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ICARUS/024: Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur 3-4/2012


ICARUS Heft 3-4/2012 - 18. Jahrgang

Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur



INHALT
Autor
Titel

Kolumne
Wolfgang Richter
Der Kampf des Westens um sein Überleben

In eigener Sache
Karl-Heinz Wendt
Eckart Mehls
Die GBM im dritten Jahrzehnt
Chronik eines politischen Skandals

Internationale Politik
Hellmut Kapfenberger
Hans-Jürgen Falkenhagen/
Brigitte Queck
Washington, der Nahe Osten und der pazifische Raum

Genug leere Worte

Ehrlicher und verlogener Umgang mit Geschichte
Roger Reinsch
Peter Michel
Siegfried Forberger
Norbert Podewin
Lutz Boede
Günter Meier
Klaus-Jürgen Künkel
Peter Michel
Georg Grasnick
Armin Stolper
Siegfried Mechler
Für die Würde des deutschen Volkes
Verbrechen an der deutschen Kultur
Wiedergelesen aus heutiger Sicht
Lebendige Geschichte
Probleme mit der Wahrheit
Horst Michel versus Walter Ulbricht
Landwirtschaftswissenschaftliche Forschung
Die können ja noch malen!
Früchte der "Wende" (II)
Requiem für eine Kranführerin
Vom Nutzen des Gedenkens

Fakten und Meinungen
Wiljo Heinen
Fritz Welsch
Kleine "Siege der Vernunft"
Johan Galtungs Beitrag zur Friedenstheorie

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"
Maria und Peter Michel
Yoel Moreno-Aurioles Pupo
Peter Michel
Im Atelier
Baum meiner Seele
Das Einfache, das schwer zu machen ist

Personalia
Karl-Heinz Wendt
Ernst Woit
Wolfgang Konschel
Karl-Heinz Wendt
Werner Krecek
Rüdiger Bernhardt
Glückwunsch für Friedrich Wolff
Gratulation für Horst Schneider
Er fehlt uns
Abschied von einem Freund
Alle Kunst hat eine Tendenz
Die Konturen einer menschlichen Zukunft

Rezensionen, Annotationen, Empfehlungen
Klaus Eichner
Horst Jäkel
Dieter Rostowski
Wolfgang Runge
Klaus Georg Przyklenk
Bernhard Igel
Maria Michel
Horst Schneider
Eberhard Rehling
Werner Roß

"Üb' immer Treu und Redlichkeit"?
Gegen die kannibalische Weltordnung
Ritterlich?
Unverfälscht
Das Urteil des Paris
Wirklichkeit und Traum
Ein verlorenes Klischee
Im Schatten des Kreuzes
Rentenpolitik und Menschenrechte
"Deal" statt Volksjustiz
Annotation

Marginalien


Heidrun Hegewald

Echo
Errata
ICARUS-Nachruf
Ein paar kleine Wahrheiten

*

Abschied nach 18 Jahren

Mit diesem Doppelheft verabschieden wir uns von unseren Lesern und Freunden. Von uns nicht zu beeinflussende, vor allem finanzielle Gründe zwingen uns, das Erscheinen unserer Zeitschrift ICARUS einzustellen. 1994 gegründet von Prof. Dr. sc. jur. Uwe-Jens Heuer (†), Prof. Dr. sc. phil. Siegfried Prokop und dem langjährigen Vorsitzenden der GBM Prof. Dr. sc. phil. Wolfgang Richter, hat sich der ICARUS unter den Mitgliedern und Sympathisanten der GBM einen geachteten Namen erworben. Die erste verantwortliche Redakteurin war die Medizinerin Dr. Christa Anders. Zunächst beschäftigte sich die Zeitschrift vor allem mit Fragen der sozialen Theorie und der Menschenrechte. Das blieb auch weiter so; doch ab 2004 erweiterte sich das Profil um Probleme der Kultur, und der ICARUS erhielt dank der engagierten Mitarbeit des Grafikdesigners Prof. Rudolf Grüttner ein ästhetisch anspruchsvolles Äußeres. Ständig war diese Zeitschrift mit den Schwerpunkten der Tätigkeit der GBM eng verbunden, u.a. mit dem Kampf gegen Verletzungen der Menschenrechte im In- und Ausland, mit aktuellen Fragen der Faschismusforschung, mit den Zusammenhängen von Krieg, Frieden und Globalisierung und mit den Versuchen, die Geschichte zu fälschen. Auch die Aktivitäten des Freundeskreises "Kunst aus der DDR" spielten in den vergangenen Jahren eine zunehmende Rolle. Alles das geschah ehrenamtlich und selbstlos; kein Text- oder Bildautor, kein Redakteur erbat und erhielt ein Honorar. Alles geschah freiwillig - aus der Überzeugung heraus, dass eine solche Zeitschrift für den Austausch von Argumenten und Meinungen über politische, philosophische, menschenrechtliche, historische, ökonomische, soziale, rentenrechtliche, juristische und kulturelle Fragen unerlässlich ist. Die Autorenkartei des ICARUS umfasst mehr als 250 Namen: Historiker, Politologen, Völkerrechtler, Juristen und Rechtswissenschaftler, Friedensforscher, Philosophen, Ökonomen, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Staatsrechtler, Botschafter a. D., Ingenieure, Journalisten, Theologen, Naturwissenschaftler, Mediziner, Agrarwissenschaftler, Sportwissenschaftler, Kunst-, Kultur- und Medienwissenschaftler, Literatur-, Theater- und Filmwissenschaftler, Schriftsteller, Maler, Graphiker, Bildhauer und Karikaturisten. Auch Autoren aus der Schweiz, aus der Tschechischen Republik, aus Polen, den USA, Kuba und Bulgarien schrieben für den ICARUS und bewiesen ihre solidarische Haltung. Künstler, deren Werke wir abbilden durften, verzichteten auf ihre Urheberrechtsgebühren. Der ICARUS wurde getragen vom Zusammengehörigkeitsgefühl aller, die - in welcher Form auch immer - an ihm mitarbeiteten. Ihnen allen und unseren treuen Lesern ist Dank zu sagen! 18 Jahre sind eine lange Zeit - und alles, was in diesen von gesellschaftlichen Widersprüchen durchzogenen nahezu zwei Dezennien an Erkenntnissen und Erfahrungen zusammengetragen wurde, kann auch in Zukunft nachgelesen und für die Forschung erschlossen werden.

Karl-Heinz Wendt
Bundesvorsitzender der GBM

Dr. Peter Michel
Verantwortlicher Redakteur

*

Kolumne

Wolfgang Richter

Der Kampf des Westens um sein Überleben

Der Zerfall des europäischen sozialistischen Lagers am Ende des 20. Jahrhunderts hinterließ uns nicht gerade die Hoffnung, mit der Überlegenheit seiner weltanschaulichen Argumente die Schwäche seines Systems zu heilen. Für einen kurzen historischen Moment erschien auch so manchem im Zentralen Arbeitskreis für Friedensforschung der Humboldt-Universität zu Berlin die Weisheit des Nobelpreisträgers Linus Pauling noch der beste Rat: "Es ist jetzt die Zeit gekommen, da Realistik, Selbstsucht und Ethik zusammenarbeiten müssen."

Das war mehr und weniger als der "kritische Rationalismus" eines Karl Popper, der uns nur "mit der Stange im Nebel" stochern lässt und zum Lieblingsphilosophen Helmut Schmidts wurde. Der Geist des Positivismus, eine neopositivistische Grundgestimmtheit, durchwaberte den Zeitgeist. Nicht die Suche nach der Gesetzmäßigkeit geschichtlicher Verläufe überfiel uns in schlaflosen Nächten, die Suche nach dem, was die wissenschaftliche Weltanschauung noch so hergab, sondern in die "Selbstorganisation der Materie" und Fraktale setzten wir Hoffnung. Kleine Ursachen, große Wirkung. Und so verlief die Zeit seither Und die russische Politikwissenschaft hat als Abschied von der Planwirtschaft auch nur das übriggelassen, was Fjodor Ljukanov resümierte: "Der Verlauf der Ereignisse in den vergangenen Jahren hat gezeigt, dass eine ernsthafte strategische Planung in der heutigen unvorhersehbaren Welt fast keinen Sinn hat. Es hat sich herausgestellt, dass Russlands bisherige Taktik des Reagierens auf die sich ständig verändernden Impulse die einzig richtige Entscheidung ist." Darauf bereitete Putin sich und das Land vor. Das Machbare bei Wahrung seiner Interessen je nach Lage in eigener Verantwortung zu tun, entspricht eher ohne ernsthafte theoretische Debatte quasi stillschweigend einem akzeptierten Bedeutungsverfall der marxistischen Theorie der Gesellschaftsformation und der objektiven Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Dieser Bedeutungsverfall ist ja auch die Grundlage dafür, dass das Ende des Kalten Krieges nicht als Sieg einer Gesellschaftsordnung schlechthin, sondern als Grundlage der Entwicklung eines einheitlichen politischen Systems nach dem Beispiel der USA verstanden wird.

Über die bisherigen Blöcke hinweg betrachtet, wurde der weltanschauliche Schwenk mitvollzogen, sich vom bisherigen progressiven marxistischen Weltverständnis sozialistischer Politiker zu trennen - hin zum praktisch-pragmatischen Weltverständnis politischer Wissenschaften, zu Max Webers "Idealtypus" statt zu marxistischer Begrifflichkeit und zum Individualismus bürgerlicher Philosophien statt zum kollektiven revolutionären Subjekt. Die Dialektik war uns ohne nennenswerte Weiterentwicklung zur Lösung der Probleme eines Epochenwechsels und der Zukunftsgestaltung der gesamten Menschheit hinterlassen worden. Hegel war wohl noch hilfreicher, anregender als der Neukantianismus. Das Auseinanderfallen von Materialismus und Dialektik war dennoch ein Erbübel, das uns auch durch noch so angestrengte Erforschung des Realen keine Hoffnung zu versprechen vermochte. Im angelsächsischen Raum herrschte antidialektische Tradition. Im Osten waren utopisch-dialektische bis mechanisch-materialistische Denkfiguren dominant, ohne ihre philosophische Durchdringung auf der Ebene umfassender weltanschaulich-wissenschaftlicher Analysen zu erfahren. Die Worte Ljukanovs sind eine Bankrotterklärung eines Historischen Materialismus.

Das beherrschende Buch der Jahrtausendwende war in den USA und über sie hinaus das Menetekel des neokonservativen Vordenkers Francis Fukuyama: "Das Ende der Geschichte" (1990), das er "marxistisch" nennt. Doch von dieser fatalen Prophezeiung wandte er sich kurz nach dem Attentat vom 11.9.2001 jäh wieder ab. Er schrieb einen neuen Bestseller: "Scheitert Amerika? Supermacht am Scheideweg", und er warf der Bushregierung darin nachträglich vor, "leninistisch" zu agieren und Geschichte übers Knie brechen zu wollen. Doch während der "Leninismus" als eine Tragödie ausging, so sei er in den USA nur als Farce wiederholt worden, wie der Irakkrieg beweise. Die Vision einer wohl- und wundertätigen Hegemonialmacht, die sich Sonderrechte gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft herausnimmt und sich über globale Institutionen wie die UNO einfach hinwegsetzt, sei keineswegs die richtige Interpretation seiner neokonservativen Gesinnung. Er könne sie nicht mehr unterstützen. Kein Wunder, dass die hartleibigen Neocons - wie Krauthammer oder Wolfowitz - entsetzt aufschrieen. Norman Podhoretz schrieb einen "Anti-Fukuyama" mit dem Titel "Der Vierte Weltkrieg: Wie er begann, was er bedeutet und warum wir gewinnen müssen". Hatte doch Fukuyama in seinem neueren Buch nichts weiter gefordert als die Entmilitarisierung der Außenpolitik der USA und ihre Achtung der internationalen Institutionen.

Ähnlichkeiten hat diese Umkehr jedoch auch mit Brzezinskis Kehrtwende. Meist gibt es für ein solches Phänomen gleiche Ursachen. Zunächst schrieb Brzezinski Mitte der Neunziger sein bekanntestes Buch "Die einzige Weltmacht". Es war voller unilateralen Sendungsbewusstseins, dass Amerika sich unbedingt als konkurrenzlose Weltmacht entfalten müsse. Den wichtigsten Platz dafür dachte er dem so genannten Seidenstraßenprojekt und dem Kaspischen Becken wegen seiner Energievorräte zu. 2008 erschien das Buch "Second Chance", in dem er seine bis dato immer präsente Russlandfeindschaft - bisher sozusagen sein Haupthobby - aufgab. Vielmehr sei es für das Überleben des Westens dringend notwendig, Russland zu integrieren. Im Frühjahr 2012 überraschte er die Welt mit seinem Buch "Strategic Vision", in dem er tatsächlich zugab, dass ein großer Machtverlust der USA eingetreten ist und aus einer unipolaren Welt die multipolare Welt Realität wurde.

Völlig überraschend wurde die aggressive außenpolitische Linie der USA - von "humanitärer Intervention" bis "r2p" (responsibility to protect) - von einem ihrer führenden Adepten nicht nur mit Zweifeln überzogen; auch in UNO-Gremien wie dem Sicherheitsrat wurde ihre angebliche Völkerrechtskonformität stark erschüttert. Das Scheitern dieser Strategie im Libyenkrieg tat ein Übriges. Für die USA, so ein Fazit, wird die Integration Russlands in die Weltpolitik selbst zur Überlebensfrage.

Aber was ist nicht auch alles geschehen in diesen letzten 20 Jahren? Nicht nur ihre weltpolitischen Kriegsabenteuer beschädigten die Autorität der westlichen Führungsmacht, sondern auch ihre ruinöse wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Krisenlage; im Lande gibt es die längste Krise seit 80 Jahren. Joseph Kishon schrieb kürzlich: "Was in den USA passiert, kann man nur als soziale Konterrevolution bezeichnen. Es ist die rücksichtslose und systematische Zerstörung grundlegender Errungenschaften und sozialer Rechte, die von der Arbeiterklasse in einem Jahrhundert durch harte Kämpfe errungen wurden."

Wie Brzezinski 1996 Russland in scharfen Urteilen als völlig gescheiterten Staat betrachtete, so kommt er heute über die USA zu einer nicht weniger vernichtenden Erkenntnis. In seinem und zu seinem neuesten Buch äußert er, dass "die westliche Staatengemeinschaft nur überleben (könne), wenn sie ihr Verhältnis zu übrigen Welt grundsätzlich überdenkt."[1]

Brzezinski warnt: "Wir können nicht länger der globale Polizist sein, denn es wird uns in den Bankrott treiben, innenpolitisch soziale Wut entfachen und international zum Verlust unserer Legitimität führen." Und an anderer Stelle äußert er seine zentrale Befürchtung: "Amerika könnte die gleiche Art von systemischer Lähmung erleben, mit der die Sowjetunion in den 80er Jahren konfrontiert war." Er führt sechs aktuelle Parallelen mit den USA auf: "1. Ein festgefahrenes und reformunfähiges politisches System, 2. Bankrott durch militärische Abenteuer und übermäßige Rüstung, 3. sinkender Lebensstandard der Bevölkerung, 4. eine politische Klasse, die zunehmend unsensibel für die steigende soziale Ungleichheit und nur darauf bedacht ist, ihre Privilegien zu verteidigen, 5. Versuche, den außenpolitischen Legitimitätsverlust durch außenpolitische Feindseligkeit zu kompensieren, und 6. eine Außenpolitik, die in die Selbstisolation führt." Ein ebensolcher Weg, das ist das Trauma der politischen Elite der USA.

Russland tritt hingegen selbstbewusst und fordernd auf. Die Nichtübereinstimmung der Interessen der Großmächte einmal vorausgesetzt, muss Russland nach Putin eine Weltmacht bleiben, die als Akteur in der Weltpolitik generell präsent ist. Putin betrachtet aber Russland nicht als einen systemischen Opponenten der USA (wie viele meinen), sondern als einen Garanten des klassischen Systems der Visionen und Beziehungen, die seiner Ansicht nach die BRICS-Staaten teilen. Das sind Staaten, die als Schwellenländer ein hohes Wachstum haben - wie Brasilien, China, Indien, Russland und Südafrika - und die sich auf gesonderten Zusammenkünften verständigen. Nicht eine einheitliche Weltanschauung sollte einst auch die nichtpaktgebundenen Staaten einen, sondern ihre Abstinenz von einer solchen. Mehrere Bündnisse von Nichtpaktgebundenen und Blockfreien drängen wieder an die Weltöffentlichkeit. Aber für die BRICS-Staaten steht im Zentrum, das klassische Völkerrechtsverständnis zu bewahren. Im Focus der internationalen Beziehungen steht demnach das seit Jahrhunderten geltende Prinzip der Souveränität. Und damit verbindet sich die Meinung, dass der (ohnehin selektive) Schutz der Menschenrechte von außen nur einfache Demagogie sei.

Putin vergaß nicht, mit seiner deutlichen Wiederwahl als Präsident seine strategischen Positionen erneut zu formulieren. Wenn er Recht hat, dass die BRICS-Staaten diese Meinung teilen, dann haben sie 40 Prozent der Weltbevölkerung (ca. 3 Milliarden) in die Beschlüsse (ob Konventionen, Resolutionen oder Erklärungen) der UNO-Gremien einzubringen. Fjodor Ljukanov, Chefredakteur von "Russia in Global Affairs", resümiert interpretierend die russische Weltsicht; sein Rat ist: "Russland soll vor allem nicht mehr auf die Ereignisse vor 20 Jahren zurückblicken". Putin schrieb noch bestärkend, die Post-Sowjet-Ära sei zu Ende und inhaltlich ausgeschöpft. Das ist wichtig, weil der Zerfall der Sowjetunion zuvor als Ausgangspunkt bezeichnet worden war. Das Land und die politischen Eliten konnten das Trauma lange Zeit nicht überwinden. In Putins letztem Artikel wird der Kalte Krieg fast nicht mehr erwähnt, was ungewöhnlich ist; vorher kam man ohne diesen Begriff nicht aus.

Aber ist eigentlich die "Sowjet-Ära" auch inhaltlich ausgeschöpft? Soll man sie wie einen toten Hund behandeln? Die DDR-Ära auch? Und was bleibt von ihrer gemeinsamen Weltanschauung?

Putin erhielt bei den Wahlen in Russland die sichere Mehrheit, etwa 63 Prozent, trotz vieler Debatten. Anfang November stehen die Wahlen in den USA bevor. Viele - wie Johan Galtung - sagen den USA bis 2020 den Zusammenbruch voraus. Ihr Motiv seien nicht mehr die klassischen Interessen der Arbeiter. Vom Standpunkt eines globalen "gesellschaftlichen Gesamtarbeiters" haben wir jedoch noch genug klassische Ausbeutung und Elend (Marx), ehe man ihres Ermangelns wegen den Marxismus grundsätzlich verändern müsste. Aber ich will noch weitergehen. Auch diejenigen, die sich "nur" dagegen wehren möchten, dass man nicht mehr gegen sie interveniert, sie nicht mehr mit imperialistischen Aggressionen überzieht, wenden sich damit primär gegen kapitalistische Ausbeutung durch Krieg, gegen die Vernichtung der Arbeits- und Lebenskräfte der Menschen, ihrer Arbeitsplätze und ihres Landes.

Im nächsten Jahr wählt man auch in der BRD. Bleiben wir bei den USA. Wir wissen nicht, ob Obama oder Romney gewinnen wird, aber wir wissen, dass eine neue Linke in den USA sich rührt, ob in der Occupy-Bewegung, ob in Ohio oder Wisconsin. Selbstverständlich ist der politische Alltag und Betrieb fast durchgängig korrumpiert. Aber, obwohl das natürlich allen politisch tätigen Kräften der Gewerkschaften, der wenigen alternativen Parteien oder Bewegungen bekannt ist, gibt es auch diesmal die Überzeugung: "Selbst wenn es nicht die "money power" wäre, die amerikanische Wahlkämpfe so konservativ ausrichtet, würden die Strukturen für das gleiche Ergebnis sorgen."

Dessen bin ich mir nicht so sicher. Aber es wäre die logische Konsequenz der Kämpfe, von denen uns Wisconsin ein Beispiel gab: mit 150.000 Demonstranten in einer Stadt mit 200.000 Einwohnern, die sich wegen der Missstände der Politik ihres Gouverneurs Walker zu seiner Abwahl entschlossen hatten und dafür 900.000 Unterschriften sammelten. Sie vermittelten das Gefühl der Solidarität mit einem "work in progress". Auch dass die Republikaner der ganzen USA riesige Geldmengen aufzubringen vermochten, um Wisconsin für die Republikaner zu retten, kann nicht entmutigen. Sie waren nur knappe Sieger. Die neue Linke ist noch nicht die dringend notwendige nächste neue Linke "neuen Typus". Doch resümierte sie schon, sie müsse sowohl auf den Straßen als auch an den Wahlurnen präsenter sein. Sie müsste allen zeigen, dass alles, was jetzt geschah, nur ein Anfang war - aber ein Anfang, ein Beginn, der größer und besser ist als das, was wir vorher kannten.


Anmerkung:

[1] Hauke Ritz: Warum der Westen Russland braucht, in: Blätter für deutsche Politik und Wirtschaft, Nr. 7/2012, S. 94


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Prof. Dr. sc. phil. Wolfgang Richter, seit der Gründung der GBM deren Vorsitzender, erwarb sieh um unsere Menschenrechtsorganisation große und bleibende Verdienste. Er schied am 31. Mai 2012 auf eigenen Wunsch aus gesundheitlichen Gründen aus dieser Funktion aus, bleibt Mitglied des Vorstandes der GBM und wird an ihrer Arbeit weiter aktiv teilnehmen.

- Demonstration in Wisconsin im Februar 2011

*

In eigener Sache

Karl-Heinz Wendt

Die GBM im dritten Jahrzehnt

Sieht man zurück auf die Anfänge der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde (GBM), so wird deutlich, dass sich an den grundlegenden Aufgaben seit ihrer Gründung kaum etwas geändert hat. Bereits 1991, als die GBM noch als "Unabhängige Arbeitsgruppe zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen und zum Schutz der Menschenrechte in den neuen Bundesländern und in Berlin" entstand, war formuliert worden: "Massenhaftes Unrecht geschieht. ... Menschen werden um ihre Arbeit, um Lebensunterhalt und Lebensziele gebracht. Berufsverbote infolge politischer Ausgrenzung greifen um sich; selbst vor Behinderten macht man nicht hält. Wohn- und Eigentumsrechte sind gefährdet, schon gibt es Obdachlose, Kinderkrippen- und Kindergartenplätze werden drastisch verteuert oder ganz abgeschafft. Menschenwürdiges Leben wird für viele unerschwinglich. Frauen sehen sich wieder an den häuslichen Herd verbannt. ... Jugendliche verlieren Freizeit- und schulische Fördereinrichtungen. Studieren wird - wie so vieles - wieder vom Geldbeutel abhängig. ... Neofaschisten drangsalieren uns, Meinungsfreiheit und andere Persönlichkeitsrechte werden eingeschränkt."[1]

Diese Feststellung könnte ebenso gut heute getroffen worden sein, denn sie hat leider nichts an Aktualität verloren. Zum damaligen Zeitpunkt hatte wahrscheinlich niemand angenommen, dass sich die gesellschaftliche Entwicklung im nunmehr "DDR-freien Deutschland" so vollziehen würde, dass Menschenrechtsforderungen auch noch nach mehr als 20 Jahren aktuell sein würden; mit dem Beitritt der DDR zur BRD waren sie nur noch offensichtlicher geworden.

Das gesellschaftliche System des jetzt "konkurrenzlosen" Kapitalismus ließ in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten keine Gelegenheit ungenutzt, die auch im Grundgesetz der BRD verankerten Menschenrechte einzuschränken und zu beschneiden. Bekanntlich hat das zu gravierenden Veränderungen der sozialen Verhältnisse geführt, zuerst in den so genannten neuen Bundesländern, in zunehmendem Maße aber auch in den alten. Davon ließ sich jedoch keine der seit 1990 amtierenden Bundesregierungen beeindrucken. Umso bedeutender sind durchaus signifikante Teilerfolge der Arbeit von Menschenrechtsorganisationen, darunter nicht zuletzt der GBM, die nicht übersehen oder gering geschätzt werden. Sie sind trotz aller Schwierigkeiten Beweis für die Richtigkeit und Notwendigkeit unserer Arbeit.

Was Anfang der Neunzigerjahre wohl kaum jemand für möglich hielt, wurde inzwischen wieder Wirklichkeit: Deutschland ist erneut zu einem aktiv Krieg führenden Land geworden! Deshalb muss auch immer wieder die Frage gestellt werden: In wessen Interesse sind deutsche Soldaten in so vielen Gebieten der Welt kriegerisch eingesetzt? Seit wann werden Menschenrechte durch das Militär verteidigt? Das hat im Laufe der Zeit auch zu einer Verlagerung der Schwerpunkte der Arbeit der GBM geführt. Der Kampf um die Erhaltung des Friedens ist ganz entschieden in den Vordergrund unserer Arbeit getreten. Ein Leben in Frieden ist eines der Grundrechte, die bereits in der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" (Art. 3.) verankert wurden.[2]

Das bedeutet nicht, dass andere, bisher bereits mit Erfolg bearbeitete Felder bei der Wahrung der Menschenrechte in der BRD in den Hintergrund treten. Zu nennen sind hier beispielhaft der anhaltende und unverändert notwendige Kampf um eine Rentengerechtigkeit für die Bürger der DDR, die bis zum heutigen Tage einer willkürlichen, durch nichts zu rechtfertigenden Beschneidung ihrer rechtmäßig erworbenen Rentenansprüche ausgesetzt sind. Hier ist nur von der geringeren Bewertung des Rentenpunktes die Rede, nicht von der als Bestrafung ganzer Bevölkerungsgruppen angewandten Kürzung von in der DDR erworbenen Ansprüchen.

Es geht weiter um die Bewahrung materieller und immaterieller Werte, die nach wie vor von politisch motiviertem Kulturvandalismus bedroht sind, soweit sie nicht bereits der Beseitigung in verschiedenster Form anheim gefallen sind.

Viele gesellschaftliche Organisationen setzen sich heute auf ganz unterschiedliche Weise im Ringen um die Wahrung der Menschenrechte an Ort und Stelle ein. Sie alle leisten eine unverzichtbare Arbeit, um der immer ausgeprägter nur noch dem internationalen Finanzsystem verpflichteten politischen Macht humanistische und dem menschlichen Leben gerecht werdende Ideen und Ideale entgegenzusetzen. Deshalb erachten wir es als eine Grundvoraussetzung für eine weitere erfolgreiche Arbeit unserer Gesellschaft, ein möglichst enges Zusammenwirken mit diesen in unserem Verständnis progressiven Partnern zu suchen und zu gestalten.

In diesem Sinne streben wir eine Bündelung unserer Kräfte und Möglichkeiten an. Vor allem sollten wir uns für die Neugestaltung der schon aus ökonomischen Gründen begrenzten Möglichkeiten unserer Öffentlichkeitsarbeit einsetzen. Die publizistischen und editorischen Potenzen sollten stärker als bisher für die gemeinsame Auseinandersetzung mit dem von den bürgerlichen Massenmedien verbreiteten Halbwahrheiten und Lügen über die tatsächlichen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse genutzt werden.

Und wir erkennen immer deutlicher, dass es möglich ist, besonders auf territorialer Ebene eigenständige Beiträge zum gemeinsamen Ringen vor allem um die Erhaltung des Friedens und menschenwürdiger Verhältnisse für alle Bürger zu leisten.

Der Grenzen, die unserem Wirken gesetzt sind, sind wir uns wohl bewusst; die Altersstruktur unserer Organisation entwickelt sich immer ungünstiger. Wir können und wollen nicht die Aktionsformen und -methoden kopieren, die beispielsweise von der antifaschistischen Jugend angewandt werden. Aber wir können unsere Lebenserfahrung, unser Wissen und vor allem die Potenzen zur Verbreitung der geschichtlichen Wahrheit einbringen. Der Kampf gegen die regierungsamtlich verkündete und mit äußerstem Einsatz betriebene Delegitimierung der DDR und aller progressiven Leistungen der Werktätigen bleibt ein Grundanliegen unserer Arbeit.

Unverändert große Bedeutung hat für uns die Solidarität mit all denen, die von Willkür und Einschränkung ihrer Menschenrechte betroffen sind. Das schließt auch die internationale Solidarität ein, die unter den Bedingungen der Globalisierung und der Krisen des Kapitalismus zunehmend wichtiger wird.

Die Erhaltung des Friedens, der Kampf um die Beendigung der Beteiligung Deutschlands an Kriegen der NATO oder an mit Krieg gleichzusetzenden Einsätzen der Bundeswehr in aller Welt ist und bleibt Hauptanliegen all unserer Einzelaktionen, die wir entsprechend unserer Satzung gemeinsam mit Bündnispartnern aus dem gesamten gesellschaftlichen Spektrum gestalten.

So unterscheiden sich die Aufgaben der GBM im dritten Jahrzehnt ihrer Existenz nicht grundsätzlich von denen, die bereits bei ihrer Gründung wichtig waren; eine solche Feststellung spricht nicht für eine positive Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse in unserem Lande. Aber diese Situation fordert von uns, die wir heute die Arbeit unserer GBM zu organisieren und zu gestalten haben, mit immer neuen Ideen die Aufgaben zu lösen, die wir auf der Delegiertenkonferenz Ende Mai 2012 beschlossen. Nicht wenige, die bereits seit mehr als 20 Jahren durch aufopferungsvolle ehrenamtliche Tätigkeit in unseren Reihen wirken, sind uns dabei Vorbild und Ansporn.


Anmerkungen:

[1] Zitiert nach: GBM - 20 Jahre Kampf um Bürgerrecht und Menschenwürde, S. 21

[2] Resolution 217 A (III) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Karl-Heinz Wendt während der Eröffnung der Ausstellung mit Bildern des kubanischen Malers Yoel Moreno-Aurioles Pupo in der GBM-Galerie Berlin. Er wurde von der Delegiertenkonferenz der GBM am 31. Mai 2012 zum Vorsitzenden der GBM gewählt.

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In eigener Sache

Eckart Mehls

Chronik eines politischen Skandals

Zum Ausschluss der GBM aus dem Forum Menschenrechte

Im Januar 1994 gründeten Menschenrechtsorganisationen der BRD im Anschluss an die Wiener Menschenrechtskonferenz (1993) mit dem Ziel, ihr Wirken zur Umsetzung der Beschlüsse der Konferenz besser zu koordinieren und zu intensivieren, unter der Bezeichnung "Forum Menschenrechte" (FMR) ein "nationales Bündnis von Nicht-Regierungs-Organisationen in Deutschland, die sich in der Menschenrechtsarbeit engagieren". Gründungsmitglied dieses Forums ist auch die Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde (GBM), die, 1991 in Berlin gegründet, auch an der Wiener Menschenrechtskonferenz teilgenommen hatte. Das Forum versteht sich, wie es in den Statuten beschlossen wurde, "als themen- und aktionsorientierte Arbeitsgemeinschaft" mit den Zielen

"(a) der Informationsvermittlung und des Erfahrungsaustauschs unter den Mitgliedsorganisationen;

(b) der Durchführung gemeinsamer Vorhaben zur Verbesserung des Menschenrechtsschutzes in unserem Land und durch unser Land;

(c) der Abstimmung und Vertretung der Interessen der deutschen mit Menschenrechtsschutz befassten Nicht-Regierungs-Organisationen auf internationaler Ebene;

(d) der Kritik und Begleitung der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene sowie der Arbeit deutscher Experten und Expertinnen in weiteren internationalen Menschenrechtsinstrumenten;

(e) der Unterstützung der Bewusstseinsbildung in Deutschland über Universalität und Komplexität der Menschenrechte;

(f) der Nacharbeit und Umsetzungskontrolle des von der Wiener Menschenrechtskonferenz verabschiedeten Abschlussdokumentes." (§ 1, 1.4 der Statuten)

In voller Übereinstimmung mit den in den Statuten fixierten Grundsätzen und Zielen hat sich die GBM in der nunmehr 18-jährigen Mitgliedschaft im FMR an den vom Forum vereinbarten Handlungsoptionen beteiligt. Regelmäßige Teilnahme an den Beratungen des Plenums des FMR, an den Jahresklausuren und aktive Mitarbeit in verschiedenen Arbeitsgruppen belegen dies. Entsprechend dem Grundkonsens des FMR, nicht als ein politisches Bündnis auf der Grundlage gemeinsamer politischer oder weltanschaulicher Positionen zu wirken, trug die GBM die Übereinkunft mit, dass es jeder Mitgliedsorganisation frei stehe, bestimmte Aussagen in Erklärungen und Dokumenten des Forums nicht mittragen zu müssen. Diese der praktischen Arbeit des Forums sehr dienliche so genannte "salvatorische Klausel" berücksichtigte, dass dem gemeinsamen Wirken für die Beförderung der Menschenrechte weltweit und in der Bundesrepublik sehr unterschiedliche bis gegensätzliche politische Grundpositionen zugrunde liegen können. Als logische Konsequenz schließt dies natürlich das Recht jeder Organisation ein, in einzelnen Verlautbarungen, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Vereinszweck oder gemeinsam geplanten Vorhaben des Forums stehen, eigene, den spezifischen Wirkungsbedingungen jeder Organisation entsprechende Positionen zu entwickeln und zu vertreten, soweit diese nicht im offenen Widerspruch zu gemeinsam vereinbarten und im Statut fixierten Zielen und Grundsätzen stehen.

Seit Gründung des FMR hat sich dieser Grundkonsens vielfach bewährt. Auf ihn gegründet haben mal alle, mal einige besonders an einer spezifischen menschenrechtlichen Problematik interessierte Mitgliedsorganisationen stets komplikationslos zusammengearbeitet und ihre Sichten und Erfahrungen in schließlich gemeinsame Wertungen, Vorschläge und Positionsbestimmungen des FMR einbringen können. Regelmäßig war die GBM z.B. an der Erarbeitung von Parallelberichten des Forums zu den Berichten der Regierung der BRD über die Umsetzung der sich aus den ratifizierten menschenrechtlichen UNO-Konventionen ergebenden Rechte an die zuständigen UNO-Ausschüsse beteiligt.

Als ein Ergebnis dieses Wirkens der GBM im Rahmen des FMR haben die UNO-Ausschüsse in ihren "Abschließenden Bemerkungen" zu Berichterstattungen der BRD mehrfach und nachdrücklich auf Defizite in der vollen Verwirklichung sowohl politischer und bürgerlicher als auch wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte in Deutschland hingewiesen und entsprechende Veränderungen angemahnt, zumeist leider ziemlich folgenlos. Dass die Probleme und menschenrechtlich Besorgnis erregenden Folgen des Prozesses der Herstellung der Einheit Deutschlands, wie sie sich besonders in den neuen Bundesländern zeigten, dabei des Öfteren eine Rolle spielten, ist eng mit dem Wirken der GBM verbunden. Dies trifft ebenfalls auf die teilweise harsche Kritik des UNO-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in seinen "Abschließenden Bemerkungen" vom 20.5.2011 zum 5. Staatenbericht der BRD über die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu. Diese "Abschließenden Bemerkungen" erregten im Übrigen den Unmut politischer Kreise der Bundesrepublik, der sich - man könnte mit Recht sagen: in typischer Weise - nicht gegen die kritikwürdigen Zustände und deren Verursacher, sondern gegen jene richtete, die den Finger auf die offene Wunde gelegt hatten.

Kurz darauf, im Juli 2011, beschloss der Vorstand der GBM aus Anlass des 50. Jahrestages der Sicherung der Staatsgrenze der DDR eine vom Alternativen Geschichtsforum vorbereitete Erklärung unter dem Titel "Friedenssichernde Maßnahme". Es war das Anliegen dieser Erklärung, in einer polemisch aufgeheizten Debatte allen die Würde von ehemaligen DDR-Bürgern verletzenden Anwürfen, die in Polemiken und Insinuationen die tatsächlichen Ereignisse in der Darstellung ihrer Ursachen und Wirkungen verfälschen, mit dem Ziel der Versachlichung der Debatte entgegenzutreten. Betrachtet man sie allerdings allein unter dem Gesichtspunkt menschenrechtlicher Konsequenzen der Schließung der Staatsgrenze und der im weiteren Verlauf evidenten Unterlassungen der Regierung der DDR, ihren übernommenen völkerrechtlich verbindlichen Verpflichtungen aus internationalen Konventionen und ähnlichen Verpflichtungserklärungen (z. B. Schlussakte von Helsinki 1975) gerecht zu werden und sie in innerstaatliches Recht umzusetzen, ist sie durchaus kritisch zu sehen. Ungeachtet dessen bleibt bei der Bewertung dieser Erklärung als Ganzes, dass sie in keiner Weise ein Loblied auf den "Mauerbau" ist. Liest man sie unvoreingenommen, war es ihr ersichtliches Anliegen, den sich im politisierend-historischen "Mainstream" manifestierenden, geschichtspolitisch geförderten Einseitigkeiten und siegerhaften Umdeutungsversuchen entgegenzutreten.

Zur nicht geringen Überraschung der GBM wurde auf dem turnusmäßigen Plenum des FMR am 6.10.2011 die Forderung erhoben, gegen die GBM wegen der von ihr veröffentlichten Erklärung "Friedenssichernde Maßnahme", mit der die GBM, wie es im Protokoll der Tagung heißt, sich "außerhalb des Konsenses des Forums stellt" und in unerträglicher Weise die rote Linie der Tolerierbarkeit überschritten habe, ein Ausschlussverfahren einzuleiten.

Die GBM legte umgehend Protest gegen das Vorhaben ein. Sie legte dar, dass sie mit einer Erklärung zu einem historischen Vorgang, zu dessen Bewertung die Existenz gegensätzlicher Meinungen in einer pluralistischen Gesellschaft normal ist, in keiner Weise gegen die in den Statuten vereinbarten Grundsätze und Ziele, möglicherweise allerdings gegen die von der Mehrheit der Mitgliedsorganisationen vertretene Meinung verstoßen habe, was aber nach dem bisherigen Selbstverständnis des Forums und mit Berufung auf das völker- und verfassungsrechtlich gesicherte Recht der freien Meinungsäußerung niemals ein Ausschlussgrund sein könne. Völlig unberührt davon beschloss der Koordinierungskreis, auch ohne den Versuch einer klärenden Verständigung mit der GBM unternommen zu haben, einen Antrag zur Beratung in der Jahresklausur des FMR zum Ausschluss der GBM. Als Begründung wird darin formuliert: "Mit der Veröffentlichung der Erklärung "Friedenssichernde Maßnahme" des Vorstands der GBM vom Juli 2011 hat die GBM gegen die Grundsätze und Ziele des Forum Menschenrechte verstoßen." Gleichzeitig beauftragte der Antragsteller eine Anwaltskanzlei, ein Gutachten für eine detailliertere Begründung des Antrags zu erstellen. Das Gutachten erwies sich schließlich als ein für die Absicht des FMR letztendlich unbrauchbares (und im Übrigen niveauloses) Elaborat, das sich mit der Frage, ob die GBM gegen Grundsätze und Ziele verstoßen habe, insoweit beschäftigte, als das gesamte Repertoire der Delegitimierungsstrategie gegen die DDR (von Folter in Gefängnissen über abhängige Gerichte, höchst zweifelhafte Auslassungen über ein absolutes Recht auf Freizügigkeit bis hin zu Schießbefehl usw. usf), nicht aber die gestellte Frage des Antragstellers beantwortete - abgesehen von ausführlichen vereinsrechtlichen Darlegungen über Ausschlussverfahren an sich. Man könnte es mit Schweigen übergehen. (Es tauchte auch im Folgenden nicht wieder auf.) Allerdings ist es ein deutlicher Hinweis auf die eigentlichen politischen Hintergründe des Antrages auf Ausschluss eines von lediglich zwei Vereinen aus den neuen Bundesländern im FMR, der sich zudem konsequent und ständig für die Beachtung spezifisch ostdeutscher Probleme in der Menschenrechtsarbeit des Forums engagiert hatte.

