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IMI/363: Der DESERTEC-Raum - Sezession, Putsch, Wahl und Anerkennung in Afrika


IMI - Informationsstelle Militarisierung e.V.
IMI-Studie 10/2011 vom 21.4.2011 - Texte zum IMI-Kongress 2010 EUropas Staatsbildungskriege

Der DESERTEC-Raum
Sezession, Putsch, Wahl und Anerkennung in Afrika

Von Christoph Marischka


Der folgende Beitrag handelt davon, dass die Europäische Union zumindest die nördliche Hälfte Afrikas zunehmend als "Hinterhof" betrachtet und auch so behandelt. Im Kern besteht ihre Politik dabei darin, dass sie auf die Regierungsbildungen in jedem Staat dieser Region Einfluss zu nehmen versucht und mit aller Macht - d.h. von der Entwicklungszusammenarbeit über Polizeihilfe und Wahlbeobachtung bis hin zu Militäreinsätzen - verhindern will, dass gesellschaftliche Kräfte an die Macht kommen, die ihren Interessen entgegenstehen. An ihrem Umgang mit Unabhängigkeits- und Sezessionsbewegungen, umstrittenen Wahlen und gewaltsamen Machtübernahmen durch das Militär soll hierbei aufgezeigt werden, wie die EU mit doppelten Standards operiert und Maßgabe ihres Handelns nicht das Völkerrecht, sondern die jeweiligen eigenen Interessen sind. Zunächst soll jedoch anhand des Industrieprojektes Desertec dargestellt werden, worin diese Interessen u.a. bestehen und wie die Durchsetzung dieser Interessen zur "Abwehr von Bedrohungen" werden kann, wie ein Industrieprojekt Räume definiert und "sicherheitspolitische Notwendigkeiten" schafft.


Zentralisierung der Profite und Auslagerung der Risiken

Bei der Desertec Industrial Initiative (DII) handelt es sich um ein Konsortium, dem u.a. die deutschen Energieriesen e.on und RWE, die Deutsche Bank und die HSH Nordbank, Siemens und die Münchener Rückversicherungsgesellschaft angehören. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass dieses Projekt damit vom deutschen Großkapital dominiert ist. Erklärtes Ziel der DII ist es, über Nordafrika und die Arabische Halbinsel verteilt ein Netzwerk von Wind- und Solarkraftwerken aufzubauen und über ein Hochspannungs-Übertragungsnetz an den europäischen Strommarkt anzuschließen. 10% bis 25% des europäischen Strombedarfs soll dadurch bis 2050 aus Nordafrika geliefert werden, so die Versprechungen des Konsortiums, welches für das Projekt eine beispiellose Lobbyarbeit betreibt. Dabei kommt ihm natürlich zugute, dass die ehemalige EU-Kommissarin für Außenbeziehungen heute im Vorstand der Münchener Rück aktiv ist und auch der heutige EU-Energiekommissar, Günther Oettinger, als Deutscher ist auf europäischer Ebene kräftig für das Projekt wirbt. Bei ihrer Öffentlichkeitsarbeit kann die DII außerdem darauf bauen, dass erneuerbare Energien allgemein für "sauber" und "unschädlich" gehalten werden, was jedoch in diesem Maßstab völlig unzutreffend ist.

Der wesentliche Vorteil erneuerbarer Energien liegt in der Möglichkeit dezentraler Gewinnung. Vereinfacht gesagt, kann jede_r Hauseigentümer_in mit einer Solaranlage auf dem Dach selbst Strom erzeugen oder der Strom etwa durch Stadtwerke dort gewonnen werden, wo er verbraucht wird. Aus Sicht der großen Stromkonzerne geht damit zurecht auch die Befürchtung einer "Dezentralisierung der Gewinne" einher. Desertec hingegen stellt den Versuch dar, diese Gewinne zu rezentralisieren, indem die Erzeugung erneuerbarer Energien in Anlagen gewaltigen Ausmaßes in Nordafrika remonopolisiert wird. Mit dieser Rezentralisierung der Gewinne geht jedoch auch eine Rezentralisierung und gleichzeitig Auslagerungen der Kosten und Risiken einher. Anders als die Solaranlage auf dem Dach oder auch Windparks von einigen Quadratkilometern Grundfläche - gegen die es ja auch schon einigen Protest und Widerstand gibt - gehen von den geplanten Solarkraftwerken vom Ausmaß einer deutschen Großstadt (und alleine schon deren Bau) ähnliche Risiken aus, wie von anderen großtechnischen Anlagen. Die Risiken von Unfällen, Umweltverschmutzung (etwa durch die verwendeten Öle zum Abtransport der Wärme) oder tiefgreifenden sozialen Umbrüchen werden den Gesellschaften in Nordafrika aufgebürdet. Die Risiken einer Unterbrechung der Stromleitungen, der Sabotage oder gar der Enteignung werden hingegen der Europäischen Sicherheitspolitik und damit den europäischen Gesellschaften auferlegt.(1)

350 Mrd. Euro möchte das deutsche und europäische Kapital bis 2050 in Desertec investieren. Eine solche Investition muss nicht nur über Jahre, sondern über Jahrzehnte abgesichert werden. Zugleich soll die Stromversorgung in Europa zu mindestens 10% vom Funktionieren des Übertragungsnetzwerkes abhängig sein. Die Europäische Union wäre somit wohl bis ins fern liegende Jahr 2100 nahezu dazu gezwungen, Nordafrika sicherheitspolitisch als ihren Hinterhof zu behandeln. Sie muss unter anderem verhindern, dass Regierungen an die Macht kommen, die eine Enteignung der Kraftwerke ins Auge fassen oder zu hohe Bedingungen für den reibungslosen Betrieb stellen. Vor diesem Hintergrund sind die Diskussionen von Bedeutung, innerhalb der NATO die Unterbrechung der Energiezufuhr als militärischen Angriff zu werten. Auch die Bundeswehr hat bereits festgestellt, dass sich durch "transkontinental[e] Energienetzwerke ... die Ausdehnung und die Art kritischer Infrastrukturen" erweitern werden und sich "[d]ie Bundeswehr ... sich als wichtiger Teil der sicherheitspolitischen Landschaft diesen Veränderungen nicht [wird] entziehen können".(2) Zugleich müssen den nordafrikanischen Regierungen die notwendigen Kapazitäten bereitgestellt werden, um gegen politische Gruppierungen, Rebellengruppen oder Terroristen vorgehen zu können, welche diese Anlagen als Ziel von Sabotage oder Anschlägen wählen könnten. Die abzusehende Militarisierung einiger Gebiete stellen auf jeden Fall Kosten für die Gesellschaften (in Nordafrika und Europa) dar, die letztlich dazu dienen, private Profite abzusichern.(3)

