bringen?

Yan Gilg: Man kann sagen, dass mich die Geschichte eingeholt hat. Ich war 35 Jahre alt, als ich in Straßburg dem bekannten marokkanischen Sänger Reda Bouchenak begegnete. Er stammt wie der Hauptdarsteller des Films »Indigènes«, Jamel Debbouze, aus Oujda und erzählte mir damals von den Dreharbeiten des algerischen Regisseurs Rachid Bouchareb zu diesem Film. Wir haben daraufhin einen Song über die »Tirailleurs« geschrieben mit dem Titel »Unbekannte Soldaten«. Er ist auch auf unserer CD zu finden. Bei der Arbeit daran wurde mir aber klar, dass ich von diesem Thema eigentlich überhaupt keine Ahnung hatte. Ich habe dann im Internet unter dem Stichwort »Tirailleurs« gesucht und eine Nacht damit verbracht, alles, was ich fand, auszudrucken. Als mir der enorme Beitrag bewusst wurde, den Kolonialsoldaten für die Befreiung Frankreichs geleistet haben, empfand ich es als unglaublich, dass ich bis dahin nichts davon gehört hatte.

Karl Rössel: Hast Du bei den Recherchen mit HistorikerInnen zusammen gearbeitet?

Yan Gilg: Da ich eher Hiphop-Künstler bin als Theatermensch, hatte ich zunächst nur vor, ein Album zum Thema zu produzieren. Aber dann stieß ich auf Informationen über afrikanische Soldaten im Ersten Weltkrieg und ihre Beteiligung an der Schlacht um den Chemin des Dames 1917, auf Résistance-Kämpfer wie Hady Bah aus Guinea, auf de Gaulles afrikanische Armee im Zweiten Weltkrieg und deren Landung in der Provence. So entstand die Idee zu einem Theaterstück. Dafür brauchte ich allerdings einen breiteren historischen Background. Also habe ich mir zunächst Dokumentarfilme besorgt wie »C'est nous les Africains... Eux aussi ont liberé l'Alsace« von Jean Marie Fawer, »Baroud d'Honneur« von Grégoire Georges-Picot, »La Couleur du Sacrifice« von Mourad Boucif und »Les Oubliers de l'Histoire« von Daniel Kupferstein. Dann habe ich in den Archiven des Verteidigungsministeriums nach historischen Fotos gesucht. Ich war mir sicher, dass sie für sich selbst sprechen, wenn man sie nur öffentlich zeigt. Schließlich habe ich Historiker um Hilfe gebeten wie Pascal Blanchard, Eric Deroo, Nicolas Bancel und Recham Belkacem. So entstand eine künstlerische Arbeit, die wesentlich auf historischen Arbeiten und Dokumenten beruht.

Karl Rössel: Hast Du die Form einer Hiphop-Performance eher aufgrund Deines persönlichen künstlerischen Backgrounds gewählt oder weil sie den musikalischen Vorlieben der dritten Generation von MigrantInnen entspricht, den Nachfahren der »Tirailleurs«?

Yan Gilg: Aus beiden Gründen. Es gibt aber noch einen dritten. Wir sind Hiphop-KünstlerInnen und Hiphop ist unsere Kultur. Aber Hiphop ist eine Musik, die im Exil geboren wurde, die an die Deportation von AfrikanerInnen nach Amerika erinnert und an deren Migration nach Europa. Es ist eine Kultur, die sich aus dem Leid von Bevölkerungsgruppen entwickelt hat, die aus der Dritten Welt stammen. Manchen erscheint Hiphop deshalb als eine minderwertige Kultur, eine Kultur von Fremden, von »Negern«. Wurden Indigene in der Kolonialgeschichte oft mit wilden Tieren verglichen, so wird auch die Kultur ihrer Nachfahren, der Hiphop, oft verächtlich als Musik von »Wilden« dargestellt. Dem wollen wir etwas entgegensetzen, indem wir die Geschichte der MigrantInnen und ihrer Vorfahren mit Hiphop erzählen.

Karl Rössel: MigrantInnen stellen auch die meisten SängerInnen und TänzerInnen in dem Stück.

Yan Gilg: Ja, ich wollte die Kolonialarmee symbolisch auf die Bühne bringen und habe deshalb Darsteller aus Ländern des subsaharischen Afrikas, des arabisch-berberischen Maghrebs und aus Asien gesucht. Daneben sollten unbedingt auch Frauen auftreten. Denn die Rolle, die Frauen etwa in der Résistance oder in den Streitkräften und Waffenfabriken gespielt haben, ist in der von großen weißen Männern geprägten Geschichtsschreibung ebenso vergessen. Aber ich habe nicht ausschließlich mit professionellen SchauspielerInnen gearbeitet. Schließlich bin ich auch Sozialarbeiter und zu meiner Arbeit gehört, talentierten Menschen, die bisher nicht die Möglichkeit hatten, sich künstlerisch auszudrücken, Gelegenheit dazu zu bieten. So sind einige über das Abenteuer »A nos morts« zu Profis geworden.