Die Behandlung des Ausschlusses der GBM aus dem FMR während der Jahresklausur im Januar 2012 deutete bereits überdeutlich an, wie sich dessen Ende gestalten würde. Eine sachliche Auseinandersetzung mit der erweiterten Argumentation der GBM zu ihrem Standpunkt, dass man im rechten Verständnis des Forums und seiner Intentionen deutlich unterscheiden müsse zwischen der in der praktischen Arbeit des Forums zur Verwirklichung seiner Ziele und Zwecke einerseits und Bewertungen von historischen Ereignissen aus der beginnenden zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts andererseits, fand nicht statt.

Die Behandlung des Antrages endete mit der als großzügige Geste dargestellten Beschlussfassung, dass die GBM Gelegenheit erhalte, innerhalb von zehn Tagen sich erstens öffentlich von der "Erklärung" zu distanzieren, zweitens "öffentlich zu erklären, dass das rigide Grenzregime der DDR (u.a. die Mauer) zu massiven Menschenrechtsverletzungen geführt hat, dass sie beklagt, dass durch die Anwendung der Bestimmungen zum Schusswaffengebrauch Menschen, die ihr völkerrechtlich im Zivilpakt und in der EMRK verbürgtes Menschenrecht auf Freizügigkeit in Anspruch nehmen wollten, ihr Leben verloren" und drittens zu erklären, dass sie künftig darauf verzichten werde, ähnliche Erklärungen zu veröffentlichen.

Dass diese rigorosen Forderungen (die eine sachliche inhaltliche Auseinandersetzung mit den von der GBM im Vorfeld der Klausurtagung dem Koordinierungs-Kreis des FMR übermittelten Argumentationen über die Unhaltbarkeit des Vorwurfes einer Statutenverletzung völlig vermissen ließen), verbunden mit dem darin enthaltenen "Maulkorberlass" gegen die GBM, von deren Vorstand in dieser Form nicht akzeptiert werden konnte, war vorauszusehen (und geplant?). Der Vorstand der GBM wies mit einer ausführlichen Argumentation die Begründung des Ausschlussantrages zurück. Er machte auf sachfremde, weil Unterschiede in der Bewertung historischer Ereignisse betreffende Problemstellungen (Grenzregime in der DDR usw.) aufmerksam und beurteilte die oben genannten Forderungen als erpresserisch und für die GBM als Gründungsmitglied und aktiv an der Arbeit des Forums mitwirkender Verein als demütigend. Das FMR wertete aber das von der GBM gleichzeitig unterbreitete Dialogangebot zur konstruktiven Klärung der Angelegenheit als nicht ausreichend.

Das turnusmäßig am 23.5.2012 tagende Plenum des Forums Menschenrechte, an dem von den 50 Mitgliedsorganisationen 28 anwesend waren, beschloss, ohne dass es zu einer inhaltlichen Diskussion gekommen war, mit 25 Stimmen gegen eine Gegenstimme bei zwei Enthaltungen, der GBM mit sofortiger Wirkung die Mitgliedschaft im Forum Menschenrechte zu entziehen, weil sie die ihr am 21.1.2012 gebotene Gelegenheit zur Abgabe der geforderten Erklärungen nicht angenommen habe. "Honi soit qui mal y pense". (Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.) Aber zwei Bemerkungen wären dem hinzuzufügen: Zum einen ist dieser seinem Wesen nach politische Skandal mit Sicherheit einzuordnen in den größeren Zusammenhang des zu beobachtenden verschärften Rechtsrucks in der politischen Landschaft der Bundesrepublik. Die sich verstärkende Offensive gegen alle Denkrichtungen und politischen Orientierungen, die von der Meinung der gegenwärtig Herrschenden abweichen, wird offenbar mit immer rigoroseren Mitteln durchzusetzen versucht. Dass dabei die totale Diskriminierung und Delegitimierung der DDR eine besondere Rolle spielt, ist angesichts der bisher weitgehend erfolglos gebliebenen Versuche, deren ehemalige Bürger vollständig in den politisch-ideologischen "Mainstream" einzubeziehen, bekannt, wird fast täglich zelebriert und ruft Übelkeit hervor. Ob sich direkter politischer Druck auf das Forum Menschenrechte als Ganzes oder auf einzelne seiner Mitgliedsorganisationen oder aber nur Wirkungen der gezielten medialen Manipulation der "öffentlichen Meinung" manifestieren, ist eine zweitrangige Frage.

Zum anderen ist mit tiefem Bedauern festzustellen, dass sich offenbar im Forum Menschenrechte selbst deutliche Veränderungen abzeichnen. Waren Toleranz und Konsens im Verständnis der Ziele und Zwecke des Forums bisher prägend, traten bekannte Unterschiede bis hin zu Gegensätzen in weltanschaulichen und politischen Ansichten gegenüber dem möglichst breiten und aktiven Wirken für die Verwirklichung aller Menschenrechte für alle Menschen in den Hintergrund, so scheinen politischer Konformismus und Intoleranz an Gewicht zu gewinnen. Dass nunmehr einer großen und aktiven Menschenrechtsorganisation aus den neuen Bundesländern, die durch das Aufwerfen ihrer spezifischen Fragestellungen zunehmend den Unwillen der für die menschenrechtlichen Defizite verantwortlichen politischen Klasse erregte, erstmals in der Geschichte des Forums Menschenrechte mit fadenscheiniger Begründung die Mitgliedschaft entzogen wird, ist nicht nur für den Wandel des politischen Klimas symptomatisch, sondern wirft auch die Frage auf: Wer wird das nächste Opfer sein?


Das Ostdeutsche Kuratorium von Verbänden beschloss in seiner Beratung am 19. Juli 2012 folgende Erklärung:

Das Präsidium des Ostdeutschen Kuratoriums von Verbänden e.V. (OKV) verurteilt den Ausschluss der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V. (GBM) aus dem Forum Menschenrechte (FMR) und erklärt sich mit ihr solidarisch. Die GBM ist Gründungsmitglied des OKV wie des FMR und hat zeit ihres Bestehens an der Verteidigung der Menschenrechte mitgewirkt. Das OKV lehnt Gesinnungsterror ab, wie er in dem Beschluss des FMR zum Ausdruck kommt. Dabei hat die GBM von Anfang an gegenteilige Ansichten toleriert. In ihrer Stellungnahme zu dem Ausschluss betonte die GBM: "Entsprechend dem Grundkonsens des FMR, nicht als ein politisches Bündnis auf der Grundlage gemeinsamer politischer oder weltanschaulicher Positionen zu wirken, trug die GBM die Übereinkunft mit, dass es jeder Mitgliedsorganisation frei stehe, bestimmte Aussagen in Erklärungen und Dokumenten des Forums nicht mittragen zu müssen." Gerade diese Größe bringen ihre Kritiker nicht auf. In einem auch satzungsrechtlich unsauberen Verfahren wird sie aus dem FMR gedrängt, in dem sie aktiv und engagiert mitgearbeitet hat.

Bezeichnend ist auch, dass die Erklärung der GBM "Friedenssichernde Maßnahme" zum 50. Jahrestag der Sicherung der Staatsgrenze der DDR den Anlass zum Rauswurf bildete. Stehen doch der 13. August 1961 und die "Mauer" im Zentrum der unentwegten Aktionen zur Delegitimierung und politischen Diskriminierung der DDR. Die Forderung, diese Erklärung zurückzuziehen, eine gegenteilige Erklärung abzugeben, die dem politischen Mainstream angepasst wäre, und sich zu verpflichten, solche Erklärungen in Zukunft zu unterlassen, hätte der GBM ihre Würde genommen und ihre Mitwirkungsmöglichkeiten im FMR minimiert. Das Verfahren lässt darauf schließen, dass Organisationen in Ostdeutschland, die die Biografie und die Lebenserfahrungen ihrer Mitglieder bewahren und verteidigen, aus dem politischen Leben ausgeschaltet werden sollen.

"Eine Zensur findet nicht statt", heißt es im Grundgesetz. Doch politische Bevormundung und Disziplinierung Unbotmäßiger nehmen immer mehr zu. Der Umgang mit der GBM im FMR verstärkt die Überzeugung, dass Solidarität mit den Angegriffenen notwendiger ist denn je.

Das Präsidium des OKV


Das Antifaschistische Komitee gegen Krieg und Sozialraub beschloss am 1. Juni 2012 folgende Solidaritätserklärung:

Die Mitglieder der Antifaschistischen Komitees gegen Krieg und Sozialraub haben in ihrer Beratung am 1. Juni 2012 zur Kenntnis genommen, dass die GBM, die auch Mitglied des vorgenannten Komitees ist, aus dem Forum Menschenrechte (FMR) ausgeschlossen wurde. Als Begründung wurde die Erklärung der GBM zum 50. Jahrestag der Sicherung der Staatsgrenze der DDR zum Anlass des Ausschlusses genommen.

In dieser Erklärung wird geschichtsgetreu die aktuelle Gefahrensituation einer kriegerischen Konfrontation der beiden Weltmächte an der Nahtstelle zwischen NATO und Warschauer Pakt um den 13. August 1961 herum aufgezeigt, die durch die Maßnahmen der Warschauer Vertragsstaaten zur Sicherung der Staatsgrenze der DDR gebannt wurde. Das war eine friedenssichernde Maßnahme, die dazu beigetragen hat, dass Europa die längste Friedensperiode erleben durfte.

Gegenüber der vorherigen Androhung durch das Menschenrechtsforum, sich von der Erklärung zu distanzieren und sie zurückzuweisen oder aus dem Menschenrechtsforum ausgeschlossen zu werden, blieb die GBM standhaft, was unsere volle Unterstützung und Solidarität hat. Das Verhalten des Forums Menschenrechte zeigt, dass es die Geschichtsverklärung und seine Auffassung von Menschenrechten als Waffen im Interesse der herrschenden Politik und gegen politische Meinungsbildung instrumentalisiert.

Wir werden weiterhin solidarisch an der Seite der GBM stehen - bei ihrem Kampf zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde, bei ihren friedenspolitischen und antifaschistischen Aktivitäten, bei der Entlarvung von Menschenrechtsverletzungen und bei der Durchsetzung von internationalen Menschenrechtsnormen in der BRD.

i.A. Alfred Fritz


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Ehemaliger Hoheitszeichenturm der DDR an der Staatsgrenze West bei Teistungen

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Internationale Politik

Hellmut Kapfenberger

Washington, der Nahe Osten und der pazifische Raum

Friedensnobelpreisträger Obama auf Entspannungskurs?

Nachrichten aus dem Irak sind recht spärlich geworden. Von den USA und ihren Verbündeten gewollt und nach Kräften propagandistisch befördert, ist die internationale Aufmerksamkeit in der Region seit Monaten neben dem Iran an Iraks Ostgrenze nun ganz und gar auf den nordwestlichen Nachbarn Syrien fokussiert. Namentlich Washington ist ohne Frage sehr daran interessiert, den Eindruck entstehen zu lassen, ins Land an Euphrat und Tigris sei Ruhe eingekehrt. Nach Jahren von Krieg und Gewalt, auf Befehl von Präsident Bush jr. im Morgengrauen des 20. März 2003 mit der Bombardierung Bagdads eingeleitet, wäre das nur zu wünschen. Doch - wenn überhaupt - kann allenfalls von gelegentlichen Phasen sehr trügerischer Ruhe die Rede sein.

Vieles zeugt davon, dass im Gefolge der völkerrechtswidrigen militärischen USA-Intervention zur Zerschlagung bisheriger Machtstrukturen und jahrelanger verheerender ausländischer Besatzung hinter den Kulissen wie auch auf offener Bühne ein erbitterter Machtkampf tobt. Neben marodierenden Terrorgruppen unterschiedlicher Couleur sind als Wortführer der religiös geprägten Volksgruppen und politischer Flügel agierende skrupellose Fanatiker ebenso wie staatliche Funktionsträger für eine hochexplosive innenpolitische Gemengelage verantwortlich zu machen. Beredter Ausdruck dessen waren Anfang dieses Jahres mit Gewalt beantwortete Versuche des schiitischen Regierungschefs Nun al-Maliki, Repräsentant der größten Religionsgemeinschaft im Irak, sunnitische Politiker zu entmachten, und die von den schiitischen Behörden initiierte Interpol-Fahndung nach dem sunnitischen Vizepräsidenten Tarik al-Haschemi. Beschuldigt, eine Todesschwadron zur Ermordung von Richtern und Beamten finanziert zu haben, war dem außer Landes Geflohenen im Frühjahr in Bagdad in Abwesenheit der Prozess gemacht worden. Al-Haschemi wies die Anschuldigung als politisch motiviert zurück.

Wohl bilden die althergebrachten Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten heute den Hintergrund vieler Gewalttaten, doch verlaufen die Fronten durchaus nicht nur zwischen beiden traditionell antagonistischen islamischen Glaubensrichtungen. So war im März die südirakische Hafenstadt Basra Schauplatz einer gewaltigen Protestmanifestation von fast einer Million Schiiten. Einem Aufruf des radikalen schiitischen Predigers Muktada al-Sadr zu einem "Tag der Verteidigung der Unterdrückten" folgend, klagten sie "ihre" Regierung in Bagdad an, für Ungerechtigkeit und Armut verantwortlich zu sein. Ihr Verlangen nach Teilhabe an den Erdöleinnahmen, nach Demokratie, nach Versorgung mit Elektrizität, Bildung, bezahlbarem Wohnraum zur allgemeinen Verbesserung der Lebenslage ist fraglos auch Anliegen des sunnitischen Bevölkerungsteils. Anfang Juni forderte al-Sadr den Premier zum Rücktritt auf. Zu registrieren ist seit dem offiziellen Ende der militärischen USA-Präsenz ausgangs des vergangenen Jahres zunehmender, jedoch schon seit dem Sturz Präsident Saddam Husseins verübter Terror gegen die religiösen Minderheiten im Land. Die Minderheit der Schabak beklagt seit Saddams Sturz fast 1200 Tote aus ihren Reihen. Betroffen von religiös motivierter Gewalt sind gleichermaßen Jesiden und Christen.

Immer wieder ist auch die Kunde von barbarischen Anschlägen, offenbar nicht nur der Terrororganisation Al-Qaida und mit ihr verbündeter Terrororganisationen, mit hunderten Toten und Verletzten zu vernehmen. So kennzeichnete Bombenterror zum Beispiel gegen Angehörige der Sicherheitskräfte den 20. März dieses Jahres, den 9. Jahrestag des Beginns der USA-Aggression gegen die Republik Irak. Autobomben in Bagdad, in Kirkuk und Mossul im Landesnorden, in den südlich gelegenen Städten Latifijah, Kerbela, Hilla und Al-Kut, in Ramadi westlich und Tikrit nördlich der Hauptstadt rissen mehr als 40 Menschen in den Tod, forderten mehr als 180 Verletzte. Am 19. April war von 49 Toten und mehr als 170 Verletzten bei Autobombenanschlägen in Bagdad und sechs Provinzen die Rede, scheiterte knapp ein Attentat auf den Gesundheitsminister in der Metropole. Am 31. Mai wurde über 17 Tote und 41 Verletzte bei sieben Bombenanschlägen in der Hauptstadt berichtet.

Zum bislang blutigsten Monat wurde der Juni. Resultat eines Autobombenanschlags in Bagdad auf eine Stiftung, die religiöse schiitische Stätten im Lande verwaltet, waren am 4. Juni mindestens 22 Tote und 60 Verletzte. Der 13. Juni steht in der Terrorbilanz mit 72 Toten und etwa 200 Verletzten, in der Mehrzahl schiitische Gläubige und Pilger, bei etwa 40 Bombenanschlägen und Feuerüberfällen in Bagdad sowie sieben nord- und südirakischen Provinzen. Drei Tage später rissen zwei Autobombendetonationen in Bagdad mindestens 32 Menschen in den Tod, wurden fast 70 Menschen verletzt. 22 Tote und 50 Verletzte waren am 18. Juni bei einem Selbstmordattentat auf eine schiitische Trauergemeinde in der Stadt Bakuba zu verzeichnen.

Wer wollte überdies an mehr oder weniger verdeckter machtpolitischer Einflussnahme erbittert miteinander konkurrierender ausländischer Kräfte in dem ölreichen und zudem aus strategischer Sicht hochinteressanten Land zweifeln, die für offene oder schwelende innenpolitische Auseinandersetzungen zumindest mitverantwortlich gemacht werden muss. So steht bei all dem in den Sternen, ob der Irak den Weg zu Normalität findet, wie immer sie sich manifestieren möge, oder ob es ihm überhaupt gestattet wird, diesen Weg zu beschreiten. Vermutlich wird sich kaum jemand dafür verbürgen mögen, dass sich die Situation in dem zerrütteten, aus dem Gleis geworfenen Land in naher Zukunft definitiv und dauerhaft zu wirklich Gutem wendet, dass ihm vielleicht gar (auch von außen geschürte) bürgerkriegsähnliche Zustände in der Perspektive erspart bleiben können. Möchten selbst ausgewiesene Nahostkenner solche Fragen derzeit beantworten?

Wie aber hatte Präsident Barack Obama am 14. Dezember letzten Jahres bei einer Zeremonie auf der Militärbasis Fort Bragg (North Carolina) vor angetretenen Mannschaften und aufgefahrener schwerer Technik zum Ende des USA-Feldzugs getönt? "Wir hinterlassen einen souveränen, stabilen und selbstständigen Irak mit einer vom Volk gewählten Regierung." Was der Mann aus dem Weißen Haus angesichts der wahren Lage unter einem "stabilen" Land versteht, bleibt wohl sein Geheimnis, auch, was für ihn "vom Volk gewählt" heißt. Was Washington im Irak wirklich hinterlässt, weist deutliche Parallelen zu Vergangenem in einer anderen, strategisch nicht weniger bedeutenden Region der Welt auf Es bezeugt die ungebrochene Kontinuität einer von arroganten Vormachtansprüchen geprägten US-amerikanischen Außen- und Militärpolitik.


Vietnam 1974

Mit ihrer Unterschrift unter das Pariser "Abkommen zur Beendigung des Krieges und zur Wiederherstellung des Friedens in Vietnam" vom Januar 1973, das ihnen in langwierigen Verhandlungen abgerungen worden war, hatten sich die USA verpflichtet, nach mehr als zwei Jahrzehnten direkter Intervention und Aggression ihrer völkerrechtswidrigen Präsenz in dem indochinesischen Land ein Ende zu machen. Kapitel II Artikel 5 des Abkommens verlangte von Washington, binnen 60 Tagen nach Unterzeichnung "alle Truppen, Militärberater und das militärische Personal einschließlich des technischen Militärpersonals und des im Zusammenhang mit dem Befriedungsprogramm tätigen Militärpersonals" abzuziehen. Wie aber sah es ein Jahr später aus? Ein erheblicher Teil des Militärs war nicht aus Südvietnam abgezogen, sondern in Zivilkleidung gesteckt worden. Einen anderen Teil hatte man durch ziviles Personal mit militärischen Aufgaben ersetzt.

Schon im Vorfeld, im November 1972, hatte die "New York Times" aus Saigon zu berichten gewusst: "Während das Militär der Vereinigten Staaten für seinen erwarteten Abzug aus Vietnam zusammenpackt, planen amerikanische Offizielle hier insgeheim eine bedeutende Nachkriegspräsenz von US-Zivilisten in Vietnam, von denen viele Jobs verrichten, die vorher vom Militär verrichtet worden sind. Rund 10.000 amerikanische zivile Berater und Techniker, die meisten von ihnen beim Verteidigungsministerium unter Vertrag, werden laut gut informierten Kreisen nach dem Waffenstillstand in Südvietnam bleiben." Ihre Aufgaben sollten von der logistischen Unterstützung der Saigoner Armee über die Ausbildung ihrer Luftwaffe an neuen Typen und die Wartung ihres Flugzeugbestands bis zur Instandhaltung des von den USA-Truppen hinterlassenen militärischen Nachrichtensystems reichen. Mitte 1974 befanden sich dann nach nahezu übereinstimmenden Angaben aus vietnamesischen und amerikanischen Quellen nicht nur 10.000, sondern rund 25.000 USA-Militärangehörige in Zivil oder pro forma Demobilisierte unter Pentagon-Vertrag als Berater in Südvietnam. Sie waren in allen Bereichen des Saigoner Verteidigungsministeriums, bei allen Teilstreitkräften und militärischen Sondereinheiten, der Polizei, dem Geheimdienst und anderen Organen am Werk.

Zivile wie auch militärische Kommandozentrale Washingtons in Saigon war seine mit Mauer und Stacheldraht hermetisch abgeriegelte Botschaft geworden. Die Zeitschrift "US News and World Report" nannte sie im Februar 1974 das "Ost-Pentagon". Sie sei, so das Blatt, "ein gefechtsbereites Zentrum, das sich in nichts von einem Kommandoposten aus der Zeit unterscheidet, da die Amerikaner noch am Kampf teilnahmen". Ihr Personalbestand Anfang 1974 wurde in amerikanischen Quellen auf astronomische 3288 Personen beziffert, was der "Christian Science Monitor" kommentierte: "Die offizielle Mission der USA in Südvietnam ist tatsächlich die wichtigste amerikanische Mission in der Welt." In vier Städten des vietnamesischen Südens - exakt in den Standorten der Kommandos der vier Militärbezirke der Saigoner Verwaltung - wurden als Generalkonsulate firmierende Stäbe etabliert. In den Provinzen installierte man als Konsulate ausgegebene regionale Stäbe.

Einstige militärische Kommandos und Stäbe der USA wurden lediglich umbenannt und nach außen hin der Botschaft untergeordnet. So mutierte ein Military Assistance Command Vietnam (MACV: Militärisches Unterstützungskommando Vietnam) zu einem Defense Attaché Office (DAO: Amt des Verteidigungsattachés) bei der Botschaft; unter seinem Chef General Vogt war es aber direkt dem Pentagon unterstellt. Ihm oblag die Verbindung zum Generalstab der Saigoner Armee ebenso wie die Überwachung und Lenkung ihrer Abkommensbruch bedeutenden militärischen Aktivitäten. Der US Agency for International Development (USAID: USA-Agentur für internationale Entwicklung) war wie schon zuvor die Unterstützung des Polizeiapparats und des Gefängnissystems im Saigoner Machtbereich aufgetragen. Für die Ausbildung von 20.000 neuen Polizisten und von Polizeioffizieren hatte die USAID in den Jahren 1971/72 rund 90 Millionen Dollar beansprucht. Den Bau neuer Gefängnisse in Südvietnam hatten sich die USA im Zeitraum 1967 bis 1972 155 Millionen Dollar kosten lassen. 1973 beliefen sich ihre Aufwendungen für die Polizei sowie das Gefängnis- und Haftlagersystem auf mindestens 100 Millionen Dollar.


Irak 2012

Die militärische Präsenz der USA ist offiziell beendet. Nachdem sich am 19. August 2010 die letzte Kampfbrigade auf den Marsch Richtung Grenze begeben hatte, war am 1. Dezember des vergangenen Jahres das Camp Victory, der bei Bagdad gelegene weitaus größte der einst rund 500 USA-Militärstützpunkte im Land, an die irakische Seite übergeben worden. Diese riesige Basis war Standort des Hauptquartiers der United States Forces in Iraq (USFI) und hatte auf dem Höhepunkt des amerikanischen Feldzugs bis zu 46.000 Soldaten beherbergt. Als letzter formeller Schlussakt der Operation "Iraqi Freedom" (Operation irakische Freiheit) erfolgte am 16. Dezember vergangenen Jahres die Übergabe des etwa 300 Kilometer südlich von Bagdad gelegenen Camps Adder, eines der größten Stützpunkte mit bis zu 15.000 Mann Besatzung, an die irakischen Behörden.

Bei jener Dezember-Zeremonie zur Begrüßung heimgekehrter Irak-Krieger verkündete Präsident Obama weiter: "Und wir beenden einen Krieg nicht mit einer finalen Schlacht, sondern mit einem finalen Marsch nach Hause." Wirklich? In einer aus dem Oval Office des Weißen Hauses übertragenen Fernsehansprache hatte er am 31. August 2010, nach dem Abmarsch der letzten Kampfeinheit, wissen lassen, die zu diesem Zeitpunkt noch auf irakischem Boden stehenden "weniger als 50.000" USA-Militärangehörigen würden "mit einem neuen Auftrag als Berater der irakischen Sicherheitskräfte, zur Unterstützung irakischer Truppen bei gezielten Gegenterrorismus-Einsätzen und zum Schutz von USA-Zivilisten in Irak verbleiben". In einem Papier des Büros von Obamas Pressesekretär "Fakten und Zahlen über den Truppenabzug im Irak" war am 2. August im Hinblick auf dieses Militärkontingent die Rede von einer "Übergangsmission" mit der Bezeichnung "Operation New Dawn" (Operation neue Morgendämmerung) gewesen. "Die Truppenreduzierung bedeutet nicht eine Reduzierung der Verpflichtung der USA gegenüber dem Irak", hieß es in dem Papier. "Die Übergangskräfte, die wir vor Ort haben werden, können die irakischen Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen." Und glauben machen wollte man allen Ernstes, die Truppenreduzierung "bedeutet einen Wechsel im Wesen unserer Verpflichtung von einer militärisch geführten hin zu einer zivil geführten". Vietnam ließ grüßen.

In Vietnam hatten die widerrechtlich verbliebenen USA-Kräfte spätestens Ende April 1975 beim Vorrücken der Befreiungstruppen auf Saigon das Weite suchen müssen.Aus anderem Grunde blieb den etwa 50.000 im Irak zurückgelassenen amerikanischen Militärangehörigen mit zivilem Anstrich dass Erlebnis einer neuen Morgendämmerung verwehrt. Ihr Verbleib scheiterte trotz Drucks der "Schutzmacht" an der "Undankbarkeit" der ansonsten durchaus willigen irakischen Regierung. Sie verweigerte die von Obamas Administration verlangte Immunität der amerikanischen Soldaten bei offensichtlich zu erwartenden Straftaten. Eingedenk vieler Scheußlichkeiten der Besatzungstruppen, nicht nur in der Folterhölle Abu Ghreib begangen, und unverhohlen feindseliger Einstellung großer Teile der Bevölkerung zu den fremden Truppen hatte das Kabinett in Bagdad keine andere Wahl.

Washington hatte offensichtlich jedoch auch für diesen Fall langfristig Vorsorge getroffen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der im Dezember vollzogene Abzug der letzten USA-Truppen aus dem geschundenen Land nicht etwa ein Ende massiver amerikanischer Präsenz bedeutet, neben ziviler auch kaschierter militärischer. Dafür bürgt, was wie einst in Saigon offiziell "Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika" genannt wird, in Wahrheit aber mit einer normalen diplomatischen Vertretung so wenig zu tun hat wie eine Fregatte mit einem Schlachtschiff. Der mit einem Aufwand von fast 750 Millionen Dollar errichtete und Anfang Januar 2009 vollendete Komplex von 27 vielstöckigen Gebäuden verbirgt sich hinter meterhohen Mauern in der hermetisch abgeriegelten und von Soldaten streng bewachten so genannten "Grünen Zone" Bagdads am Ufer des Tigris. Er entspricht in seiner Ausdehnung 80 Fußballfeldern, der Größe des Vatikan-Staates oder dem Doppelten des Areals des Weißen Hauses in Washington und wird als die mit weitem Abstand größte (und teuerste) amerikanische Botschaft weltweit bezeichnet.

Medien sprachen anfangs von 1000 Arbeitsplätzen, die dieser gigantische Komplex biete; Offizielle hantierten dagegen ungeniert mit anderen Zahlen. Botschafter James Jeffrey ließ am 1. April 2011 Reporter in Bagdad von dem Vorhaben wissen, nach dem Abzug der amerikanischen Truppen den Mitarbeiterstab "von gegenwärtig 8000 plus Dienstpersonal im Jahr 2012 ungefähr zu verdoppeln". Inzwischen wird die so zu erwartende Zahl der Mitarbeiter mit etwa 17.000 angegeben. Nur ein sehr kleiner Teil, so der Botschafter, was immer das heißen mag, werde dem Militär angehören. Der im Kongress in Washington artikulierten Sorge, dass ohne Truppenpräsenz die Sicherheit dieser Vertretung nicht gewährleistet sein werde, waren Jeffrey und USFI-Befehlshaber Generalleutnant Lloyd Austin dort schon im Februar mit dem Hinweis entgegengetreten, für sie werde eine etwa 5500 Mann starke "private security force" sorgen. Überdies, so ist seriösen Quellen zu entnehmen, war von Anfang an eine Reduzierung der beträchtlichen Anzahl von CIA-Kräften in Bagdad und dem ganzen Land ausgeschlossen worden.

Wie willkommen den Imkern diese gewaltige US-amerikanische Präsenz nach dem Truppenabzug ist, dürfte sich an der Feststellung von "ALJAZEERA.NET" von Mitte Dezember 2011 ablesen lassen: "Diplomaten hier unterliegen strikten Beschränkungen; jede Bewegung außerhalb der stark befestigten "Grünen Zone erfordert einen bewaffneten Konvoi. Viele werden während ihrer einjährigen Einsätze die Botschaft nur ein paarmal verlassen. Dies deshalb, weil die Mehrheit der Mitarbeiter der Botschaft keine Mitarbeiter des State Department sind." Ende Juli 2011 hatte "Der Tagesspiegel online" kundgetan: "Die festungsartige Botschaft in Bagdad, so scheint es, ist für alle Fälle gerüstet. Es gibt eine eigene Luftversorgung gegen chemische Angriffe, einen Stromgenerator, eine autarke Wasserversorgung, ein unabhängiges Kommunikationsnetz und ein strategisches Center, in dem Militäroperationen koordiniert werden können." So kann diese "diplomatische Vertretung" wohl ohne Übertreibung als das bezeichnet werden, was sie in Wirklichkeit ist: ein "Nahost-Pentagon", eine Kommandozentrale, deren Blick zweifellos über Iraks Landesgrenzen hinausreichen soll.

Zu ihren Aufgaben im Lande hatte Jeffreys Stellvertreter Robert Ford bereits im Januar 2010 in einem Interview geäußert, die Botschaft werde parallel zum Truppenabzug viele der "kritischen Aufträge" übernehmen, mit denen das Militär "jahrelang schwer beschäftigt" gewesen sei. Der Botschafter selbst erklärte bei seinem genannten Auftritt vor der Presse: "Dies wird eine außerordentlich große Botschaft mit vielen unterschiedlichen Funktionen sein. Einige werden wir von den USFI übernehmen, mit anderen setzen wir die gegenwärtige Arbeit fort."

So hat man, wie Ford hatte wissen lassen, nun vorwiegend für die Ausbildung der irakischen Polizei "mit dem Militär Details ausgearbeitet". Mit einem Aufwand von fast einer Milliarde US-Dollar soll in diesem Jahr vor allem in Sachen Festnahmen, Ermittlungen und Verhörpraktiken weiter unterwiesen werden. Im vergangenen Jahr waren allerdings gerade einmal 12 Prozent der dafür bereitgestellten Mittel wirklich der Ausbildung von Polizisten und Polizeioffizieren zuteil geworden. Die übrigen Mittel mussten "für Sicherheit und Transport der Scharen von Polizeiberatern" aufgewendet werden, war zu lesen.

Neben ihrem "diplomatischen" Befehlszentrum in Bagdads "Grüner Zone" verfügen die USA, wie "Der Tagesspiegel" zu berichten wusste, nun über "drei Flugplätze, drei Trainingszentren für Polizisten, zwei Konsulate in Basra und Irbil, zwei weitere Botschaftsbüros in Kirkuk und Mossul und fünf Zentren für Sicherheitskooperation mit den irakischen Behörden". Man geht gewiss in der Annahme nicht fehl, dass die festungsartig gesicherten Konsulate in Basra, im Süden nahe der Grenze zum Iran, und in Irbil im Landesnorden, die beide über jeweils 120 Mitarbeiter verfügen, mit jenen "Konsulaten" verglichen werden können, die einst im Süden Vietnams installiert worden waren. Im Botschaftskomplex untergebracht und formell der Botschaft unterstellt, agiert das von der Zeitung erwähnte "strategische Center", ein zentrales militärisches Office of Security Cooperation (Büro für Sicherheitszusammenarbeit) mit einem Personalbestand bis zu 200 Mann. Man ist an das einstige Defence Attach Office in Saigon erinnert.

Zu erwähnen bleiben die bisher 22 Provincial Reconstruction Teams (PRT: Provinz-Wiederaufbauteams), in denen 600 Zivilisten und 400 Militärangehörige am Werk waren. Zwar wurden die Zahl dieser Teams nun auf 16 reduziert und ihre Benennung geändert, doch trug man dafür Sorge, dass wie Stellvertreter Ford ausgeplaudert hatte - "ein robustes diplomatisches Engagement" und "diplomatische Präsenz in strategisch lebenswichtigen Provinzen" erhalten geblieben sind.

Der Irak, im Westen von Syrien, im Osten vom Iran flankiert, nimmt im Pulverfass Naher Osten unbestreitbar eine Schlüsselposition ein. Beide Nachbarn hat Washington nicht nur als blanke Drohung im Visier. Es ist nicht schwer zu erraten, warum man alles tut, um in größtmöglichem Umfang und - egal wie getarnt - vor Ort bleiben zu können, nachdem ökonomische Zwänge und andere Faktoren das Ende der offenen militärischen Präsenz notwendig gemacht haben. Dahingestellt ist, ob es dabei bleibt. Seit der Rückführung der letzten Kampftruppen im August 2010 hat es nicht an Stimmen amerikanischer Militärs, Parlamentarier und Politiker gemangelt, die diesen Abzug unverhohlen einen Fehler nannten. Eine Truppenrückkehr könnte folglich selbst im Lichte der von Präsident Obama Anfang dieses Jahres aus Gründen der Haushaltsnotlage formulierten neuen "Verteidigungsstrategie" Washingtons durchaus nicht nur Gegenstand von Gedankenspielen sein.

Zunächst hat man sich noch auf andere Aktivitäten verlegt: auf den verbalen Feldzug und einen von Obama angewiesenen "unblutigen" massiven Cyber-Krieg gegen den Iran ebenso wie auf die direkte Unterstützung der so genannten Opposition in Syrien. Anfang Juni wusste die "New York Times", gestützt auf Angaben aus Regierungskreisen, von einer Geheimoperation "Olympic Games" zu berichten, einer "ganzen Welle von Cyberattacken gegen den Iran", darunter dem Mitte 2010 ruchbar gewordenen Angriff immer neuer Versionen des Computervirus Stuxnet auf die iranischen Atomanlagen. Mitte Juni ließ dieselbe Zeitung die syrische "Opposition" damit prahlen, mit dem Segen der USA aus der Türkei von Saudiarabien und Katar finanzierte Panzerabwehrraketen erhalten zu haben. Sie seien von der türkischen Armee zur Grenze gebracht und dann in das Nachbarland geschmuggelt worden. Russlands Außenminister Sergei Lawrow sprach in dieser Sache zur gleichen Zeit bei einem Besuch in Irans Hauptstadt Teheran Klartext: "Die Vereinigten Staaten liefern der Opposition Waffen, die in den Kämpfen gegen die syrische Regierung eingesetzt werden." Am 21. Juni ließ die "New York Times" unter Berufung auf Regierungskreise in Washington und arabische Geheimdienste wissen, die türkische Seite werde, wie im Internet zu lesen war, im Landessüden von Agenten des USA-Geheimdienstes CIA "beraten, welche Gruppen Waffen zum Kampf gegen die Regierung erhalten sollen". Panzerabwehrwaffen, Maschinengewehre und Munition würden "über ein undurchsichtiges Vermittlernetz über die türkische Grenze ins Land geschleust".

Doch dabei will man es nicht belassen. "Die USA wappnen sich für Militäreinsätze im Nahen Osten", wurde Ende Januar im Internet ein Bericht der "Washington Post kommentiert. Das Blatt informierte: Im Persischen Golf, also vor Irans Haustür, werde von den USA-Streitkräften "mit großer Eile" eine "schwimmende Operationsplattform" vorbereitet, von der aus Spezialeinheiten zu "Einsätzen im Iran oder anderen arabischen Kriegsregionen" starten sollen. Ein altes Kriegsschiff werde zu solcher Plattform umgebaut, die noch in diesem Sommer in den Nahen Osten gebracht werden solle. Sie werde Hochgeschwindigkeitsbooten und Helikoptern als Stützpunkt dienen. Aus Kostengründen ist vorerst der Einsatz begrenzter Spezialkräfte wie der "Eliteeinheit" Navy Seals statt starker Bodentruppen wie im Irak und in Afghanistan ein zentrales Element der neuen Militärstrategie Obamas. Verteidigungsminister Leon Panetta tat kund, auf diese Weise sollten die USA-Streitkräfte "schneller" werden. Das Hauptaugenmerk werde bei dieser Art "Spezial"-Kriegsführung auf Asien und dem Nahen Osten liegen. Nicht zu vergessen ist die Präsenz der 5. USA-Flotte in Bahrain. Die Inselwelt des kleinen Emirats an der Westküste des Persischen Golfes ist seit langem ihre Basis.

Ist es angesichts dessen abwegig, an Vietnam zu erinnern? Selbstverständlich nicht. Waren doch der Irak-Überfall und dann ebenso das Afghanistan-Abenteuer in den vergangenen Jahren selbst Stimmen aus dem bürgerlichen Lager und sogar besorgten politischen Verantwortungsträgern in den Vereinigten Staaten immer wieder Anlass, aus unterschiedlichen Gründen auf das Verhängnis Vietnam zu verweisen. Was hat sich verändert? Und hat sich wirklich etwas verändert? Ist die Rolle des selbsternannten Weltgendarms etwa ausgespielt?

Aus der einst beschworenen "kommunistischen Gefahr" war erst einmal der "Krieg gegen den Terror" geworden. Das Aushängeschild hat man gewechselt, die Politik aber wandelte und wandelt auf demselben abenteuerlichen und in der Konsequenz meist todbringenden Kurs. Was macht es dann, wenn die Präsidenten nicht mehr Kennedy, Johnson, Nixon und Bush geheißen haben oder nun Friedensnobelpreisträger Obama heißen.

Indochina, speziell Vietnam im Verein mit Laos, war einst dazu auserkoren, nicht einfach erste antikommunistische Bastion Washingtons auf dem asiatischen Festland, sondern konkretes Bollwerk als Drohkulisse unmittelbar an der Südflanke der kommunistisch regierten Volksrepublik China zu sein. Deshalb war man nach dem Friedensschluss von Anfang 1973 wortbrüchig nach Kräften bemüht, wenigstens im Süden Vietnams - unter welchem Aushängeschild auch immer - präsent bleiben zu können. Das misslang gründlich, doch bleibt die Erinnerung daran durchaus aktuell. Obwohl man sich in Südostasien damals gehörig die Finger verbrannt hat, streckt Washington nach der Zementierung seiner Position im Nahen Osten in jüngster Zeit eindeutig mit Blick auf China seine von Politikern und Militärs geführte, absolute Macht begehrende Hand wieder in dessen Umfeld und nach Ostasien aus.