Illustriert werden kann dies gut am nördlichen Niger, gegenüber dem sich Frankreich in eine fatale Abhängigkeit begeben hat: 80% seiner Energie gewinnt Frankreich aus Atomkraft, 40% des benötigten Urans bezieht es aus dem Niger, wo die Uranminen bei Arlit und die angeschlossenen Kraftwerke und Chemiefabriken wie eine offene Wunde in der Wüste klaffen, die Umwelt und die Bevölkerung belasten. Der Uranabbau war einer der Gründe für einen Tuareg-Aufstand, der 2009 zum Erliegen kam, seit dem gab es mehrfach Entführungen ausländischer Arbeiter_innen, die der Al-Kaida zugerechnet werden. Gegenüber dem Deutschlandfunk begrüßte ein Sprecher des staatlichen französischen Abbaukonzerns AREVA die damit einhergehende Militarisierung: "Die Armee von Niger hat den Norden des Landes völlig unter Kontrolle. Und nördlich davon kontrolliert Algerien. Die Armee unseres Nachbarlandes geht dabei sehr konsequent vor. Im Norden von Niger ist die Militärpräsenz ausgesprochen stark. Das ist eine Folge des Tuareg-Aufstandes: Die Truppen, die hier zusätzlich zusammengezogen worden waren, sind noch immer vor Ort. Wir befinden uns also in einem sehr gut gesicherten Gebiet."(4)

Doch die gegenwärtige, global vernetzte Wirtschaftsweise, die Gewinne und Verluste sehr ungleich verteilt, hat noch ganz andere Abhängigkeiten geschaffen, über die bislang sehr wenig gesprochen wurde. Einige Aufmerksamkeit hat in den vergangenen Jahren Koltan auf sich gezogen, das für den Boom der Mikroelektronik im vergangenen Jahrzehnt unerlässlich war. Während des Krieges im Osten der Demokratischen Republik Kongo konnte es sehr billig abgebaut werden und befeuerte den Krieg zugleich. Auf den Zugang zu solchen seltenen, u.a. aber auch für die Gewinnung erneuerbarer Energien notwendigen Ressourcen zielt die 2008 ins Leben gerufene "Rohstoffinitiative" der Europäischen Kommission ab. Eine mit Vertretern aus der Wirtschaft besetzte Arbeitsgruppe sollte den zukünftigen Bedarf und die bisherige Verfügbarkeit prüfen und daraus politische Empfehlungen ableiten. Im Juni 2010 benannte sie daraufhin 14 "kritische Rohstoffe" und forderte "politische Maßnahmen zur Verbesserung des Zugangs zu Primärressourcen". Hierfür sollte eine ständige Arbeitsgruppe mit Beteiligung der Industrie bei der Kommission eingerichtet werden.(5) Bereits zuvor hatte die Kommission "die Ausweitung staatlicher Maßnahmen, die den internationalen Rohstoffhandel verzerren" in den Förderländern als Hauptproblem identifiziert. "Hierzu zählen insbesondere Ausfuhrsteuern und -quoten, Subventionen, Preisbindungen sowie restriktive Investitionsregeln." Die von der Kommission hiergegen vorgeschlagenen Maßnahmen greifen in die Souveränität der Förderländer ein, indem sie, wie Oxfam Deutschland kritisiert, diese daran hindert, "wichtige Instrumente zur Entwicklung ihrer Volkswirtschaften einzusetzen".(6)

Doch es geht bei der globalen Verteilung von Kosten, Risiken und Profiten nicht nur um Rohstoffe für die Hightech- und nicht zuletzt auch die Rüstungsindustrie, sondern auch um auf den ersten Blick wesentlich banalere Waren wie sogar um Müll.7 So verfügt etwa die Westsahara nicht nur über reiche Fischbestände, sondern auch über die weltweit größten "abbaubaren"(8) Bestände an Phosphor, das Grundlage für die meisten Düngemittel und damit geradezu eine Voraussetzung für die global betriebene intensivierte Landwirtschaft darstellt.


Besatzungshilfe in Marokko...

Sowohl die Fischbestände, als auch die Phosphatvorkommen in der Westsahara können von internationalen Firmen ausgebeutet werden, ohne dass der Bevölkerung hierfür irgendeine Art von Entschädigung oder Beteiligung an den Gewinnen zukommt. Möglich ist dies, weil die Westsahara völkerrechtswidrig durch Marokko besetzt ist. Die Bedingungen des Abbaus werden von den beteiligten Firmen und Staaten mit der marokkanischen Regierung ausgehandelt, in der die Sahrauis nicht nur nicht vertreten sind, sondern die diese sogar aktiv bekämpft. Obwohl die Westsahara völkerrechtlich als Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung im Sinne der UN-Charta gilt und deshalb eigentlich strenge Bedingungen wirtschaftliche Aktivitäten dort einschränken, hat die Europäische Union mit Marokko ein Fischereiabkommen abgeschlossen, welches die Gewässer vor der Küste der Westsahara ganz selbstverständlich mit einschließt. Deshalb wurde dieses Abkommen, das von Deutschland ausdrücklich unterstützt wird und sich Ende Februar 2011 automatisch um vier Jahre verlängerte, u.a. vom UN-Rechtsberater Hans Corell und dem juristischen Dienst des Europäischen Parlaments als völkerrechtswidrig eingeschätzt. Auch hinsichtlich des Phosphatabbaus ignorieren Deutschland und die EU ihre Verpflichtungen gegenüber den in der Westsahara tätigen Firmen. Eine parlamentarische Anfrage über die Beteiligung deutscher Firmen beantwortete die Bundesregierung brüsk mit der Behauptung, "[d]ie allgemeine privatwirtschaftliche Tätigkeit von Unternehmen ist nichtstaatlicher Natur" und dass sie lediglich ganz grundsätzlich "in ihren Kontakten mit der Wirtschaft im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf politisch sensible Sachverhalte hin[weist]".(9)