*


Inhaltsverzeichnis iz3w Nr. 314 - September/Oktober 2009


THEMENSCHWERPUNKT: Alte Zeiten, neue Zeiten - Zentralasien postsowjetisch

Die historische Wende von 1989 ff. und der Siegeszug des kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells haben nirgendwo größere Auswirkungen gehabt als in den Staaten und staatsähnlichen Gebilden, die aus der Sowjetunion hervorgingen. Über Russland und die osteuropäischen Länder ist hierzulande inzwischen einiges Wissen verbreitet. Die zentralasiatischen Länder Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan sind hingegen auf unserer Mental Map weitgehend eine terra incognita geblieben.

Ein Zufall ist das wohl kaum. Zentralasien war nicht nur die Peripherie des zaristischen Russlands, sondern auch der (Ex-)Sowjetunion. Hier herrschte jahrzehntelang der russische Kolonialismus und nach der Oktoberrevolution wurde der dort lebenden Bevölkerung erneut Gesellschafts- und Politikmodelle oktroyiert, die in Russland entstanden waren. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die staatliche Unabhängigkeit stellten die fünf zentralasiatischen Staaten vor enorme Herausforderungen. Nach dem Systemwechsel von 1991 waren es dann westliche Vorstellungen von Demokratisierung und Wirtschaftsliberalismus, die eine glorreiche Zukunft versprachen - und weitgehend fehlschlugen. Unser Themenschwerpunkt fragt nach den vielfältigen Problemen, die die diversen Systemwechsel in Zentralasien hervorbrachten, und die massiv die Gegenwart bestimmen.


INHALTSÜBERSICHT

Schwerpunkt: Alte Zeiten, neue Zeiten
Zentralasien postsowjetisch

Hefteditorial: Wüste Pläne


Politik und Ökonomie

Sri Lanka: "Kriegsende ohne Frieden"
In Sri Lanka wird militärisch aufgerüstet
von Fabian Kröger

Peru: Der Hund des Gärtners beißt zurück
In Peru erstarkt eine politische Indígena-Bewegung
von Hildegard Willer

China: Der gute Mensch von Sezuan
Eine kleine Farce über Nothilfe in China
von Wolf Kantelhardt

Mexiko: Femizid: Ein Verbrechen aus Hass
Wenn Morde an Frauen straffrei bleiben
von Mariana Berlanga

Geopolitik: Raum, Macht und Ideologie
Die anhaltende Bedeutung von Geopolitik und Politischer Geographie
von Sören Scholvin


Themenschwerpunkt: Zentralasien

Editorial

Unabhängigkeit von oben
Eine vorläufige Bilanz der postsowjetischen Systemtransformation in Zentralasien
von Tobias Kraudzun, Ellen Nötzel, Yulia und Michael Schulte

Weiße Elefanten sterben nicht aus
Die ökologische Frage in Zentralasien bleibt ungelöst
von Jenniver Sehring

Unser gemeinsames Haus
Kirgistan auf der Suche nach einer Nation
von Alexander Wolters

Peripherie mit starkem Staat
Zentralasien oszilliert zwischen Rohstoffreichtum und nackter Armut
von Tomasz Konicz

Mit der Bahn nach Kasachstan
Die deutsche Außenpolitik nimmt Zentralasien ins Visier    
von Jörg Kronauer

Ungeliebte Nachbarn
In Russland sieht man von oben auf Zentralasien herab
von Ute Weinmann

»Schaut euch unsere Gebäude an«
Die Umbrüche in Zentralasien verändern auch die Gestalt der Städte
von Wladimir Sgibnev

Bauboom für Moscheen
Die Re-Islamisierung in Zentralasien ist nicht mit Islamismus gleichzusetzen
von Sören Scholvin


Kultur und Debatte

Rassismus: 25 Jahre »Marche des Beurs«
Ein Rückblick auf Kämpfe der Migration in Frankreich
von Kolja Lindner

Film: »Das Sektiererische aufbrechen...«
Interview mit der Filmproduzentin Irit Neidhardt über »The One Man Village«

Musical: »Die Geschichte hat mich eingeholt«
Interview mit dem Hiphop-Musiker Yan Gilg über sein Stück »A nos morts«

Debatte: Auf der Suche nach Relativierungen
Eine Antwort auf Réne Wildangels Replik zum Themenschwerpunkt »Nazi-Kollaborateure«
von Karl Rössel

Rezensionen, Tagungen & Kurz belichtet


*


Quelle:
iz3w Nr. 314 - September/Oktober 2009, Seite 42-44
Copyright: bei der Redaktion und den AutorInnen
Herausgeberin: Aktion Dritte Welt e.V. - informationszentrum 3. welt
Postfach 5328, Kronenstr. 16a (Hinterhaus)
79020 Freiburg i. Br.
Tel. 0761/740 03, Fax 0761/70 98 66
E-Mail: info@iz3w.org
Internet: www.iz3w.org

iz3w erscheint sechs Mal im Jahr.
Das Jahresabonnement kostet im Inland 31,80 Euro,
für SchülerInnen, StudentInnen, Wehr- und
Zivildienstleistende 25,80 Euro,
Förderabonnement ab 52,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Oktober 2009