Eben das tat Barack Obama demonstrativ und provokatorisch im November 2011 auf Indonesiens Insel Bali. Am Rande einer Beratung der ASEAN-Staaten mit Abgesandten Chinas, Japans, Indiens, Südkoreas, Australiens, Neuseelands und auch Russlands äußerte er sich über Washingtons heutige Ostasien-Ambitionen in einer Weise, die einen Zeitungskommentator anmerken ließ: "Es ist, als würden die Geister des Kalten Krieges wieder beschworen." Im Visier ist wiederum unverkennbar das nun zur regionalen Großmacht herangewachsene, als direkte Bedrohung eigener Interessen empfundene und gar nach Weltmachtstatus strebende kommunistische China mit deutlichem politischem Einfluss über Asien hinaus, gewaltigen ökonomischen Potenzen und zunehmender militärischer Stärke. Ihm schrieb Obama - wie so oft verbunden mit harscher Kritik - ins Stammbuch, der Asien-Pazifik-Raum sei "eine Region von immenser strategischer Bedeutung" und: "Wir sind hier, um zu bleiben". Seine Entourage ließ keinen Zweifel daran, dass das selbstredend neben politischer auch militärische Präsenz nicht nur in Gestalt der 15.000 Mannes auf der japanischen Insel Okinawa heißt.

Die Erinnerung an Vietnam lebte auch wieder auf, als just zur Zeit des präsidialen Auftritts auf Bali Außenministerin Hillary Clinton an Indochinas und Chinas Grenze aufkreuzte, in dem noch unlängst als Hort des Teufels geächteten Myanmar (Burma). Sie weilte dort, um - wie Zeitungsleute schrieben - "vor den Toren des Rivalen China neue Allianzen zu schmieden". Auch sie ließ es an Deutlichkeit nicht fehlen. Die "Zukunft der Politik" werde in Asien entschieden, "und die Vereinigten Staaten werden direkt im Zentrum des Geschehens sein", tat sie im November im amerikanischen Magazin "Foreign Policy" kund. "Amerikas Pazifisches Jahrhundert", so der Titel ihres Beitrags, heißt für Frau Clinton Präsenz und Dominanz der USA im asiatisch-pazifischen Raum in den nächsten 60 Jahren.

Diesem Ziel diente schließlich auch Präsident Obamas bis zuletzt streng geheim gehaltener Blitzbesuch "in einer Nacht- und Nebelaktion" (dpa) am ersten Maitag dieses Jahres in Afghanistan, seine dritte Kurzvisite im Land am Hindukusch. "In der abendlichen Dunkelheit auf der US-Basis in Bagram gelandet und zum Präsidentenpalast nach Kabul weitergefahren" (dpa), schloss er dort mit Präsident Hamid Karsai ein Abkommen über strategische Partnerschaft beider Länder "nach dem Ende des NATO-Kampfeinsatzes 2014". Es ist mehr als nur eine Vermutung, dass Washington dabei ist, nach irakischem Muster in großem Umfang politische und auch militärische Präsenz auf längere Sicht, wenn nicht auf Dauer, in Afghanistan in die Wege zu leiten. Das Abkommen mit einer vereinbarten Laufzeit von zunächst 10 Jahren jedenfalls fixiert, wie bekannt wurde, den Verbleib amerikanischer Truppen, auch Kampfeinheiten, in Afghanistan nach 2014, vorgeblich für die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte wie auch für "Kampfeinsätze gegen Terroristen" (dpa). Hier lässt der Irak grüßen. USA-Regierungskreise brachten die Zahl von 20.000 verbleibenden Soldaten in Umlauf. Unwidersprochen ist die Information, dass Washington für die Laufzeit des Abkommens ab 2015 voraussichtlich vier große Militärstützpunkte in Afghanistan unterhalten wolle.

"Amerikas Pazifisches Jahrhundert" und die hartnäckig geleugnete Stoßrichtung China manifestieren sich auch in der Ankündigung Minister Panettas Anfang Juni auf einer "Sicherheits"-Konferenz in Singapur, bis zum Jahr 2020 rund zwei Drittel der gesamten USA-Kriegsmarine in der Region zu stationieren. Sechs von elf Flugzeugträgern befänden sich bereits dort. Ministerin Clinton suchte glaubhaft zu machen, es gehe Washington unter anderem nur darum, die "freie Passierbarkeit" des von China, den Philippinen, Malaysia und Vietnam gerahmten Südchinesischen Meeres zu sichern.Aufhorchen ließ schließlich, als USA-Generalstabschef Martin Dempsey Mitte Juni in einem Interview mit der Bangkoker Zeitung "The Nation" die Absicht Washingtons ausplauderte, Flughafen und Marinebasis Utapao am Golf von Thailand in unmittelbarer Nachbarschaft Indochinas, die bereits intensiv für Manöver genutzt werden, "als bedeutende logistische Drehscheibe" dauerhaft wieder in Beschlag zu legen. Von Utapao aus flogen einst strategische B-52-Bomber Angriffe auf Vietnam und Laos. Der General machte, wie es in einem Pressebericht hieß, "keinen Hehl daraus, dass die Reaktivierung Utapaos keineswegs nur einen logistischen und humanitären Hintergrund hat, sondern Teil der Gesamtstrategie der USA ist, ihre Präsenz im pazifischen Raum auszubauen".

Vietnam ist auch direkt wieder im Gespräch. Mitte Juni resümierte die "Berliner Zeitung": "Von Australien bis Indien kreisen die USA die neue Supermacht China immer stärker ein. Indonesien, die Philippinen, Taiwan, Thailand und sogar Vietnam sind tragende Pfeiler dieser Strategie." Minister Panetta, Anfang Juni Gast seines vietnamesischen Amtskollegen Hung Quang Thanh, habe als erster hochrangiger Politiker der USA das südvietnamesische Cam Ranh besucht, "im Vietnamkrieg wichtigster Umschlaghafen der USA für ihren militärischen Nachschub". Es gebe inzwischen eine "enge sicherheitspolitische Zusammenarbeit: 2008 eröffneten beide Seiten einen strategischen Dialog, 2011 unterzeichneten sie ein "Memorandum of Defence Cooperation", vietnamesische Offiziere werden zum Teil in den USA ausgebildet, im April dieses Jahres fand die erste gemeinsame See-Übung statt". In Hanoi sollte man nicht allzu sehr erstaunt sein, wenn sich aufrichtige Freunde Vietnams verwundert die Augen reiben, scheint sich doch ein Teufelskreis zu schließen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Die USA-Botschaft in Ho-Chi-Minh-Stadt (Saigon)
- Mauer um die USA-Botschaft in Bagdad

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Internationale Politik

Hans-Jürgen Falkenhagen / Brigitte Queck

Genug leere Worte

Warum Wladimir Putin nicht am jüngsten G-8-Gipfel teilnahm

In seiner Rede anlässlich des 67. Jahrestags des Sieges der Sowjetunion über Hitlerdeutschland am 9. Mai 2012 sagte Putin, dass Russland für die strikte Einhaltung des Völkerrechts, die Verteidigung der Souveränität der UNO-Staaten und die Freiheit der Wahl jeder Nation, seinen politischen Weg und sein politisches System selbstbestimmt zu wählen, eintritt. Und er fügte hinzu, dass Russland seine nationale und internationale Position standhaft verteidigen wird.

Nach heftigen und gemeinen Kritiken westlicher Politiker und Medien an den Duma-Wahlen 2011 und den Präsidentschaftswahlen im März 2012 sowie nach der Unterstützung von Anti-Putin-Demonstrationen in wichtigen russischen Städten ließ sich Obama herab, nun den gescholtenen Putin zum G-8-Gipfel auf seine Ranch in Camp David einzuladen. Das war sicherlich für Putin in vielerlei Hinsicht ein unsicheres und nutzloses Terrain. Auch war diese Einladung im Grunde eine Verhöhnung Putins, denn es stand zu dieser Zeit für Washington bereits unverhandelbar fest, dass der NATO-Raketenschild an der Westgrenze der GUS-Staaten errichtet wird. Der Raketenschild ist als westliches Gemeinschaftsprojekt unter der Führung der USA konzipiert. Die USA positionieren Schiffe mit Raketenabwehrsystemen (die jederzeit auch als Raketenangriffssysteme dienen können!) im Mittelmeer. Deutschland wird zu diesem Zweck seine Patriot-Systeme bereitstellen. Die Kommandozentrale für diesen Raketenschild soll nach den Vorstellungen der USA in Deutschland (Ramstein) eingerichtet werden. Dieses so genannte Raketenabwehrsystem ist nach der Darstellung des Westens ein Verteidigungssystem gegen atomare Raketen und Atomwaffen tragende Flugzeuge. In Wirklichkeit aber ist es eine Angriffswaffe gegen Russland und seine Verbündeten. Russland soll durch die unmittelbare Nähe der NATO-Raketenschildinstallierung die Möglichkeit genommen werden, auf einen Atomangriff oder sonstigen bedrohlichen Angriff der NATO adäquat mit atomaren Gegenschlägen zu antworten. Das erhöht ganz erheblich die Gefahr eines neuen Weltkrieges und eines weltweiten Atomkrieges. Zunächst wird das Wettrüsten angeheizt, denn Russland muss jetzt die Schlagkraft seines Atomwaffenarsenals nach allen Richtungen erhöhen, um das militärische Gleichgewicht zur NATO aufrechtzuerhalten. Es muss die Fähigkeit ausbauen, den Raketenschild der NATO im Falle eines Angriffes der NATO auf Russland zu durchbrechen. Moskau kann und wird natürlich nicht den Versicherungen der NATO Glauben schenken, der Raketenschild sei nur gegen "Schurkenstaaten" wie den Iran oder Nordkorea gerichtet. Das würde jeder militärischen Logik widersprechen.

Es ist überhaupt merkwürdig, dass es westliche Politiker und Militärs der NATO gibt, die unterstellen, dass irgendjemand, der denken kann, ihren Lügen glauben könne, der NATO-Raketenschild sei nur gegen "Irrläufer der Weltpolitik" gerichtet, z. B. gegen über Russland und die Ukraine anfliegende iranische oder nordkoreanische Raketen! Damit unterstellen sie den Menschen totale Denkunfähigkeit und Dummheit! Russland befindet sich derzeit noch mit den USA und der NATO im atomaren Gleichgewicht. Es muss sich aber als das eigentliche Zielobjekt der auf absolute militärische Überlegenheit hinarbeitenden NATO-Strategie betrachten; das gilt auch für andere GUS-Staaten wie Belorussland, die Ukraine oder Kasachstan. Mit dem "Raketenschild" soll Russland im Falle einer NATO-Aggression für einen atomaren Gegenschlag unfähig gemacht werden.

Putin schickte also den russischen Ministerpräsidenten Medwedjew als seinen Vertreter auf die Ranch von US-Präsident Obama. Er selbst erklärte, dass er mit Fragen der Regierungsbildung beschäftigt sei. Die Begründung stimmte. Aber Putin wäre bei einem besseren politischen Klima zweifellos auch selbst gekommen, wäre nicht die Nutzlosigkeit seiner Teilnahme am G-8-Treffen ersichtlich gewesen. In der für sein Land wichtigsten internationale Frage des Raketenschilds hatten die westlichen Staaten bereits gegen Russland entschieden!

Die russische Sicht aber zu anderen Fragen - z. B. im Zusammenhang mit der Euro-Krise - konnte auch der derzeitige russische Ministerpräsident Medwedjew deutlich machen. Putin hatte keine Lust, sich das westliche heuchlerische Palaver über angeblich in Russland und anderswo verletzte Menschenrechte anzuhören und sich z. B. wegen der Polizeieinsätze gegen Demonstranten in Moskau und Sankt Petersburg, die gegen das Gesetz verstießen, rechtfertigen zu müssen. Natürlich wäre er dabei auch in der Position gewesen, Gegenfragen zu stellen, z. B. wieso denn die Occupy- und Anti-NATO-Bewegungen beispielsweise in Chikago und Frankfurt am Main niedergeknüppelt worden waren. Und gegen den längst feststehenden und beschlossenen NATO-Raketenschuld an den europäischen Grenzen zu Belorussland, zur Ukraine und Russland hätte man ohnehin nur noch protestieren können. Das geplante Treffen des Russland-NATO-Rats fiel aus diesem Grunde ebenso aus. Zum NATO-Gipfel in Chicago aber war Russland gar nicht eingeladen worden!

Und was sollte Putin auch zum längst fälligen Abzug der NATO aus Afghanistan bis Ende 2014 sagen? Derzeit wird die Besetzung Afghanistans noch unter der Führung der USA von 50 Staaten, darunter 22 NATO-Staaten, getragen bzw. unterstützt. Dieser NATO-Einsatz hat schon längst seinen Rückhalt in der Welt verloren.Auch dem Letzten ist klar geworden, dass es sich hier seit dem 11. September 2001 nur um einen barbarischen Aggressionskrieg gegen einen souveränen Staat handelt, der mit dem Einsturz des Welthandelszentrums in New York absolut nichts zu tun hatte.

Was sollte Russland in Camp David Neues zu den militärischen NATO-Einsätzen am Horn von Afrika sagen, wo die Souveränität Somalias ständig grob verletzt wird und inzwischen Fischerboote an den Küsten von NATO-Hubschraubern zerstört und friedliche Einwohner, darunter Frauen und Kinder, getötet und verletzt werden? Russland hat auch dazu schon vielfach Stellung genommen.

Zur "Abrüstung" der NATO, die von der Welt nur noch als Bedrohungsfaktor für den Weltfrieden wahrgenommen wird,weil sie ständig völkerrechtswidrige Kriege führt, hat Russland mehrfach klar gemacht, dass hier nicht schöne Worte am Platze sind, sondern Handlungsbedarf seitens der NATO besteht.

Sollte man in den westlichen Ländern darauf spekulieren, dass ein durch den Raketenschild in die Enge getriebenes Russland sich nicht mehr gegen NATO-Aggressionen in aller Welt ausspricht, so ist Putin wohl der falsche Partner für solche Spielchen! Und ein Russland, das sich der NATO ergibt, ist mit einem russischen Präsidenten Putin erst recht nicht zu machen. Deswegen wurde dieser auch zum Hassobjekt westlicher Agitation und Propaganda. Vor einem neuen Krieg gegen Russland kann man nur dringend warnen. Das wäre die Wiederholung der Grundfehler der Politik Adolf Hitlers, die seinerzeit Deutschland in den Abgrund führten.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Wladimir Putin
- Raketenabschüsse von einem US-Kriegsschiff

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Ehrlicher und verlogener Umgang mit Geschichte

Roger Reinsch

Für die Würde des deutschen Volkes

Als der deutsche Dichter Armin T. Wegner zu Ostern im Jahre 1933 seinen Brief an den damaligen Reichskanzler Adolf Hitler schrieb, der mit dem Satz abschloss: "Wahren Sie den Edelmut, den Stolz, das Gewissen, ohne die wir nicht leben können, wahren Sie die Würde des deutschen Volkes!", hatte er auch Verhaltensweisen bzw. Eigenheiten benannt, mit denen er diese Würde des deutschen Volkes charakterisieren konnte.

Die Tatsache, dass die Deutschen einem "unglücklichen großen Volke", den Juden, "seit einem Jahrtausend Obdach" bot, war die Grundhaltung für diesen Appell. Wegner verwies darauf, dass die Juden in Deutschland die deutsche Sprache gepflegt, an der deutschen Geistesgeschichte mitgeschrieben haben, und er formulierte: "... wenn Deutschland groß in der Welt wurde, so haben auch die Juden daran mitgewirkt." Beschwörend nannte er Goethe und Lessing in seinem Brief, um auf deren humanistische Geisteshaltung zu verweisen, die (wie er es verstand) von den Deutschen aufgenommen und verinnerlicht ist. Die Juden waren ihm Teil des deutschen Volkes. Er forderte Gerechtigkeit für sie. Die Folgen der "kalten Austreibung" prognostizierend formulierte er: "Wenn Deutschland auch vielleicht die Juden zu entbehren vermag, was es nicht entbehren kann, sind seine Ehre und seine Tugend! ... Wir wollen Würde, wenn wir Gerechtigkeit fordern."[1] Wegner wurde verhaftet und in das Konzentrationslager Oranienburg gebracht. Nach mehrjähriger Haft gelang ihm die Emigration nach England. Emil Stumpp, der den Dichter 1926 gezeichnet hatte, berichtet in seinem Buch "Über meine Köpfe", dass er Wegner auf einer Reise in Italien 1939 wiedertraf: "Aber wie sah er aus! Die schwere Zeit seiner Unfreiheit hatte ihn zum alten Mann gemacht."[2] Dem Dichter war die Würde, ein Mahner des Volkes zu sein und des Volkes Würde zu vertreten, mit entwürdigender staatlicher Gewalt nach Art der faschistischen Diktatur verweigert worden.

In den folgenden Jahren der Aggressionen und Kriegsverbrechen gegen andere Völker unter Hitlers Befehl ist die Würde des deutschen Volkes schwer, sehr schwer beschädigt worden. Nachdem in der Herrschaftszeit des deutschen Faschismus "das Glück des Landes leichtfertig aufs Spiel" gesetzt und "sein Andenken für immer geschändet" war (A.T. Wegner) ist es nun, heute durchaus an der Zeit, wieder danach zu fragen.

Die Sorge um die Menschenwürde und die Menschenrechte kann nicht nur die Sorge um die Würde und das Recht einzelner Menschen sein. Wie könnten wir Menschen unserer Würde gerecht werden, wenn wir gleichgültig mit ansehen wollten, dass Brüder und Schwestern, Mütter und Kinder, die Bewohner anderer Orte und anderer Länder unter menschenunwürdigen Bedingungen existieren müssen?

Es gibt zweifellos eine unlösbare dialektische Einheit, ein von allen Widersprüchen der sozialen, nationalen und historischen Unterschiede durchdrungenes Gemeinsames in der Würde menschlichen Lebens. Im Gleichklang und ständig wechselwirkend mit der Entwicklung von Menschenwürde auf unserer Erde bildet und gestaltet sich auch die Würde der Völker. Diese wird entwickelt und getragen von vielen Einzelnen eines Volkes, deren Wollen und Wirken, Verkünden und Handeln sich in der Geschichte des Volkes niederschlägt. Solches Denken und Handeln, sofern es progressiv und konstruktiv ist, wird vom Volke angenommen und mitgetragen. Was bedeutet es aber, eine Entwicklung progressiv und konstruktiv zu nennen? Progressiv kann nur sein, was in Richtung auf erfülltes menschliches Leben vorwärts schreitet, damit möglichst alle, mindestens aber immer mehr Menschen am ganzen Reichtum der Erde teilhaben. Damit jeder technische Fortschritt möglichst allen zu gute kommt. Damit überall gesichert ist, dass Krieg und Zerstörung keinen Menschen bedroht. Gesellschaftliche Bewegungen mit solch einem Inhalt, Entwicklungen mit dieser Absicht, solche Rufe und Forderungen siedeln sich in der Kultur eines Volkes im umfassendsten Sinne dieses Begriffs an. In der geografisch und klimatisch bedingten Lebensweise, in der Sprache, in den Künsten, den sozialen Beziehungen, dem innenpolitischen Leben und dem außenpolitischen Verhalten sind Kultur und Würde eines Volkes enthalten. Und konstruktiv wird es, wenn die Führer sozialer und politischer Bewegungen versuchen, die rechtlichen und gesetzlichen Bestimmungen für die Verhältnisse zwischen den Menschen mit den genannten Zielen im Blick neu zu ordnen. In dieser Weite des Begriffs ist auch über die Würde des deutschen Volkes weiter nachzudenken.

Wenn wir aufgreifen, was Armin T. Wegner beim Nachdenken über die Würde des deutschen Volkes an Inhalten meint, dann lohnt es weiter zu denken. Natürlich sind mit den Namen Goethe und Lessing (und man könnte Schiller und Herder und Bach und Beethoven und Mozart und andere - Dürer, Grünewald zum Beispiel - hinzusetzen) wichtige humanistische Inhalte verbunden. Das sind die Würde der Menschen tragende Inhalte, die sich im Fühlen und Denken des deutschen Volkes niedergeschlagen haben. Wenn wir Deutschen dann aber, wie er unverständlich inkonsequent - und von mir nicht zu akzeptieren - sogar meint, Deutsche jüdischen Glaubens schadlos entbehren könnten, dann wären von unmenschlicher Politik nur noch Ehre und Tugend gefährdet. Und was wäre das?

Es bietet sich an, dass wir uns der Worte Schillers erinnern, wenn dieser, an die Künstler gewendet, ausruft: "Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben. Bewahret sie! Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!"[3] Er verlangt dann wohl, gar von allen Künstlern der Welt, zu viel. Allerdings finden wir in den Werken vieler Künstler - deutscher Künstler, um im Lande zu bleiben - die Anklage von menschenunwürdigem Dasein und die Visionen, das Volk von Armut, Not und Unterdrückung frei zu wissen. Aus der Geschichte unseres Volkes sind seine Bemühungen und Bewegungen und die Versuche der Führer in diesen Bewegungen, Volksmacht zu schaffen, Demokratie zu verwirklichen, neuen Gesetzen Gültigkeit zu geben, nicht wegzuleugnen. Da ist wohl keiner, der im Gedenken an solche Ereignisse voller Verwunderung ausruft: Aber sie wendeten ja Gewalt an - in ihrem Bauernkrieg, in ihrem Bürgerkrieg! Aber sie zwangen ja den König, vor den Gefallenen der revolutionären Erhebung 1848 in Berlin den Hut zu ziehen! Diejenigen, die wohl empört sind, dass das Volk sich erhebt, sind vielleicht überrascht, auch erschrocken. Aber sie wundern sich nicht lange. Schnell haben sie ihre Büttel mit Gold- und Land- und See- und Häuserversprechen oder mit Zwang mobilisiert, um weiter auszubeuten, einzukerkern, zu morden, zu zerstören und ihre alten Schlösser auszubauen oder wieder zu errichten. Sie wollen den Reichtum der Erde weiterhin nicht teilen. Sie wollen erobern, um noch mehr der edlen Stoffe unserer Erde für sich auszubuddeln und zu ihrem Eigentum zu machen. Es schert sie nicht, wenn sie die Flüsse, an und mit denen die Völker leben, vergiften und das trinkbare Wasser einschließen und rationieren. Auch sind sie sehr schnell bemüht, die festlichen Stätten, die das Volk sich schuf, zu vernichten und die Namen der Revolutionäre zu auszulöschen. Ihnen ist eine allgemeine Menschenwürde ein unbekanntes Wort, sie sprechen nur von ihrer Würde und woher, fragen sie sich, sollte das Volk Würde haben? Wer soll das eigentlich sein, das Volk? Wer ist da Besonderer, der mittels Demokratie auch nach Macht schreit. Wir haben doch Demokratie. Sagen sie.

Der unverschleierte Ruf nach Volksmacht hatte während der Bauernkriege eine andere Form. Er hieß: "Nichts denn die Gerechtigkeit Gottes!" Die Kämpfe der Bauern zu Beginn des 16. Jahrhunderts und die Kämpfe der revolutionären Bürger und Arbeiter zu Beginn und am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa waren Kämpfe zur Errichtung menschenwürdiger Verhältnisse auf der Erde.

Wenn man nach den Zeugnissen dieser historischen Bewegungen sucht, die man zum Beispiel in Kunst und Künstlerischem entdecken kann (so in Bildern, in anderen künstlerischen Darstellungen und in Liedern), dann findet man bei denen, die in diesen Werken benannt sind, Erfahrungen und Erlebnisse, Ausblicke und Absichten. Die aus dem Bauernkrieg bis in unsere Tage lebendig gebliebenen Lieder geben Auskunft: "Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?", "Jetzt gilt es Schloss, Abtei und Stift, uns gilt nichts als die Heil'ge Schrift", "Geschlagen ziehen wir nach Haus, unsre Enkel fechten's besser aus!" Wenn die Kämpfe auch nicht in allen Absichten und Zielen erfolgreich waren, wenn auch viele Kämpfer starben oder im wütenden Hass der reaktionären Sieger ermordet wurden, so wirkten diese Kämpfe doch mit bei der Ausbildung der Würde eines Volkes.

In den Vierzigerjahren des 19. Jahrhunderts wurde ein Text von Georg Herwegh gesungen und ist bis heute nicht vergessen: "Frisch auf mein Volk mit Trommelschlag im Zorneswetterschein! O, wag es doch nur einen Tag, nur einen, frei zu sein!" Nach der Melodie, die Carl Maria von Weber schrieb, wurde gesungen: "Die wilde Jagd und die deutsche Jagd auf Henkers Blut und Tyrannen!"

In diesen historischen, gesellschaftlichen, sozialen Bewegungen kristallisiert sich heraus, wer und was das Volk ist. Aber es geben sich auch die zu erkennen, die sich über das Volk erhoben und erhaben fühlen. So "... bezeichnet man als Volk die große Menge der bürgerlichen Gesellschaft im Gegensatz zu den durch politische Stellung, Reichtum und Bildung hervorragenden Klassen." "Im engem Sinne bedeutet Volk nur die Gesamtheit der Regierten, im Gegensatz zur Regierung." Und etwas moderner unter anderem eben als "... die "breite Masse" der "einfachen" Mitglieder einer Gesellschaft".[4] Über das Leben der "einfachen" Mitglieder, der "breiten Masse" der Gesellschaft in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts schrieb der Historiker Franz Mehring:

"Wenn sich die Solinger Schleifer 1826 gegen ein entsetzliches Trucksystem*, die Krefelder Seidenweber 1828 gegen einen unerträglichen Lohndruck tumultuarisch erhoben, so fielen gleichzeitig in dumpfem Schweigen Hekatomben von Arbeiterkindern der Maschine zum Opfer."

"In allen Zweigen der Textilindustrie, dann aber auch in Nadel-, Bronze-, Schnallen-, Tapeten-, Papier-, Porzellan- und anderen Fabriken wurden viele Tausende von Kindern im zartesten Alter, schon vom vierten Lebensjahr an, massenhaft abgerackert und nach unmäßiger, zehn-, zwölf-, selbst vierzehnstündiger Arbeit gegen einen Tagelohn von ein paar Groschen ... einer kurzen Erholung"[5] zugelassen. Das Volk wurde als unmündige, zu Sklavenarbeit gerade noch geeignete Masse angesehen und behandelt.

Schließlich aber - mit Industrialisierung, Entwicklung von Verkehr und Handel - wuchsen die neuen ökonomischen Kräfte, neue soziale Bedingungen und Beziehungen bildeten sich aus und neue politische Kräfte griffen ins gesellschaftliche Geschehen ein. Die feudalen Herrschaftsstrukturen wurden zerbrochen, die Regierenden wurden nach neuen, vom Volk erkämpften Verfassungs- und Rechtsgrundsätzen gewählt. So waren sie mit den Regierten verbunden, eigentlich an sie gebunden. Sie bekamen die Macht und sollten im Sinne der Verfassungsgrundsätze das gesellschaftliche Leben lenken. Sie lenkten jedoch nicht im Interesse des Volkes. Sie führten in ihrem eigenen Interesse.

Es ist in Deutschland bisher am wenigsten geschehen, dass die zu würdigenden Siege des Volkes auf einem Weg zu menschenwürdigem Leben vollendet wurden. Selbst die errungenen Positionen wurden nicht gehalten. Nur ein Jahr dauerte es. Nachdem am 18. März 1848 auf die friedliche Massenkundgebung vor dem Schloss in Berlin eine Schwadron Dragoner und eine Kompanie Infanterie losgelassen worden war, erzwang das Volk in energischer Gegenwehr zum Vormittag des 19. März den Rückzug des Militärs aus der Stadt. Und es hatte erzwungen, dass der Preußenkönig die Toten des revolutionären Kampfes ehren musste. Doch am 28. März 1849 wurde mit der Verfassung des Deutschen Reiches, der Paulskirchenverfassung, die erbliche Würde des Reichsoberhauptes in der Person eines Kaisers benannt. In dieser Verfassung stand, dass der Kaiser das Recht hat, ein Haus des Reichstags, nämlich das Volkshaus, aufzulösen. Das deutsche Volk, das auf dem ganzen Territorium für mehr Rechte und verbesserte Lebensbedingungen aufgestanden war, ließ sich betrügen.

Das humanistische Gedankengut in den Werken von Lessing und Goethe, Herder, Fichte und natürlich Kant (dass der Mensch nie als ein Mittel benutzt werden dürfe) war noch nicht so in die Köpfe der politischen Repräsentanten des deutschen Volkes eingedrungen, dass sie danach hätten Gesetze beschließen und durchsetzen können. Ein Dichter aber aus dem Volk, das weltberühmte Künstler und Philosophen hervorbrachte, einer, der auch in der Zeit dieser revolutionären Bewegungen lebte und der wohl am empfindsamsten über die sozialen und politischen Umständen in Deutschland öffentlich dachte, schrieb, als er von den Maßnahmen erfuhr, die von der Bundesversammlung des Deutschen Bundes eingeleitet wurden (von den "sechs Artikeln" vom 28. Juni 1832 und den "zehn Artikeln" des 5. Juli 1832**): "Kraft meiner akademischen Befugnis als Doktor beider Rechte erkläre ich feierlichst, dass eine solche von ungetreuen Madatarien ausgefertigte Urkunde null und nichtig ist;... kraft meiner Machtvollkommenheit als öffentlicher Sprecher erhebe ich gegen die Verfertiger dieser Urkunde meine Anklage und klage sie an des gemissbrauchten Volksvertrauens, ich klage sie an der beleidigten Volksmajestät, ich klage sie an des Hochverrats am deutschen Volke, ich klage sie an!"[6] Das war Heinrich Heine.

In den 1820er Jahren gab es in Deutschland zur Unterstützung des griechischen Freiheitskampfes "Philhellenische Griechenvereine". Zur Unterstützung des Freiheitskampfes des polnischen Volkes gegen Russland hatten sich "Polenvereine" gebildet. "Mitglieder der Vereine schickten zugunsten der Polen Solidaritätsadressen und Forderungen an die Landtage und die Bundesversammlung in Frankfurt." "Als noch die Kämpfe in Polen fortdauerten, zogen insgesamt wohl 70 Ärzte aus Deutschland nach Polen zur Hilfeleistung. Ihr Motto war: "Wir reisen für unsere und die polnische Freiheit nach Polen." Nach der Niederlage der Polen wurden die geschlagenen Aufständischen bis 1833 bei ihrem Marsch durch Deutschland ins französische und englische Exil begeistert gefeiert und unterstützt."[7] Hier wird eine Tugend des deutschen Volkes geschildert, auf die Armin T. Wegner verwiesen hatte und die der Aufnahme von aus anderen Ländern vertriebenen Juden durch die Deutschen entspricht. Mit großen Versprechungen und beschwörenden Worten wurde das deutsche Volk, wie es auch anderen Völkern geschah und immer wieder geschieht, belogen und betrogen. O ja, eine Tugend, die uns durch alle Zeiten hindurch sehr zum Schaden gereichte, ist bei Heine als "unsere beste Tugend: der Glaube an die ehrliche Gesinnung des Gegners"[8] benannt.

In dieser Zeit, im Jahre 1848, wurde aber auch von Karl Marx und Friedrich Engels das Manifest der Kommunistischen Partei geschrieben. Es ist inzwischen weltbekannt, dass es sich dabei nicht nur um das Manifest der sich damals formierenden Partei handelte, sondern dass es sehr bald zum Manifest der weltweiten Bewegung der Arbeiter und aller abhängig Beschäftigen wurde. Es ist eine konzentrierte wissenschaftliche Begründung für die historische Mission der Arbeiterklasse, den Weg in eine menschwürdige Gesellschaft anzutreten.

Den Weg "anzutreten", so ist das heute deutlicher als jemals zu betonen. Als 1848 für eine künftige Arbeiterregierung die wesentlichen Gedanken und die wichtigsten Maßnahmen skizziert wurden, war noch nicht auszusagen, wie lang der Weg sein könnte. Heute, nach leidvollen historischen Erfahrungen, beginnend mit der Pariser Kommune, ist mit Marx hinzuweisen auf "eine ganze Reihe geschichtlicher Prozesse", die "durchzumachen" sind, "durch welche die Menschen wie die Umstände gänzlich umgewandelt werden."[9] Nur auf diesem Wege werden die Völker wie das deutsche Volk zur Würde finden.

Was den Deutschen noch geschah, ist bekannt und schnell zu benennen. Trügerisch verführt von der Eroberungssucht der nationalistischen Inhaber des Industrie- und Bankkapitals und gestützt von den historischen Feindbildern des deutschen Kaisertums, wurden sie mit jubelndem Marschieren hinein in den Ersten Weltkrieg geführt. Nur der kommunistisch, humanistisch und international denkende Sozialdemokrat Karl Liebknecht stand voll Würde auf gegen die Kriegskredite. Was dem deutschen Volk an Entwürdigendem mit diesem Krieg geschah, steht in Schulbüchern. Und es steht auch geschrieben, dass die Mehrheit des deutschen Volkes nach diesem Ersten Weltkrieg noch nicht verständig genug und die Verständigen nicht organisiert genug waren, um den ersten Schritt auf dem Weg in eine bessere Gesellschaft gehen zu können. Das war in den Jahren 1914 bis 1923.

Aber der nächste große Betrug keimte schon. Er keimte in dem einer grundlegenden sozialistischen Zielstellung völlig widersprechenden Begriffskombination: Nationalsozialismus. Das war umso schlimmer, weil das Nationale in diesem Wort einem völkisch-rassistischen Nationalismus galt, der sich mit sozialen und antikapitalistischen Forderungen vermengte und hinter ihnen versteckte.

Mit Revanchegedanken nach dem verlorenen Krieg ("Diktat" von Versailles), mit der Behauptung eines deutschen "Volkes ohne Raum" und der Herrenmenschen-Ideologie waren das Denken und Empfinden im deutschen Volk durch die Propaganda der NSDAP vergiftet worden. Der Antisemitismus, der schon in der "Deutschen Arbeiterpartei" steckte, aus der die NSDAP hervorging, wurde mit Antikommunismus (Antibolschewismus) zu einer jedes Auftreten durchdringenden Grundhaltung dieser Partei. Welche verhängnisvoll eindringliche Wirkung diese Ideologie und die so genannte "nationale" oder "völkische Bewegung" hatten, wird deutlich an der zuerst vehementen Reaktion des bekannten Arztes und Schriftstellers Gottfried Benn auf einen fragenden Brief von Klaus Mann über sein distanzloses Verhalten zu den Nationalsozialisten. In einer Rundfunkrede am 24. Mai 1933 sagte er unter anderem: "... Es handelt sich um eine neue Vision von der Geburt des Menschen, vielleicht um eine alte, vielleicht um die letzte großartige Konzeption der weißen Rasse. ... Dies Jahr 1933 hat vielem, das seit Jahrzehnten an Sozialismus in der europäischen Luft lag, ein neues festes Gesicht gegeben und einen Teil der Menschenrechte neu proklamiert. ... Hinter dieser Bewegung steht friedliebend und arbeitswillig, aber wenn es sein muss auch untergangsbereit das ganze Volk."[10] Er war dieser national-"sozialistischen" Ideologie vollkommen verfallen. Allerdings nur ein Jahr lang: 1933/34. Dann, wird festgestellt, kehrte er sich angewidert davon ab. Die Mehrheit des deutschen Volkes hat das leider nicht geschafft.

Es gab noch einen weiteren Spruch aus dem Vokabular Hitlers, um die Deutschen zu verführen. Zuerst auf die Eingliederung des Sudetengebietes gerichtet, dann aber für alle weiteren innen- und außenpolitischen Aktionen gut einzusetzen und die Jugend ansprechend der Slogan: "Ein Volk! Ein Reich! Ein Führer!"

Was noch an Würde des deutschen Volkes, die Armin T. Wegner in Gefahr gesehen hatte, vorhanden war, wurde in dieser Zeit des Antisemitismus, des Antihumanismus, des Antikommunismus, der kriegerischen Aggressionen, der Unterdrückung anderer Völker, der Weltmachtbestrebungen, des Herrenmenschentums, was da alles in Deutschland herrschte, dennoch von einigen verteidigt. Dieser Rest an Würde wurde verteidigt von jedem Empörten, von jedem Verweigerer, von jedem Kämpfer gegen das System, von jedem Beschützer eines Juden, von jedem Saboteur am Kriege. Viele von ihnen wurden für diese Verteidigung der Würde der Deutschen getötet, ermordet!

Als der Krieg vorbei und das faschistische Regime zerschlagen war, hielten die Siegermächte Gericht. Sie bestraften die schwersten Verbrecher und gaben den Deutschen, dem deutschen Volk, den deutschen Politikern berechtigte Hinweise für die weitere Entwicklung. Berechtigt war das schon, denn es musste nun zur Würde der Deutschen gehören, einzugestehen, dass es unserem Volk nicht selbst gelungen war, die deutschen Verbrecher an der Menschheit, die Auslöser eines erneuten Weltkrieges zu entmachten. Es wurde uns von den anderen Völkern zugerufen, in welchen Konzernen, in welchen Waffenfabriken, in welchen Banken die Förderer des Hitlerregimes, die zugleich Kriegsgewinnler waren, ihre Betätigungsfelder hatten. Bilder wurden uns gezeigt von gerade befreiten Häftlingen der faschistischen Konzentrationslager in Deutschland und in okkupierten Gebieten und die schrecklichen Bilder der Leichenberge von viehisch Ermordeten aus vielen Ländern.

Die deutschen Politiker gingen unterschiedlich damit um. Es ist heute eine allgemein bekannte Tatsache, dass in der Bundesrepublik Deutschland, für die es seit dem 23. Mai 1949 ein Grundgesetz mit dem Ziel gab, "in einem Vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen"[11], viele der ehemaligen politisch leitend an zentralen Stellen des faschistischen Hitlerregimes am Eroberungskrieg Mitwirkenden wieder in leitenden Positionen tätig sein konnten. Es ist bekannt, dass sogar dieselben Richter und Staatsanwälte Hitlers dieselben Widerstandskämpfer gegen Hitlers verbrecherische Politik an einer politischen Tätigkeit in der Nachkriegs-BRD hinderten und sie - wie unter Hitler - in Gefängnisse sperrten. Das deutsche Volk in der Bundesrepublik Deutschland hat das zugelassen.

Und so hat sich "die Politik" - nein: es haben sich die Politiker - dieser Bundesrepublik Deutschland wieder auf den schlimmen Weg der deutschen Imperialisten begeben. Die die Wirtschaft in Deutschland dominierenden Konzerne und Banken bestimmen wieder die Innen- und Außenpolitik der Regierung. Das betrifft die Expansionssucht, die Gier nach Rohstoffen, die Kriegsgeräteproduktion (vom deutschen Schießgewehr bis zum Kampfhubschrauber, zum U-Boot und zum Leopardpanzer***), den Waffenexport; das betrifft die Beteiligung an militärischen Aggressionen gegen andere Völker; das betrifft die Behinderung des Wirkens von humanistischen und antifaschistischen politischen Vereinigungen bei gleichzeitigem Dulden und Schützen von neonazistisch wirkenden Gruppen; das betrifft auch die Duldung von menschenunwürdiger Behandlung und Unterbringung von Flüchtlingen aus anderen Ländern; das betrifft die Unterlassung, den eigenen Kindern und Jugendlichen eine geordnete und durchdachte, deutschlandweit gültige Bildung, Ausbildung und Erziehung zu bieten; das betrifft die Leichtfertigkeit, ein Gesundheitswesen zu dulden, welches der Formel nachkommt: "Weil du arm, bist musst du früher sterben" oder (was vielleicht noch schlimmer ist) "Der Kranke, der keinen Gewinn bringt, interessiert uns nicht", ein Gesundheitswesen außerdem, in dem Ärzte, Schwestern und andere dort tätige Mitarbeiter in die Lage gebracht werden, streiken zu müssen, weil sie ihren Beruf nicht ordentlich ausüben können.