Vor diesem Hintergrund verwundert es wenig, dass Deutschland und die EU die militärische Besatzung der Westsahara indirekt unterstützen. So untermauert das Fischereiabkommen mit Marokko letztlich die marokkanische Wahrnehmung, die Westsahara sei schlicht ein Teil des marokkanischen Staates (eine Wahrnehmung, der jedoch bereits mit mehreren Resolutionen der UN-Generalversammlung und einem Gutachten des Internationalen Gerichtshof von 1975 eindeutig widersprochen wurde). Ebenso verfahren die Durchführungsorganisation der deutschen "Entwicklungszusammenarbeit" GTZ (Gesellschaft für technische Zusammenarbeit, heute: GiZ) und die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), welche bei ihren Projekten zur Förderung erneuerbarer Energien in Marokko ebenfalls ganz selbstverständlich die Westsahara als Teil Marokkos behandeln und dort auch Projekte durchführen. Diese Projekte sind in den "nationalen Energieplan" für Marokko eingebunden, an dessen Formulierung die GtZ ebenfalls beteiligt war. Besonders aufschlussreich ist dies vor dem Hintergrund, dass Kritiker_innen des Projektes davon ausgehen, dass sogar eines der ersten Kraftwerke im Rahmen von DESERTEC in der besetzten Westsahara gebaut werden soll. Dem widerspricht die DII zwar vehement, auf mehreren schematischen Karten der Region, welche die DII bislang veröffentlichte, sind jedoch auch auf dem Gebiet der Westsahara entsprechende Standorte vermerkt. Die GTZ hat im Rahmen ihrer öffentlich finanzierten "Entwicklungszusammenarbeit" zur Förderung erneuerbarer Energien in Marokko jedenfalls bereits Windmessungen an der Küste der Westsahara vorgenommen, auf welche die DII zurückgreifen kann.

In der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gilt Marokko als "Schwerpunktland" und erhält nach Ägypten die umfangreichsten Mittel in der Region. Bereits seit 1966 leistet Deutschland militärische Ausbildungshilfe, 2009 genehmigte es Rüstungsexporte im Wert von fast 40 Mio. Euro, wobei weniger letale Waffen, die v.a. zur Repression im Inneren und der Westsahara eingesetzt werden noch nicht einmal erfasst sind. Zudem hat Marokko, finanziert durch das Auswärtige Amt, sowohl polizeiliche als auch militärische Ausstattungshilfe unentgeltlich über Verbindungsbeamte des BKA bzw. Beratergruppen der Bundeswehr erhalten.(10) Die militärische Ausbildungshilfe stellt einen engen Kontakt zu Führungskräften in den marokkanischen Streitkräften sicher. Auch "vor allem vor dem Hintergrund des Einsatzes deutscher Marineeinheiten in der Straße von Gibraltar" gilt Marokko als "regelmäßiger Dialogpartner in Nordafrika".

Marokko genießt auch im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik den "fortgeschrittenen Status", wurde damit als engster Partner in der Mittelmeerregion anerkannt (11) und erhält auch (nach den palästinensischen Gebieten) die umfangreichsten Finanzhilfen aus dem Europäischen Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstrument ENPI. Diese Mittel wurden zudem noch mehrfach aus einem Sonderbudget, der so genannten "Governance-Facility" (GF), aufgestockt, mit der laut Homepage des Auswärtigen Amtes "gute Regierungsführung belohnt" werden soll.(12) Die engen Beziehungen kamen auch auf dem EU-Marokko Gipfel im März 2010 zum Ausdruck. Die dort feierlich unterzeichnete gemeinsame Erklärung lobt nicht nur die "beispielgebende und herausragende Natur der Partnerschaft zwischen der EU und Marokko" und das "Maß an Reife und Vertrauen" das im Dialog erreicht sei, sondern enthält auch eine gemeinsame Stellungnahme zum Westsaharakonflikt: "Marokko und die EU unterstützen die Bemühungen des UN-Sicherheitsrates, des Generalsekretärs und seines Sondergesandten für die Westsahara eine endgültige, dauerhafte und für beide Seiten akzeptable Lösung zu finden".

Man kann somit mit Fug und Recht von einer deutschen und EUropäischen Komplizenschaft bei der andauernden Besetzung der Westsahara sprechen, die sowohl der UN, als auch dem Völkerrecht schweren Schaden zufügt. Als Gebiet unter ehemaliger Kolonialverwaltung steht der Bevölkerung der Westsahara völkerrechtlich eindeutig ein Selbstbestimmungsrecht zu, die marokkanischen Territorialansprüche wurden vom Internationalen Gerichtshof 1975 klar zurückgewiesen. Seit dem Waffenstillstand von 1991 ist eine UN-Mission vor Ort, welche ein Referendum über die Unabhängigkeit vorbereiten soll. Nachdem Marokko dieses Referendum jahrelang v.a. über die Wähler_innenerfassung blockiert hatte, schließt es dieses heute trotz entsprechender Resolutionen des Sicherheitsrates und der UN-Vollversammlung kategorisch aus.(13) Bis heute leben etwa 170.000 Flüchtlinge aus der Westsahara in Lagern im benachbarten Algerien, von den übrigen Sahrauis in der Westsahara durch mehrere militärisch geschützte Mauern und Wälle getrennt, von der UN mit Lebensmitteln versorgt, aber ohne jegliche Perspektive - außer eines Tages wieder zu den Waffen zu greifen. Das Leben der Sahrauis in der Westsahara selbst ist hingegen von Repression und Diskriminierung geprägt: Sie dürfen keine Häuser besitzen oder Geschäfte betreiben, wer es wagt, zu demonstrieren oder die Zugehörigkeit der Westsahara zu Marokko in Frage zu stellen, dem droht ein Militärgericht oder die Inhaftierung auf unbestimmte Zeit ohne jegliche Anklage. Einen vorläufigen Höhepunkt fand die Repression gegen die Sahrauis, als im November 2010 über 20.000 von ihnen aus mehreren Protestcamps in der Westsahara unter Einsatz massiver Polizeigewalt und des Militärs vertrieben wurden. Mehrere Menschen kamen dabei und bei den anschließenden Zusammenstößen ums Leben. Die Räumung erfolgte zeitgleich mit einer neuen Runde "direkter Gespräche" unter UN-Vermittlung, womit die marokkanische Regierung sehr deutlich ihre kompromisslose Haltung zum Ausdruck brachte und die Verhandlungen ganz offen als reine Hinhaltetaktik entlarvte. Möglich ist ihr dies v.a. aufgrund der anhaltenden Unterstützung durch die "Internationale Gemeinschaft", in diesem Falle insbesondere in Form der Europäischen Union. Obwohl die gewaltsame Räumung der Protestcamps im November ungewöhnlich viel Empörung auch in der deutschen Presse hervorrief,(14) reiste der deutsche Außenminister Westerwelle keine zehn Tage später zu einem Staatsbesuch nach Marokko. Eine Pressemitteilung des Auswärtigen Amtes zitiert ihn aus diesem Anlass mit den Worten: "Deutschland und Marokko haben exzellente Beziehungen. Wir wollen sie politisch, vor allem aber auch wirtschaftlich ausbauen". Weiter heißt es in der Pressemitteilung: "Bundesminister Westerwelle stellte weitere drei Millionen Euro für den marokkanischen Solarplan zur Verfügung: 'Die Desertec-Initiative könnte ein Meilenstein der Energiezusammenarbeit werden', betonte er."(15)


...Sezessionshilfe im Sudan

Genau genommen wird es einem Vergleich zwischen den Konflikten um die Westsahara und den Südsudan nicht gerecht, von "doppelten Standards" zu sprechen, denn völkerrechtlich handelt es sich bei der Westsahara um ein militärisch besetztes Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung, während der Südsudan Teil des souveränen Staates Sudan ist. Doch gerade vor diesem Hintergrund ist es beeindruckend, mit welcher Geschwindigkeit die "Internationale Gemeinschaft" die Loslösung des Südsudans unterstützt und letztlich auch betrieben hat.

Bereits seit 1983 herrschte Bürgerkrieg im Sudan, in dem jedoch lange nur kleinere Fraktionen der überwiegend im Süden verwurzelten Rebellenbewegung SPLM/A sezessionistische Ziele verfolgte. Internationale Aufmerksamkeit erhielt dieser Krieg jedoch erst ab 1999, nachdem die Fertigstellung einer Pipeline den Export des überwiegend im Süden lagernden Erdöls ermöglichte und neue Explorationen wesentlich größere Erdölvorkommen in Aussicht stellten, als bis dahin angenommen. Die Ausbeutung dieser Vorkommen fiel aber in den folgenden Jahren fast ausschließlich an chinesische und andere (süd-)ostasiatische Unternehmen. Ebenfalls 1999 begannen die USA relativ offen die SPLM/A mit Waffen zu unterstützen und signalisierten ihre Unterstützung für eine Abspaltung des Südsudans. Der ab 2003 eskalierende bewaffnete Aufstand in Darfur und die internationale zivilgesellschaftliche Empörung über die Methoden der Aufstandsbekämpfung der sudanesischen Regierung um Al-Bashir dienten sowohl der US-Regierung als auch einigen deutschen Politikern als Anlass, eine militärische Intervention im Sudan anzudrohen und diese wohl auch konkret vorzubereiten.(16)

Unter diesem Druck unterzeichnete die sudanesische Regierung zwischen Ende 2004 und Anfang 2005 das unter internationaler Vermittlung ausgehandelte "Umfassende Friedensabkommen" (CPA) mit der SPLM/A. Obwohl die SPLM/A zu dieser Zeit noch unter der Kontrolle John Garangs stand, der keine Sezession, sondern Reformen im gesamten Sudan anstrebte, sah das CPA für den Januar 2011 ein Referendum im Südsudan über dessen Unabhängigkeit vor. Bis dahin aber sollte die SPLM/A an der Regierung in der Hauptstadt Khartoum beteiligt werden und alle Parteien daran arbeiten - so der Schlüsselsatz des Abkommens - "die Einheit attraktiv [zu] machen".(17)

Doch genau das Gegenteil geschah: Die meisten westlichen Staaten, darunter auch Deutschland, stellten ihre Entwicklungshilfe für den Sudan ein und leiteten das Geld in "Programme zur Unterstützung des Staatsaufbaus" (GTZ) im Südsudan um. Abgewickelt wurden diese Projekte nicht über Khartoum, sondern die SPLM/A im Süden, die fortan das "Government of Southern Sudan" (GOSS) stellte und in zahlreichen westlichen Hauptstädten mit staatlichen Ehren empfangen wurde. Worauf diese "Programme zur Unterstützung des Staatsaufbaus" hinausliefen, lässt sich beispielhaft an der staatlichen deutschen Entwicklungszusammenarbeit darstellen. Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg intensivierte ab 2002 seine Arbeit an einem Verfassungsentwurf für den Südsudan, die GTZ ließ Straßen bauen, um die Hauptstadt des Südsudans an die westlichen Verbündeten Kenia und Uganda anzubinden und die Unabhängigkeit von den nördlichen Landesteilen zu befördern. Seit 2008 beteiligt sich die GTZ darüber hinaus am Aufbau "Integrierter Polizeikräfte" und rüstet diese zur "Stärkung ihrer Kapazitäten" u.a. mit Funkgeräten und Funkstationen aus.(18) Den Löwenanteil des Polizeiaufbaus im Südsudan trägt jedoch die UN im Rahmen ihrer UNMIS-Mission im Südsudan, welche dabei die Unterwanderung der Polizei durch die SPLM/A ebenso toleriert, wie deren Transformation zu einer regulären Armee des Südsudans. Diese wird wiederum befördert durch umfangreiche Lieferungen auch schwerer Waffen über Kenia, die zumindest mit Zustimmung der USA erfolgten und - obwohl sie gleich mehreren UN-Resolutionen (1556 sowie 1591) klar widersprechen - kaum Proteste innerhalb der UN oder unter den westlichen Partnern hervorriefen.(19) All dies geschah noch vor dem Referendum in einer Phase, die nach dem CPA genutzt werden sollte, um "die Einheit attraktiv [zu] machen".