All das und schließlich das Auftreten dieser Regierung als Hilfssheriff einer sich unerhört anmaßend und völlig unberechtigt als Weltgendarm aufspielenden USA-Regierung veranlassen mich, diese Regierung, diese Politiker des moralischen Verbrechens anzuklagen, das deutsche Volk in die Gefahr zu bringen, seine durch die Geschichte hindurch so angeschlagene, nicht gut herausgebildete, nur von wenigen gepflegte Würde völlig zu verlieren. Dessen klage ich sie an!

Und ich verweise auf den 1989 zusammengebrochenen Versuch, gesellschaftliche Verhältnisse einzurichten, in denen das deutsche Volk in Würde leben wollte. All das, was meine Sorge um die Würde des Deutschen Volkes heute begründet, wurde in der DDR vermieden. Dieser untergegangene Staat gab dem Volk die Würde des Volkseigentums an Grund und Boden und an den großen Industrien, die Würde der unentgeltlichen Gesundheitsversorgung für alle, die Würde der vom Geldbeutel unabhängigen Bildung, die Würde antifaschistischer Gesinnung, schließlich die Würde, nach Kriegsleiden und Zerstörungen mit den von der alten Gesellschaft geplagten und verbildeten Menschen gemeinsam den Weg in eine sozialere, friedlichere Gesellschaft antreten zu wollen. Lieder für Frieden und Völkerfreundschaft entstanden und wurde bekennend gesungen.**** Der fordernde Ruf "Wir sind das Volk!", der ein Ausdruck für den Willen zur Fortsetzung dieses Weges war, wurde von den meisten damals herrschenden Partei- und Staatsfunktionären nicht ernst genommen. Und im Verlauf der Ereignisse wurde dieser Ruf verwirrend, verfremdend und verführend in den Ruf "Wir sind ein Volk!" verwandelt, was manchen an den seinerzeitigen Verführungsslogan Adolf Hitlers (Ein Volk! Ein Reich! Ein Führer!) erinnerte.

Es kommt der Ruf nach Menschenwürde von allen Völkern. Wahrscheinlich kann nur ein Bündnis der Völker dieses Ziel einst erreichen. Als das Manifest für eine sozialistische Zukunft noch nicht geschrieben war, einhundert Jahre bevor A. T Wegner seinen Brief an Hitler schrieb, wünschte Heinrich Heine, dass die große Menge die Gegenwart versteht. Die Parallele zu heute drängt sich geradezu auf: "Wenn wir es dahin bringen, dass die große Menge die Gegenwart versteht, so lassen die Völker sich nicht mehr von den Lohnschreibern der Aristokratie zu Hass und Krieg verhetzen, das große Völkerbündnis, die Heilige Allianz der Nationen, kommt zustande, wir brauchen aus wechselseitigem Misstrauen keine stehenden Heere von vielen hunderttausend Mördern mehr zu füttern, wir benutzen zum Pflug ihre Schwerter und Rosse, und wir erlangen Friede und Wohlstand und Freiheit."[12]


Anmerkungen:

* Das Trucksystem ist ein Tausch. Die Fabrikherren gaben an ihre Arbeiter als Entlohnung statt Bargeld Waren zu erhöhten Preisen ab.

** Die Artikel beinhalteten u. a. die Ausdehnung der Versammlungsverbote auf Volksfeste, Eingriffe in das Recht der Länderparlamente (z. B. in die Budgetrechte) und die Einschränkung des Rederechts in den Parlamenten.

*** "Wann verbietet das deutsche Volk die Produktion solcher schlimmen, Kraft, Intelligenz und Material verschlingenden Mordmaschinen, möglichst ohne dass ein Gewerkschaftsfunktionär auf die Idee kommt, die Arbeitsplätze dafür unbedingt erhalten zu wollen? Die Würde der Stahlarbeiter ist mit der Waffenproduktion ohnehin arg geschädigt. Und wann stellen die LINKEN solche Fragen so prinzipiell und deutlich?

**** Es gibt einen mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichneten Bundesbürger, der vor kurzem die zentrale Funktion in der Stasi-Unterlagenbehörde bekam. Er hatte sich vor etwa 30 Jahren in der "Friedensgemeinschaft Jena" engagiert, die dem Gedanken "Schwerter zu Pflugscharen" nahe stand und die Politik der damaligen Regierung nicht für friedlich hielt. Diese Regierung hatte allerdings keine Soldaten zu kriegerischen Handlungen mit Verlusten an Menschenleben ins Ausland geschickt. Kein Wort hört man von ihm jetzt gegen die Kriegspolitik der heutigen Regierung. Seine "Würde als Friedenskämpfer" hat er verloren.

[1] Armin T. Wegner, aus: In jenen Tagen. Eine Dokumentation, Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig und Weimar 1983, S. 252 u. 254

[2] Emil Stumpp: Über meine Köpfe, Buchverlag Der Morgen 1983, S. 199

[3] Schiller, zitiert nach "Studienmaterial zur Kunstdiskussion für künstlerische Lehranstalten der DDR", VEB Verlag der Kunst Dresden, S. 109

[4] Definitionen zum Begriff "Volk" aus dem Brockhaus-Konversationslexikon 1895, aus der Brockhaus-Enzyklopädie 1994 und aus Meyers Konversationsiexikon 1897

[5] Franz Mehring: Historische Aufsätze zur Preußisch-Deutschen Geschichte, Verlag JHW Dietz Nachf. Berlin 1946, S. 158/159

[6] Heinrich Heine, in: Vorrede zu "Französische Zustände", Werke in fünf Bänden, Aufbau Verlag Berlin und Weimar 1987, Bd. 4, S. 20/21

[7] Zitate aus Wikipedia

[8] Heinrich Heine, a.a.O., S.13

[9] Karl Marx in: Bürgerkrieg in Frankreich, MEW, Bd. 17, S. 343

[10] Gottfried Benn in: In jenen Tagen, S. 382, 383, 385

[11] Aus der Präambel des Grundgesetzes

[12] Heinrich Heine, a.a.O., S. 12


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Horst Sakulowski, Deutschland 1525 - Die Auferstehung, 1974. Öl/Hartfaser, 95 x 145 cm

Theodor Hosemann, Der siebzehnjährige Schlosserlehrling Ernst Zinna auf einer Barrikade in der Berliner Friedrichstraße am 18. März 1948, Federlithographie, 1848

Sella Hasse, Sackträger, Holzschnitt aus dem Zyklus "Rhythmus der Arbeit"

Karl-Erich Müller, Illustration zu Heinrich Mann "Der Untertan", 1951/52, Blatt 15

Jewgeni Wutschetitsch, Schwerter zu Pflugscharen, Bronze. Geschenk der UdSSR vom 4. Dezember 1959 an die UNO

*

Ehrlicher und verlogener Umgang mit Geschichte

Peter Michel

Verbrechen an der deutschen Kultur

Gedanken zum 75. Jahrestag der Eröffnung der Ausstellung "Entartete Kunst" in München (Vortrag, gehalten in der Ladengalerie der "jungen Welt" am 12. Juni 2012)

Da schrieb jemand über den Besuch einer Ausstellung als Siebzehnjähriger: "... der Schock, die Bestürzung und Niedergeschlagenheit, die ich ... erfuhr, sind lebendig, als wären sie erst ganz frisch geschehen. ... Die Auswahl der Werke, ihre abscheuliche Hängung und Platzierung ... machten für mich offenkundig, dass diese Ausstellung ... darauf angelegt war, den Hass gegen diese Werke zu entfachen. Es handelte sich um einen marktschreierischen Versuch, alles zu diskreditieren, was dort zu sehen war. ... Bilder waren sehr nahe zusammengehängt, manche übereinander, andere sogar über den Türrahmen. ... Kurzum, ich sah mich von allen Seiten mit Bildern konfrontiert, mit denen ich aufgewachsen war, die ich bewunderte und liebte. ... Wie traurig war ich darüber, dass die von mir geschätzten Werke und ... Künstler hier an den Pranger gestellt wurden."[1]

Blick auf die Gegenwart

Wenn man das liest, fühlt man sich sofort erinnert an die in Weimar 1999 gezeigte Ausstellung "Aufstieg und Fall der Moderne". Diese diffamierende Exposition war der vorläufige Höhepunkt einer seit dem Zusammenbruch der DDR mit Konsequenz betriebenen, undifferenzierten Entwürdigung der im Osten Deutschlands entstandenen Kunst. Die Perfidie dieser Horror-Schau bestand darin, dass dort Bilder auf graue Müllsackfolie gehängt oder davorgestellt waren. Sie sollten mit dieser Wegwerfgeste auf die Müllhalde der Geschichte befördert, es sollte Abscheu erregt und lächerlich gemacht werden. Konzipiert wurde das durch Westdeutsche mit großer Arroganz, mit Unempfindlichkeit gegenüber dem Schaden, der angerichtet wurde, und mit völligem Fehlen von Schuldbewusstsein. "Eine infame Regie", schrieb damals Eduard Beaucamp, "packte ... dressierte NS-Kunst mit jedweder Malerei aus der DDR zusammen ...".[2] Im Untergeschoss der Ausstellung waren Gemälde aus der Kunstsammlung Hitlers wesentlich seriöser präsentiert worden.

Spätestens hier fällt eine Parallele auf: Mit großem Pomp wurde am 18. Juli 1937 anlässlich der Einweihung des "Hauses der Kunst" in München die erste "Große Deutsche Kunstausstellung" eröffnet, und einen Tag später, am 19. Juli 1937, sprach der nazitreue Maler Prof. Adolf Ziegler seine Begrüßungsworte für die Ausstellung "Entartete Kunst" im Archäologischen Institut München. Also auch hier die unmittelbare Nähe von Nazikunst und diffamierten Werken - wie 62 Jahre später in Weimar. Ob deren Machern diese Übereinstimmung bewusst war? Dort wurde zwar nicht von "Entartung" gesprochen. So weit ging man denn doch nicht. Doch das Ziel der Diffamierung war das gleiche. Die Künstler, deren Arbeiten entehrt werden sollten, fühlten sich als "Entartete" gebrandmarkt, nahmen persönlich ihre Bilder von der Folie, drohten ein gerichtliches Vorgehen oder Entschädigungsforderungen an und Leihgeber zogen ihre Bilder zurück. Willi Sitte lehnte es konsequent ab, die schon 1995 im Deutschen Historischen Museum gezeigte Ausstellung "Auftrag: Kunst" zu besuchen, wo sein Historienbild zum Untergang der Napoleonischen Armee in der Völkerschlacht bei Leipzig als Beispiel drangsalierender Auftragskunst gezeigt wurde, weil er auch diese Ausstellung als Inszenierung von "entarteter Kunst" empfand.

Solche Möglichkeiten des Sich-zur-Wehr-Setzens hatten die Künstler 1937 nicht. Und das Zitat des damals siebzehnjährigen Peter Guenther, der als Sohn eines Dresdener Kunstkritikers nach München gereist war, bezog sich nicht auf die Weimarer, sondern auf die Münchener Ausstellung. Aber seine Worte passen eben auch heute in kulturpolitische Vorgänge der jüngsten Vergangenheit und leider immer noch der Gegenwart.

Über die Nachwirkungen

Jede dieser Ausstellungen hat ihre Vor- und Nachgeschichte. Und weil ich hier mit der Nachgeschichte begonnen habe, möchte ich dazu noch einige Gedanken anschließen. In der alten Bundesrepublik rief Arnold Bode, der unter den Nazis Berufsverbot erhalten hatte und dessen Kunst als "entartet" eingestuft worden war, die Kasseler "documenta" ins Leben. Im Zentrum der "documenta I" stand 1955 die unter den Nazis verfemte Moderne, darunter Surrealisten, Kubisten und abstrakte Maler. Vertreten waren auch figurativ arbeitende und solche Künstler, die ins Exil gezwungen worden waren oder im Gefängnis gesessen hatten.[3]

Diese erste "documenta" war deutlich antifaschistisch, doch nach und nach verlor sie im Kalten Krieg diesen Charakter, wurde bestimmt durch die vom CIA gelenkte "Diktatur der Abstrakten", weil angeblich der Realismus durch die Nazi-Kunst diskreditiert worden sei, und versank im Lauf der Jahre im Strom ständig neuer Beliebigkeiten, die sich aber als trendbestimmend gerierten. Die große Rehabilitation der "Entarteten" blieb aus und wurde mehr und mehr eine Angelegenheit von Privatsammlern und ausgewählten Museen.

Für die sowjetische Besatzungszone und die DDR gilt, dass unmittelbar nach Kriegsende eine große Aufbruchsstimmung auch in den Künsten herrschte. Ludwig Justi veranstaltete in den Räumen des Berliner Schlossmuseums die erste Überschau "Wiedersehen mit Museumsgut", in der auch Werke lange verfemter Künstler zu sehen waren, und 1950 wurde in der teilweise wieder aufgebauten alten Nationalgalerie auch ein Raum mit Werken des 20. Jahrhunderts eröffnet. Aber zugleich, ebenfalls bedingt durch den intensiver werdenden Kalten Krieg, setzte mit dem bekannten "Orlow"-Artikel in der "Täglichen Rundschau" eine unsägliche Formalismusdiskussion ein, die auf beschämende Weise - bis in einzelne Formulierungen hinein - an die von Victor Klemperer so akribisch untersuchte Sprache des Dritten Reiches (LTI) erinnerte. Im "Wörterbuch der Kunst", das 1940 vom Alfred Kröner Verlag Stuttgart herausgegeben wurde, heißt es zu den Merkmalen der "entarteten Kunst": "... keinerlei Verbundenheit mit der künstlerischen Überlieferung des deutschen Volkes, mit seiner Weltanschauung und seinen Lebensinteressen; Drang zur Darstellung ... der Schattenseiten des menschlichen Lebens; Verzerrung des Naturvorbildes in Form und Farbe." Dann folgt ein Hinweis auf das Stichwort "Expressionismus".[4] Und wenn man dann "Meyers Neues Lexikon" von 1962 aus dem Bibliographischen Institut Leipzig zur Hand nimmt und das Stichwort "Formalismus" aufschlägt, liest man: "Das Wesen des Formalismus besteht in der Loslösung der künstlerischen Form von der Wirklichkeit. ­... Formalismus ist ... inhaltslose, wirklichkeitsfremde bzw. - feindliche und daher völlig unfruchtbare und unkünstlerische Formspielerei. ... Durch die Absage an das nationale Kulturerbe tritt er zugleich gegen alle realistischen Traditionen auf. ... Allgemeines Kennzeichen des Formalismus sind die Überbewertung der Form, die Abwendung von der Wirklichkeit und grenzenloser Subjektivismus."[5]

Es gab damals in der DDR zahlreiche Künstler, die vor solchen - sicher entgegengesetzt begründeten, aber erschreckenden - Parallelen im Denken warnten. Herbert Sandberg gehörte dazu. 1951 wurde die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten gegründet, deren Aufgabe es war, "dafür zu sorgen, dass auf allen Gebieten der Kunst der Formalismus überwunden, der Kampf gegen die Dekadenz entschieden weitergeführt und eine realistische Kunst durch Anknüpfen an die großen Meister der Klassik entwickelt wird."[6] Es gab in der DDR keine Schandausstellung "Formalistische Kunst", aber es gab Behinderungen, Korrekturen, im Berliner Bahnhof Friedrichstraße die Beseitigung eines Wandbildes von Horst Strempel, in Halle durch die Presse organisierte empörte Stimmen von Werktätigen über Bilder in Ausstellungen, in Berlin Schließungsabsichten für eine Ausstellung junger Künstler in der Akademie der Künste und die Ablösung des ehemaligen Buchenwald-Häftlings und Picasso-Verehrers Herbert Sandberg von seinem Posten als Chefredakteur der Zeitschrift "Bildende Kunst". Eine Ausstellung mit Werken Ernst Barlachs, die 1952 in Berlin gezeigt wurde, konnte nur durch einen beherzten Eingriff Bertolt Brechts vor der Schließung bewahrt werden. Wilhelm Girnus hatte im "Neuen Deutschland" am 4. Januar 1952 u. a. geschrieben: "Barlachs Geschöpfe sind eine graue, passive, verzweifelte, in tierischer Dumpfheit dahinvegetierende Masse, in denen auch nicht der Funke eines starken, lebendigen Gefühls des Widerstandes zu spüren ist. Mit Vorliebe sucht Barlach seine Typen ... in jenen passiven Schichten des Lumpenproletariats, die ohne jede Hoffnung leben." So ähnlich - und natürlich mit entgegengesetzter Motivation - hatte sich schon Alfred Rosenberg im "Völkischen Beobachter" am 7. Juni 1933 ausgelassen.

Diese Beispiele ließen sich fortsetzen. Eine ganze Reihe von Künstlern, die - wie z. B. Charles Crodel und Horst Strempel - in den "freien" Westen gegangen waren, wurden in ihren Hoffnungen auch dort enttäuscht. Im Laufe der Jahre zog Vernunft ein und oft auch die Erkenntnis, dass diese Formalismusdebatte ein schlimmer Fehler und für eine von humanistischen Idealen getragene Kunstentwicklung völlig kontraproduktiv war. Doch es bedurfte immer wieder des Selbstbewusstseins zahlreicher Künstler und Kunstwissenschaftler - und zunehmend auch von Kulturfunktionären -, um Rückfälle zu vermeiden. Im Seemann Verlag Leipzig, im Verlag der Kunst Dresden, im Henschelverlag, auch im Kinderbuchverlag Berlin erschienen zahlreiche Monographien und andere Publikationen über Künstler, die von den Nazis verfolgt worden waren. Eine Kostbarkeit auf diesem Gebiet war Horst Jähners buchkünstlerisch hervorragend gestalteter Band "Künstlergruppe Brücke. Geschichte einer Gemeinschaft und das Lebenswerk ihrer Repräsentanten" (Henschelverlag Berlin 1984).

Wurzeln und Vorgeschichte

In diesen Tagen, da die Eröffnung der Münchener Ausstellung "Entartete Kunst" sich zum 75. Mal jährt, sollte man meinen, dass die Lehren aus der Historie Allgemeingut sind. Aber es ist notwendig, immer wieder an dieses Verbrechen an Kultur und Kunst zu erinnern, denn auch jetzt ist der Schoß noch fruchtbar, aus dem es kroch. Das beginnt mit kleinbürgerlichen Denkweisen, die auch den Faschismus mitgestalteten, die aber ihre Wurzeln in fernerer Vergangenheit haben. Und damit kommen wir zur Vorgeschichte.

"Entarten" heißt "aus der Art schlagen" und weist zunächst auf biologische Vorgänge. Doch schon der Romantiker Friedrich Schlegel schrieb in Bezug auf die Dichtung der Spätantike von "entarteter Kunst". Richard Wagner publizierte 1850 seinen Artikel "Das Judentum in der Musik", in dem er den Einfluss jüdischer Künstler anprangerte und die Loslösung von ihnen forderte. 1892 veröffentlichte der jüdische Arzt, Schriftsteller, Kulturkritiker und Mitbegründer des Zionismus Max Nordau sein Werk "Entartung", in dem er nachzuweisen versuchte, dass die Entartung der Kunst auf die Entartung der Künstler zurückgeführt werden könne. Seine Thesen wurden später von den Faschisten aufgegriffen und von Hitler z. T. wortwörtlich übernommen. Wo es gegen die Juden ging, waren selbst solche Vorgaben willkommen.

Anlässlich der Eröffnung der Berliner Siegesallee am 18. Dezember 1901 ließ sich Kaiser Wilhelm II. abfällig über moderne Kunstströmungen aus und nannte z. B. die Werke von Heinrich Zille und Käthe Kollwitz "Rinnsteinkunst". 1924 wurden George Grosz und Wieland Herzfelde wegen angeblicher "Obszönitäten" vor Gericht gestellt; das Urteil lautete auf Zahlung von 6.000 Mark Strafe; die Druckplatten wurden konfisziert. In einer Erklärung an den Regierungspräsidenten von Stade, einen Herrn Dr. Rose, protestierten 1927 Käthe Kollwitz und Max Pechstein gegen die Absicht, die Wandgemälde Heinrich Vogelers im Kinderheim Barkenhoff Worpswede zu entfernen.[7] (Nur zur Erinnerung: Auch in Ostdeutschland wurden nach 1989 zahlreiche Wandgemälde vernichtet.) 1928 erschien das Machwerk "Kunst und Rasse" von Paul Schultze-Naumburg, der ab 1930 Direktor der Weimarer Kunsthochschule war, der gegen Tendenzen des Bauhauses polemisierte und dessen Schriften einer von rassistischen Ideen geprägten völkischen, bodenständigen Bau- und Kunstauffassung im Sinne des Faschismus galten. Er war einer der wichtigsten Anreger der Aktion "Entartete Kunst". 1929 wurde der "Kampfbund für deutsche Kultur" durch Heinrich Himmler, Alfred Rosenberg und andere Nazis gegründet. 1930 befahl der thüringische Minister für Inneres und Volksbildung, der Faschist Wilhelm Frick, die Auflösung der Weimarer Bauhausschule und die Entfernung von Schlemmers Wandbildern in diesem Gebäude. (Diese wurden übrigens in der DDR wieder hergestellt.) Die Beseitigung von Werken Barlachs, Kandinskys, Klees, Crodels, Heckels, Noldes, Schmidt-Rottluffs und anderer aus dem Schlossmuseum Weimar ging auf seine Weisung zurück. Er war es auch, der die Wandmalereien von Charles Crodel in den erneuerten Kuranlagen von Bad Lauchstädt überstreichen ließ. 1932 beschloss der Stadtrat von Dessau die Schließung des Bauhauses; alle Lehrer der Essener Folkwangschule wurden entlassen; George Grosz ging nach New York ins Exil; die Herausgabe der Zeitschrift "Der Sturm" wurde eingestellt; Herward Walden emigrierte in die Sowjetunion.

Im schlimmen Jahr 1933 fanden im April erste "Schandausstellungen" zur Diffamierung moderner Kunst in Karlsruhe, Mannheim, Nürnberg, Chemnitz, Breslau, Stuttgart, Dessau, Ulm und Dresden, später auch in Hagen, Dortmund, Regensburg, Ingolstadt, Darmstadt, Frankfurt am Main und Halle (5.) statt. Max Liebermann, von 1920 bis 1933 Präsident der Preußischen Akademie der Künste, wurde wegen seiner jüdischen Abstammung von den Nazis seines Amtes enthoben; seine Werke wurden verfemt. Auch Käthe Kollwitz, die Professorin an dieser Akademie gewesen war, ereilte das gleiche Schicksal. Am 9. Februar des Folgejahres notierte sie in ihr Tagebuch: "Nun ist Liebermann tot. ... Ich ging heut Vormittag, am Tag nach seinem Tode, hin und konnte ihn sehn. Furchtbar mager. Gereckt liegt er da und das verändert den Eindruck, weil ihm der Kopf so überhing. Stirn, Schläfen, Nase sehr gut und vornehm. Seine Frau einfach und gut. ... Als ich die Treppe runterging, begegnete mir sein Teckel."[8] Die Witwe Liebermanns nahm sich vor ihrer Deportation ins KZ das Leben. Der jüdische Kunstsammler Alfred Flechtheim, der bereits ab 1930 geschäftlich gezielt behindert und ruiniert und dessen Vernissagen durch Naziaktionen gestört wurden, ging 1933 in die Emigration; er starb 1937 verarmt und verzweifelt in London; seine Frau Betti entging in Berlin 1941 der drohenden Deportation durch Selbstmord; seine Kunstsammlung wurde in alle Welt verstreut.[9]

Am 10. Mai 1933 fraßen die Flammen der von den Nazis entzündeten Scheiterhaufen in Berlin und 21 anderen Universitätsstädten - später auch im "heim ins Reich" geholten Österreich - unter großem propagandistischem Aufwand öffentlich das Beste der deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. (Auch hier zur Erinnerung: 1989/90 war es der in den Osten eingebrochene Raubtierkapitalismus, der dafür sorgte, dass etwa 30 Millionen Bücher aus DDR-Verlagen ohne Propagandarummel in stillgelegten Tagebauen oder auf Mülldeponien verschwanden. Die Motive für diese Vernichtung waren andere, doch der gesellschaftliche Urgrund war der gleiche.) Im Juli 1933 wurde eine Ausstellung mit Werken Ernst Barlachs, Franz Marcs und Emil Noldes in der Galerie Möller in Berlin verboten. Viele Künstler - unter ihnen Walter Gropius, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Heinrich und Thomas Mann, Ernst Toller und Kurt Weill emigrierten, andere - wie Willi Baumeister, Max Beckmann, Otto Dix, Karl Hofer, Max Pechstein und Oskar Schlemmer - verloren ihre Lehrämter oder ihre Posten als Museumsleiter. Im Frühjahr 1934 floh Oskar Kokoschka nach Prag, wo er eine antifaschistische Gruppe bildete, der u. a. Theo Balden, John Heartfield und Eugen Hoffmann angehörten. Am 30. Oktober 1936 wurde die Abteilung Moderne der Berliner Nationalgalerie im Kronprinzenpalais geschlossen. Am 26. November verbot Goebbels die Kunstkritik, und im Dezember wurde der Nazi-Maler Adolf Ziegler (von seinen Kollegen spöttisch als "Maler des deutschen Schamhaares" bezeichnet) als Präsident der Reichskammer der Bildenden Künste berufen. Am 30. Juni 1937 gab Goebbels Hitlers Befehl an Ziegler weiter, für eine Ausstellung Beispiele "entarteter Kunst" aus Museen zu konfiszieren. In einer ersten großen "Säuberungsaktion" wurden fast 5000 Gemälde und Skulpturen sowie 12.000 Graphiken zusammengerafft und zunächst in ein Lagerhaus in der Köpenicker Straße und in das Schloss Niederschönhausen in Berlin gebracht. Schon wenige Wochen später, am 19. Juli 1937, eröffnete der Lakai Ziegler die Ausstellung "Entartete Kunst" im Hofgarten München. Dort sprach er u. a. die Worte: "Wir befinden uns in einer Schau, die aus ganz Deutschland nur einen Bruchteil dessen umfasst, was von einer großen Zahl von Museen für Spargroschen des deutschen Volkes gekauft und als Kunst ausgestellt worden war. Sie sehen um uns herum diese Ausgeburten des Wahnsinns, der Frechheit, des Nichtskönnertums und der Entartung. Uns allen verursacht das, was diese Schau bietet, Erschütterung und Ekel."[10] Am selben Tag emigrierte Max Beckmann nach Amsterdam. "Sehen sie nicht, dass das Faschingsdekorationen sind?", fragte Beckmann den deutschen Grenzkontrollposten, der argwöhnisch die Plane des LKWs zurückgeschlagen hatte. Der schaute zunächst unschlüssig und ließ ihn passieren. So konnte Beckmann viele seiner Werke retten, die Herrn Ziegler und seinen Helfern nicht in die Fänge geraten waren.

Eine Ausstellung der Schande

Die Ausstellung "Entartete Kunst" zeigte 650 Werke aus 32 deutschen Museen. Sie zog mehr als 2 Millionen Besucher an und damit mehr als die zeitgleich stattfindende "Große Deutsche Kunstausstellung", die von 420.000 Menschen gesehen wurde. Sie ging von München nach Berlin, von dort nach Leipzig, Düsseldorf, Salzburg, Hamburg, Stettin, Weimar, Wien, Frankfurt am Main, Chemnitz, Waldenburg in Schlesien und Halle (5.). Ihre Exponate wurden mit Arbeiten von geistig Behinderten gleichgesetzt und man kombinierte viele Werke mit Fotos verkrüppelter Menschen. So ging es den Machern nicht nur um einen Feldzug gegen die Moderne, sondern diese Präsentation "kranker", "jüdisch-bolschewistischer" Kunst diente auch der Legitimation der Verfolgung "rassisch Minderwertiger" und politischer Gegner. Auf einem Handzettel und im Umfeld der Ausstellungsstücke las man Parolen wie: "Gequälte Leinwand - Seelische Verwesung - Krankhafte Phantasie - Geisteskranke Nichtskönner - ... - Seht Euch das an! - Urteilt selbst!"[11] Im Ausstellungsführer, der für 30 Reichspfennige zu haben war, wurde aus Hitlers Reden zitiert; hier zwei Kostproben: "Eine Kunst, die nicht auf die freudigste und innigste Zustimmung der gesunden breiten Masse des Volkes rechnen kann, sondern sich nur auf kleine, teils interessierte, teils blasierte Cliquen stützt, ist unerträglich. Sie versucht das gesunde, instinktsichere Gefühl eines Volkes zu verwirren, statt es freudig zu unterstützen."[12] Oder an anderer Stelle: "Das Judentum verstand es, besonders unter Ausnützung seiner Stellung in der Presse, mit Hilfe der so genannten Kunstkritik nicht nur die natürlichen Auffassungen über das Wesen und die Aufgaben der Kunst sowie deren Zweck allmählich zu verwirren, sondern überhaupt das allgemeine gesunde Empfinden auf diesem Gebiete zu zerstören."[13] Das "gesunde Volksempfinden" war ein Schlagwort der Nazis, und es ist erstaunlich, wie lange es sich auch nach dem "Tausendjährigen Reich" noch hielt, wenn vielleicht auch nicht wörtlich, so doch dem Sinne nach.

Während und nach dieser Ausstellung ging der Feldzug gegen die Moderne weiter. Die gesamte Zeit der faschistischen Herrschaft war davon geprägt; es wurden Ausstellungen geschlossen; es gab verbale und tätliche Angriffe auf Künstler und kulturelle Einrichtungen. Allein aus Hamburg flohen 64 Künstler in 23 verschiedene Länder. Aus der Hamburger Kunsthalle wurden 72 Gemälde, 296 Aquarelle, Pastelle und Handzeichnungen, 926 Radierungen, Holzschnitte und Lithographien sowie 8 Skulpturen beschlagnahmt. Ab August 1937 wurden insgesamt etwa 20.000 Kunstwerke von 1.400 Künstlern aus über 100 Museen entfernt. Darunter befanden sich auch Leihgaben aus Privatbesitz. Die Enteignung der Museen wurde durch das "Gesetz über die Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst" nachträglich am 31. Mai 1938 legitimiert. Göring schlug einen devisenbringenden Verkauf der Kunstwerke ins Ausland vor; Hitler tauschte einige gegen alte Meister.

Nach der Progromnacht vom 9. zum 10. November 1938 wurde das erste jüdische Museum der Moderne in der Berliner Oranienburger Straße gewaltsam geschlossen. 280 Gemälde aus dieser Sammlung wurden nach dem Krieg in den Trümmern Berlins wieder entdeckt, doch die Suche nach Stücken dieses Museums geht auch heute weiter.[14]

Im Hof der Hauptfeuerwache in Berlin-Kreuzberg verbrannten am 20. März 1939 nach offizieller Verlautbarung 1004 Gemälde und 3825 Graphiken; manche sollen beiseite geschafft worden sein. 125 Werke waren für eine Versteigerung in der Schweiz vorgesehen. Diese Auktion fand am 30. Juni 1939 im Auktionshaus Theodor Fischer in Luzern statt. Allerdings waren die Ergebnisse ziemlich niedrig, denn es war bekannt geworden, dass Nazideutschland mit diesem Verkauf seinen Devisenstatus verbessern wollte. Viele, aber nicht alle Werke wurden verkauft. Weitere Verkäufe von enteigneten Werken wurden von privaten deutschen Galerien vorgenommen.

Der Vernichtungsangriff auf die Moderne betraf nicht nur die bildenden Künste, sondern alle Bereiche der Kultur: die Literatur, die Filmkunst, das Theater, die Architektur und die Musik. Swing oder Jazz wurden auf der am 24. Mai 1938 eröffneten Ausstellung "Entartete Musik" ebenso rücksichtslos diffamiert wie der "Musikbolschewismus" von international bekannten Komponisten wie Hanns Eisler, Paul Hindemith oder Arnold Schönberg. In der Folge erschien ab 1940 das berüchtigte Lexikon "Entartete Musik".[15]

Diese mit Nazi-Ideologie vollgesogene Moderne-Feindlichkeit spielte dann eine weniger wichtige Rolle, wenn es um Bereicherung ging. Und Besitzgier im Kunstbereich wurde offen und schamlos ab 1939 in den von der deutschen Wehrmacht überfallenen Ländern praktiziert. Kunstraub gehörte zum Kriegsgeschehen. In Polen, der Sowjetunion usw. wurden Museen und Kirchen ausgeplündert, wurden Meisterwerke für Hitlers in Linz geplantes Kunstmuseum des Deutschen Reiches weggeschleppt, schmückte sich Göring mit Raubkunst in Karinhall und andernorts.

Hier muss ich eine Bemerkung zu einer aktuellen Ausstellung einfügen: In der Dresdener Galerie Alte Meister wird gegenwärtig eine Sonderschau zum 500. Geburtstag von Raffaels "Sixtinischer Madonna" gezeigt. Sie ist ein sehens- und erlebenswertes Meisterstück der Erforschung der Kunst der italienischen Renaissance und ihrer Wirkung bis heute, hat aber einen entscheidenden Mangel, weil in einem dokumentarischen Teil Geschichtsfälschung betrieben wird. Der eben beschriebene Kunstraub der Nazis spielt dort überhaupt keine Rolle, und die Bergung der "Sixtina" und zahlreicher anderer Werke durch die Rote Armee wird dort als Trophäenjagd und die Arbeit der sowjetischen Restauratoren als "Legende" dargestellt. Welches Denken hier vorliegt, brauche ich wohl nicht zu erläutern.

Doch zurück ins Jahr 1937: In der Propagandaschau "Entartete Kunst" stellte man Arbeiten von 110 Künstlern an den Pranger. Einige von ihnen werden heute zu den "vergessenen" Künstlern gezählt, weil ihre Werke vernichtet oder gestohlen wurden, weil sie selber in Armut starben, zur Selbsttötung getrieben oder ermordet wurden. Selbst denen, die überlebten, gelang es nach 1945 oft nicht, wieder Anerkennung zu erlangen, weil sie sich nicht mit den neuen Kunstrichtungen identifizieren wollten. Das ganze Ausmaß der menschlichen Tragödien wird deutlich, wenn man die Einzelschicksale verfolgt. Wir können das hier nur bei wenigen tun.

Schicksale

Ernst Barlach wurde nach seiner großen Retrospektive von 1930 in der Preußischen Akademie der Künste, in der er seit 1919 Mitglied war, und nach seiner Teilnahme an der Biennale in Venedig zum Ziel der faschistischen Kunstideologie. 1932 zerschlugen Nazis die Fenster seines Güstrower Hauses. Seit 1933 wurden seine Briefe zensiert; er wurde von der Polizei beobachtet. Sogar in seinen eigenen Räumen durfte er nicht mehr ausstellen. Doch obwohl seine Skulpturen und Denkmale beseitigt oder zerstört waren, blieb er in Deutschland. Im August 1937 waren bereits 381 seiner Werke aus den Museen und Kirchen verbannt. In der Ausstellung "Entartete Kunst" war seine Plastik "Christus und Johannes" ausgestellt, von der das Kieler Museum zuvor "gesäubert" worden war. Sieben Arbeiten von ihm wurden zur Versteigerung in Luzern angeboten; drei von ihnen sind verschollen. Nachdem er die Nachricht von seinem Ausstellungsverbot erhalten hatte, erkrankte er schwer und verstarb 1938 in einem Rostocker Krankenhaus. Käthe Kollwitz hielt auch dieses Sterben nach einem Besuch an seiner Totenbahre in Güstrow in ihrem Tagebuch fest. Franz Fühmann beschrieb dieses Schicksal in einer ergreifenden Novelle, die auch verfilmt wurde.

Von Max Beckmann waren 11 Arbeiten von 21 dafür vorgesehenen ausgestellt; bei sieben ist der Verbleib unbekannt, drei wurden zerstört. Seine Gemälde "Christus und die Ehebrecherin" und "Kreuzabnahme" waren gleich im ersten Raum gehängt, in dem Bilder mit religiösen Motiven versammelt waren. Nachdem Beckmann - als vor 1933 gefeierter Künstler - mit seiner Frau nach Amsterdam geflohen war, kehrte er nie wieder nach Deutschland zurück. Er emigrierte schließlich in die Vereinigten Staaten und arbeitete dort bis zu seinem Tod am 27. Dezember 1950 als Professor an den Kunsthochschulen in Samt Louis und New York. In der DDR wurde er hoch geehrt. Bernhard Heisig bereitete mit Beckmanns Sohn Peter eine große Beckmann-Ausstellung in Leipzig vor und gab 1982 eine prachtvolle zweibändige Edition von Goethes "Faust" mit 44 eigenen und 143 Federzeichnungen Beckmanns heraus.

Der Hass der Nazis traf auch Marc Chagall, der vor allem in den Zwanzigerjahren in Deutschland sehr erfolgreich gewesen und mit zwei Gemälden in der Ausstellung "Entartete Kunst" vertreten war. Sie hatten Angst vor seiner überschäumenden Phantasie und lehnten das Jüdische und Osteuropäische in seinem Werk ab.

Lovis Corinth, dieser kraftvolle Maler, der z. B. Willi Sitte stark beeinflusste, war zwar schon 1925 verstorben, doch von ihm wurden 295 Werke aus öffentlichen Institutionen beschlagnahmt und sieben davon in der Ausstellung gezeigt.

Zu den am schlimmsten verfemten Künstlern gehörte Otto Dix. Seine ungeschönten Kriegsdarstellungen untergruben die verlogenen Ideen von deutschem Heldentum. 1925 hatte er z. B. in einer Wanderausstellung sein heute verschollenes "Schützengraben"-Bild in Köln gezeigt. Das Wallraf-Richarts-Museum, das dieses Bild erwerben wollte, wurde vom damaligen Kölner Bürgermeister Konrad Adenauer daran gehindert, denn er fand, dass es gegen deutsche Empfindungen verstoße. Von 1930 an betrachteten die Faschisten die Arbeit von Otto Dix als subversiv, und ein Wandgemälde, das er für das kurz zuvor vollendete Hygiene-Museum in Dresden geschaffen hatte, schlugen sie von der Wand. Nazis betrieben seine Entlassung von der Dresdener Akademie und die fortgeschrittensten Studenten von Dix, darunter auch Kommunisten, wurden alle entlassen und z. T. verhaftet. Er verließ Dresden 1933. Etwa 260 seiner Arbeiten wurden aus Sammlungen in ganz Deutschland beschlagnahmt. Davon waren 26 in der Ausstellung "Entartete Kunst" zu sehen. Im Rahmen einer Aktion gegen "unzuverlässige Intellektuelle" nach einem Attentatsversuch auf Hitler nahm man ihn in München 1939 fest, und er verbrachte eine Woche unter Polizeiarrest in Dresden. Der damalige sächsische Ministerpräsident Manfred von Killinger schrieb in die Personalakte von Otto Dix: "Ist das Schwein immer noch am Leben?". Eine Berufung an die Düsseldorfer Akademie lehnten auch 1948, also nach dem Ende der Nazi-Diktatur, Verantwortliche des Kultusministeriums von Nordrhein-Westfalen ab.

Von Hans Grundig war in der Ausstellung "Entartete Kunst" das Ölgemälde "Knabe mit gebrochenem Arm" ausgestellt; es ist verschollen. Er verbrachte lange Zeit im KZ Sachsenhausen und war Gründungsrektor der Dresdener Kunsthochschule nach 1945.

Am Beispiel Emil Noldes wird deutlich, dass selbst Sympathien für die faschistische Ideologie keine Rolle spielten, wenn es gegen "entartete Kunst" ging. Er war schon 1920 Gründungsmitglied der nordschleswigschen Abteilung der NSDAP gewesen. Politisch war er naiv; er glaubte, dass expressionistisches Kunstwollen mit der Kulturideologie der Nazis vereinbar sei und unterzeichnete mit anderen einen Loyalitätsaufruf für Hitler. Doch schon 1936 wurde ihm jede private oder öffentliche künstlerische Tätigkeit untersagt. 1937 konfiszierten die Nazis 1052 seiner Werke aus deutschen Museen und zeigten 48 davon in der Ausstellung "Entartete Kunst". Sein Ölgemälde "Die klugen und die törichten Jungfrauen" und zwei Stillleben sind 1945 in Teupitz verbrannt; der Verbleib von drei Werken ist unbekannt.

Diese Reihe fortzusetzen, fehlt uns hier die Zeit. Neben den bereits erwähnten Namen seien hier nur noch genannt: Jankel Adler, Lyonel Feininger, Conrad Felixmüller, Erich Heckel, Karl Hofer, Ernst Ludwig Kirchner - der in seinem Schweizer Exil Selbstmord beging -, Oskar Kokoschka, Wilhelm Lehmbruck, Gerhard Marcks, Ludwig Meidner, Otto Müller, Otto Pankok, Karl Schmidt-Rottluff und Karl Völker. Diese 110 Namen lesen sich wie ein Lexikon der Klassischen Moderne.

Das Thema bleibt aktuell

Die Ausstellung "Entartete Kunst" ist gut dokumentiert. Es gibt eine Menge Literatur über ihre Vorgeschichte, ihren Aufbau, ihren Verlauf und ihre Nachwirkungen. Das Los Angeles County Museum of Art, das Deutsche Historische Museum und der Hirmer Verlag München gaben 1991 einen hervorragenden Katalog heraus, in dem die bis dahin vorliegenden Forschungsergebnisse zusammengefasst sind und der mir auch für diesen Vortrag gute Hilfe leistete. An der Freien Universität Berlin und an der Universität Hamburg werden diesbezügliche Projekte weitergeführt mit dem Ziel der Erarbeitung eines Gesamtverzeichnisses aller beschlagnahmten Werke, denn hier gibt es nach wie vor große Lücken. Vieles, was vor 1937 den deutschen Museen gehörte, wurde ins Ausland verkauft und kann durch die ständig steigenden Kunstmarktpreise nicht wieder erworben werden. So werden Verluste wohl nie wieder ganz wettzumachen sein. Vor zwei Jahren wurden bei Grabungsarbeiten gegenüber dem Berliner Roten Rathaus elf Skulpturen entdeckt, die 1937 für die Ausstellung "Entartete Kunst" beschlagnahmt worden waren. Das waren Bronzen von Edwin Scharff, Otto Baum, Marg Moll, Gustav Heinrich Wolff, Naum Slutzky und Karl Knappe sowie Teile von Keramikarbeiten von Otto Freundlich und Emy Roeder. Man nimmt an, dass an dieser Stelle auch 200 bis 300 Gemälde und Graphiken eingelagert waren, die den Brand eines Hauses 1944 nicht überstanden. Unter sechs weiteren Funden befand sich die Skulptur "Sitzendes Mädchen" von Will Lammert, der später in der DDR wichtige Porträtbüsten und Denkmale schuf, u. a. das Thomas-Müntzer-Denkmal in Mühlhausen und die Mahnmale in Ravensbrück. (Hier sei angemerkt, dass die Karl-Marx-Büste Will Lammerts, die am Eingang des Senatsaales stand, kurz nach der "Wende" in der Kustodie der Berliner Humboldt-Universität verschwand.[16]) Den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden gelang erst vor wenigen Wochen der Rückkauf des Gemäldes "Männer am Meer" von Erich Heckel; es war 1920 vom Freundeskreis der Gemäldegalerie erworben worden; 1937 hatten es die Nazis zusammen mit weiteren etwa 50 Bildern beschlagnahmt und 1940 in Privathand verkauft.

So wird dieses Nazi-Verbrechen uns auch weiter beschäftigen; und die Einrichtung eines Zentrums für verfolgte Künste, wie es in Solingen vorgesehen ist, sollte auch von uns unterstützt werden.


Anmerkungen:

[1] Peter Guenther: Drei Tage in München:Juli 1937, in: Entartete Kunst. Das Schicksal der Avantgarde im Nazi-Deutschland, Katalog, Museum Associates, Los Angeles County Museum of Art, 1991, S. 36/38/43

[2] Eduard Beaucamp: Weimar, die Kunst und der Schrott, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.5.1999

[3] Vgl. Matthias Reichelt: Alle fünf Jahre zur Dokumenta, in: junge Welt vom 30. Mai 2012, documenta-Beilage, S. 8

[4] Wörterbuch der Kunst, In Verbindung mit Robert Heidenreich und Wilhelm von Jenny verfasst von Johannes Jahn, Kröners Taschenausgabe, Band 165, Alfred Kröner Verlag Stuttgart 1940, S. 138

[5] Meyers Neues Lexikon in acht Bänden, Dritter Band, VEB Bibliographisches Institut Leipzig 1962, S. 336

[6] Verordnung über die Errichtung der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten vom 12.7.1951, § 3

[7] Käthe Kollwitz. Bekenntnisse, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig 1984, S. 62

[8] ebenda, S. 75

[9] Vgl. Barbara Roca: Es ist etwas Wahnsinniges mit der Kunst, in: Ossietzky vom 18.2.2012, S. 147

[10] Zitiert aus: Peter-Klaus Schuster (Hg.): Die Kunststadt München 1937. Nationalsozialismus und "Entartete Kunst", München 1987, S. 217

[11] Vgl. Wikipedia: Entartete Kunst

[12] Hitler zur Eröffnung des Hauses der Deutschen Kunst, zitiert aus dem Ausstellungsführer, hrsg. vom Verlag für Kultur- und Wirtschaftswerbung Berlin 1937, S. 12

[13] ebenda, S. 20

[14] Vgl. Karlen Vesper: Geplündert nach der Brandnacht, in: Neues Deutschland vom 9.11.2011, S. 14

[15] Vgl. Wikipedia: Entartete Kunst

[16] Vgl. Heinrich Fink: Das Marx-Zitat, in: Ossietzky vom 9. Juni 2012, S. 467


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Andrang am Eingang zur Ausstellung "Entartete Kunst" vor dem Archäologischen Institut München 1937
- Konfiszierte Kunstwerke im Schloss Niederschönhausen, darunter Ernst Barlachs Mal aus dem Magdeburger Dom und eine Version seiner Plastik "Christus und Johannes"
- Lovis Corinth, Das trojanische Pferd, 1924. Öl auf Leinwand, 105 x 135 cm
- Ernst Ludwig Kirchner, Die Meister der Brücke, 1926/27. Öl auf Leinwand, 168 x 126 cm
- Ludwig Meidner, Lithographie ohne Titel aus dem Buch "Septemberschrei", 1920. 20,5 x 14,8 cm
- Erich Heckel, Die Männer am Meer, 1916. Öl auf Leinwand, 80,5 x 70,5 cm

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Ehrlicher und verlogener Umgang mit Geschichte

Siegfried Forberger

Wiedergelesen aus heutiger Sicht

Über die Aktualität von Lion Feuchtwangers Roman "Füchse im Weinberg"

In diesem Sommer jährte sich zum 70. Mal das Zustandekommen der Antihitlerkoalition. Sie hatte im ausgehenden 18. Jahrhundert unter anderen geschichtlichen Vorzeichen in mancherlei Hinsicht einen Vorläufer, dessen Entstehung und Auswirkung Lion Feuchtwanger in seinem opulenten historischen Roman beschrieb. Eine erneute Lektüre regt zu Vergleichen an, die zur politischen Gegenwart führen.

Ausgangspunkt der Romanhandlung ist bekanntlich die nordamerikanische bürgerliche Revolution, die mit der Verkündung der Unabhängigkeitserklärung der Dreizehn Vereinigten Staaten am 4. Juli 1776 in ihre entscheidende Phase getreten war.

Mit Vergnügen erinnert man sich wieder an die beiden Hauptfiguren des Romans. Da ist der umtriebige Bourgeois Pierre Beaumarchais, Autor der berühmten Komödie "Ein toller Tag oder die Hochzeit des Figaro", der mit seinen Waffenlieferungen an die Insurgenten in Nordamerika das große Geschäft wittert. Gleich anderen Angehörigen des aufstrebenden Bürgertums empfindet er viel Sympathie für die Umsetzung der Ideen des Jean-Jacques Rousseau in Übersee. Als Geheimagent steht er auch in den Diensten der königlichen Regierung, die ihn finanziell unterstützt und daran interessiert ist, dass England den Krieg gegen die Aufständischen in seinen dreizehn nordamerikanischen Kolonien verliert und damit geschwächt wird. Versailles war über den schmachvollen Friedensvertrag von 1763 verbittert, den die britische Krone diktierte und Frankreichs Verlust seiner wertvollen Kolonien Louisiana und Kanada zur Folge hatte.

Als Feuchtwangers zweite Symbolfigur agiert der erfahrene amerikanische Diplomat Benjamin Franklin. Ihn hatte der in Philadelphia tagende US-Kongress mit dem Auftrag nach Paris entsandt, vom Königreich Frankreich viel Geld sowie Waffen und Ausrüstungen für den Unabhängigkeitskrieg gegen die englische Kolonialmacht zu erhalten. Das Verhältnis zwischen Franklin und Beaumarchais gestaltet sich zunächst problematisch. Beide sind von unterschiedlichem Naturell und Charakter, verfolgen teils gegenläufige Interessen, doch letztlich eint sie das Ziel, der nordamerikanischen bürgerlichen Revolution zum Siege zu verhelfen.

Es ist ein erneuter Lesegenuss, wie Feuchtwanger das historische Panorama vom Frankreich und Nordamerika der Jahre 1776 und 1777 in ästhetischer Sprache darstellt. Gestützt auf viele Fakten geschichtlicher Vorgänge gestaltet er phantasievoll ein vielseitiges Beziehungsgeflecht zwischen höchst unterschiedlichen Persönlichkeiten. Zu ihnen gehören natürlich Louis der Sechzehnte und die reizende Marie-Antoinette, die mit ihm verheiratet wurde, um Habsburgs Einfluss auf Versailles zu verstärken, ebenso Marquis Lafayette und der alte Voltaire.

Am 6. Februar 1778 gelang vor allem dank des diplomatischen Geschicks Benjamin Franklins nach langwierigen Verhandlungen der Abschluss eines Freundschafts- und Handelsvertrages sowie eines Verteidigungspaktes zwischen den republikanischen USA und dem absolutistisch regierten Königreich Frankreich, einige Monate später die Gewährung eines französischen Kredits an den nunmehr diplomatisch anerkannten nordamerikanischen Staat in Höhe von 25 Millionen Livres zur Finanzierung seines Aufbaus und der militärischen Verteidigung gegen die Angriffe der englischen Kolonialtruppen. Mit der Unterzeichnung des entsprechenden Kreditvertrages, gegen dessen Abschluss sich Louis XVI. ebenso heftig widersetzte wie gegen die vorangegangenen Verträge, endet der Roman.

Diesem geschichtlich bislang einmaligen Zweckbündnis folgte im 20. Jahrhundert ein ähnliches die Antihitlerkoalition. Ihre Entstehung wurde eingeleitet mit der "Deklaration der Vereinten Nationen" vom 1. Januar 1942, einer Erklärung von 26 gegen Deutschland, Japan und Italien kriegführenden Staaten. Nach fünfmonatiger Verhandlungsdauer kam es dann zum Abkommen über ein "Bündnis im Krieg gegen Hitler-Deutschland und seine Verbündeten", das am 26. Mai 1942 England und die Sowjetunion und am 11. Juni 1942 die USA und die Sowjetunion unterzeichneten.

Auf der Grundlage dieses völkerrechtlichen Vertrages und des US-amerikanischen Leih- und Pachtgesetzes erfolgten während des Zweiten Weltkrieges umfangreiche Material- und Waffenlieferungen an die Sowjetunion.

Zwischen beiden Allianzen gibt es Analogien. Zum einen vereinbarten Staaten gegensätzlicher Eigentums- und Gesellschaftsordnung das jeweilige Bündnis. Zum anderen verfolgten bestimmte Kräfte eines jeweiligen Bündnispartners das geheime Ziel, das Eigentums- und Gesellschaftssystem des anderen zu überwinden bzw. wieder rückgängig zu machen.

Ohne die militärische, finanzielle und wirtschaftliche Hilfe des monarchistischen Frankreich hätte wahrscheinlich die nordamerikanische antikoloniale, antifeudale und bürgerliche Revolution zur damaligen Zeit noch nicht Siegen können. Doch welche Ironie der Geschichte: Bereits elf Jahre nach Abschluss der Bündnisverträge sprang der revolutionäre Funke vom bürgerlich-kapitalistischen Nordamerika auf das feudale Frankreich über, woran Benjamin Franklin seinen Anteil hatte. Umgekehrt hegten Louis XVI. und die Seinen eingedenk ihres eingebildeten göttlichen Sendungsbewusstseins die Absicht, mit Hilfe der Abkommen das aufmüpfige Amerika wieder unter ihren Einfluss als Kolonialmacht zu bringen und im eigenen Land unbequeme, aber vom Volk gefeierte Kritiker wie Beaumarchais in die Schranken zu weisen.

Die im 20. Jahrhundert vom kapitalistischen Hitler-Deutschland überfallene Sowjetunion hätte vermutlich ohne die "zweite Front" und die umfängliche materielle Hilfe der USA und Großbritanniens einen weitaus längeren opferreichen Kampf gegen den faschistischen Aggressor führen müssen. Der Beistand der westlichen Alliierten erfolgte jedoch keinesfalls aus Solidarität mit dem Land, das die Herrschaft des Privateigentums aufgehoben hatte, schon gar nicht in der hehren Absicht, Kriege für immer aus dem Leben der Völker zu verbannen und friedensfeindlichen Kräften die Konsequenzen von Aggressionen vor Augen zu führen. Vielmehr ging es den Westmächten darum, ihre gefährlichsten Konkurrenten Deutschland und Japan auszuschalten. Ihre Motive für das Bündnis mit der Sowjetunion wurden erhellt durch eine Äußerung des damaligen Senators und späteren USA-Präsidenten Harry S. Truman, die die "New York Times" zwei Tage nach dem deutschen Überfall auf die Sowjet-Union veröffentlichte: "Wenn wir sehen, dass Russland gewinnt, sollten wir Deutschland helfen. Und wenn Deutschland gewinnt, sollten wir Russland helfen - and that way let them killen as many as possible (und so sollen sie sich gegenseitig umbringen so viel als möglich)."

Bekanntlich zerfiel 1946 die Antihitlerkoalition auf Grund gegensätzlicher systembedingter Pläne für die deutsche Nachkriegsentwicklung. Die westlichen Alliierten und die Sowjetunion samt ihren jeweiligen Verbündeten führten daraufhin gegeneinander einen vierzigjährigen Kalten Krieg. Er war eine der Ursachen für das Scheitern des ersten Sozialismusversuchs zwischen Elbe und Wladiwostok und den Untergang der Sowjetunion, den die kapitalistisch-imperialen Westmächte bereits 1917/18 mit den Interventionskriegen zu ihrem strategischen Ziel erklärt hatten.

Am Ende seines Romans lässt Feuchtwanger seinen Helden Benjamin Franklin mit den prophetischen Worten philosophieren: "Aber es wird die Zeit kommen, eine wahrscheinlich nicht sehr ferne Zeit, da wird die junge amerikanische Republik alt geworden sein, und vieles von dem, was sie geschaffen hat, wird mit ihr alt und unsinnig geworden sein."

In der Tat: Aus den USA, die einst geschichtlichen Fortschritt verkörperten, wurde ein Hort der Reaktion, der sich "world leadership" anmaßt, führende Weltmacht, Weitgendarm zu sein. Das Land gehört heute etwa 500 Großkonzernen. Sie werden geführt von einem Prozent der Bevölkerung und kontrollieren über die Hälfte der weltweiten Produktion und Finanztransaktionen. Das eine Prozent, an ihrer Spitze 425 Dollarmilliardäre, entscheidet über sein politisches Personal auf den verschiedenen Ebenen des Staates. Es ist niemandem verantwortlich.

Seit Ende des Zweiten Weltkrieges führten die USA unter Bruch des 1945 in der UNO-Charta völkerrechtlich vereinbarten Gewaltverbotes in den internationalen Beziehungen verheerende Angriffskriege gegen Vietnam, Irak und Afghanistan. Auch die gegenwärtige globale Wirtschafts-, Finanz- und Schuldenkrise nahm ihren Ausgang in den USA. Die Occupy-Wall-Street-Bewegung ist heute ein Hoffnungsschimmer. Aufgeklärte Zeitgenossen wissen: Das kapitalistische Ausbeutersystem wird nicht das letzte Wort der Geschichte sein. Ihre Triebkraft ist der Fortschritt; das ist die Quintessenz von Feuchtwangers Roman "Füchse im Weinberg".


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Lion Feuchtwanger im Gespräch mit Bertolt Brecht 1947 im Exil (Pacific Palisades, Kalifornien)

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Ehrlicher und verlogener Umgang mit Geschichte

Norbert Podewin

Vom Kampf um eine deutsche Konföderation

Der Nationalkongress der Nationalen Front endete am 17. Juni 1962 mit einem überzeugenden Votum: Alle 2332 Delegierten stimmten einem Dokument zu, das verpflichtend festschrieb: "Niemals mehr soll auf deutschem Boden ein Krieg geführt werden. Niemals mehr soll von deutschem Boden ein Krieg ausgehen. Niemals mehr sollen andere Völker durch Deutsche leiden. Und niemals mehr soll die Kriegsfurie deutsche Menschen, Städte und Dörfer vernichten." In der Berliner Dynamo-Sporthalle wurde damit der abschließende Höhepunkt einer im März begonnenen Volksbewegung gesetzt. (Die Tagung hatte bewusst das Datum "17. Juni" gewählt; hatte doch die Bundesregierung diesen Tag - mit Blick auf die DDR-Volksbewegung des Jahres 1953 - zum gesetzlichen Feiertag erklärt.) 1962 war das Thema der nahezu 600.000 Zusammenkünfte in der Bevölkerung: "Die geschichtliche Aufgabe der Deutschen Demokratischen Republik und die Zukunft Deutschlands". Die massenhafte öffentliche Beteiligung war verständlich, stand doch mit politischen Zukunftsfragen zugleich die Problematik der familiären Beziehungen nach dem Mauerbau vom 13. August 1961 im Mittelpunkt.

Die DDR-Führung war sich dieser Brisanz stets bewusst. Buchstäblich in letzter Minute vor Grenzschließung, am 31. Juli 1961, war Oberbürgermeister Friedrich Ebert veranlasst worden, dem Senat von (West-)Berlin ein Angebot zur vertraglichen Regelung der Grenzgänger-Problematik zu unterbreiten. Seit der einseitigen Währungsteilung Ende Juni 1948 arbeiteten in Berlin ca. 70.000 Ostberliner über Jahre dauerhaft im Westteil: profitabel für AEG, Borsig und Schering vor allem dank ersparter Ausbildungskosten für Fachkräfte. Eberts Schreiben blieb unbeantwortet gemäß der Vorgabe Konrad Adenauers: mit "Pankoff" keine Kontakte! Auch nach dem Versiegen dieser Profitquelle durch die "Zone" gab es auf Signale aus dem Osten nur brüske Abweisung. Bereits am 26. August 1961 hatte die DDR-Regierung auf ihrem Hoheitsgebiet - den S-Bahnhöfen Zoologischer Garten und Westkreuz - Passierscheinstellen eingerichtet, die Westberlinern Besuchsmöglichkeiten bei Verwandten im Osten ermöglichen sollten; beide Büros wurden noch am selben Tag gewaltsam geschlossen. Die fälschliche Senatsbegründung: man habe ostdeutschen Behörden "keinerlei Hoheitsfunktionen irgendwelcher Art auf Westberliner Boden zugestehen" wollen.

Die Staaten des Warschauer Vertrages, die Anfang des Monats August 1961 den Maßnahmen der Grenzabriegelung zugestimmt hatten, stellten damit US-Präsident Kennedys "three essentials" (Drei Grundsätze) hinsichtlich West-Berlins niemals in Frage: Anwesenheit der Westmächte, freier Zugang, Lebensfähigkeit. Man kannte aus internen Quellen Kennedys Standpunkt, bei östlicher Akzeptanz dieser Punkte sei "die Berlin-Frage für die USA ein Problem provisorischen Charakters" und gehöre "vom Standpunkt der Außenpolitik der USA nicht zu den grundlegenden Hauptfragen. ... Für die USA ist die Frage, wie sich in der Zukunft die Lage in Südkorea, Südvietnam, Laos und Taiwan gestalten wird, viel wichtiger als die Berlin-Frage. Infolge erwähnter Gründe steht es nicht im Interesse der USA, zur Massenabwanderung vom Territorium der DDR zu verhelfen, und es steht auch nicht in ihrem Interesse, dass sie im Inneren der DDR Auflehnungen oder sonstige größere Konflikte unterstützen".[1]

Ganz im Sinne einer Entkrampfung der angespannten politischen Situation nach dem Mauerbau gab es seitens der DDR kurzfristig ein weiteres Angebot. Am 30. November 1961 wandte sich der Ministerpräsident Otto Grotewohl mit einem Schreiben an Bundeskanzler Konrad Adenauer. Der Bundesregierung wurde vorgeschlagen: gegenseitige Achtung der Souveränität; Markierung der Grenzen; Verhandlungen über den Inhalt eines deutschen Friedensvertrages; Verzicht auf atomare Aufrüstung und Atomwaffen; Einsatz für einen Nichtangriffspakt zwischen NATO und Warschauer Vertrag; gemeinsame Bemühungen um den UNO-Beitritt von BRD und DDR. Als Sofortmaßnahmen sollten Vereinbarungen zwischen den Regierungen in Bonn und Berlin über gegenseitige Beziehungen getroffen werden. Die Anerkennung der beiderseitigen Reisepässe würde Voraussetzungen für allseitige Reiseverkehrsregelungen schaffen. Auch diese Vorschläge blieben unbeantwortet.

Walter Ulbricht regte daraufhin eine grenzübergreifende Volksdiskussion an. Der Nationalrat der Nationalen Front stellte deshalb am 25. März 1962 seinen Entwurf des "Nationalen Programms" der Öffentlichkeit vor. Sein Kerngedanke war "Unter den geschichtlichen Bedingungen, wie sie sich nun einmal auf dem Gebiete des früheren deutschen Reiches und in dem gespaltenen Deutschland entwickelt haben, ist die geeignetste Form für die friedliche Koexistenz der beiden deutschen Staaten eine deutsche Konföderation. Westberlin, das auf dem Territorium der DDR liegt, würde als entmilitarisierte und Freie und neutrale Stadt an einer deutschen Konföderation teilnehmen können. Die Konföderation würde ein Maximum an Verständigung ermöglichen, jede Gefahr eines bewaffneten Konflikts ausschalten und eine weitere Vertiefung des Grabens zwischen den beiden deutschen Staaten verhindern. Wir meinen, dass alle Deutschen in Ost und West daran interessiert sein sollten."

Die öffentliche Diskussion fand lebhaftes Interesse. Von den etwa 12 Millionen Teilnehmern kamen in diesem Vierteljahr zahlreiche Änderungsvorschläge bei grundlegender Übereinstimmung: Nie wieder Krieg! In der BRD waren derartige öffentliche Versammlungen verboten, doch die neun Diskussionsredner aus dem Westteil (Es nahmen 350 Gäste teil.) redeten Klartext, so die DGB-Funktionärin Inge Knoth: "Allerorts spricht man davon, dass die Ära Adenauer zu Ende geht. Das stimmt. Von uns aus kann der alte Sioux-Häuptling noch bis zu seinem 100. Geburtstag in Rhöndorf Rosen züchten! Aber seine Politik der Rüstung und der Revanche muss beendet werden. Der Alte soll abtreten; aber vor allem muss die alte Politik abtreten!" Ein SPD-Mitglied aus dem Ruhrgebiet betonte: "Die Arbeiter des graphischen Gewerbes haben auf ihrem Gautag in Bayern auch gefordert, die Ostermärsche der Atomwaffengegner aktiv zu unterstützen - und ebenso die vom DGB-Jugendkongress für den 1. September jeden Jahres beschlossenen Aktionen gegen Aufrüstung und Krieg. Das ist doch der richtige Weg. Mir scheint, diese Kollegen befinden sich - ob sie das wollen oder nicht - in Übereinstimmung mit dem Dokument über die Zukunft Deutschlands, das heute hier beschlossen wird." Kontrastierend zur einmütigen Bestätigung des "Nationalen Dokuments" stand dessen Umsetzung in praktische Schritte; sie brauchten einen sprichwörtlich langen Atem.

Nachdem die DDR-Regierung am 5. Dezember 1963 dem Senat von (West-)Berlin ein weiteres Mal ein Angebot unterbreitet hatte, gab es am 17. Dezember 1963 den ersten Erfolg: Ein beiderseitiges Protokoll über die Ausgabe von Passierscheinen an West-Berliner für Verwandtenbesuche im Ostteil wurde unterzeichnet und trat am nächsten Tag in Kraft. Der weltweit registrierte öffentliche Durchbruch - die Treffen der deutschen Regierungschefs in Erfurt und Kassel - sollte noch weitere sieben Jahre beanspruchen.


Anmerkung:

[1] J.F. Kennedy in einer internen Beratung am 15./16. August 1961, Quelle: Jochen Staadt: Die geheime Weltpolitik der SED 1960 - 1970, Berlin 1993, S. 79


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Protokoll des Passierscheinabkommens vom 17. Dezember 1963

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Ehrlicher und verlogener Umgang mit Geschichte

Lutz Boede

Probleme mit der Wahrheit

Die Gedenkstätte in der Potsdamer Lindenstraße

Die Potsdamer Lindenstraße 54 ist ein geschichtsträchtiger Ort. 1733 bis 1737 wurde das Gebäude als "Großes Holländisches Haus" im Auftrag des Soldatenkönigs erbaut. Der Kommandeur der Leibgarde bewohnte das barocke Stadtpalais. Unter napoleonischer Besatzung nutzte man es als Kleiderkammer und Pferdelazarett. Die Preußischen Reformen 1808 beinhalteten auch die Einführung der Kommunalen Selbstverwaltung. 1809 wurde das Haus zum ersten Tagungsort der ersten frei gewählten Stadtverordnetenversammlung. Allerdings waren lediglich Männer wahlberechtigt, die die Stadtbürgerrechte innehatten. Ab 1820 wurde das Haus als Stadtgericht und auch als Gefängnis genutzt. Zu diesem Zweck wurden das Haupthaus in ein Gerichtsgebäude und die Nebengebäude zu Gefängniszellen umgebaut.

Von 1934 bis 1944 beherbergte das heutige Gedenkstättengebäude in der Lindenstraße 54/55 das Erbgesundheitsgericht Potsdam. In dieser Zeit wurden hier mehr als 4200 Anträge auf Unfruchtbarmachung vermeintlich "Erbkranker" bearbeitet. Die Erbgesundheitsgerichte waren die Vorstufe zur systematischen Ermordung kranker Menschen und von Menschen, die nicht in das NS-Menschenbild passten. Im Landgerichtsgefängnis waren Verurteilte der in Potsdam tagenden Senate des Volksgerichtshofes bis zu ihrem Abtransport in die Hinrichtungsstätten Brandenburg und Plötzensee oder in die vorgesehenen Haftstätten inhaftiert. Das Gefängnis war auch Vollstreckungsort für Urteile, die Wehrmachtsgerichte über Soldaten und Zivilisten gefällt hatten. Aus der Haftanstalt heraus wurden Häftlinge, die vor Gericht freigesprochen worden waren, an die Gestapo ausgeliefert und in Konzentrationslager gebracht.

Vor dem Amtsgericht wurden Menschen verurteilt, die sich der Vielzahl der NS-Sondergesetze widersetzten: jüdische Mitbürger, die sich der diskriminierenden Stigmatisierung durch den Namenszusatz Sarah oder Israel entzogen, Frauen und Männer, die sich der rigiden deutschen Arbeitsgesetzgebung widersetzten, Frauen, die sich nicht an das Kontaktverbot zu Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern hielten, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die vor der Willkür am Arbeitsplatz flohen und mit dem Gesetz in Konflikt gerieten, weil sie versuchten, ihr durch Einschränkungen gezeichnetes Leben zu verbessern.

Nach 1945 wurde das Gefängnis durch den Geheimdienst der sowjetischen Besatzungsmacht genutzt. Nunmehr wurden vermeintliche und tatsächliche Nazitäter und NS-Funktionäre in der Lindenstraße inhaftiert. Die hygienischen Bedingungen waren katastrophal und die Versorgung schlecht. Natürlich entsprachen die nach dem sowjetischen Strafgesetzbuch durchgeführten Gerichtsverfahren keinen rechtsstaatlichen Standards und stellten oft eine bloße Formalität dar. Obwohl es Fehlurteile (z. B. nach unberechtigten Denunziationen) gab, dürfte das Hauptziel der Inhaftierungen und Gerichtsverfahren zunächst darin bestanden haben, Nazitäter zur Verantwortung zu ziehen - wie dies von den Alliierten im Zuge des Potsdamer Abkommens vereinbart wurde. Später wurden immer stärker auch politisch Andersdenkende verfolgt, die aus Sicht der Sowjetunion dem Aufbau eines sozialistischen Staates in der 1949 gegründeten DDR im Wege standen.

1952 übernahm das Ministerium der Staatssicherheit das Gefängnis und nutzte es bis 1989 als Untersuchungshaftanstalt. In dieser Phase diente das Gebäude fast ausschließlich der politischen Verfolgung von Regimegegnern, Ausreisewilligen und Jugendlichen, die unerwünschten Subkulturen angehörten. Insgesamt waren in diesem Zeitraum ca. 7000 Menschen in der Lindenstraße 54 eingesperrt.

1989 wurde in der Lindenstraße das Potsdamer "Haus der Demokratie" eingerichtet. Neue politische Parteien, Initiativen und Verbände erhielten hier ihre ersten Büros. Obwohl die Lindenstraße 54 als zentraler Ort der NS-Verfolgung in Potsdam gelten muss, ist die Gedenkstätte heute vor allem als Gefängnis des NKWD und der Staatssicherheit bekannt. In der Ausstellung fehlt bislang ausgerechnet und als einziges Modul das zur Geschichte des Hauses in der NS-Zeit. Bis heute existiert in der Gedenkstätte kein Ort, der ein würdiges Gedenken an die Opfer des Naziregimes ermöglicht. Die Sammelgedenkstätte im Innenhof der Anlage ist die Plastik "Das Opfer". Sie schließt auch Nazifunktionäre ein, die nach 1945 in der Lindenstraße inhaftiert waren, und wird von den Opferverbänden der von den Nazis Verfolgten abgelehnt.

Derzeit bereitet der Oberbürgermeister in Hinterzimmergesprächen mit dem Ministerpräsidenten und der Stasiunterlagenbeauftragten eine neue Trägerkonstruktion für die Lindenstraße 54 vor. Ziel ist die Ausgliederung der Gedenkstätte aus dem städtischen Potsdam-Museum. Künftig sollen Stadt und Land sich mit jeweils 300.000 Euro pro Jahr an den Kosten für dann 4,5 Personalstellen beteiligen. Es dürfte bundesweit einmalig sein, dass sämtliche Opferverbände der von den Nazis Verfolgten und Ermordeten aus der Erarbeitung des Konzeptes systematisch ausgeschlossen wurden. Erst nach massiven Protesten von Stadtverordneten und Opferverbänden fand im Juni 2012 ein Hearing zur Zukunft der Gedenkstätte statt. In ausführlichen Stellungnahmen kritisierten insbesondere der Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten, die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz und die VVN-BdA Brandenburg den totalitarismustheoretischen Ansatz der Gedenkstätte, die Marginalisierung der NS-Geschichte in der Gedenkstätte und die mangelnde Einbeziehung der Opferverbände.[1] Heftige Ablehnung erfuhr auch der Name der Gedenkstätte, der die Opfer der politischen Verfolgung durch die DDR und das Naziregime gleichsetzt, ohne die Unterschiede zwischen beiden Systemen deutlich zu machen. Die rassistische Verfolgung wird im Namen der Gedenkstätte nicht einmal erwähnt; dieser eliminatorische Rassismus stellte aber das Wesensmerkmal des NS-Systems dar.

Obwohl die Ausgliederung der Gedenkstätte Lindenstraße 54 aus dem Potsdam-Museum gerade mit der überregionalen Bedeutung des Ortes begründet wird, lehnt der Oberbürgermeister eine Angliederung an die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten kategorisch ab. Dabei wäre diese international vernetzte und profilierte Stiftung fachlich genau die richtige Adresse, und Begriffe wie Fusion und Synergieeffekte sind dem Vokabular des Potsdamer Oberbürgermeisters durchaus nicht fremd. Der Stiftungsdirektor Prof. Morsch hatte sich in den letzten Jahren mehrfach deutlich gegen eine verharmlosende Gleichsetzung von DDR und Naziregime ausgesprochen und sich gegen die Einführung eines "Gedenktages für die Opfer aller totalitären und autoritären Regime" positioniert, den das Europäische Parlament für den 23. August - den Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes - in einer Entschließung 2011 gefordert hatte. Mit dieser Haltung passt die Gedenkstättenstiftung nicht zu der Politik des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF), das das Gedenkstättenkonzept für die Lindenstraße federführend mitentwickelte. Immerhin geht Prof. Hertle vom ZZF von einer zukünftig engen Zusammenarbeit der Gedenkstätte Lindenstraße mit dem "Haus des Terrors" in Budapest aus. Dieses Museum betreibt eine Verharmlosung der Verbrechen der ungarischen Faschisten (Pfeilkreuzler) und darf getrost als geschichtsrevisionistisches Projekt der Rechtsextremen in Ungarn bezeichnet werden. Ein solcher Kooperationspartner passt natürlich nicht zur seriösen Arbeit der brandenburgischen Gedenkstättenstiftung. Deshalb muss eine eigene Stiftung her. Offensichtlich geht es der heutigen Gedenkgemeinschaft darum, dass in der Lindenstraße alles beim Alten bleibt.

Die VVN-BdA Brandenburg wird sich damit aber nicht zufrieden geben. Wir werden uns auch weiter dafür einsetzen, dass in der Gedenkstätte künftig nicht nur die Geschichte des Hauses als Stasigefängnis und als Haftort des sowjetischen Geheimdienstes dargestellt wird. Wir fordern eine eigene Ausstellung zur Tätigkeit des Erbgesundheitsgerichtes, zu den in der Lindenstraße inhaftierten Opfern des Volksgerichtshofes und zu allen anderen Opfergruppen, die in der Lindenstraße als Verfolgte des Naziregimes eingesessen haben. Wir wollen aber auch, dass in der Ausstellung endlich deutlich gemacht wird, dass nach 1945 viele NS-Täter in der Lindenstraße eingesperrt waren, und wir erwarten, dass uns nicht länger zugemutet wird, dass sich die Opfer des NS-Regimes mit den Nazi-Tätern den Begriff und die Plastik "Das Opfer" teilen sollen.


Anmerkung:

[1] Die Stellungnahmen können auf www.potsdam.de nachgelesen werden.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Gedenkstättengebäude in der Potsdamer Lindenstraße 54/55

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Ehrlicher und verlogener Umgang mit Geschichte

Günter Meier

Horst Michel versus Walter Ulbricht

Eine anekdotische Erinnerung

Der aller Ehren Werte Dr. h.c. der Technischen Universitär Dresden, Professor und Designer Horst Michel (1904-1989), erhielt im Sommer 1981 vom Präsidium des DDR-Ministerrates die Einladung zur Verleihung des Nationalpreises der DDR. Er wurde um Annahme der höchsten Staatsehrung der DDR gebeten. "Orden und Ehrenzeichen sind anzulegen", hieß es im Einladungstext. Der Vorschlag zu dieser Auszeichnung seines Lebenswerkes als angesehener Lehrer, Gestalter vieler Industrieprodukte, prominenter Regierungsberater in Sachen Industrieform über Jahrzehnte kam vom Präsidenten des Verbandes bildender Künstler der DDR, Willi Sitte.[1] Befürworter waren auch das Amt für Gestaltung beim Ministerrat der DDR und das Ministerium für Kultur. Mit dieser Auszeichnung wollte Willi Sitte auch die von Walter Ulbricht am Eröffnungstag der V. Deutschen Kunstausstellung am 22.9.1962 ausgesprochene Verdächtigung, Michel wolle die westdeutsche "Designideologie" der bürgerlichen Dekadenz in der DDR manifestieren, endlich aus der Welt schaffen und die Ehre dieses Mannes wiederhergestellt sehen.