Gleichzeitig unterließen USA, EU und Deutschland keine Schritte, um die Regierung in Khartoum zu schwächen. Neben der UNMIS-Mission im Süden des Landes bemühten sie sich um den kontinuierlichen Aufwuchs der Mission der Afrikanischen Union in Darfur (AMIS) die später in eine UN-geführte Mission (UNAMIS) überführt wurde. Zuvor hatten u.a. die NATO, aber auch die EU und einzelne Mitgliedsstaaten die AMIS durch Training und Logistik - einschließlich Truppentransporte in den Sudan - unterstützt. Im Februar 2008 begann eine EU-Militärmission im Osten des benachbarten Tschad (EUFOR CHAD), die nur vordergründig darauf ausgerichtet war, Flüchtlinge aus Darfur zu schützen. Letztlich wurde durch den Einsatz der Präsidenten des Tschad gestärkt, welcher zu dieser Zeit die Rebellen im benachbarten Darfur unterstützte. Von großer Bedeutung waren auch die auf Initiative von Frankreich über den UN-Sicherheitsrat eingeleiteten Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC), die letztlich dazu führten, dass gegen Al-Bashir als erstes amtierendes Regierungsmitglied (eines Staates, der zudem dem ICC-Statut nicht zugestimmt hatte) ein Haftbefehl des ICC erging. Dies ermöglichte es den westlichen Regierungen, jeglichen offiziellen Kontakt mit dem sudanesischen Präsidenten und den inneren Führungszirkeln der Zentralregierung einzustellen und ganz offen auf Drittstaaten einzuwirken, ebenso zu verfahren.


Europäische Interessen als Maßstab des Völkerrechts?

Der Druck auf Al-Bashir und die (in Khartoum) regierende National Congress Party (NCP) hatte insofern Erfolg, als dieser letztlich ankündigte, das Ergebnis des Referendums anzuerkennen und somit den Weg frei machte für eine Sezession im "gegenseitigen Einvernehmen". Mit der Zustimmung des souveränen Staates Sudan zur Loslösung des Südsudans ist dem Völkerrecht oberflächlich genüge getan, selbst wenn diese Zustimmung unter massivem politischen und auch militärischen Druck zustande kam. Die Folgen jedoch könnten verheerend sein. Vom schweren Schaden, den der ICC durch seine "Anpassungsfähigkeit" an geopolitische Interessen und internationale Machtverhältnisse genommen hat und den von der Internationalen Gemeinschaft hingenommenen Menschenrechtsverletzungen der GOSS abgesehen, warnen zahlreiche Beobachter und Thinktanks - darunter auch das EU-eigene Institute for Security Studies - vor einer "Spirale des Staatszerfalls" nicht nur im Sudan, sondern auf dem gesamten afrikanischen Kontinent.(20) Der Aufstieg der SPLM/A-Funktionäre und -Kommandanten zur neuen politischen Klasse des Südsudans könnte auch bei anderen Rebellengruppen in den benachteiligten Provinzen des Landes Sezessionsforderungen wecken und neue Bürgerkriege auslösen. Auch darüber hinaus könnten Rebellen in anderen afrikanischen und arabischen Ländern Hoffnungen hegen, von einzelnen Staaten, Blöcken oder gar der Internationalen Gemeinschaft politisch und militärisch unterstützt zu werden, falls sie zu den Waffen greifen, den Konflikt mit der Zentralregierung eskalieren und Menschenrechtsverletzungen provozieren. "Erfolgsversprechend" ist dies natürlich v.a. dort, wo massive westliche Interessen bestehen, die Regierungen sich zu sehr an China anbinden, den freien Handel behindern oder eben Rohstoffe vorhanden sind. Diesen Befürchtungen widerspricht Denis M. Tull für die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik explizit, indem er argumentiert, in Afrika gebe es "lediglich ... verhältnismäßig kleine Separatistengruppen" und nur eine "sehr gering[e]" Zahl von Sezessionsbewegungen. Dass auch die SPLM/A noch vor wenigen Jahren eindeutig nicht als "Separatistengruppe" einzuschätzen gewesen wäre und es die UCK im Kosovo innerhalb von weniger als vier Jahren schaffte, den Konflikt mit der Zentralregierung soweit zu eskalieren, dass die NATO eingriff, macht solche Analysen allerdings gegenstandslos. Dennoch gibt Tull zugleich Empfehlungen, wie Deutschland und Europa auf kommende Sezessionsbestrebungen reagieren sollten: "Die internationale Anerkennung separatistischer Gebiete ist dann sinnvoll, wenn dies dem deutschen und europäischen Interesse am Aufbau effektiver Staaten dient. Das Völkerrecht ist dabei keine Hürde, solange eine effektive Staatsqualität besteht."(21)


Wahl und Anerkennung

Mit zweierlei Maß wird jedoch nicht nur bei Sezessionsbestrebungen gemessen, sondern auch bei der Bewertung und Anerkennung von Wahlen. Missionen zur Wahlbeobachtung (Election Observation Missions, EOMs) sind ein wichtiger Bestandteil gemeinsamer Europäischer Außenpolitik geworden. 2010 haben solche Wahlbeobachtungen in Côte D'Ivoire, Tansania, Guinea, Burundi, Äthiopien, Sudan und Togo stattgefunden. Die Wahlen im Südsudan wurden von Anfang an genutzt, um die im Norden regierende NCP um Al-Bashir zu schwächen. Für Al-Bashir ging es bei den Wahlen nicht nur um eine weitere Amtszeit, sondern auch darum, sich weiter dem Zugriff des ICC zu entziehen. Obwohl seine Wiederwahl auch ohne Manipulationen sehr wahrscheinlich war, machten bereits im Vorfeld Betrugsvorwürfe auch vonseiten der EU die Runde, welche es Teilen der Opposition erleichterten, die Wahlen im Norden zu boykottieren. Ein Schritt, der lediglich geeignet war, die Legitimität der neuen Regierung zu untergraben, da die Kandidaten weiter auf den Wahllisten verblieben und bei einer Wahlbeteiligung von 62% auch über 30% der Stimmen erhielten (während im Süden der Kandidat der SPLM 92.9% der Stimmen erhielt). Liest man den über zwei Monate nach den Wahlen veröffentlichten Abschlussbericht der EOM genau, so zeigt sich, dass es im Süden deutlich mehr Unregelmäßigkeiten als im Norden gab. Die unmittelbar an die Wahl anschließende Stellungnahme der EU-Außenbeauftragten und auch vieler deutscher Politiker hingegen sparten sich jegliche Kritik an der SPLM und wiesen die Verantwortung für Unregelmäßigkeiten und Manipulationen ausschließlich der NCP zu.(22)

Ganz anders hingegen die öffentlichen Stellungnahmen zu den ebenfalls von einer EOM begleiteten Wahlen kurz darauf in Äthiopien, einem engen Verbündeten Deutschlands und der EU. Machthaber Meles Zenawi wurde hier, nachdem er weite Teile der Opposition hat festnehmen lassen, mit umgerechnet 94% der Stimmen bestätigt. Die Stellungnahme der EU-Außenbeauftragten hierzu war an Heuchelei nicht zu überbieten: Die Wahlen seien "ein wichtiger Moment im demokratischen Prozess des Landes" gewesen, man müsse den "herausfordernden Kontext" würdigen, in dem sie stattgefunden hätten und die EU stünde bereit, "um mit Äthiopien zusammenzuarbeiten, um diese Herausforderungen zu bewältigen und ihre Beziehungen zur Regierung und dem Volk Äthiopiens weiter zu vertiefen".(23) Das konnte den ägyptischen Präsidenten Mubarak nur bestätigen, der zu diesem Zeitpunkt Parlamentswahlen vorbereitete, die von keiner EOM begleitet wurden und mittels offenkundigem Wahlbetrugs und dem Verbot oppositioneller Parteien am 5. Dezember 2010 bei einer Wahlbeteiligung von etwa 35% 420 von 508 Sitzen für die Regierungspartei frei machten. Zu diesen Wahlen gab es keine Stellungnahme Ashtons, einen Tag nach der Wahl kündigte jedoch der EU-Nachbarschaftskommissar bei seiner Rede vor dem College of Europe in Polen an, mit der ägyptischen Regierung in Verhandlungen über den "fortgeschrittenen Status" innerhalb der Europäischen Nachbarschaftspol itik zu treten.(24)

Die Wahlen in Côte d'Ivoire - dem weltweit wichtigsten Exportland von Kakao - wenige Tage zuvor hingegen fanden unter Beobachtung einer EOM statt und mündeten in einen Bürgerkrieg, nachdem sie, wie absehbar, ein knappes und umstrittenes Ergebnis hervorbrachten. Sowohl der UN-Sicherheitsrat als auch die EU-Außenbeauftragte erkannten das von der UN-Mission vor Ort, UNOCI, verifizierte Ergebnis an, wonach Ouattara, frühere Mitarbeiter der Weltbank und anschließend Chef der westafrikanischen Zentralbank, knapp gewonnen hätte. Auf die - offensichtlich berechtigten - Manipulationsvorwürfe des demnach unterlegenen früheren Präsidenten Gbagbo (der etwa von der Friedrich-Ebert-Stiftung als "Sozialist" bezeichnet wird) gingen sie hingegen ebenso wenig ein, wie auf den Beschluss des ivorischen Verfassungsrates, aufgrund von Manipulationen die Ergebnisse - ganz offensichtlich parteiisch - in mehreren Wahlbezirken komplett zu annullieren und somit Gbagbo zum Sieger zu erklären. Anstatt diesen Ambivalenzen Rechnung zu tragen, gratulierte Ashton Ouattara zu seinem Sieg und erklärte die von der UNOCI verifizierten Ergebnisse zum "Willen der ivoirischen Bevölkerung".(25) Anschließend wurde Ouattara international als Präsident anerkannt, konnte aber im Schutz der UN-Soldaten im Golf-Hotel von Abidjan nur bedingt die Amtsgeschäfte aufnehmen, da Gbagbo weiterhin die Kontrolle über die wichtigsten Teile der Verwaltung und v.a. die Sicherheitskräfte in der Hauptstadt ausübte. Mehrfach wurden von EU und USA militärische Interventionen zugunsten Ouattaras ins Spiel gebracht und Sanktionen verhängt, die Gbagbo vom Zugriff auf finanzielle Mittel abschneiden sollten, v.a. aber die humanitäre und die Sicherheitslage in Côte d'Ivoire bis an den Rand eines Bürgerkrieges eskalierten.(26)


Putsch und Anerkennung

Hier soll keineswegs einer Fortführung der Herrschaft Gbagbos das Wort geredet werden, auch wenn es für die humanitäre Situation in Côte d'Ivoire sicher besser und angesichts der tiefen Spaltung der ivoirischen Gesellschaft auch angemessener gewesen wäre, auf die Vermittlungsangebote verschiedener afrikanischer Staaten ernsthaft einzugehen, anstatt gleich die militärische Option auf den Tisch zu legen. Vielmehr soll hiermit die Anmaßung der EU angedeutet werden, aus der internationalen Sphäre über die Legalität und Legitimität manipulierter Wahlen je nach Interessenlage zu entscheiden.