Ulbricht hatte beim Rundgang durch die Ausstellung kritisiert, dass im Bereich der industriellen Formgestaltung ein Hang zum kalten Ästhetizismus, zu farbloser Eintönigkeit und Verarmung der künstlerischen Formen und nacktem Funktionalismus vorherrsche und machte Horst Michel (der ihn durch den Ausstellungsteil "Angewandte Kunst" führte) zum Vorwurf, dass er diese "westliche" Ideologie in öffentlichen Fachvorträgen propagiert hätte. Im "Neuen Deutschland" wurde dazu am 4. Oktober 1962 eine Pressekampagne gegen Michel eröffnet.[2] Besonderer Zorn richtete sich auf reinweiß glasierte, zylindrische Vasen, die bar jeder künstlerischen Qualität seien. Horst Michel konnte nicht davon überzeugen, dass diese makellos weißen Vasen ein Gütesiegel der Extraklasse für jede Porzellanfabrik darstellen und dass sie ein Angebot an die Souvenirindustrie sein sollten, die auf Wunsch mit künstlerisch hochwertigen Bildapplikationen Souvenirkäufer an den Besuch auf der Wartburg, an den Tierparkbesuch oder den Ostseeurlaub erinnern sollten. Aber der Mann hörte einfach nicht zu! Ferner disqualifizierte er ein international gepriesenes Stereo-Radiogerät als kaltes Laborgerät, lästerte über rauchgraue Glasvasen, die in der DDR nur als "Bückware" zu ergattern waren, und fand Dekostoffe für Gardinen und Sofakissen farblos und grau, und überhaupt: grau sei keine Farbe[3] Und die werktätige Bevölkerung wolle doch nur schöne bunte Farben. Doch das Echo aus der Leserschaft war für die Parteiführung alles, nur nicht einhellig schmeichelhaft. Gisela May, die sagenhafte Sängerin und Genossin, antwortete auf diese Kritik schonungslos wütend: "Mit ideologischem Vorschlaghammer wurden harmlose, klar geformte weiße Vasen zertrümmert, Liebhaber für graue Farben wissen nun ..., dass sie nicht positiv in den Sozialismus schauen"[4]. Helene Weigel hatte auf einer kulturpolitischen Beratung in Anwesenheit Ulbrichts in der Berliner "Distel" im Dezember 1962 mit schriller Stimme erklärt, dass sie für künftige "Röhrenvasendiskussionen" nicht mehr eingeladen werden möchte.[5] Horst Michel kämpfte mit großer geistiger Überlegenheit fair gegen diese Verdächtigungen an und wies in einem sehr persönlichen Rundschreiben an rund 30 Persönlichkeiten des politischen Lebens und der Künste mit klaren, äußerst sachbezogenen Argumenten die Anschuldigungen zurück.[6] Sein ganz persönlich gehaltener, privat verfasster Rundbrief ging u. a. an den Präsidenten der Volkskammer, an mehrere Industrieminister, an die Akademien der Künste und des Bauwesens, an alle Kunsthochschulen in der DDR und an die führenden Tageszeitungen und Journale, auch an den Fernsehfunk. Michel wies dem Artikelschreiber Karl Heinz Hagen von "Neues Deutschland" große Sachfehler nach und disqualifizierte den Schreiber regelrecht. Auf diesen Brief erhielt Horst Michel überwiegend zustimmende Erwiderungen; die prominentesten kamen vom damaligen Präsidenten der Volkskammer der DDR, Dr. Johannes Dieckmann (NDPD), und vom Vizepräsidenten der Akademie der Künste, Fritz Cremer Auch der Stellvertretende Ministerpräsident Dr. Lothar Bolz (NDPD) erhielt diesen Brief. Als damaliger Minister für Aufbau verfügte Bolz die Einrichtung eines Institutes für Innengestaltung an der Bauhochschule in Weimar mit Horst Michel als Ordinarius. Dieckmann und Bolz sorgten dafür, dass die persönlich adressierte Pressekampagne gegen ihn eingestellt wurde. Unter Einbeziehung des Rechtfertigungsbriefes Horst Michels hatte das ND am 4. Januar 1963 den Ulbrichtschen Standpunkt nochmals verschärft und abschließend klargestellt, dass anders denkende Bürger keine Chance haben, ernst genommen zu werden, auch nicht, wenn sie gar nicht daran dachten, den Sozialismus in der Staatsform der DDR auch nur annähernd in Frage zu stellen.[7]

Auch westliche Medien sprangen auf diese Pöbelei im ND nicht an. "Der Spiegel" (Nr. 50/62) übernahm die ND-Kritik ironisierend fast wörtlich und schoss sie als Bumerang an Walter Ulbricht unter dem Titel "Schwarze Tassen in der DDR" zurück. K. H. Hagens arroganter Schreibstil eignete sich dazu hervorragend. Für westliche Zeitungen war weit interessanter, was zu gleicher Zeit Nikita Sergejewitsch Chruschtschow in Moskau beim Besuch einer avantgardistischen Kunstausstellung im November 1962 zu den Skulpturen von Ernst Iossifowitsch Neiswestnyj[8] zu sagen hatte: das sei zerstörte Klassik, Krebskunst, Kunstscheiße, und das alles aus der Hand eines Hochbegabten nach einem ordentlichen Kunststudium auf Staatskosten, meinte Chruschtschow. Diese in der DDR nicht im ND veröffentlichte, aber in den Künstlerverbänden der DDR diskutierte Auseinandersetzung in der sowjetischen Kunstszene griff Walter Ulbricht auf und spitzte seine öffentliche Kritik an der angewandten Kunst vom Oktober um einem ideologischen Akzent am 15.12. vor Delegierten des Bezirkes Leipzig für den VI. Parteitag der SED zu.[9] Er erklärte die Kritik einiger Formgestalter (ohne Michel zu nennen!) an seinen ideologischen Bedenken zur DDR-Formgestaltung zu einer politischen Aktion im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um den Stalinschen Personenkult. "Dass jemand den Kampf gegen den Personenkult ausnutzt, um bei uns Formalismus einzuschmuggeln, das geht zu weit", so W. Ulbricht wörtlich. Er gab zu, überrascht zu sein, dass die ND-Kritik von der Leserschaft nicht einhellig zustimmend angenommen wurde, und sagte: "Plötzlich stellt sich ein ganzer Kreis hinter diese primitive Formgestaltung ..., dass es Kunstschaffende gibt, die die Kunstentwicklung standardisieren wollen, dazu braucht man kein Kunstinstitut mit Staatsfinanzierung." Er formulierte in aller Deutlichkeit, dass die industrielle Formgestaltung direkt in die Betriebe überführt werden solle. Hans Bentzien[10] erklärte, dass dahinter die Absicht stand, den freiberuflichen Bereich künstlerisch Tätiger unter staatliche Kontrolle zu bekommen.

Horst Michel wurde nun unerwartet das deutsche Pendant zu dem sowjetischen Monumentalisten Neiswestnyj. Aber er wurde nach diesem politischen Getöse hinsichtlich seiner Funktionen und beruflichen Verpflichtungen nicht mehr öffentlich oder hintergründig belästigt. Das hing wohl damit zusammen, dass viele in der DDR agierende, hoch geachtete Eliten Horst Michel in Schutz nahmen. Die Spitzenfunktionäre in den Blockparteien erwiesen sich in diesem Falle als ein von der SED nicht zu ignorierendes Regulativ. Dem Kulturministerium wurde die politische Verantwortung für den Bereich Industrieformgestaltung alsbald entzogen, indem ein Staatssekretariat für Formgestaltung beim ASMW (Amt für Standardisierung, Messwesen und Warenprüfung) gegründet wurde, dessen Leitung Martin Kelm übernahm.

W. Ulbricht hatte von seiner scharfen Kritik die Betriebe weitgehend ausgenommen, in denen die getadelten Objekte hergestellt wurden. Hubert Petras Röhrenvasen wurden weiter in der Berliner Galerie "Moderne Kunst" und in den etablierten Kunstgalerien der CDU (Wort und Werk) sowie in den Läden der Künstlergenossenschaft angeboten. Im Exportgeschäft gab es ebenfalls keine Einschränkungen, da diese hier kritisierten Sortimente damals kaum Chancen auf dem Devisenmarkt hatten. Der so heftig gescholtene Designer Hubert Petras wurde später als lehrender Mitarbeiter an die Hochschule für Gestaltung in Halle - Burg Giebichenstein berufen. Unter dem Direktorat von Johannes Habedank ging in der Wallendorfer Porzellanfabrik die Modernisierung des Porzellansegments Gefäß und Kleinplastik ungehindert und ganz im Michelschen Sinne weiter. Im Jahr 1966 zog die Staatliche Galerie Moritzburg Halle mit einer katalogbegleiteten Ausstellung "Modernes Porzellan aus Wallendorf" eine Bilanz dieser Bemühungen. Neben Hubert Petras mit seinen "Röhrenvasen" waren die namhaftesten Designer und Bildhauer der DDR vertreten: Ilse Decho, Margarete Jahny, Ludwig Zepner, Hans Körting, Astrid Löffler, Fritz Cremer, Gustav Weidanz, Walter Arnold, Waldemar Grzimek, die ganze DDR-Elite also.

Jedoch fühlte sich der unermüdliche und nach wie vor hoch geschätzte Streiter Horst Michel sehr gedemütigt und von der Parteiführung total missverstanden. Michel hatte nie daran gedacht, ihm oft angebotene Dienste in der BRD anzunehmen. In einem privaten Brief schrieb er mir 1980: "Ausgerechnet meine Vorlesungen benutzte Herr Hagen dazu, mich in ganz niederträchtiger und verlogener Weise zu diffamieren. ... Können Sie sich vorstellen, wie viel Überzeugung, Liebe zur Sache und Mut dazu gehörten, dass ich trotz dieser Verunglimpfungen weiterarbeitete?"[11]

Und nun sollte der ehrwürdige Nestor des DDR-Designs 19 Jahre später durch die höchste Auszeichnung des Staates geehrt werden! Der 77-jährige wusste zuerst nicht, wie er sich verhalten sollte. Der Groll schwelte immer noch in der Tiefe seines Erinnerungsspeichers. Ablehnen wollte er die höchste Staatsauszeichnung nicht, denn er war sich seiner großen Verdienste um die Produktgestaltung der DDR bewusst.[12] In- und ausländische Auszeichnungen für wohnweltbezogene Formgestaltungen in seinem Institut für Innengestaltung an der Weimarer Bauhochschule, ganze Produktlinien für die Glasindustrie, die Möbelbranchen und Textilfabriken sowie die Ehrendoktorwürde der TU Dresden waren unerschütterliche Stützen seines beruflichen und ethischen Selbstbewusstseins.

In dieser - für ihn unerwarteten - Konfliktsituation verlangte es ihn nach einem gütigen Rat. Es war ein Vertrauter nötig, der in den Anstandsregeln der politischen Staatsräson einigermaßen Bescheid wusste und ihm helfen konnte. Mit der Annahme des Nationalpreises wollte er seinen Groll gegen das 1962 durchgeführte "Autodafé in einer menschlich anständigen Form geltend machen. Aber wie? Ich sollte nun sein Ratgeber sein. Damals war ich Vorsitzender des Rates für Kunsthandwerk beim Ministerium für Kultur und seit Jahren persönlich mit Horst Michel befreundet. Es empörte ihn, dass der Preis in der dritten Klasse verliehen werden sollte. "Mein Lebenswerk ist nicht drittklassig", moserte er zornig. Nach einem vertraulichen Gespräch, das ich mit dem Protokollchef des Ministeriums für Kultur, Adolf Senftleben, hatte, war da keine Änderung zu erwarten. Über die Klassifizierung entschied allein das Politbüro - und zwar ausschließlich nach politischen Aspekten. Michel war weder Genosse noch antifaschistischer Widerstandskämpfer. Die Ulbrichtsche Kritik war immer noch, nach fast 20 Jahren, im SED-Apparat aktenkundig, wenn sie auch peinlichst verschwiegen wurde, nachdem 1976 die DDR das Bauhaus zum nationalen Kulturerbe der DDR erklärt hatte. Michel musste also die Kröte schlucken und tat es auch. Aber er gab keine Ruhe. Er wollte nun von mir Zustimmung zu seiner Absicht, am Ort der Verleihung in hellem Anzug und gänzlich ohne Ordensschmuck zu erscheinen. Nach seiner Auslegung der knigge'schen Anstandsregeln war bei derartigen Anlässen das Tragen von dunkler Kleidung ein Muss. Meine Erkundungen in den Protokollabteilungen des Ministerrates und des Kulturministeriums verliefen ins Leere. Fotos von solchen Staatszeremonien aus Pressebildagenturen ließen erkennen, dass Träger eines hellen Anzugs zwar selten, jedoch als normkonform akzeptiert waren. Horst Michel erschien trotzig zur feierlichen Auszeichnung in einem makellosen hellen Outfit und ohne Orden und Ehrenzeichen (wie die meisten übrigens). Der Minister für Kultur, Dr. Joachim Hoffman, erwog, Professor Horst Michel zu bitten, eine Dankesrede im Namen der Kulturschaffenden nach der feierlichen Preisverleihung zu halten. Doch diese Ehre schlug er aus, weil er dann auf die ideologische Schindung von 1962 hätte eingehen müssen. Und das hätte wohl abermals gegen ihn gewirkt, vielleicht auch gegen den Kulturminister. Er begnügte sich nun mit der Genugtuung, dass "die da oben" nun wüssten, dass er nach wie vor zu seinem Handeln von damals stand.

Im Oktober dieses Jahres 2012 sei 50 Jahre nach dem Eklat daran erinnert, dass es dem Getadelten gelang, politische Konflikte auch auf höchster Ebene standfest auszutragen, ohne Ehrverletzung, ohne die gute Form zu zerstören, für die er immer eingetreten war Sieger war zweifellos der Gentlemen, die "trübe Quelle" Horst Michel, aber auch die Designer der bemäkelten Industrieprodukte und - unter vielen anderen - auch der mutige 31-jährige Direktor der Wallendorfer Porzellanfabrik, P.J. Habedank, der den bildenden und angewandten Künstlern einen Hort schöpferischer moderner Designarbeit bot.

Wer unter dem Stichwort "Röhrenvasen" oder "Hubert Petras" jetzt etwas intensiver googelt, wird erkennen, dass das Auftreten von Walter Ulbricht auf der V. Kunstausstellung der DDR heute noch ein beliebtes Thema ist, um sein personenkultiges Verhalten ins Lächerliche zu ziehen.Wie man das ganz persönlich auch bewerten mag: Es wird klar, dass es um die Autoritätsgläubigkeit zahlreicher DDR-Bürger ein Jahr nach dem Mauerbau nicht zum Besten bestellt war. Christa Wolf, Helene Weigel, Werner Mittenzwei, Willi Sitte, Fritz Cremer, u. v. a. bezogen engagiert Stellung gegen die damaligen offiziellen Antibauhaus-Attacken. Doch manche privaten, unlängst veröffentlichten Erinnerungen an den beschriebenen Fakt weichen erheblich von dem heute als gesichert geltenden, wirklichen Geschehen ab. Zum Beispiel wurde behauptetet - und von vielen Folge-Autoren abgeschrieben -, der Selbstmord des Wallendorfer Direktors Habedank im Jahre 1962 sei durch die Ulbrichtsche Kritik und die darauffolgenden Maßregelungen durch die SED-Parteiorgane ausgelöst worden. Nichts ist davon wahr. P.J. Habedank starb auf tragische, nicht aufgeklärte Weise am 16. Januar 1968, vier Tage nach einer persönlichen Auszeichnung durch die SED-Kreisleitung und die VVB Keramik, also 5 Jahre später.[13] Im Jahr 1964 überbrachte Habedank dem Staatsratsvorsitzenden anlässlich des 200. Gründungstages der Wallendorfer Porzellanfabrik eine ca. 1 m hohe reinweiße - nota bene! - Bodenvase, die der Chefgestalter Gottfried Stöhr aus Wallendorf geschaffen hatte. Horst Michels verdienstvolles Wirken in der DDR wird gegenwärtig an der Bauhaus-Universität Weimar zeitkritisch untersucht und ist Gegenstand von Ausstellungen, Dokumentationen, Diplomarbeiten und Dissertationen.[14]


Anmerkungen:

[1] Als Mitarbeiter des Ministeriums für Kultur war mir dieser Vorgang bekannt.

[2] Karl Heinz Hagen: Hinter dem Leben zurück, in: Neues Deutschland vom 4.10.1962

[3] Lotte Ulbricht zu Hans Bentzien, in: Meine Sekretäre und ich, Verlag Neues Leben, S. 203

[4] Vasen, Röhren und Ideologie, in: Neues Deutschland vom 4. Januar 1963

[5] Zu Hans Bentzien, a.a.O., S. 194

[6] Archiv des Autors

[7] Vgl. Fußnote 4

[8] Vgl. Wikipedia: Stichwort Neiswestnyj (Dieser Graphiker und Bildhauer schuf 1974 das Grabmal für N.S. Chruschtschow.)

[9] Leipziger Volkszeitung vom 15.12.1962 und Bericht des ZK an den VI. Parteitag der SED: "Einige (Künstler), die diesem schwierigen Prozess aus dem Weg gehen möchten, wenden sich dem bürgerlichen Modernismus zu."

[10] Zu Hans Bentzien, a.a.O., S. 193-194

[11] Archiv des Autors

[12] Biografie von Horst Michel im Katalog seiner Ausstellung im Grassimuseum Leipzig

[13] Antje-Maria Lochthofen in der "Thüringer Allgemeinen" vom 20.11.2004 und Privatdokumente beim Sohn Jörg Habedank

[14] Horst Gronert/Elke Beilfuß: Horst Michel, Formgestalter, Weimar 2004; Horst-Michel-Archiv Weimar

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Ehrlicher und verlogener Umgang mit Geschichte

Klaus-Jürgen Künkel

Landwirtschaftswissenschaftliche Forschung

Ein Erfolgskapitel der DDR

Wenn bei der Abwicklung der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften der DDR und der Evaluierung ihrer 42 Institute zu ihrem Präsidenten von westdeutscher Seite gesagt wurde: "Sie können darauf stolz sein, was sie mit der Akademie geleistet haben. Wir haben sie immer darum beneidet", dann hat das auch seine Ursachen in der Art und Weise, die im Folgenden beispielsweise für die Bodenfruchtbarkeitsforschung beschrieben ist, wie diese international anerkannten Leistungen erarbeitet wurden.

Anfang der Sechzigerjahre wurde für die planmäßige Steigerung der Erträge in der Landwirtschaft der DDR auch die weitere Erhöhung der Bodenfruchtbarkeit erforderlich. Dazu erfolgte die Ausarbeitung von Programmen zur Hebung der Bodenfruchtbarkeit, die wiederum ein wichtiger Bestandteil der Ackerbausysteme auf Betriebsebene waren. Da die gezielte Einflussnahme auf die Bodenfruchtbarkeit ein sehr komplexer naturwissenschaftlicher und technologischer Prozess ist, der von einzelnen Forscherkollektiven und Instituten nicht bewältigt werden kann, erforderten die Programme eine breite disziplinäre und interdisziplinäre Gemeinschaftsarbeit, gemeinsam mit der Praxis. Unter Leitung des Direktors des Instituts für Acker- und Pflanzenbau in Müncheberg, Prof. Dr. Erich Rübensam, unter Teilnahme von Forschungskollektiven aus den Instituten für Bodenbearbeitung, Düngung und Pflanzenernährung, Fruchtfolgeforschung, Meliorationsforschung sowie dem Institut für Acker- und Pflanzenbau der Akademie und der Fakultäten für Landwirtschaft der Universitäten in Halle, Berlin und Rostock wurden diese Arbeiten durchgeführt. So konnten alle notwendigen Erfahrungen und Ergebnisse aus der experimentellen Forschung der Institute und Fakultäten für verschiedene Standortbedingungen in diese komplexe Arbeit einbezogen werden. Da die Programme zur Hebung der Bodenfruchtbarkeit in den Volkseigenen Gütern (VEG) und Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) für ihre Einordnung und Umsetzung in den Betrieben Bestandteil der Produktionspläne waren, konnten auch Erfahrungen bei der Umsetzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in der Praxis zunehmend als Rückkopplung für die weitere Ausarbeitung der Programme genutzt werden.

In Veröffentlichungen und Vorträgen im Rahmen von Fachtagungen gemeinsam mit Praktikern wurden die Erfahrungen aus der Ausarbeitung und Nutzung der Programme zur Hebung der Bodenfruchtbarkeit popularisiert und damit zunehmend Allgemeingut für Forschung und Praxis. In den Mitgliederversammlungen der LPG und den Betriebsversammlungen der VEG wurden Rechenschaft über diesen Bestandteil der Produktionspläne abgelegt, Erfahrungen vermittelt und für die weiteren Maßnahmen zur Hebung der Bodenfruchtbarkeit entscheidende Schlussfolgerungen gezogen. Das erfolgte von Wissenschaftlern und Praktikern gemeinsam in einer sozialistischen Arbeitsgemeinschaft (SAG), und die Ergebnisse wurden in einer wissenschaftlich-technischen Konzeption (WTK) für die Erarbeitung der Programme zur Hebung der Bodenfruchtbarkeit niedergelegt. Damit wurden in der Bodenfruchtbarkeitsforschung erfolgreich die ersten Schritte vom Ich zum Wir gegangen.

Mit der voranschreitenden Entwicklung der Produktions- und Leitungsverhältnisse sowie der Produktivkräfte wuchsen auch die Anforderungen an die Konzentrationsprozesse in Wirtschaft, Planung und Leitung sowie in der Forschung. Es zeichnete sich ab, dass auch in dem Bereich der Agrarforschung Konzentrationsvorgänge in Gang gesetzt werden mussten. Das bedeutete inhaltlich die Bildung von Forschungsschwerpunkten und im Management die Bildung von Forschungszentren auf der Grundlage einer disziplinären und interdisziplinären Gemeinschaftsarbeit.

Das Ziel der Forschungsarbeiten im Forschungs-Zentrum für Bodenfruchtbarkeit in Müncheberg mit seinen Kooperationspartnern war die Programmierung der Bodenfruchtbarkeit und der Erträge. Von der notwendigen jährlichen Ertragssteigerung war ein hoher Anteil durch die erweiterte Reproduktion der Bodenfruchtbarkeit zu sichern. Auf die Dauer kann die Bodenfruchtbarkeit effektiv nur durch die aufeinander abgestimmte und optimierte Anwendung ackerbaulicher und meliorativer Maßnahmen erweitert reproduziert werden. Deshalb bestand die Hauptaufgabe des späteren Forschungszentrums für Bodenfruchtbarkeit Müncheberg mit seinen Kooperationspartnern - im Rahmen eines Komplexthemas unter der Leitung des Direktors Prof. Dr. Peter Kundler - in der Erarbeitung programmierter, ökonomisch begründeter und praktisch erprobter, komplexer Verfahren zur Reproduktion der Bodenfruchtbarkeit für verschiedene Standortbedingungen und Bodennutzungstypen der industriemäßigen Pflanzenproduktion bei Gewährleistung hoher und stabiler Erträge. Die neue Qualität in der Quantifizierung der Ertragspotenzen des Bodens erfolgte durch ein System von physikalischen, chemischen und biologischen Bodenfruchtbarkeitskennziffern, deren Sollwerte aus Versuchen aller Kooperationspartner abgeleitet worden sind, und - darauf aufbauend der differenzierten Bemessung von Kombinationen ackerbaulicher und meliorativer Maßnahmen. Als Bodenfruchtbarkeitskennziffern galten: die Mächtigkeit der Ackerkrume (Ap) und die organische Bodensubstanz (OBS), die verfügbaren Nährstoffe Phosphor (P), Kalium (K), Magnesium (Mg), Kupfer (Cu), Bor (B), Mangan (Mn), Zink (Zn) und Molybdän (Mo) sowie die Azidität (pH). Darüber hinaus gehörten die Vernässungsdauer und der Durchdringungswiderstand ebenso dazu sowie der Besatz mit Kartoffel- und Rübennematoden.

Das war nur möglich auf der Basis der inzwischen in den Forschungsbereichen des Forschungszentrums und bei deren Kooperationspartnern erarbeiteten und weiterentwickelten neuen Erkenntnisse und Verfahren in der Bodenbearbeitung, organischen und mineralischen Düngung, Anwendung von Bodenverbesserungsmitteln, Fruchtfolgegestaltung, Beregnung, Grundwasserregulierung, Entwässerung und Gefügemelioration, die im Forschungsbereich Konzentration und Spezialisierung der Pflanzenproduktion des Forschungszentrums, den ich leitete, in die komplexen Verfahren zur Reproduktion der Bodenfruchtbarkeit integriert wurden. Dabei arbeiteten Agrarwissenschaftler aus dem Forschungszentrum für Bodenfruchtbarkeit in Müncheberg mit Wissenschaftlern der Institute für Pflanzenernährung in Jena und für Düngungsforschung in Leipzig-Potsdam sowie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg auf der Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnisse und besten praktischen Erfahrungen zusammen. Diese Arbeiten wurden in dem späteren Forschungsbereich Ertragsforschung, dessen Leitung mir übertragen wurde, erfolgreich fortgeführt.

Bei der Erprobung der komplexen Verfahren zur Erhöhung der Bodenfruchtbarkeit und der Erträge in Produktionsexperimenten und Überleitungsbeispielen in 22 LPG und VEG auf über 20.000 ha wurden auf sandigen Böden 50 dt Getreideeinheiten (GE) pro ha und auf lehmigen bis tonigen Böden 70 dt GE pro ha in Getreide-Hackfrucht-Folgen im Mittel der Jahre erzielt. Im Vergleich mit den Ergebnissen nach der Sekundärauswertung der Jahresabschlussberichte der LPG und VEG und der Schlagkartei der DDR betrugen die Mehrerträge standortabhängig bei Getreide 6-9 dt pro ha, bei Kartoffeln 30-37 dt pro ha und bei Zuckerrüben 70-80 dt pro ha.

Nach der erfolgreichen Erarbeitung und Erprobung der komplexen Verfahren zur Erhöhung der Bodenfruchtbarkeit war es für die Programmierung der Bodenfruchtbarkeit und der Erträge notwendig, für die Steuerung der Produktionsprozesse in der Pflanzenproduktion computergestützte Verfahren der Boden- und Bestandesführung (COBB) bis Ende der Achtzigerjahre zu entwickeln und zu erproben. Das erfolgte unter Leitung von Dr. Peter Kundler. Die unter meiner Leitung im Bereich Ertragsforschung begonnene Erarbeitung von Grundlagen zur Ertragsprogrammierung wurde dort eingeordnet.

Das war allein mit einer bilateralen Zusammenarbeit zwischen den Forschungseinrichtungen nicht mehr zu leisten. Deswegen mussten in der Forschungsorganisation neue Wege beschritten werden. Im Forschungskomplex "Reproduktion der Bodenfruchtbarkeit" erfolgte dazu die Bildung von Forschungskooperationsgemeinschaften für die verschiedenen Komplexthemen, in denen unter Leitung eines verantwortlichen Institutes alle beteiligten Forschungskollektive, einschließlich der Praxispartner, von Anfang an bis zur Verteidigung der Forschungsergebnisse zusammenarbeiteten. Abgestimmt wurden die Forschungspläne, das methodische Vorgehen, die Versuchsdurchführung, die Mess- und Analysenprogramme und die EDV-Auswertungsprogramme, die Überleitung und die gemeinsame Anfertigung sowie Verteidigung der Forschungsberichte.

Das Forschungszentrum für Bodenfruchtbarkeit in Müncheberg koordinierte alle nationalen Forschungsarbeiten zur Reproduktion der Bodenfruchtbarkeit. Bewährt haben sich dabei die Forschungskooperationsgemeinschaften "Komplexe Lösungen zur Erhöhung der Bodenfruchtbarkeit", "Versorgung der Böden mit organischer Substanz", "Bodenbearbeitung und Bodengefügemelioration", "Fruchtfolgegestaltung", "Ertragsmodellierung/Beratungssysteme", "Hydromelioration", "Bodenmikrobiologie" und "Luftbild". Dazu bestanden besonders enge kooperative Beziehungen zu Instituten der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften der DDR für Düngungsforschung Leipzig-Potsdam, für Pflanzenernährung Jena, für Landschaftsforschung und Naturschutz Halle, für Getreideforschung Bernburg-Hadmersleben und für Rübenforschung Klein Wanzleben sowie zum Forschungszentrum für Mechanisierung Schlieben-Bornim, aber auch zu den entsprechenden Sektionen der Universitäten Halle, Berlin, Rostock und Dresden, zu Instituten der Akademie der Wissenschaften der DDR, zum Meteorologischen Dienst der DDR, zum VEB Bodenbearbeitungsgeräte Leipzig, zum Ingenieurbüro für Melioration Bad Freienwalde (Meliorationsmechanisierung Dannenwalde) und zum Kombinat Agrochemie Piesteritz.

Die Bearbeitung von Forschungsschwerpunkten im Rahmen von Komplexthemen und Forschungskooperationsgemeinschaften bestimmte meine Arbeiten in der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften der DDR. Mit den zu lösenden, immer komplexer und komplizierter werdenden Forschungsaufgaben wuchsen im Verlaufe der Zeit auch die enormen Koordinierungsaufgaben mit einer steigenden Anzahl von Kooperationspartnern. Einige der wesentlichsten Grundlagen für die erfolgreiche Arbeit in den Komplexthemen waren die gemeinsamen Zielstellungen in den Forschungsprozessen bis zur Erprobung und Anwendung der Ergebnisse in der Praxis, die schöpferisch und transparent gemeinsam durchzuführenden Experimente und anzuwendenden Forschungsmethoden sowie die vertrauensvollen und schöpferischen zwischenmenschlichen Beziehungen der Kooperationspartner auf hohem Niveau - auf dem Wege vom Ich zum Wir. Es war das gemeinsame Ringen um solche komplexen Aufgaben wie die "Programme zur Hebung der Bodenfruchtbarkeit", wie der "Datenspeicher Bodenfruchtbarkeit", wie der "Datenspeicher Pflanzenproduktion", wie die "Grundlagen der Ertragsprogrammierung", wie die "Landwirtschaftliche Nutzung in Trinkwasserschutzgebieten der DDR", wie die "Komplexen Verfahren zur Reproduktion der Bodenfruchtbarkeit" und die "Computergestützte Boden- und Bestandesführung".

Ich konnte die fachlichen und wissenschaftsorganisatorischen Erfahrungen, die ich in der Leitung der Arbeit in Komplexthemen und Forschungskooperationsgemeinschaften der DDR sammeln konnte, nutzen und beispielhaft auch nach der Wiedervereinigung bei der schwierigen Arbeit am Bund-Länder-Papier "Gute fachliche Praxis zur Vorsorge gegen Bodenschadverdichtungen und Bodenerosion" in einer Broschüre für die Praxis auf 105 Seiten mit Forschungskollektiven aus Ost und West in meiner Tätigkeit als Referent für Bodenschutz im Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft in Bonn erfolgreich anwenden.

(Aus Dr. Klaus-Jürgen Künkels Autobiographie "Ein Leben für die Landwirtschaft in friedlichen und unruhigen Zeiten", September 2010, 324 Seiten)


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Aufsatteldrängrabenfräse B-723A aus dem VEB Meliorationsmechaniserung Dannenwalde

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Ehrlicher und verlogener Umgang mit Geschichte

Peter Michel

Die können ja noch malen!

Reflexionen über ein Stück documenta-Geschichte

Auf Riesenplakaten und großformatigen Werbetafeln breiten sich zurzeit in den deutschen Städten hellgrüne oder blassrote Flächen aus, die durch ihre Leere auffallen. Nur mit zaghaften, beinahe schüchtern an den Rand geschobenen Schriftzeilen wird auf die gegenwärtige 13. documenta in Kassel hingewiesen. Die Grafikdesigner, die sich das einfallen ließen, trafen damit - ob sie das wollten oder nicht - den Nagel auf den Kopf. Leere ist wohl doch ein kennzeichnendes Merkmal dieses Events. Während die 13. documenta mit hohlem Getöse an uns vorüberzieht, gerät ein Jubiläum aus dem Blickfeld. Dieses Wegsehen hat seinen Grund weniger im üblichen Medienrummel um diese 100-Tage-Schau, sondern vor allem in der gegenwärtig herrschenden Haltung zur DDR und zu ihrer Geschichte. In diesen Tagen jährt sich die erst- und letztmalige Teilnahme von Künstlern aus der DDR an der documenta 6 zum 35. Mal. 1977 hatten offiziell vier Maler und zwei Bildhauer aus Leipzig, Halle, Berlin und Rostock insgesamt 25 Werke im Kasseler Fridericianum und im Freiraum vor einem Wandbild der chilenischen Malerbrigade "Pablo Neruda" gezeigt: Werner Tübke war u. a. mit seinen Bildern "Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze III", "Bildnis eines sizilianischen Großgrundbesitzers", "Tod in Venedig" und "Chilenisches Requiem" vertreten. Willi Sitte präsentierte ein Elternbildnis, seine "Sauna in Wolgograd", die "Strandszene mit Sonnenfinsternis" und sein dynamisches Gruppenporträt "Die Sieger"; sein Triptychon "Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und Freiheit" (Titelbild des ICARUS 2/2009) konnte aus zuvor nicht absehbaren Platzgründen nicht gehängt werden. Von Wolfgang Mattheuer waren u. a. die Gemälde "Hinter den sieben Bergen", "Freundlicher Besuch im Braunkohlenwerk" und "Der übermütige Sisyphos und die Seinen" zu sehen. Und Bernhard Heisig, der - gemeinsam mit dem Kurator dieses DDR-Teils, Lothar Lang - auch die Hängung besorgte, stellte fünf seiner wichtigsten Werke vor: "Festung Breslau - Die Stadt und ihre Mörder", eine "Ikarus"-Fassung von 1973, seinen "Traum des unbelehrbaren Soldaten", das "Preußische Museum" und sein ergreifendes "Porträt Vaclav Neumann", das für mich noch heute zum Besten zählt, was in der DDR auf dem Gebiet der Bildnismalerei entstand. Auf Vorschlag dieser vier Künstler waren Fritz Cremer mit seinem "Aufsteigenden", der als Geschenk der DDR auch vor dem UNO-Gebäude in New York aufgestellt worden war, und Jo Jastram mit seinen "Ringern" aus der Kunsthalle Rostock vertreten. Außerdem waren in einer Abteilung Handzeichnungen - neben der offiziellen DDR-Auswahl und von der Öffentlichkeit wenig bemerkt - weitere Arbeiten von Werner Tübke und Gerhard Altenbourg aus dem Besitz von westdeutschen Sammlern untergebracht.

Obwohl vor allem in vier Buchpublikationen diese Teilnahme von Künstlern aus der DDR sowohl aus subjektiver Sicht[1] als auch mit wissenschaftlicher Akribie[2] reflektiert und untersucht ist, spielt dieses Kapitel der documenta-Geschichte in der Gegenwart kaum eine Rolle. Doch gerade jetzt, da immer noch und immer wieder ausgegrenzt, abgerissen, verdrängt und mit Halbwahrheiten, Lügen und Unterstellungen gearbeitet wird, bietet dieses 35 Jahre zurückliegende Ereignis Anlass, über einen - wenn auch nicht konfliktlosen, so doch einigermaßen normalen - Umgang mit Kunst, die in der DDR entstand, nachzudenken.

Die Voraussetzungen waren damals schwieriger als heute. Es gab zwei deutsche Staaten, zwischen denen zu diesem Zeitpunkt noch kein Kulturabkommen existierte. Zwar hatte es bis dahin schon mehrere Ausstellungen in der Alt-BRD und in Westberlin gegeben, und auch nach dieser documenta zeigten bis 1989/90 Künstler aus der DDR dort in größerem Umfang ihre Werke. Aber die vor allem aus ideologischen Vorbehalten, aus Unkenntnis und Dünkel geborenen, pauschalisierenden Urteile über einen genormten sozialistischen Realismus bestimmten - und bestimmen teilweise bis heute - das Verhalten gegenüber der im Osten Deutschlands entstandenen bildenden Kunst. Man hatte nicht oder kaum zur Kenntnis genommen, dass in der DDR Bilder, Graphiken, Plastiken und zu einem guten Teil auch Werke der angewandten Künste zunehmend einem dialogischen Prinzip entsprachen, das die Betrachter anregte, sich über ästhetische, weltanschauliche, historische, ethische oder philosophische Fragen zu verständigen. Die documenta verließ man demgegenüber meist ratlos oder ernüchtert und desinteressiert. In einer soziologischen Studie wird z. B. nachgewiesen, dass 1972 in der VII. Kunstausstellung der DDR in Dresden mit 655.000 Menschen dreimal mehr Besucher gezählt wurden als in der documenta 5 im selben Jahr in Kassel.[3] Dieses Verhältnis änderte sich auch in den Folgejahren kaum.

1977 hatte man aber schon in stärkerem Maße verstanden, dass sich im Osten eine Kunst entwickelte, die sich in ihren Inhalten und Formen immer weniger von der Partei gängeln ließ und deren subjektive Prägungen mehr und mehr auch von einigen Funktionären verstanden wurden. Im Westen waren es vor allem Kunstkritiker wie Eduard Beaucamp und Eberhard Roters oder Museumsleute wie der damalige Direktor des Hamburger Kunstvereins Uwe M. Schneede, die Klischees abbauen halfen. So wirkten z. B. die Ausstellungen Willi Sittes (1975) und Wolfgang Mattheuers (1977) im Hamburger Kunstverein als wichtige Stationen auf dem Weg zur documenta 6. Die Einbeziehung der DDR in diese Schau war von den Veranstaltern - eingeordnet in den Realismusbereich - langfristig geplant. Im Komitee war darüber gestritten worden, doch im Juni 1977 wurde die Einladung bekannt gegeben. Der damalige documenta-Generalsekretär Manfred Schneckenburger hatte die vier Maler direkt eingeladen; die beiden Bildhauer kamen entsprechend dem Vorschlag der Maler hinzu. Insgesamt reagierte die Presse positiv, doch bis heute hält sich z. B. der schon damals geäußerte Verdacht, die DDR habe die documenta-Leitung erpresst. Manche witterten mit der Teilnahme der Künstler aus der DDR eine Gefahr für die Freiheit der Kunst und sprachen von einem Skandal. Doch Schneckenburger stellte in der Zeitschrift "pardon" fest: "Bösartige Kritiker vermuten: DDR-Funktionäre schrieben uns vor, was zu zeigen wäre. Das stimmt ganz und gar nicht. Es gibt, die DDR betreffend, keine Gegenleistungen und keine Kunsttauschgeschäfte - das gehört nicht zum Konzept."[4]

Nicht nur in der BRD gab es Vorbehalte gegenüber der DDR-Teilnahme; auch in der DDR stand man der documenta skeptisch gegenüber. Wie diese Hemmnisse mit viel diplomatischem Geschick überwunden werden konnten, stellt Gisela Schirmer in ihrem Buch "DDR und documenta. Kunst im deutsch-deutschen Widerspruch" auf beeindruckende Weise, mit umfangreicher Quellenkenntnis dar. Es gab damals auch schon ein großes Interesse an künstlerischen Entwicklungen in den sozialistischen Ländern, das aber erst nach dieser documenta durch die umfangreichen Aktivitäten des Kölner Kunstsammlers Peter Ludwig befriedigt werden konnte.

Willi Sitte erzählt in seiner Autobiographie, er und die anderen Maler seien zunächst aufgefordert worden, Arbeiten in anspruchsvollen Formaten einzureichen, weil man sie gleichberechtigt präsentieren wollte. Ein ganzer Seitenflügel des Fridericianums sollte zur Verfügung stehen. Am Ende wurden aber die Bilder wegen allgemeiner Raumnot in einem Durchgangsraum mit niedriger Deckenhöhe gehängt; die großen Formate reichten vom Fußboden bis zur Decke, und die Abstände zwischen den Werken waren so dicht, dass die Gesamtwirkung stark beeinträchtigt wurde.

Dennoch war die Anerkennung durch die an dieser documenta Beteiligten und durch zahlreiche westliche Künstler groß. Joseph Beuys, Wolf Vostell, Klaus Staeck, Nam June Paik und andere äußerten sich öffentlich erfreut über die Teilnahme von Künstlerkollegen aus dem Osten. Beuys ließ sich von Lothar Lang durch die DDR-Kollektion führen. Diese offene, kollegiale Haltung half auch, die nicht ausbleibenden Proteste in ihrer Wirkung zu schmälern. Der Hamburger Galerist Hannes von Gösseln drohte z. B. damit, alle seine Leihgaben zurückzuziehen, falls die Plastiken von Cremer und Jastram nicht entfernt würden. Am 22. Juni 1977 wurden in einer Pressekonferenz Flugblätter verteilt, in denen Georg Baselitz und Markus Lüpertz mitteilten, dass sie aus Protest gegen die "Überlastigkeit zugunsten der DDR-Vertreter" ihre Werke zurückgezogen hätten. Auch Ralf Winkler alias A.R. Penck forderte seine Arbeiten zurück. Doch Joseph Beuys, Eduard Beaucamp, der damalige Kasseler Oberbürgermeister und spätere Finanzminister Hans Eichel und viele andere setzten sich vehement für die DDR-Kollektion ein. Lothar Lang erinnert sich: "Der Versuch, ... mit dem Hinweis auf die Beteiligung von sechs DDR-Künstlern ein politisches Feuerchen zu entfachen, ging im überwiegenden Wohlwollen für diesen ersten documenta-Auftritt der DDR unter. ... Die Geschichte ist über diese Rankünen hinweggegangen. Auf die Entwicklung der Kunst hatten sie weder in West noch Ost einen Einfluss. Zu den Ergebnissen gehörte jedenfalls, dass die Kunst aus der DDR zunehmend zu einem Gesprächspartner im internationalen Kunstprozess wurde."[5]

Mit einer größeren Gruppe von Künstlern und Kunstwissenschaftlern aus der DDR, darunter die Maler und Graphiker Jutta Damme, Günter Tiedeken und Siegfried Besser, der Formgestalter Jochen Ziska und die Kunstwissenschaftler Günter Blutke, Ingrid Beyer und Wolfgang Hütt, besuchte ich diese documenta. Um die hohen Übernachtungskosten in Kassel zu sparen, fuhren wir an zwei aufeinander folgenden Tagen von Magdeburg aus mit einem Bus nach Kassel. Wir erlebten, wie am Grenzkontrollpunkt vom Bundesgrenzschutz unsere Pässe eingesammelt wurden, und konnten beobachten, wie man sie kopierte. Bei der Weiterfahrt bemerkten wir, dass im Stapel der zurückgegebenen Dokumente der Reisepass des Dresdener Malers Günter Tiedeken fehlte, so dass wir umkehren mussten, um ihn zu holen. Für die meisten von uns war die Begegnung mit dieser 100-Tage-Schau wichtig, weil sie Gelegenheit bot, sich selbst ein Urteil über aktuelle Entwicklungen in der Kunst der westlichen Welt zu bilden. Vieles war und blieb uns fremd. Doch wir erkannten auch die Möglichkeiten, die für die Kunst der DDR in neueren, "grenzüberschreitenden" Kunstformen steckten: in Videoinstallationen, Performances oder Environments. Später zeigte z. B. der Dresdener Maler Dieter Bock im Berliner Dom eine tief beeindruckende Rauminstallation mit realen Gegenständen, Fotos und verunsichernden Elementen zum Schicksal der Juden in der Zeit des Faschismus.