Auch wenn man aber die Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen in Côte d'Ivoire ausblendet, Ouattara als legitimen Wahlsieger anerkennt und Gbagbos Festhalten an der Macht dementsprechend als Putsch wertet, zeigt sich, wie sehr die EU mit zweierlei Maß misst. Denn Machtübernahmen und Machtwechsel vollziehen sich gerade in Westafrika häufig durch Putsche, denen gegenüber sich innerhalb der EU längst ein pragmatischer, bzw. im Einzelfall sehr unterschiedlicher Umgang herauskristallisiert hat. So folgte auf den Militärputsch Ely Ould Mohamed Valls in August 2005 in Mauretanien sogar eine entscheidende Verdichtung der Beziehungen zwischen der EU und Mauretanien. Die Militärjunta schloss ein neues Fischereiabkommen und verbesserte die Zusammenarbeit mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex bei der Bekämpfung der Migration über die Kanaren, bevor 2007 - wiederum unter Begleitung durch eine EOM - ein neuer Präsident gewählt wurde. Das Rennen machte der von der Militärjunta unterstützte Kandidat Sidi Ould Abdellahi in Wahlen, die von der EOM als "frei, tatsächlich pluralistisch, demokratisch und transparent" bezeichnet wurden, obwohl die "Ungleichheit der [zur Verfügung stehenden] Ressourcen zwischen den Kandidaten sichtbar und evident war" und der Bericht einer Delegation europäischer Parlamentarier auch auf Unregelmäßigkeiten hinwies.(27) Trotzdem bezeichnet die EOM in ihrem Abschlussbericht die Wahlen als "letzten Schritt einer demokratischen Transition", die durch den Putsch vom 3. August 2005 "auf den Weg gebracht" worden sei. Wie nachhaltig diese "Demokratisierung" war, offenbarte sich bereits im Juni des folgenden Jahres, als unter der Führung Mohamed Ould Abdel Aziz', der schon am vorangegangenen Putsch beteiligt war, erneut geputscht wurde. Die Zusammenarbeit zwischen Frontex, der spanischen Regierung, die in dieser Zeit Soldaten und Polizisten nach Mauretanien abgeordnet hatte und der Regierung Mauretaniens war hiervon jedoch nicht betroffen. Diesmal ließ sich der Führer der Putschisten gleich selbst - wiederum unter der Aufsicht einer EOM - zum Präsidenten wählen, woraufhin der Rat der EU zufrieden feststellte, dass "dass die verfassungsmäßige Ordnung in Mauretanien vollständig wiederhergestellt ist" und dem Präsidenten die Unterstützung der EU bei der "Bewältigung der sozioökonomischen und politischen Schwierigkeiten" sowie bei der "Bekämpfung des Terrorismus und der organisierten Kriminalität" zusicherte.(28)

Auch nach dem Putsch Weihnachten 2008 in Guinea - wo die weltweit größten Vorkommen von Bauxit vermutet werden - zögerte die EU lange, bevor sie vom Führer der Putschisten, Moussa Dadis Camara, der zuvor an Bundeswehreinrichtungen in Bremen und Dresden ausgebildet wurde, abrückte und im Oktober 2009 "gezielte" Sanktionen gegen die Militärjunta erließ. In diesem Falle erwiesen sich die Sanktionen tatsächlich als sehr gezielt, denn sie wurden anschließend für einige Personen aus der Militärjunta aufgehoben,(29) welche die Führung übernahmen, nachdem Camara angeblich vom Chef seiner Präsidialgarde in den Kopf geschossen und er außer Landes gebracht wurde.

So schockierend diese Politik der doppelten Standards, der gezielten Sanktionen und der Militärhilfe für Bürgerkriegsparteien sein mag - neu ist sie nicht. Diese "kleinen Kriege", bei denen es sich formal um Bürgerkriege handelt, wo aber die Soldaten, Putschisten und Rebellen vor Ort letztlich internationale Interessen ausfechten (weshalb man sie "(Bürger-)Kriege" schreiben sollte), sind typische Folgen einer Hinterhofpolitik, wie sie u.a. das Industrieprojekt Desertec voraussetzt und durch die Abhängigkeit von billigen Rohstoffen und die ungleiche Verteilung von Gewinnen, Kosten und Risiken in einer kapitalistischen, globalisierten "Arbeitsteilung" notwendig macht. Zusammengefasst werden kann diese Politik durch eine kleine Variation des o.g. Zitats von Denis M. Tull: Die internationale Anerkennung separatistischer Gebiete, von Wahlsiegern, von "legitimen" Regierungen und Putschisten ist dann sinnvoll, wenn dies dem deutschen und europäischen Interesse am Aufbau effektiver Staaten als willige Handelspartner dient. Das Völkerrecht ist dabei keine Hürde.


Anmerkungen

(1) Zu den Ausmaßen der geplanten Anlagen in Nordafrika und den möglichen Folgen siehe: Franz Garnreiter: Desertec - Der Anschlag der Konzerne auf die Solarenergie, in ISW (Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung): ISW-Report 2010. Zu den Risiken großtechnischer Anlagen siehe: Charles Perrow: Normale Katastrophen - Die unvermeidlichen Risiken der Großtechnik, Campus-Verlag 1992.

(2) Zentrum für Transformation der Bundeswehr (Dezernat Zukunftsanalyse): Peak-Oil - Sicherheitspolitische Implikationen knapper Ressourcen, in: Streitkräfte, Fähigkeiten und Technologien im 21. Jahrhundert - Umweltdimensionen von Sicherheit (Teilstudie 1).

(3) Zur Kosten- und Risikenverteilung bei der "Katastrophenvorsorge in modernen Gesellschaften" siehe: Wolf R. Dombrowsky u.a.: Erstellung eines Schutzdatenatlasses, Zivilschutzforschung, Neue Folge Band 51, Bundesverwaltungsamt - Zentralstelle für Zivilschutz, Bonn 2003.

(4) Bettina Rühl: Im Namen des Profits, Reportage für das Deutschlandradio-Magazin "Hintergrund", gesendet am 04.11.2010,
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/hintergrundpolitik/1311349/

(5) "Bericht zufolge 14 wichtige mineralische Rohstoffe knapp", Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 17.06.2010,
http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=IP/10/752&format=HTML&aged=0&language=de

(6) Oxfam Deutschland, WEED u.a.: Die neue Jagd nach Ressourcen - Wie die EU-Handels- und Rohstoffpolitik Entwicklung bedroht, November 2010,
http://www.oxfam.de/sites/www.oxfam.de/files/20101217_rohstoffbericht.pdf

(7) Der Evangelische Entwicklungsdienst (eed) unterstützt beispielsweise Bauernverbände in Westafrika, die sich gegen den Import billiger Geflügelreste aus Europa zur Wehr setzen. Diese werden zu Preisen exportiert, die nur geringfügig über den Entsorgungskosten liegen, da in Europa überwiegend das Brustfleisch des Geflügels nachgefragt wird, und zerstören damit die wirtschaftlich und auch zur Grundernährung bedeutenden lokalen Geflügelwirtschaften in Westafrika. Dazu erschien eine lesenswerte Broschüre mit dem Titel "Keine chicken schicken - Wie Hühnerfleisch aus Europa Kleinbauern in Westafrika ruiniert und eine starke Bürgerbewegung in Kamerun sich erfolgreich wehrt", abrufbar unter:
www.eed.de/dyn/download?entry=page.de.pub.de.148

(8) Ob Phosphor "abbaubar" oder der Abbau lohnend ist, entscheidet sich nicht allein durch geologische Bedingungen, sondern auch politische, deshalb ist der Begriff hier in Anführungszeichen gesetzt.