Wichtig war uns aber auch, die Reaktionen des Publikums vor den Werken "unserer" Künstler zu beobachten. Man bewunderte vor allem die Beherrschung des künstlerischen Handwerks. "Die können ja noch malen!", hörten wir oft in Gesprächen. Es gab respektvolle Aufmerksamkeit für den Bezug auf kunstgeschichtliche Traditionen, für die kritischen Inhalte - und vor allem staunte man darüber, dass diese Werke den jahrzehntelang eingeimpften Vorurteilen über einen sozialistisch-realistischen Einheitsbrei so ganz und gar nicht entsprachen.

Wer sich heute an diese documenta erinnert, dem fallen die von bundesdeutschen Journalisten geklopften Sprüche von der "Viererbande" ein. Mancher benutzt diesen Begriff heute noch - bezogen auf Sitte, Heisig, Mattheuer und Tübke als Gruppe - mit freundlicher Ironie. Doch gemeint war er bösartig, da er von Ereignissen in China abgeleitet war, als es dort 1976 um vier Spitzenpolitiker der Kommunistischen Partei ging, die als Verfechter radikal-ideologischer Positionen galten. Willi Sitte fand diese Bezeichnung gar nicht lustig, weil er darin den Vorwurf spürte, er und seine drei Kollegen wollten die Künstler in der DDR unterdrücken. Bernhard Heisig ging souverän und geringschätzig lächelnd darüber hinweg. Lothar Lang hatte versucht, dafür den Begriff "Quadrupelallianz" einzuführen, einen Terminus aus der Staatslehre und der Mathematik; doch sein Anlauf blieb ohne spürbares Echo.

Dieser unbequeme, eigenwillige Kunstkritiker erwarb sich um die documenta 6 und weitere nationale und internationale Präsentationen von Kunst aus der DDR bleibende Verdienste, die auch durch spätere Unterstellungen und Abwertungen nicht verkleinert werden können.

Nach diesem documenta-Besuch von 1977 kam ich noch zweimal nach Kassel: 1987 fuhr eine kleine Delegation des Verbandes Bildender Künstler der DDR zur Eröffnung einer Bildhauerausstellung der DDR nach Bonn (die zufällig mit dem Besuch Erich Honeckers in der damaligen Bundeshauptstadt zusammenfiel); auf dem Weg dorthin ging es in Kassel neben dem Besuch der documenta in Gesprächen um die Erweiterung der Beziehungen zwischen den Künstlerverbänden, die durch das nun existierende Kulturabkommen erleichtert wurden. Und schließlich eröffnete ich nach 1990 eine Willi-Sitte-Ausstellung in der Galerie des Malers H.D. Tylle.

Das Geschrei darüber, dass in der DDR alles von der Stasi gelenkt worden sei, hatte aber in diesen Jahren schon maßlose Dimensionen angenommen, und nicht nur alte Legenden wurden aufgewärmt und ausgeschmückt, sondern auch neue erfunden. Die Stasi habe ja schon 1977 erfolgreich die "Viererbande der staatssozialistisch klöppelnden Mangelverwaltung in die Kasseler "documenta VI" lanciert", schrieb Christoph Tannert in der Zeitung "Freitag" 22 Jahre nach dieser Schau. "Besser hätte es nicht laufen können. Das Kampfziel der Unterwanderung der Westkunst wurde erreicht."[6] Haben sich die Künstler, die in der documenta 6 ausstellten, wirklich unterwandern lassen? Der Kunstkritiker Alfred Nemeczek warf in einem 2002 erschienenen Text sehr bewusst die Zeiten durcheinander, als er die 1990 in die Öffentlichkeit entlassene Interview-Äußerung von Georg Baselitz, die DDR-Maler seien keine Künstler, sondern ganz einfach Arschlöcher, in das Jahr 1977 vorverlegte, um einen damals allumfassenden, leidenschaftlich-aufbrausenden Protest zu suggerieren.

Gisela Schirmer erinnert in ihrem Buch daran, dass Gerhard Richter 1977 für die Abhängung seiner Bilder keine ideologischen Gründe geltend gemacht hatte, sondern seine Unzufriedenheit mit dem ihm zugewiesenen Hängeplatz artikulierte. Das ist in Vergessenheit geraten. Auch über die Begleitumstände des ideologisch verbrämten Rückzugs von Baselitz und Lüpertz, der seine eigentliche Ursache in Rangeleien um begehrte Hängeplätze hatte, waren 1977 nur Wenige informiert. "Durch die nun übliche Einbeziehung von Richter bekommt der Protest nachträglich das Gewicht, das man 1977 vergeblich erhofft hatte. ... Die Vorstellung, die documenta-Leitung habe einem Druck aus der DDR nachgegeben, ... machte nicht hellhörig, sondern galt bald als Tatsache. Dass ein solches Vorgehen die Integrität der Veranstalter als Vertreter einer freien Kultur ruiniert hätte und schon deshalb höchst unglaubwürdig ist, blieb in der irrational aufgeheizten Nachwendesituation unberücksichtigt."[7]

Als in Merseburg die Willi-Sitte-Galerie für realistische Kunst feierlich eröffnet wurde, warnten der damalige Bundeskanzler Schröder und der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt Böhmer Vernunft und Offenheit im Umgang mit der Kunst dieses großen Malers an. Und als im März 2005 anlässlich seines 80. Geburtstages eine große Retrospektive mit Werken Bernhard Heisigs gezeigt wurde, war in der Presse vom Ende des deutschdeutschen Bilderstreits und von einer Versöhnungsgeste die Rede. Die amerikanische Kunsthistorikerin April A. Eisman wies mit Blick auf diese Ausstellung daraufhin, dass die Bedeutung Heisigs erst dann vorurteilsfrei erkannt werden kann, wenn man den "polarisierenden Gut-Böse-Blick" überwindet und die "DDR-Kunst insgesamt von diesem Schwarzweißblick befreit"[8]. Damit muss man bis heute Geduld haben. Unter der Schirmherrschaft der Bundeskanzlerin Angela Merkel fand anlässlich des 60.Jahrestages des Beschlusses über das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland eine medial hochgepuschte Ausstellung unter dem Titel "60 Jahre - 60 Werke" statt, in der Werke aus der untergegangenen DDR vollkommen ausgespart waren mit der Begründung, Kunst könne nur in Freiheit gedeihen; in der DDR habe es keine Freiheit gegeben, also auch keine Kunst. Das fäkalische Zitat von Baselitz wurde hier quasi auf hoher politischer Ebene in die Tat umgesetzt.

In seinem Werk "Der Gesellschaftsvertrag" schrieb Jean-Jacques Rousseau, dessen Geburtstag sich am 28. Juni 2012 zum 300. Mal jährte: "Aus dem Geschehenen wollen wir auf das schließen, was geschehen kann."[9] In Kassel geschah 1977 eine Öffnung, ein Schritt in die gewünschte deutsche Normalität, und zwar vollzogen von Verantwortlichen in Ost und West. Dieses Geschehen wird seit 1989/90 immer wieder mit Delegitimierungsgeschrei maßlos übertönt. Es wird Zeit, sich auf das zu besinnen, was mit Vernunft geschehen kann und die deutsche Nationalkultur im Ganzen meint.


Anmerkungen:

[1] Lothar Lang: Ein Leben für die Kunst, Verlag Faber & Faber Leipzig 2009, vgl. S. 303 ff. / Gisela Schirmer: Willi Sitte. Farben und Folgen. Eine Autobiographie,Verlag Faber & Faber Leipzig 2003, vgl. S. 247 f. / Wolfgang Hütt: Schattenlicht. Ein Leben im geteilten Deutschland, fliegenkopf verlag Halle 1999, S. 349-351

[2] Gisela Schirmer: DDR und documenta. Kunst im deutsch-deutschen Widerspruch, Dietrich Reimer Verlag GmbH 2005 / Lothar Lang rezensierte dieses Buch im ICARUS 1/2006, S. 49

[3] Bernd Lindner: Verstellter, offener Blick. Eine Rezeptionsgeschichte bildender Kunst im Osten Deutschlands 1945-1995, Köln 1998, S. 156

[4] Gerd Winkler: Documenta 6: Alles über die größte deutsche Bildershow, in: "pardon" vom Juni 1977, S. 72

[5] Lothar Lang. a.a.O., S. 303/304

[6] Christoph Tannert: deutsch-hacke. Kampfziel Selbstbehauptung, in: Freitag vom 5. November 1999

[7] Gisela Schirmer: DDR und documenta, a.a.O., S. 166

[8] April A. Eismann: Eine "US-amerikanische" Sicht auf Bernhard Heisig, in: Heiner und Marianne Köster (Hrsg.): Gestern und in dieser Zeit. Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Bernhard Heisig, Leipzig 2005, S. 44

[9] J.J. Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag, Leipzig 1962, S. 100


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Fridericianum in Kassel
- Willi Sitte, Sauna in Wolgograd, 1973. Öl auf Hartfaser, 240 x 165 cm
- Jo Jastram, Ringer, 1973. Bronze, überlebensgroß

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Ehrlicher und verlogener Umgang mit Geschichte

Georg Grasnick

Früchte der "Wende" (II)

Fortsetzung und Schluss des im ICARUS 2/2012 begonnenen Beitrages


"Wirtschaftliche Freiheit" für Lohnraub

In der "Charta von Paris" war von "sozialer Gerechtigkeit" gesprochen worden. Das Versprechen erwies sich als Phrase. In der BRD vollzog sich mit Hilfe der Steuerpolitik in den beiden Jahrzehnten nach der "Charta" eine extreme Umverteilung von unten nach oben. Zu den Steuergeschenken an Konzerne und Reiche gesellten sich zusätzliche Steuerbelastungen für die einfachen Menschen. Mehrwertsteuer, Strom- und Tabaksteuer sowie Mineralölsteuer, Massensteuern also, wurden erhöht. Freiweg partizipiert der Staat am Wucher der Erdölkonzerne. Von jedem teuer verkauften Liter Benzin oder Diesel kassiert er 60 Prozent.

Die in der "Charta von Paris" beschworene "wirtschaftliche Freiheit" brauchte nach dem Untergang des europäischen Sozialismus keine Rücksicht mehr auf den sozialistischen Kontrahenten zu nehmen. Die deutschen Konzerne schufen sich mit günstigen Lohnstückkosten, mit Lohndumping und Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften die Voraussetzungen, die zum Exportweltmeister und jetzigen Vize mit hohen Leistungsbilanzüberschüssen gehören. Die Reallöhne sind allein im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts um vier Prozent gesunken. Die sinkende Lohnquote hatte zur Folge, dass im genannten Zeitraum 920 Milliarden Euro weniger an Arbeitnehmerentgelt ausbezahlt worden sind. Um die gleiche Summe nahmen die Gewinn- und Vermögenseinkommen zu.[1] Erkämpfte Rechte werden abgebaut. Das Lohngefüge wird zu Ungunsten der Lohnabhängigen verändert.

Die so genannte Mittelschicht, Menschen mit 70 bis 150 Prozent des durchschnittlichen Einkommens, ging im vergangenen Jahrzehnt von 69 auf 59 Prozent zurück.[2] Das Armutsrisiko in Deutschland nimmt zu. Jeder fünfte Beschäftigte, das sind 6,5 Millionen Menschen (und entspricht etwa der Zahl der Minijobber), ist gering bezahlt. Bei den Vollzeitbeschäftigten ist es jeder Siebente, bei den Teilzeitbeschäftigten fast jeder Vierte. Bei den Minijobbern sind es 90 Prozent. Die Zahl der Niedriglohnbezieher ist in Ostdeutschland seit dem Jahre 2000 von 24 auf 31 Prozent gestiegen. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 20 Prozent. 910.000 der lohnabhängig Beschäftigten sind Leiharbeiter. Leiharbeit ist seit 1994 um das Fünffache gestiegen.[3] Nur noch jeder zweite Arbeitsvertrag ist unbefristet.

560.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte müssen trotz ihres Jobs noch Hartz-IV beantragen.[4] Hartz-W-Beziehern wurden der Zuschuss zur Rentenversicherung, der Heizkostenzuschuss zum Wohngeld und das Elterngeld gestrichen. Zwei Millionen Bundesbürger, das sind 14,5 Prozent der Bevölkerung, sind armutsgefährdet. Jedes siebente Kind in Deutschland lebt in einem Hartz-IV-Haushalt, in Ostdeutschland jedes vierte Kind. Zwei Millionen Kinder unter 15 Jahren empfangen Sozialhilfe. 800.000 Bundesbürger sind Suppenküchenbedürftige.

Die Bundesregierung feiert den statistisch ausgewiesenen Rückgang der Arbeitslosenzahlen. Dabei ist zu bedenken, dass 75 Prozent der neuen Jobs atypisch sind. Rund drei Millionen Bundesbürger sind offiziell als arbeitslos gemeldet. 1,7 Millionen weitere Bürger gehören mit Hilfe statistischer Tricks zur versteckten Arbeitslosigkeit. Immer mehr Menschen gehen aus Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes trotz Krankheit ihrer Beschäftigung nach. Äußerst problematisch gestaltet sich das Leben vieler junger Menschen. Die Zahl derer, die in Kurzarbeit stehen, als Leiharbeiter rekrutiert sind, Praktika leisten oder in befristeten Beschäftigungsverhältnissen untergekommen sind, nimmt zu. Nur 20 Prozent der Hochschulabsolventen haben unbefristete Arbeitsverträge.

Ein spezielles Kapitel für den Lebensunterhalt, das hier nur erwähnt werden kann, bilden die steigenden Mieten. Mit der Heraufsetzung des Renteneintrittsalters wird die Altersarmut gefördert. Die Tatsache, dass nur 26,4 Prozent der 60- bis 64-Jährigen noch berufstätig sind, macht das offensichtlich.[5] Die Polarisierung zwischen arm und reich schreitet weiter voran.

Rotstift gegen Gesundheit

Die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt im Schröder-Kabinett hatte angekündigt, es gehe in ihrem Bereich um Milliarden Einsparungen von 2004 bis 2007. Um mehr als 23 Milliarden Euro ging es damals. Eine "Neujustierung von Sozialgesetzen" war angesagt und persönliche Vorsorge. So wurde begonnen, die Axt an immer mehr von den Kassen zuvor getragene Leistungen im Gesundheitswesen zu legen. Zur Erinnerung: Es ging um die Ausgliederung des Krankengeldes aus der paritätischen Finanzierung, um die Streichung von Zahnersatz aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen, um die Entrichtung von Zuzahlungen bei ambulanter ärztlicher und zahnärztlicher Behandlung, um die Einführung von Praxisgebühren, um die Zahlung von Tagegeld für Krankenhausaufenthalte, um die Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge, um den Wegfall des Mutterschaftsgeldes und des Sterbegeldes, um die Streichung der Brillen aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen und um die Erhöhung des Eigenanteils für Arznei- und Heilmittel.

Mehrere "Gesundheitsreformen" haben die Bürgerinnen und Bürger seit der "Neujustierung" über sich ergehen lassen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband charakterisierte die "Gesundheitsreform" unter der Schröder-Regierung als "massivsten sozialpolitischen Kahlschlag seit Bestehen der Bundesrepublik". Die Nachfolge-Regierungen - in welcher Koalition auch immer - bauten die erreichten Einschnitte aus. Angekündigt ist nun eine Beitragserhöhung bei der Pflegeversicherung.

Alarmierend sind die Zusammenhänge von Armut und sinkender Lebenserwartung in Ostdeutschland. Die Lebenserwartung ist hier bei Menschen, die weniger als 35 Versicherungsjahre nachweisen können und Niedrigverdienende waren, im vergangenen Jahrzehnt von 77,9 auf 74,1 Jahre gesunken.[6] Eine hohe Lebenserwartung dürften dagegen die Vorstandsmitglieder der immer noch 145 Gesetzlichen Krankenkassen haben. So liegt beispielsweise der Vorstandschef der Techniker-Krankenkasse mit 270.000 Euro Jahreseinkommen an der Spitze seiner Zunft. Übrigens: Die DDR kam mit einer beim Freien Deutschen Gewerkschaftsbund angesiedelten Krankenkasse aus.

Angst und Verunsicherung

Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in arm und reich hat dazu geführt, dass immer mehr Menschen nicht nur mit der herrschenden Politik, sondern auch mit dem Gesellschaftssystem unzufrieden sind. Die gesellschaftliche Entwicklung wird von vielen Menschen pessimistisch eingeschätzt. Mit der Unzufriedenheit wächst bei nicht wenigen Menschen die Angst, den Anforderungen im Arbeitsprozess nicht mehr zu genügen, im täglichen Stress nicht mehr mithalten zu können, zum Abstieg verdammt zu sein, schlimmstenfalls in die Arbeitslosigkeit abzudriften. Verunsicherung und Unzufriedenheit nehmen von Jahr zu Jahr zu und prägen sich besonders in der Krise aus. Über 90 Prozent der Befragten befürchten für die Zukunft mehr soziale Abstiege und Armut.[7]

46 Prozent aller jungen Beschäftigten bis zu 30 Jahren nehmen Medikamente, "um für den Job fit zu sein".[8] Drei Viertel der Bevölkerung glauben, dass die Verschlechterung der Lebenslage die Solidarität mit Schwachen verringert. 61 Prozent der Befragten meinen, dass in Deutschland zu viele schwache Gruppen mit versorgt werden müssen. Eine "wutgetränkte Apathie" habe sich ausgebildet.[9] Das die soziale Spaltung der kapitalistischen Gesellschaft befördernde Krisenmanagement des politischen Establishments begünstigt in seiner Wirkung Fremdenfeindlichkeit und Abwertung Schwacher. 1990, in der "Charta von Paris für ein neues Europa", war feierlich versprochen worden: "Wir sind entschlossen, alle Formen von Hass zwischen Rassen und Volksgruppen, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung irgendeines Menschen sowie von Verfolgung aus religiösen und ideologischen Gründen zu bekämpfen."[10] Die Wahrheit sieht anders aus. 180 Ausländer, Migranten, Obdachlose und Arbeitslose wurden seit 1990 Opfer rechtsextremistischer Gewalt. Diese Schande ist vom Polarisierungsprozess in der Gesellschaft nicht zu trennen, auch nicht von populistischen Redensarten und Parolen führender Politiker, die als Stichwortgeber für Fremdenfeindlichkeit und die Schmähung Schwacher fungierten. Einige Beispiele: Warnungen wie "Das Boot ist voll" oder die Floskeln von einer "durchmischten und durchrassten Gesellschaft", Forderungen wie "Gesindel muss beseitigt werden" oder "Kinder statt Inder", Unterstellungen wie "Multi-Kulti ist die Brutstätte der Kriminalität" wechseln mit Anfeindungen wie "Sozialschmarotzer" für Arbeitslose, die angeblich ihr Dasein in einem "kulturellen Freizeitpark" oder einer "sozialen Hängematte" in "spätrömischer Dekadenz" verbringen. Derartige Schmähungen trugen zum Anheizen von entsprechenden Stimmungen bei.

Der Kapitalismus ist nicht nur seinem Wesen nach menschenfeindlich. Er bringt, solange er besteht, immer wieder politische und wissenschaftliche Kräfte hervor, die diese Menschenfeindlichkeit propagieren und praktizieren. Bis hin zum Völkermord. Und so finden Fremdenfeindlichkeit,Antisemitismus, Rassismus und Chauvinismus unter Teilen der Bevölkerung Anhänger und Befürworter.

Aufmarsch der Ewiggestrigen

Mit dem Anschluss der DDR eröffnete sich für die Neonazis aus den alten Bundesländern ein neues Aktionsfeld. Die von der Bundesregierung eingesetzte Treuhand schuf objektiv Voraussetzungen dafür. Die Deindustriealisierung hatte zunächst zwei Millionen Arbeitslose zur Folge. Nicht wenige junge Menschen standen vor einem Abgrund. Perspektivlosigkeit und der Wegfall von Jugendeinrichtungen boten für die NPD und andere rechtsextremistische Kräfte günstige Bedingungen für die Propagierung nationalistischer Phrasen und sozialer Demagogie, um manche junge Menschen auf Irrwege zu führen. Die gesamte Infrastruktur der NPD wurde aus den alten Bundesländern in die neuen verlegt. Der Parteivorstand zog nach Berlin um. Der "Deutsche Stimme"-Verlag siedelte aus dem bayerischen Dorf Sinnig nach Riesa über. Die Führungskräfte begannen in den neuen Bundesländern ihr schändliches Werk.

Angesichts der von den neuen Herrschaften angerichteten sozialen Misere, die in einigen Regionen der neuen Bundesländer geschaffen worden war, tauschte die NPD-Führung ihre Parole von der "nationalen Frage" in die von der "sozialen Frage" um. Die Partei erklärte sich zur "neuen sozialen Bewegung". Angesagt wurde eine "Viersäulen-Strategie": "Kampf um die Köpfe, Kampf um die Straße, Kampf um die Parlamente, Kampf um den organisierten Willen". Die Strategie mündete im Kampf um die Hegemonie in bestimmten Regionen. "National befreite Zonen" wurden angesteuert und mitunter verkündet. Nach jahrelanger Flaute in den alten Bundesländern konnte die NPD in den neuen Bundesländern wieder in Landtage einziehen. Provokatorische Aufmärsche werden zumeist von der Polizei geschützt.

Neben der NPD und der DVU entstanden "Freie Netze". Besonders gewaltbereite "Freie Kameradschaften" sorgten für Krawalle. Faschistischer Terror forderte bisher über 180 Todesopfer. Das Nazi-Trio "NSU" konnte über ein Jahrzehnt ungehindert morden, in Einzelfällen sogar unter Polizeiaufsicht! Rassismus, Antisemitismus, Biologismus und Geschichtsrevisionismus wurden und werden in Publikationsorganen, in Pamphleten und im Internet verbreitet. Im Internet wurden bisher etwa 1000 solcher Websites eingerichtet.

Die NPD-Führung orientierte rein äußerlich auf "Modernisierung": Bomberjacken und Springerstiefel wurden ausgemustert. Buttons und Cargohosen gehören zur Neuausstattung. Die Partei bot sich als "moderne bürgerliche Alternative" zu den "Altparteienkartellen" an. Sie möchte als Interessenvertreterin der Ausgegrenzten,Verunsicherten, des Prekariats und derjugend erscheinen. Zielgruppen ihrer faschistischen Propaganda sind vor allem Jungwähler, Politikverdrossene und Nichtwähler. Die Mitglieder der Partei sind darauf orientiert, als "Stimme der kleinen Leute" soziale Netzwerke, Jugendeinrichtungen, Sportorganisationen, Elternvertretungen und zunehmend Facebook, Videoportale und Blogs zu unterwandern. Bei all diesen Aktivitäten wollen die Vertreter des Rechtsextremismus erreichen, dass die programmatisch verkündeten menschenverachtenden Inhalte ihrer Politik in den Hintergrund treten. Nach der erfolgten Wachablösung in der NPD-Führung sind demagogisch "seriöse Radikalität" und "volksnahes Auftreten" angesagt.

Die NPD wird zu einem beachtlichen Teil mit Hilfe des Parteiengesetzes subventioniert und über die Gelder, die die V-Leute erhalten, alimentiert. Die zumeist noch auf Stadtbasis agierenden Pro-Parteien ergänzen mit ihrem Rechtspopulismus die antidemokratische Szene. Propagandisten wie der Ex-Senator und Ex-Banker Sarrazin liefern die Thesen für das rechtsextremistische Lager. Die Debatte über ein NPD-Verbot läuft - mit Unterbrechungen - seit Jahrzehnten.

Kontinuierlicher Demokratieabbau

Das Grundgesetz der BRD verheißt, die Bundesrepublik sei "ein demokratischer und sozialer Bundesstaat".[11] In der "Charta von Paris" vom 21. November 1990 wurde cm "Zeitalter der Demokratie" versprochen. Die Geschichte des Grundgesetzes offenbart dagegen eine fortwährende Aushöhlung der in ihm formulierten Grundrechte. Das Grundgesetz ist x-mal geändert worden, zumeist zum Zweck einer Eingrenzung von Bürgerrechten.

Den Anschlag auf das New Yorker Welt Trade Center nahm die Bundesregierung zum Anlass, so genannte Antiterrorgesetze zu verabschieden. Mit diesen Gesetzen wurde ein umfangreiches Überwachungs- und Kontrollsystem aufgebaut - zur "Abwehr terroristischer Gefahren", wie es hieß. Im vergangenen Jahrzehnt wurden rund 50 Sicherheitsgesetze und 100 Änderungen bei Einzelgesetzen verabschiedet. Um eine perfekte Vorratsdatenspeicherung wird gegenwärtig zwischen den Koalitionspartnern der Bundesregierung gestritten.

Die Protokollierung aller Telefongespräche ist gegeben. Sie soll angeblich nur dann abgebrochen werden, wenn es sich um private Gespräche handelt. Die Zahl der erfassten Telekommunikationsverkehre wurde von 350.000 im Jahre 2008 auf 1,8 Millionen im Jahre 2010 erhöht, also verfünffacht. In der Erfassung und Auswertung von Kommunikationsdaten sieht es nicht viel anders aus.

Mit dem Terrorbekämpfungsgesetz (TBG) und dem "Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses" wurde das Überwachungs-System ausgebaut. Während die Nazi-Terroristen vom "Nationalsozialistischen Untergrund"[12] jahrelang wüten konnten, werden demokratische Kräfte vorn Verfassungsschutz intensiv beobachtet. Millionen Handy-Daten von Antifaschisten, die 2010 in Dresden den Nazi-Aufmarsch blockierten, wurden gespeichert und ausgelesen. In Berlin wiederholte man diese antidemokratische Praxis bei der Fahndung nach Autobrandstiftern. Grundsatz dieser Praktiken eines Überwachungsstaates war und ist das Misstrauen gegen jedermann und die allgemeine Kontrolle der Bürger. Vor allem sind Ausländer, besonders solche islamischen Glaubens, verdächtigt.

Es wurde eine Atmosphäre "terroristischer Bedrohungen" erzeugt. Wiederholt signalisierten die Dienststellen und Medien solche Bedrohungen. Medienkampagnen erfolgten. Polizei besetzte zeitweise strategisch wichtige Punkte, um die "innere Sicherheit zu gewährleisten". Die Öffentlichkeit wurde auf Ausnahmezustände vorbereitet und zugleich mit Blick auf "terroristische Anschläge" verängstigt und verunsichert. Die offene Meinungsäußerung und die Wahrnehmung demokratischer Rechte sollen eingeschränkt werden. Im Februar 2011 wurde das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) konstituiert - ein von Innenminister Friedrich dirigierter Dachverband. Ihm gehören die Bundeswehr, das Bundeskriminalamt, der Bundesnachrichtendienst, der Verfassungsschutz, die Bundespolizei, das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe sowie das Zollkriminalamt an. Die Kontrolle der Gesinnung der Bürger hat eine hohe Perfektion erreicht. Die Entdemokratisierung der Gesellschaft schreitet mit dem Ausbau des Überwachungsstaates voran.

Deutscher Führungsanspruch

In der "Charta von Paris für ein neues Europa" vom 21. November 1990 hieß es, die Zeit sei gekommen, da "sich jahrzehntelange Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfüllen: unerschütterliches Bekenntnis zu einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit ..."[12] Was ist von den "Hoffnungen und Erwartungen" geblieben?

Der im "neuen Zeitalter" entfesselte Kapitalismus hat in den Ressourcenkriegen der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte und in den Krisen "wirtschaftliche Freiheit" zu nutzen gewusst, was vor allem für die wirtschaftlich stärksten Länder der EU gilt. Das deutsche Kapital beansprucht in diesem Reigen die Führungsrolle. Großdeutsche Töne werden angeschlagen. Europa brauche deutsche Tugend und Disziplin, verlangt die deutsche Bundeskanzlerin. Und sie belehrt -auf der Basis falscher statistischer Angaben - die Völker Süd- und Südosteuropas, dass sie mehr arbeiten, weniger Urlaub machen und später in Renten gehen müssten. Am deutschen Hartz-IV-Modell soll ganz Europa genesen. "Die deutsche Stabilitätskultur muss Vorbild sein für Europa. Wir brauchen eben nicht weniger Europa, sondern mehr Deutschland in Europa", verlangt Gerda Haselfeldt, Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag.[13] Der Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag Kauder fügte hinzu: "Jetzt wird in Europa wieder deutsch gesprochen."[14] Das "wieder" bei Kauder weckt bei der älteren Generation in den europäischen Ländern schlimme Erinnerungen!

Die BRD hat nach der "Wende" initiativ und aktiv die Osterweiterung der NATO und der EU betrieben. Die ehemaligen sozialistischen Länder Osteuropas wurden in NATO und EU eingegliedert. Das Aktionsfeld der Transnationalen Konzerne ist damit beträchtlich erweitert. Das auszubeutende "Humankapital" im EU-Europa wurde damit auf rund 450 Millionen erweitert. Die meisten der neuen EU-Mitglieder erwiesen sich als ausgesprochene Billiglohnländer. Hier einige Beispiele für Mindestlöhne in solchen Ländern: Sie betragen in Bulgarien 0,80 Euro, in Rumänien 0,97 Euro, in Litauen 1,40 Euro, in Lettland 1,68 Euro, in Estland 1,80 Euro, in Ungarn 1,92 Euro, in der Tschechischen Republik 1,96 Euro, in der Slowakei 2,01 Euro und in Polen 2,10 Euro.[15]

Die BRD sah in der Währungsunion die Chance, den Binnenmarkt ohne Zollgrenzen als günstigen Absatzmarkt zu nutzen und die Wirtschaft der neuen Mitglieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Das deutsche Kapital konnte sich dabei auf eine starke industrielle Basis stützen. Die sinkenden Lohnstückkosten taten ein Übriges. Und nicht zuletzt wurde Nutzen aus der Gemeinschaftswährung gezogen. Die damit erreichten Leistungsbilanzdefizite der meisten EU-Länder bewirken eine relativ niedrige Bewertung des Euro. Für den Export-Weltmeister bzw Vize zahlten sich diese Faktoren außerordentlich profitabel aus. Die ungleichmäßige ökonomische Entwicklung in der EU schlug besonders in der gegenwärtigen Krise für das deutsche Kapital zu Buche.

Die deutsche Führungsrolle zielt darauf ab, die EU als Global Player fit zu machen. Deutschland als Führungsmacht will in diesem Prozess aus der Rolle eines Juniorpartners der USA in die der Großmacht wechseln und mit der einzigen Supermacht in politischen und ökonomischen Belangen auf gleicher Augenhöhe sprechen.

EU als Global Player

Der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) hat in seinen Thesen, die im September 2011 veröffentlicht wurden, die strategische Zielsetzung formuliert, die EU politisch und ökonomisch zu einem Global Player zu entwickeln. "Die weitwirtschaftlichen Geschicke werden zukünftig nicht mehr auf einer G8- oder G20-Ebene entschieden, sondern auf einer G3- oder G2-Ebene. Bei den jetzigen notwendigen Weichenstellungen geht es auch darum, ob Europa die Rolle des Dritten im Bunde spielen kann und will."[16] Zur Rolle des "Dritten" soll der so genannte Fiskalpakt beitragen. Mit Hilfe einer neoliberalen Deregulierungspolitik werden soziale Errungenschaften und bürgerliche Demokratie irreparabel abgebaut. Der Fiskalpakt verlangt u. a., die Schuldenbremse in die nationalen Verfassungen der Mitgliedsländer aufzunehmen, im Rahmen verbindlicher Reformen einen Defizitabbau durchzusetzen, dabei die Lohnstückkosten zu senken und das Renteneintrittsalter heraufzusetzen, das Defizit eines jeden Landes nur bis zu drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zuzulassen und eine präventive Budgetkontrolle über die Haushalte der Länder zu akzeptieren.

Radikal sollen öffentliche Ausgaben gekürzt sowie Arbeits- und Sozialeinkommen reduziert werden. Mit Nachdruck verlangt der deutsche Finanzminister, die Etats in den einzelnen Mitgliedsländern kontrollieren zu lassen. "Die Vereinbarkeit der nationalen Finanzpolitik mit den europäischen Vorgaben" solle man überprüfen. (Schäuble) Die "Vorgaben" sind im Wesentlichen in Berlin "angedacht". Die Souveränitätsrechte der EU-Mitgliedsländer werden geschleift; sie werden in Protektorate umgewandelt. Die "Hoffnungen und Erwartungen" der Völker an das "neue Europa" werden durch das Regime des Fiskalpakts erstickt.

Das "Projekt Europa" befindet sich in einer Existenzkrise. Sie wird forciert durch "neoliberale Deregulierungspolitik und gewissenlose Gier der Finanzeliten, die gegen Krisenländer spekulieren und eine finanzkonforme Politik erzwingen wollen". Das wird aber nicht als Krisenursache benannt. Stattdessen werden die Staatsdefizite zu einer (Sozial-) Staatsschuldenkrise umgedeutet, um eine desaströse Politik zu legitimieren, stellen die meisten Vorsitzenden der DGB-Einzelgewerkschaften in einer Erklärung fest.[17]

Die erzwungene Umsetzung dieser desaströsen Politik hat in den von der Schuldenkrise am stärksten betroffenen Ländern zu Massenentlassungen, zur Lockerung des Kündigungsschutzes, zu gravierenden Einschnitten in das Tarifsystem bzw. zu dessen Aushöhlung oder Abschaffung, zum Einfrieren oder zur Senkung der Mindestlöhne, zur Kürzung der Renten und der Urlaubstage sowie zur Reduzierung der Kaufkraft geführt.

Schon 2011 waren 115 Millionen Menschen in der EU von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Jedes vierte Kind unter 18 Jahren lebte in einer prekären Lebenssituation (Eurostat). Die Auswirkungen des Fiskalpakts und die Krisenwirkungen - besonders in den südost- und südeuropäischen Mitgliedsländern der EU - dürften diese Lage weiter verschärfen. "Der Fiskalpakt zementiert den Sozialabbau für alle Ewigkeit", konstatiert der DGB-Bundesvorstand.[18]

Von den demokratischen Institutionen, vor allem von den nationalen Parlamenten, bleibt de facto nur die Fassade. "Bis 2013 will ein autoritär-neoliberales Bündnis aus Kapitalverbänden, Finanzindustrie, EU-Kommission, deutscher Regierung und weiteren Exportländern den jüngst in Brüssel beschlossenen 'Fiskalpakt' im Schnellverfahren durch die Parlamente bringen", heißt es in einer Erklärung von mehr als 100 Wissenschaftlern der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung. Und weiter: "Der Fiskalpakt verordnet eine sozialfeindliche Sparpolitik und umfasst Strafen gegen Länder, die sich dieser Politik widersetzen. Der Fiskalpakt schränkt damit demokratische Selbstbestimmung weiter ein. Er ist vorläufiger Höhepunkt einer autoritären Entwicklung in Europa."[19]

Von Krise und Kürzungsmaßnahmen nicht betroffen sind die seinerzeit von deutscher Seite in den EU-Vertrag eingebrachten Verpflichtungen zur weiteren Militarisierung der Union, als da sind: eine explizite Aufrüstungsverpflichtung, um die "militärischen Fähigkeiten (der Mitgliedsländer) schrittweise zu verbessern", die Tätigkeit eines Europäischen Amtes für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten, die Bereitschaft der EU-Streitkräfte zu robusten Militärinterventionen (Kampfeinsätzen) im Rahmen der Krisenbewältigung.[20]

Die EU soll sich auch militärisch als Global Player immer besser in Szene setzen. Die Übernahme des Kommandos der Hilfstruppen in Afghanistan durch die EU soll Modellcharakter für weitere weltweite Einsätze haben. In Somalia wird ein neuer Kriegsschauplatz errichtet. Gegen Syrien werden die Sanktionen verstärkt - als Vorbereitung für einen militärischen Eingriff. Die Entdemokratisierung und Militarisierung der EU sind auf dem Vormarsch.

Systemkrise

Das vor über zwei Jahrzehnten angesichts des Untergangs des europäischen Staatssozialismus und der damit eintretenden "Wende" in der internationalen Lage lauthals verkündete "neue Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit" erwies sich als Muster ohne Wert, als Betrug an den Völkern. Von den USA und der NATO geführte völkerrechtswidrige Ressourcen- und Weltordnungskriege, der Abbau demokratischer Grundrechte und von Souveränitätsrechten der Staaten im EU-Europa sowie neuer Kolonialismus und die zunehmende Polarisierung zwischen arm und reich - national und global - weisen das "neue Zeitalter" aus.

Doch trotz des so grundlegend veränderten internationalen Kräfteverhältnisses enden die militärischen Interventionen des USA-Imperialismus und der NATO mit Niederlagen. Damit setzt sich eine Tendenz fort, die schon während der Existenz der Sowjetunion wirksam war, Vor Jahren wies der alternative Friedensnobelpreisträger Johan Galtung darauf hin, dass es den USA in den Fünfzigerjahren des 20.Jahrhunderts nicht gelang, die ganze koreanische Halbinsel unter ihre Kontrolle zu bringen.[21]

Später scheiterten die US-Militärs auch mit ihrem "schmutzigen Krieg" gegen das vietnamesische Volk. Im neuen Jahrhundert, das nach den Vorstellungen des ehemaligen US-Präsidenten Clinton wie das vorige ein amerikanisches werden sollte, setzt sich die Serie der militärischen Niederlagen fort. In Afghanistan bestünde auf Grund "schwerwiegender strategischer Fehler die Gefahr des Scheiterns", wird in der "Jahresschrift 2011" des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr vermerkt. Von einem "weltpolitischen Totalschaden" ist die Rede. Die "von den westlichen Industriestaaten konstituierte Ordnung" sei folglich bedroht.[22] Die in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt geführte Debatte über den "imperial overstretch" bekommt erneut Aufwind. "Imperial overstretch" meint die Überdehnung bzw. über die "durch eigene Leistung nicht gedeckte Überbeanspruchung der US-Wirtschaft als Folge imperialer Weltpolitik und der angemaßten Weltgendarmenrolle", wie Lorenz Knorr vor einem Jahrzehnt feststellte.[23]

Zu dieser Zeit befasst sich auch der US-Politikwissenschaftler Chalmers Johnson in seinem Buch "Ein Imperium verfällt. Wann endet das amerikanische Jahrhundert?" mit dem Niedergangsprozess des US-Imperiums. Die USA wollten, "solange es geht, weltweit die Rolle eines Ersatz-Rom spielen", vermerkte er. Doch Hochmut komme zu Fall.[24] Der US-Stratege Zbigniew Brzezinski bezweifelte vor einigen Jahren, dass die USA das amerikanische Jahrhundert beenden werden.

Die riesigen Ausgaben für Rüstung und Kriegsführung der USA sind durch die Ausplünderung anderer Völker nicht mehr zu decken. Der Werteverfall des Dollar beschleunigt sich. Die Auslandsschulden der einzigen Supermacht, die im Jahre 2000 schon 2,5 Billionen Dollar betrugen, sind 2011 auf gigantische 14,7 Billionen Dollar angewachsen. Für Johan Galtung steht außer Frage, dass die Politik Washingtons keine Zukunft hat und dass das US-Imperium am Ende des gegenwärtigen Jahrzehnts scheitern wird.[25]

Gegen den von den entwickelten kapitalistischen Industrieländern verübten neuen Kolonialismus nicht nur gegenüber den Entwicklungsländern regt sich der Widerstand der betroffenen Völker. Sie erinnern sich, schrieb Jean Ziegler, an die Demütigungen und die "Schrecken, die sie in der Vergangenheit erlitten haben". Zunehmend lehnen sie sich gegen den Wirtschaftskrieg auf, der gegen sie geführt wird. "Sie haben sich entschlossen, vom Westen Rechenschaft zu fordern", so Ziegler.[26] Bei internationalen Debatten über Kernprobleme der Menschheit ist wieder die Stimme der Bewegung der Nichtpaktgebundenen zu vernehmen. Und nicht zuletzt: Das ökonomische Gewicht und das politische Potenzial der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) wird im internationalen Kräftespiel immer spürbarer.