(9) Bundestags-Drucksache 17/1521.

(10) Bundestags-Drucksache 17/766.

(11) Kristina Kausch: Morocco's 'Advanced Status' - Model or Muddle?, FRIDE Policy Brief 43(2019),
www.fride.org/download/PB43_Morocco_advance_status_ENG_mar10.pdf.

(12) "Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP)",
http://www.auswaertigesamt. de/DE/Europa/Aussenpolitik/Regionalabkommen/Nachbarschaftspolitik_node.html.

(13) Eine knappe Darstellung der Rolle der UN im Westsaharakonflikt liefert Anna Theofilopoulou: The United Nations and Western Sahara - A Never-ending Affair, United States Institute of Peace Special Report 166 (2006).

(14) Beispielhaft hierfür der Artikel von Paul Ingendaay: Weiß Mohamed um die Opfer?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.11.2010.

(15) "Energiepartnerschaft mit Marokko", Pressemitteilung des Auswärtigen Amtes vom 17.11.2010.

(16) Jürgen Wagner: Sudan - die geopolitische Dimension, IMI-Analyse 2004/026, in: Ausdruck (Oktober 2004).

(17) Alex de Waal: Zeit der Entscheidungen im Sudan - Szenarien über das Friedensabkommen, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Sudan - kein leichter Weg in die Zukunft, Schriften zur Demokratie, Band 18 (2010).

(18) Vgl. "Staatsaufbau" und "Nächstes Jahr ein neuer Staat", Meldungen vom 20.10.2008 und 3.3.2010 auf www.german-foreign-policy.com, sowie die Länderseite der GTZ zum Sudan:
http://www.gtz.de/de/praxis/15563.htm.

(19) Die Waffenlieferungen waren v.a. wegen der Entführung der MV Faina durch Piraten bekannt geworden, die u.a. 33 Panzer und 42 Luftabwehrgeschütze geladen hatte, die für das GOSS bestimmt waren. Die Recherchen des Rundfunkjournalisten Rainer Kahrs ergaben, dass es vermutlich vier weitere Schiffe mit ähnlicher Ladung und gleichem Empfänger gab, nicht aber, wer die Waffenlieferungen arrangiert hatte (ARD: Das Geheimnis des Waffenschiffes Faina, Radiofeature von Rainer Kahrs, Manuskript unter der URL: web.ard.de/media/pdf/radio/radiofeature/waffenschiff_faina.pdf ).
Später bestätigten von Wikileaks veröffentlichte Depeschen, dass die ersten Lieferungen mit Unterstützung der kenianischen und der US-amerikanischen Regierung stattfanden und in unmittelbaren Bezug zur "Umsetzung des CPA" standen (Depesche aus der US-Botschaft in Nairobi vom 16.12.2009. Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag, gehalten auf dem 13. IMI Kongress "EUropas Staatsbildungskriege"

(20) EUISS: Post-2011 scenarios in Sudan: What role for the EU?, ISS Report, Nr. 6,2009.

(21) Denis M. Tull: Separatismus in Afrika - Die Sezession des Südsudan wird nicht Schule machen, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), SWP-Aktuell 6 (2011)

(22) Vgl. beispielhaft Jerome Cholet, Johanna Metz: "Weder frei noch fair", in: Das Parlament 17/2010 sowie die Pressemitteilung Catherine Ashtons vom 19.4.2010. Besonders einseitig in den Schuldzuweisungen im Vorfeld der Wahlen waren jedoch Medien wie die Zeit ("Ein Sieger mit Haftbefehl - Sudans Staatschef Omar al-Bashir manipuliert die Wahlen - und die UN" 23.4.2010) oder der Deutschlandfunk ("Weder frei noch fair", in: Weltzeit vom 8.4.2010). Der tatsächliche Abschlussbericht der EOM vom 28.6.2010 ist hingegen hier einsehbar:
http://www.eueom.eu/files/pressreleases/english/final-report-eu-eom-sudan-2010_en.pdf

(23) Pressemitteilung Catherine Ashtons vom 25.5.2010.

(24) "Stefan Füle European Commissioner for Enlargement and Neighbourhood Policy Speech at the opening ceremony of the 61st academic year of the College of Europe College of Europe Natolin, 6 December 2010", (SPEECH/10/733), www.europa.eu.

(25) Ausführlich hierzu mit den entsprechendenQuellen: Christoph Marischka: Multilaterale Wahlen bringen Bürgerkrieg, IMI-Standpunkt 2010/056, AUSDRUCK (Februar 2011).

(26) Ausführlich hierzu mit den entsprechendenQuellen: Christoph Marischka: Gezielte Sanktionen, ein schleichender Putsch und die dubiose Rolle der Konrad-Adenauer-Stiftung in Côte d'Ivoire, IMI-Standpunkt 2011/018.

(27) Report by Mr Alain Hutchinson, Head of delegation to observe the presidential elections in Mauritania (11. u. 25.3.2007) vom 26.3.2007.

(28) Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Aufhebung des Beschlusses 2009/472/EG vom 6. April 2009 und über Folgemaßnahmen zu dem Konsultationsverfahren mit der Islamischen Republik Mauretanien gemäß Artikel 96 des AKP-EG-Partnerschaftsabkommens.

(29) Beschluss 2010/186/GASP des Rates vom 29. März 2010 zur Änderung des Gemeinsamen Standpunkts 2009/788/GASP über restriktive Maßnahmen gegen die Republik Guinea.

Als PDF-Datei ist der Artikel abrufbar unter:
http://imi-online.de/download/CM_Kongress2010.pdf


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Quelle:
IMI-Studie 10/2011 vom 21.04.2011
Texte zum IMI-Kongress 2010 EUropas Staatsbildungskriege
http://imi-online.de/download/CM_Kongress2010.pdf
Herausgeber: Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Mai 2011