In Europa setzt das deutsche Kapital alles daran, die EU mit Hilfe des von der Bundesregierung diktierten Fiskalpaktes und weiterer noch zu schaffender Instrumentarien auf der internationalen Bühne als ökonomischer und politischer, möglichst auch als militärischer "Global Player" zu etablieren. Fortschreitende Militarisierung nach innen und außen soll den Weg zu diesem Ziel ebnen. Zehn Regierungen im EU-Bereich sind bei diesem Machtstreben bereits auf der Strecke geblieben. Doch der aggressive Kurs löst Bedenken in den herrschenden Kreisen aus, ob wohl der Euro, ob wohl die Euro-Zone in ihrer gegenwärtigen Zusammensetzung Bestand haben wird. In einigen Mitgliedsländern partizipieren Rechtsextremismus und Rechtspopulismus von den Folgen des volksfeindlichen Kurses vor allem der EU-Führungsmacht.

Wie Recht hatte doch Lenin, als er sagte: "Vom Standpunkt der ökonomischen Bedingungen des Imperialismus, d. h. des Kapitalexports und der Aufteilung der Welt durch die 'fortgeschrittenen' und 'zivilisierten' Kolonialmächte, sind die Vereinigten Staaten von Europa unter kapitalistischen Verhältnissen entweder unmöglich oder reaktionär."[27] Das kapitalistische System durchlebt seit vier Jahren eine schwere wirtschaftliche, soziale und auch politische Krise. Krisengipfel gehören zum Alltag der Regierungen. Doch ihr Krisenmanagement von heute bereitet die Krise von morgen vor. Im November 2009 titelte die "Financial Times": "Der Countdown zur nächsten Krise hat begonnen". Die Zeitung könnte morgen mit der gleichen Schlagzeile erscheinen.


Anmerkungen:

[1] isw-Wirtschaftsinfo 46, Bilanz 2011 - Ausblick, S. 24

[2] isw-Report Nr. 82, Die Mär von der Zähmung der Finanzmärkte, S. 9

[3] junge Welt vom 13. März 2012

[4] junge Welt vom 11. Januar 2012

[5] junge Welt vom 13. Dezember 2011

[6] ebenda

[7] www.unibielefeld.de/ikg/DLF, Wilhelm Heitmeyer: Deutsche Zustände, Folge 10, 12. Dezember 2011

[8] www.dgb-studie-die-arbeit-frisst-sich-ins-private-leben

[9] Wilhelm Heitmeyer, a.a.O.

[10] Charta von Paris, a.a.O., S. 229

[11] Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Bundeszentrale für Politische Bildung 1989, S. 31

[12] Charta von Paris, a.a.O., S. 229

[13] www.faz.net.Politik.Inland, 30. Dezember 2011

[14] Spiegel Online, 15. November 2011

[15] www.eu.mindestloehne.info

[16] www.bdi.eu/Statements

[17] junge Welt vom 29. März 2012

[18] www.dgb.de

[19] www.faz.de.debatte.kommentare, 14. März 2012

[20] www.eu-verfassung.com

[21] www.schattenblick.de/infopool/politik/report

[22] www.springer-vs.de,e-News,Nr.11-1.pdf

[23] Lorenz Knorr: US-Wirtschaftskrisen und Präventionskrieg, Selbstverlag 2003, S. 8

[24] Der Spiegel, Nr. 25/2000

[25] www.schattenblick.de, a.a.O.

[26] Jean Ziegler: Der Hass auf den Westen, C. Bertelsmann Verlag München 2009, S. 26

[27] W.I. Lenin: Werke, Bd. 21, Dietz Verlag Berlin 1960, S. 343


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Arbeitslose in Deutschland im August 2000
- NPD-Aufmarsch in Bremen
- Mordserie an Ausländern 2000-2006

*

Ehrlicher und verlogener Umgang mit Geschichte

Armin Stolper

Requiem für eine Kranführerin

Diese szenische Collage ist eine von 50 polnischen Etüden aus dem bisher unveröffentlichten Buch "Striptease, Tango und Zabawa"


Im Sekretariat

- Wer sind Sie?

- Ich heiße Anna Walentynowicz, bin über achtzig Jahre alt und ging als die berühmte Kranführerin auf der Gdansker Leninwerft in die Geschichte Polens ein.

- Und weshalb bestiegen Sie, zusammen mit 96 anderen Leuten, das Flugzeug, das Sie und die anderen nach Smolensk bringen sollte?

- Wegen Katyn.

- Was wollten Sie dort?

- Ein Gebet sprechen.

- Das hätten Sie auch zu Hause tun können.

- Nicht alles kann man zu Hause tun. Und wo ist man in Polen zu Hause?

- Woher soll ich das wissen? Also bitte, setzen Sie sich in eine polnische Kneipe, in ein polnisches Theater, auf einen polnischen Markt, meinetwegen auch ins polnische Politbüro oder in die Streikleitung von Solidarnosc ...

- Nein, in die nicht. Jedenfalls nicht mehr.

- Warum nicht?

- Weil ..., aber das führt zu weit. Gibt es hier eine Abteilung, in der ich vielleicht mit diesem Ungeheuer, also diesem Genossen Josef Wissarionowitsch ...

- Reden Sie doch geradezu: Sie wollen also mit diesem Verbrecher Stalin sprechen?

- Ja, also nein, aber warum auch nicht. Nun, er wird ja nicht hier sein ...

- Nein, ganz bestimmt nicht. Also, was wollen Sie?

- Eigentlich wollte ich mit dem Papst sprechen.

- Verrückt - und Sie glauben wirklich, der und der andere, also der Stalin und der Papst wären hier im Sekretariat, in diesem Sekretariat?

- Vielleicht ist der Hitler auch hier?

- Ja, gewiss, alles ist möglich. Aber wir befinden uns hier im Sekretariat von einem Politbüromitglied. - Ach ja?

- Von Apostel Petrus.

- Und ich dachte, von Apostel Paulus.

- Anna, Sie sind eine ...

- Wissen Sie was? Setzen Sie mich in das Zimmer, in dem das Kruzifix, der Lenin und der polnische Adler hängen, dann will ich warten, gerne, bis dass ich aufgerufen werde und meine Frage an die Glaubenskongregation stellen kann.

- Gut, es wird Ihrem Wunsche entsprochen und falls sie wollen, können Sie auch alle Zeitungsausschnitte der unsäglichen linken und halblinken Zeitungen lesen, welche ...

- Danke, meine Augen sind schlecht, aber mein Gedächtnis ist noch ganz gut.

- Also schreiben Sie!

- Was soll ich schreiben?

- Schreiben Sie, wie sie, bevor Sie das Flugzeug bestiegen, über Ihr heutiges Leben in Polen dachten.


Im Zimmer; in dem das Kruzifix, Lenin und der polnische Adler hängen, gibt Anna W. folgendes zu Protokoll:

Ich, Anna Walentynowicz, musste / In den siebziger Jahren meinen Betrieb verlassen, / Weil ich in der damals illegalen "Solidarnosc" / Aktiv tätig war und die Regierung das für ein / Verbrechen hielt. Nicht wissen will ich, was / Der Namenspatron des Werkes, ein gewisser Lenin, / Zu diesem Vorgang gesagt hätte, aber mein Rat/War damals schon nicht mehr gefragt bei denen oben. / Später, wie ihr wisst, wurde in unserm Betrieb, / Auf der Lenin-Werft, der landesweite Streik /Ausgerufen, in dessen Gefolge dann nicht nur / Unser Werk hier in Polen, sondern auch in Leningrad, / In der SU, das Hitlers Banden getrotzt, / Seinen Namen verlor. Ich weinte, das sag ich ehrlich, / Dem untergegangenen System keine Träne nach, aber / Später, als der berühmte Elektriker sich / Damit brüstete, er, als gewesener Präsident zahle / Mehr Steuern als der heutige an Geld verdiene - / Das Gottesmutter-Abzeichen war längst / Von seinem Revers verschwunden -, / Wusste ich, dass diese Bonzen und ihre Sippschaft / Uns nach Strich und Faden betrogen hatten und/ Weiter betrügen würden. Deshalb konnten mir / Ihre freien Wahlen gestohlen bleiben, / Weil ihre Freiheit mir kein Huhn / In den Topf zauberte oder die Miete bezahlte. / Wie damals riet uns auch später der Heilige Vater, / Dem wir vertrauten, gegen den Strom zu schwimmen; / Ich tu es und dasselbe rate ich auch den andern. / Was aber, großer Gott, ist aus dem Lande geworden? / Das ist doch nicht das, was meine Mitstreiter und ich / Sich damals erhofften: Ein Land mit riesigen Schulden, / Wahnsinnigen Träumen, mit privatisierten Betrieben / Und miserabel verdienenden oder auf die Straße / Geworfenen Menschen, monatelang ohne Lohn; / Ein Land voll von Stehlern, Hehlern, Lügnern / Und Betrügern! Aber wir alle genießen jetzt / Das Glück freier Bürger in Armut, während / Unser einstiger Arbeiterführer Lech als / Direktor einer Computerfirma in den USA / Monatlich 10.000 Dollar verdient. Wohin, / Vom Kommunismus aus? fragen die Klugen / Heute des Landes, aber sie wissen es nicht, / Und ich weiß es auch nicht. Irgendwas haben wir / Falsch gemacht. Wenn ich nur wüsste, was.


Gespräch zwischen den Aposteln Petrus und Paulus nach der Lektüre von Annas Erklärung

- Verstehst du dieses starrsinnige Weib?

- Was ist da nicht zu verstehen? Die Frau ist fromm.

- Und ich sage dir, lieber Paulus, die Frau ist nicht nur fromm, sondern auch blöd. So blöd und fromm, wie man nur in unserem lieben Polen sein kann.

- Wie, lieber Petrus, kommst du zu dieser Ansicht?

- Wieso, wenn sie so denkt, wie sie es hier aufgeschrieben hat, steigt sie dann in das Flugzeug, zusammen mit diesem weiß Gott miesen Zwillingsbruder, den die blöden und frommen Polen zu ihrem Präsidenten gemacht haben?

- Mit ihr waren noch 96 Leute an Bord. Vielleicht war die Anna auch das, was nur wenige Polen sind, nämlich tolerant.

- Da ist dieser Deutsche, der einen Film mit ihr und über sie gemacht hat, aber anderer Meinung. Er bezeichnet sie ausdrücklich als stur.

- Na und? Der Mensch, noch dazu einer wie diese Anna, besteht nicht nur aus einer Meinung oder Ansicht. Weißt du, was dieser isländische Stalin- und Nobelpreisträger einmal schrieb? Nämlich, dass jedes einzelne Individuum in ein und derselben Sache durchaus zwei miteinander unvereinbare Gesichtspunkte vertreten könne und auch bereit sei, für beide Standpunkte zu kämpfen, den einen Tag für den einen, den andren Tag für den entgegengesetzten, und immer aus Überzeugung und Stärke, die keinen vermittelnden Vergleich zulassen.

- Ja, das hat er von seinen Landsleuten, den Isländern, gesagt!

- Die Polen sind auch nicht anders, höchstens noch verrückter.

- Paulus, ich verstehe dich nicht.

- Petrus, ich dich auch nicht. Aber deshalb hat uns der Herr ja auch gemeinsam als seine Apostel eingesetzt. Was der eine nicht weiß, weiß der andere. Sogar Schwache schaffens zu zweien, wie dieser Sowjetdichter Majakowski schrieb.

- Gut, aber warum, musste sich unsere liebe himmlische Obrigkeit diese Farce mit dem Flieger überhaupt einfallen lassen?

- Petrus: Das ist doch klar: Sie wollte den Polen in der Gestalt ihres blödsinnigen Präsidenten einmal klarmachen, wohin sie ihre Verbohrtheiten eines geradezu affenartigen Antikommunismus bringen. Wer behauptet, dass die Polen unter der Kommune Pack waren, das von Pack regiert worden sei, der hat eine Züchtigung durchaus verdient. Und die hat dieser Idiot in Gestalt des Präsidenten dann auch bekommen.

- Paulus: Und mit ihm 96 andere ...

- Petrus: Sage nicht, dass das alles Unschuldslämmer waren. Und unsere liebe himmlische Obrigkeit hat den Insassen des Fliegers ja durchaus eine Chance eingeräumt: Die Warnung durch die belorussischen und die kremlrussischen Bodenstationen waren doch eindeutig! Hätte die Mannschaft darauf reagiert, reagieren können, wäre alles wie geplant abgelaufen. Aber nein, der Herr Präsident wusste es natürlich besser! Wir lassen uns doch von unseren Todfeinden nicht vorschreiben, ob und wo wir zu landen haben! Schon gar nicht, wenn es um Katyn geht, wo die Gegenseite eindeutig Dreck am Stecken hat.

- Paulus: Als ob die Polen nicht auch! Haben sie vielleicht die Ausrottung ihrer Juden allein den deutschen Nazis überlassen? Wann endlich hört diese blödsinnige Urfehde zwischen Russen und Polen einmal auf?

- Petrus: Vielleicht, wenn ein Flugzeug abstürzt.

- Paulus: Dann hätten sie doch schon Vernunft annehmen müssen, als Churchill den General Sikorski in den Orkus der Geschichte befördert hatte.

- Petrus: Das ist eine unbewiesene Behauptung von diesem Erzprotestanten Hochhuth.

- Paulus: Gut, aber die ist so schlüssig, dass keiner sich wagt, bis heute nicht, das Gegenteil zu behaupten.

(Petrus versucht klein beizugeben)

- Was soll der Streit? Wenn ich nur wüsste, warum diese Polen ihre Präsidentenleiche unbedingt im Wawel beisetzen müssen.

- Paulus: Dieses Zugeständnis mussten sie wohl machen. Hat vielleicht auch sein Gutes. Was aber soll nun mit dieser Kranführerin geschehen? Will die noch immer mit den großen Diktatoren persönlich sprechen, um heraus zu bekommen, wo die Wahrheit liegt und was sie falsch gemacht hat?

- Petrus: Ich habe ihr, neben anderen, einen 15 Jahre alten Zeitungsartikel zu lesen gegeben, den ihr Landsmann Nazarewisc damals in einer deutschen Gazette veröffentlicht hat. Ein Textriemen, wie die Zeitungsleute sagen. Und nicht gar so blöd wie das meiste dieser Auslassungen. Also dieser Mensch hat damals die Lage eruiert, wie sie sich für Polen am Ende des zweiten Weltkrieges und danach ergab. Zwischen Befreiungskampf und Bürgerkrieg. Bin gespannt, was das starrsinnige Weib dazu zu sagen hat.


Protest des Elektrikers, der es vom Vorsitzenden der Gewerkschaft Solidarnosc zum Präsidenten Polens brachte und seit seiner Pensionierung von seinen Pensionen lebt:

Untergegangen sei sie die Elite der Nation! / Lachhaft: Wenn es so wäre, wieso lebe ich noch? / An heiliger Stätte in Krakow beerdigten sie jetzt / Einen von diesen Zwillingen: Und warum? Hat er / Die Kommune zu Fall gebracht mit Hilfe / Des Papstes und des US-amerikanischen Geldes / Oder ich? Er hat, zusammen mit seinem Bruder, / Das Volk der Polen als Pack bezeichnet, / Das von Pack regiert worden sei; ich aber / Habe den Arbeitern gesagt, dass sie / Die Herren im Lande sind, und sie haben / Daran geglaubt, bis sie merkten, sie waren / Beschissen worden wie immer und saßen / Tiefer jetzt in der Scheiße denn je. Polen / In der NATO und in der EU - wer hat sie / Dorthin gebracht? Aber sie schreien: / Im Flugzeug habe des Landes Elite gegessen - / Sie lügen, denn ich, der Arbeiterführer, / Der Spitzel des Kapitals, ich saß vergnügt / Zu Hause und las den Osservatore Romano / Und erfuhr, dass ich mich keiner Übergriffe / Sexueller Art schuldig gemacht hatte. / Und solange ich lebe, lebt Polens Elite. / Und wenn ich mal tot bin, lebt sie noch immer. / Und ganz im Geheimen sage ich euch: / Solange sie singen: Noch ist Polen / Nicht verloren, ist es das, aber das werden / Sie nie begreifen, eben, weil sie Polen sind.


Fortsetzung des Gespräches mit Anna Walentynowicz:

- Haben Sie, liebe Anna, den Zeitungstext gelesen, den ich Ihnen gab?

- Ich habe es versucht.

- Und?

- Ich habe nicht begriffen, was ich da las.

- Aber wieso nicht? Es ist doch alles ziemlich klar und verstehbar geschrieben?

- Mag sein, aber das, was beschrieben wird, ist ein Chaos.

- Aber es entspricht doch ziemlich genau der Lage, in der sich Polen damals befand. Der Westen wollte seins und die Sowjets wollten ihrs. Und zwischen ihnen Polen, das auch seins wollte und das meiste davon nur kriegen konnte, wenn es sich mit den Russen verständigte. Und so uneins die Polen wiederum untereinander waren, die meisten, also die überwiegende Mehrheit des Volkes, wollte endlich in Frieden leben.

- Ja, das wollte ich auch. Und das konnten wir auch trotz vieler und hundsgemeiner Schwierigkeiten. Fortschritte und Rückschläge, alles dicht aufeinander und beieinander. Wäre ich ohne die Kommune Kranführerin geworden? Aber warum wollten sie mich dann loswerden? Weil ich mein Recht, das Recht der Frauen einklagte?

- Paulus: Du als allein erziehende Mutter, verständlich!

- Anna: Nicht nur deshalb: Gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit, war das ein Verbrechen? War das, was wir als Solidarnosc forderten, nicht unser Recht?

(Die beiden Apostel gucken sich an, schließlich antwortet Petrus.)

- Gewiss, liebe Anna, war es das.

(Paulus fährt fort.)

- Aber es war auch eine große Narretei. Ich meine, was ihr mit den 21 Forderungen von der Regierung verlangt habt. Zumindest die von 8 bis 21. Ihr konntet doch nicht von den Bonzen mehr verlangen, als ihr zu erarbeiten in der Lage wart. Kredite aus dem Westen - wer hat euch denn diesen Floh ins Ohr gesetzt? Habt ihr geglaubt, die würden euch Geld pumpen, ohne euch eines Tages zur Kasse zu bitten?

- Anna: Aber wir haben doch gearbeitet und nicht schlecht, die meisten von uns wohl!

- Paulus: Ja, aber wenn ihr dennoch Fleisch und Getreide importieren musstet, damit in Polen keine Hungersnot ausbrach - glaubt ihr, das konnte gut gehen? Polen ein Land der Bauern!

- Anna: Ja, das habe ich mich auch gefragt. Warum gab es bei uns keine Genossenschaften? Versucht haben sie es, aber der Widerstand dagegen war zu groß. Und leider haben unsere Kirchenleute da kräftig mitgemischt. Der freie polnische Bauer war doch so etwas wie eine heilige Kuh in unserem Land. Ja, frei waren sie, aber produktiv waren sie nicht. Und als dann schließlich die EU kam, da war es sowieso aus mit dem freien polnischen Bauern. Da ist der freie polnische Bauer auf die Straße gegangen und hat die Minister verdroschen. Und, was hat es ihnen gebracht? Irgendwo habe ich jetzt gelesen, dass hier bei uns in Polen 25 Bauern gerade mal das erwirtschafteten, was beispielsweise in Dänemark drei Leute produzierten, die in der Landwirtschaft tätig waren. Ja, die hatten aber auch einen anderen Maschinenpark.

(Plötzlich ist Kardinal Wyszyiiskis Stimme zu vernehmen:)

- Mag sein, dass auch wir, die Priester, Bischöfe und auch ich, als Kardinal, Sünden auf uns geladen haben im Streit um den unbedingten Erhalt des freien polnischen Bauern, aber als ich euch später, meine liebe Anna, dich und deine streikenden Leute zur Vernunft rief, was habt ihr da geantwortet?

- Paulus: Möchten Eure Eminenz liebenswürdigerweise noch einmal die Worte wiederholen, welche ja selbst die Regierung im Fernsehen übertragen ließ?

- Kardinal: Ich kritisierte zuerst natürlich die Regierung, aber dann sprach ich mich deutlich gegen die Streikwelle aus. Die berufliche Arbeit sei nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein gesellschaftliches, ein moralisches und geistiges Element.

- Petrus (heimlich zu Paulus): Der redete damals schon wie der polnische Papst später in seiner letzten Enzyklika!

- Kardinal: Arbeit, nicht aber Untätigkeit, forme den Menschen geistig. Nur verbesserte Arbeit bringe die Wirtschaft voran. Habe ich das damals gesagt, liebe Anna?

- Anna: Ich bekenne in Demut meine Sünden

- Kardinal: Und weiter habe ich gepredigt: Wenn ich gefragt werde, was tun, ...

- Petrus (heimlich zu Paulus): Jetzt zitiert er sogar den Gottesleugner Lenin!

- Kardinal: ... so antworte ich: Erstens, ehrlicher arbeiten, zweitens: Zerstörungen vermeiden und sparen; drittens weniger borgen und weniger importieren, viertens, die Menschen besser versorgen und ihre täglichen Bedürfnisse befriedigen. Und - wie war eure Antwort? Weggehört habt ihr, diese Rede hat nicht in euren Kram gepasst - so war es doch!

(Der Kardinal verschwindet, Petrus ergreift das Wort.)

- Das war die Stimme von Kardinal Wyszynski, der doch bestimmt kein Freund der Kommune war!

- Paulus: Und dann von der Regierung verlangen, dass sie die Preise herab- und eure Löhne heraufsetzt! Also, ihr wolltet etwas, was kerne Regierung fertig bringt: Ihr wolltet heute schon so leben, wie ihr es euch morgen vielleicht hättet erlauben können.

- Petrus: Und all das,was ihr schon hattet an Vorteilen, die euch das Leben trotz allem in eurem Scheißsozialismus gewährte - Kultur, Religion, Bildung, Gesundheit, Soziales -, das saht ihr für ein Nichts an. Anna, wir hätten dich für klüger gehalten!

(Anna ist betroffen. Jetzt sieht sie so aus wie alle guten Weiber, die mit ihrem Wollen das Richtige meinten und mit ihrem Tun es auch zu einem Gutteil in die Welt gebracht haben, wie ihre Kinder und damit den Glauben an die Machbarkeit der Zukunft.)

- Also, trage ich die Schuld am Untergang der Volksrepublik? Und was ist mit der Partei und der Regierung? Die können ihre Hände in Unschuld waschen, ja?

- Petrus: Nein, die tragen die Hauptschuld. Aber ihr seid auch nicht frei zu sprechen. Ihr habt euch von diesen Rattenfängern einfangen lassen. Habt geglaubt, sie werden euch geben, was euch die Kommune schuldig blieb. In den Arsch getreten haben sie euch und das zu Recht! Und solche wie du haben das auch bald zu spüren bekommen. Und wart enttäuscht, verbittert, verbissen in euren Starrsinn!

(Anna schweigt und guckt die beiden Apostel an, so, als könnte sie nicht glauben, dass ausgerechnet die ihr so die Leviten lesen könnten. Dann setzt sie zur Antwort an:)

- Unter den Zeitungstexten, die ihr mir zum Lesen gegeben habt, befand sich auch einer, der mich sehr nachdenklich gemacht hat, geschrieben von einer Frau, einer studierten, aber die hab ich verstanden. Ich lese Euch einmal vor, was die sagt. Oder habt ihr etwas dagegen?

- Nein, nein, sagte Petrus.

- Lies nur, sagte Paulus.

(Und Anna las:)
"Der linke Mensch, verbunden mit der Kultur seines Volkes, ist vor allem Teil der Menschheit. Derartige Haltung ist ein Damm gegen den Nationalismus und eine Verpflichtung, sich für dauerhaften Frieden einzusetzen. Der linke Mensch hat für die Trennung der Religion vom Staatsrecht, von der Politik und von der Wissenschaft zu sein. Unabhängig davon, wie er es persönlich mit dem Herrn hält, sollte er Befürworter einer weltanschaulichen Neutralität des Staates sein."

- Guck an, und das sagt eine in der Wolle gefärbte Katholikin wie du!

- Nein, das sagt diese Maria Szyszkorska. die acht Jahre jünger ist, als ich es geworden bin. Aber das ist eine ganz schön verrückte Madam, die hat nämlich außer Rechtswissenschaft auch an der Philosophischen Abteilung der Akademie für Katholische Theologie studiert. Seit 1988 ist sie Professorin, und sie hat sich auch als Senatorin für die gleichgeschlechtliche Partnerschaft eingesetzt, und sie wäre um ein Haar vielleicht sogar Präsidentin geworden, aber die Zahl der gesammelten Unterschriften reichte nicht aus, und so ist nicht sie, die Kluge, sondern dieser eigensinnige Dickschädel mit seinen blöden Vorurteilen in das Amt gekommen. Lieber Gott, gib ihm die ewige Ruhe und vergib ihm seine schrecklichen Sünden, wie er auch mir, uns allen vergeben mag. Aber vielleicht könnt ihr beiden, also du, Petrus, und du, Paulus, ein gutes Wort für mich einlegen. Warum bin ich blöde Kuh mit in das Flugzeug gestiegen? Bestimmt war es der Hochmut, der mich getrieben hat. Die bekannte Kranführerin, ja, Pustekuchen, meine Herren! Warum bin ich nicht mit dem Zug gefahren? Dann säße ich jetzt nicht vor euch und würde nicht "den linken Menschen" in Polen loben, sondern stünde vielleicht im Wawel am Sarge dieses vernunftlosen Präsidenten. ... Ach, ich will nicht weiter hadern. Gottes Wille geschehe, und er geschah. Aber ihr habt mich unterbrochen, ich will zu Ende bringen, was diese Maria über den linken Menschen noch gesagt hat: "Nicht nur das private, sondern auch das staatliche und genossenschaftliche Eigentum ist ihm wichtig. Er ist gegen jegliche Diskriminierung, für gleiche Rechte der Minderheiten. Der linke Mensch muss Systemlösungen gegen Ungleichheit und Armut wollen, ein brüderliches Verhältnis zu jedem lebenden Wesen und zur Natur haben. Der linke Mensch schaut nach vorne, hegt keine gesellschaftlichen ..." Jetzt folgt ein Wort, was ich nicht verstehe, aber ihr werdet damit schon klar kommen.

- Zeig mal her, Anna! Also der linke Mensch hegt keine gesellschaftlichen Ressentiments; also keine Vorurteile...

- Jawohl, die soll man auch nicht haben, niemals! Aber was auch wichtig ist: "Der linke Mensch", schreibt die Maria, "soll sich mehr dem Osten, nicht zu sehr dem Westen zuwenden, sich von der imperialistischen Politik der USA ausgehender Gefahren bewusst sein und die Europäische Union, wie sie sich jetzt darstellt und weiter gestalten will, als eine übernationale kapitalistische Korporation verstehen." Und jetzt, meine lieben Apostel, hört drauf: "Der linke Mensch hat klug zu sein und sich anderen gegenüber nicht wie ein Birkhahn zu verhalten."

- Was meint sie damit? fragte Petrus.

- Keine Ahnung, sagte Paulus.

- Na, ihr seid mir ja zwei gelehrte Kerle! Wisst alles über unseren Herrn Jesus Christus, über die christlichen Gemeinden und so weiter. Du, Petrus, hast es doch auch mal mit dem Hahn zu tun bekommen. Erinnerst du dich? Eh er dreimal kräht ... Also, die Sache mit dem Birkhahn ist die: In der Balz plustern sie sich auf, springen in die Höhe und tragen Scheinkämpfe aus. Genau wie diese Politiker, die von damals, die von heute und überhaupt!

Hommage auf Anna, angefertigt von dem Verfasser des Berichts:

Anna, / Du bist die einzige, mit der ich sprechen will. / Warum, um alles in der Welt, bist Du in das Flugzeug gestiegen? / Jetzt bist Du zerstückelt und verbrannt mit Leuten, / Mit denen Du doch nicht in einer Partei warst. / In welcher Du warst, weiß ich ja, aber ich sage Dir: / Die gibt es nicht, jedenfalls nicht wirklich. / Du warst in einer Partei der rechtgläubigen Proletarier, / Der anständig glaubenden Katholiken, / In der Partei der Leute, die in Polen! Menschen sein wollten. Das aber kann man nur, / Wenn man mit Leidenschaft und mit Klarheit! Die Partei der Kommunisten ergreift. / Das sind keine Engel, das sind Teufel, / Aber richtige und nicht solche wie Euer / Staatspräsident, mit dem Du plötzlich / In einem Boot saßest. Ach, Anna, warum! Musstest Du nach Katyn? Vielleicht / Musstest Du dorthin, um den Irrtum / Oder die Liebe Deines Lebens zu büßen. / Ach, Anna, du Sture, ich umarme Dich! / Wenn ich einen polnischen Menschen liebe, / Dann Dich, Du in die Wahrheit so / Wahnsinnig verliebte, meine Anna, / Ich küsse Dich in der Gestalt / Deines Leichnams / Wer, wenn nicht Du, / Bist mein Polen?


(Unter Verwendung von Texten aus den Zeitungen "junge Welt" und "Neues Deutschland".)


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Armin Stolper
- Bergungsarbeiten in den Trümmern der am 10. April 2010 bei Smolensk abgestürzten polnischen Regierungsmaschine
- Traueranzeige für Anna Walentynowicz

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Ehrlicher und verlogener Umgang mit Geschichte

Siegfried Mechler

Vom Nutzen des Gedenkens

Rede zum Gedenken an Ernst Thälmann in Ziegenhals am 22. April 2012

Das Gedenken an Ernst Thälmann hat uns nach Ziegenhals geführt, an den Ort, der in übereinstimmenden Handlungen von Treuhandliegenschaftsgesellschaft, Landes- und Kommunalpolitikern im Interesse eines Privatmannes als Gedenkstätte an antifaschistischen Widerstand geschleift wurde. Mit der Beseitigung der antifaschistischen Gedenkstätte in Ziegenhals wurde und wird neofaschistischem Tun in diesem Staate Vorschub geleistet. Dem setzen wir uns zur Wehr!

Wie ihr wisst, hat hier kurz nach der Machtübergabe an die Hitlerpartei, schon unter den Bedingungen der Illegalität, die letzte Tagung des ZK der KPD unter der Leitung des Vorsitzenden Ernst Thälmann stattgefunden; sie rief zum gemeinsamen Kampf aller antifaschistischen Kräfte auf. Gemeinsamer - auch Partei übergreifender - Widerstand entwickelte sich. Doch wie sehr dieser Aufruf auch im Interesse der Demokratie, des Humanismus und der Lebensperspektive des deutschen Volkes und anderer Völker begründet war, - der Widerstand war zu schwach und das Unheil entwickelte sich.

Nur drei Jahre danach eilte ein Teil der in Deutschland verfolgten und drangsalierten Antifaschisten nach Spanien, um dort die Volksfrontregierung gegen die angreifenden Francofaschisten zu verteidigen, damit nach Italien und Deutschland nicht noch ein drittes europäisches Land von Faschisten regiert wird. Ihr "No pasaran!" in den internationalen Brigaden war ein wahrhafter Ausdruck des kämpferischen Internationalismus. Fritz Teppich, der bisher letzte noch lebende deutsche Teilnehmer dieses Kampfes, ist erst vor wenigen Wochen gestorben. Wie bekannt, erhielten in Spanien beide kämpfenden Seiten internationale Unterstützung, und letztlich siegte der Francofaschismus. Damit waren die Kräfte für den zweiten Weltkrieg aufgestellt und Thälmanns warnende Worte im Wahlkampf zum deutschen Reichstag - "Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler; wer Hitler wählt, wählt den Krieg" - wurden bald zur bitteren Wahrheit. Diese Wahrheit bezahlten mehr als 50 Millionen Menschen mit ihrem Leben - und Europa und andere Teile des Erdballs lagen verwüstet am Boden. Weil diese Wahrheit von Kommunisten erkannt und ausgesprochen wurde, war sie von großen Teilen des deutschen Volkes nicht erhört worden.

Heute soll die Erinnerung daran ausgelöscht werden; an Gedenkorten wie in Hohen Neuendorf, im Berliner Prenzlauer Berg und andernorts wird ebenfalls darüber diskutiert. Wenn ich diese Wahrheit hier ausspreche, dann nicht aus Gründen der Rechthaberei, sondern weil sie immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden muss; sie wird heute zu oft verschwiegen und verfälscht. Und es ist noch wichtiger, an eine schlimmere Erkenntnis zu erinnern, die Brecht in seinem "Arturo Ui" formulierte und die heute wieder aktuell ist: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch". Jeder von euch ist gebildet genug, um diese Gedanken mit eigenem Erleben und Wissen fortzusetzen. Wir sind heute wieder im antifaschistischen Kampf um die Köpfe der Bürger, um den Erhalt von Straßennamen, von Gedenksteinen und bronzenen Kunstwerken; wir wenden uns auf der Straße gegen neofaschistische Aufzüge, gegen Hass und Fremdenfeindlichkeit.

Welche aufrüttelnde Wirkung ein Literaturtext zur rechten Zeit am rechten Ort haben kann, beweisen uns die aktuellen Diskussionen um Günther Grass. Ich halte es heute mit den "Teppichwebern von Kujan-Bulak", einem Gedicht von Bertolt Brecht aus dem Jahre 1927. Sicher ist dieses Gedicht den meisten von euch bekannt; es ist aber immer wieder gut zu hören, auch wenn es hier um Lenin, einen anderen Vorsitzenden einer kommunistischen Partei geht - und weil es sich hier um Kunst handelt, die zu unserem Leben gehört:

"Oftmals wurde geehrt und ausgiebig / Der Genosse Lenin. Büsten gibt es und Standbilder. / Städte wurden nach ihm benannt und Kinder. / Reden werden gehalten in vielerlei Sprachen, / Versammlungen gibt es und Demonstrationen / Von Shanghai bis Chikago, Lenin zu Ehren. / So aber ehrten ihn die Teppichweber von Kujan-Bulak, / Kleiner Ortschaft im südlichen Turkestan: / Zwanzig Teppichweber stehen dort abends / Fiebergeschüttelt auf von dem ärmlichen Webstuhl. / Fieber geht um: die Bahnstation / Ist erfüllt von dem Summen der Stechmücken dicker Wolke, / Die sich erhebt / aus dem Sumpf hinter dem alten Kamelfriedhof. / Aber die Eisenbahn, die / Alle zwei Wochen Wasser und Rauch bringt, bringt / Eines Tages die Nachricht auch, / Dass der Tag der Ehrung des Genossen Lenin bevorsteht. / Und es beschließen die Leute von Kujan-Bulak, / Arme Leute, Teppichweber, / Dass dem Genossen Lenin auch in ihrer Ortschaft / Aufgestellt werde die gipserne Büste. / Als nun aber das Geld gesammelt wird für die Büste / Stehen sie alle geschüttelt vom Fieber und zahlen / Ihre mühsam erworbenen Kopeken mit fliegenden Händen. / Und der Rotarmist Stepa Gamalew, der / Sorgsam Zählende und genau Schauende, / Sieht die Bereitschaft, Lenin zu ehren, und freut sich. / Aber er sieht auch die unsicheren Hände. / Und er macht plötzlich den Vorschlag, / Mit dem Geld für die Büste Petroleum zu kaufen und! Es auf den Sumpf zu gießen hinter dem Kamelfriedhof, / Von dem her die Stechmücken kommen, welche / Das Fieber erzeugen. / So also das Fieber zu bekämpfen in Kujan-Bulak, und zwar / Zu Ehren des gestorbenen, aber / Nicht zu vergessenden / Genossen Lenin. / Sie beschlossen es. An dem Tage der Ehrung trugen sie / Ihre zerbeulten Eimer, gefüllt mit dem schwarzen Petroleum, / Einer hinter dem andern hinaus / Und begossen den Sumpf damit. / So nützten sie sich, indem sie Lenin ehrten, und / Ehrten ihn, indem sie sich nützten, und hatten ihn / Also verstanden. Wir haben gehört, wie die Leute von Kujan-Bulak / Lenin ehrten. Als nun am Abend / Das Petroleum gekauft und ausgegossen über dem Sumpf war, / Stand ein Mann auf in der Versammlung, und der verlangte, / Dass eine Tafel angebracht würde an der Bahnstation / Mit dem Bericht dieses Vorgangs, enthaltend / Auch genau den geänderten Plan und den Eintausch der / Leninbüste gegen die fiebervernichtende Tonne Petroleum. / Und dies alles zu Ehren Lenins.! Und sie machten auch das noch / Und setzten die Tafel."

Soweit der Bericht über die Ehrung Lenins durch die Teppichweber von Kujan-Bulak. Und ich frage Euch nun, haben wir nicht allen Grund, zu den Thälmann Ehrenden jene zu zählen, die sich und der Gesellschaft nützen, indem sie sich mutig und auch immer wieder, auch bei klirrender Kälte, den aufmarschierenden Neonazis - ob in Dresden, Chemnitz, Cottbus, Berlin oder anderswo in Deutschland - entgegenstemmen? Ich denke, diesen Grund haben wir. Unabhängig davon, ob der Einzelne dabei an Thälmann denkt oder nicht. Sie verwirklichen den Schwur der Buchenwalder vom Frühling 1945: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus! Dieser Schwur entspricht ganz dem Denken Thälmanns. Er konnte zwar seine Hand und seine Stimme nicht mehr zum Schwur erheben; die Nazis hatten ihn im August 1944 bereits ermordet. Weil die Einlösung dieses Vermächtnisses die Aktionseinheit aller friedliebenden Kräfte erfordert, für die auch letztlich Thälmann eintrat, litt und starb, sei hier an die Mahnung eines anderen KZ-Häftlings, inhaftiert in Sachsenhausen, erinnert: Martin Niemöller war es, der selbstkritisch zu der Erkenntins gegen die Gleichgültigkeit kam und sagte: "Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; / ich war ja kein Kommunist. / Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; / ich war ja kein Sozialdemokrat. / Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich nicht protestiert; / ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte."

Diese Mahnungen von Thälmann, Niemöller und anderen zur Aktionseinheit im Kampf gegen den aufkeimenden Neofaschismus und derer, die ihn gewähren lassen, ist für uns der Nutzen, den wir aus ihrem Gedenken ziehen.

Setzen wir unseren Kampf für eine Welt ohne Kapital,Ausbeutung, Krieg, Rassenhass und Fremdenfeindlichkeit in einem breiten Bündnis mit allen friedliebenden Kräften fort. Der Sieg wird unser sein. No pasaran!


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Blick ins Innere der Ernst-Thälmann-Gedenkstätte Ziegenhals. Foto von 1961
- Abriss der Ernst-Thälmann-Gedenkstätte Ziegenhals. Foto vom 4. Mai 2010
- Willi Sitte, Ernst Thälmann, 1975. Öl auf Hartfaser, 155 x 115 cm

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Fakten und Meinungen

Wiljo Heinen

Kleine "Siege der Vernunft"

Vor sechs Jahren veröffentlichte der "Verlag Wiljo Heinen" sein erstes Buch; knapp 50 Titel sind es bis heute geworden. Ein kleiner Bücherreigen aufklärerischer Literatur. Warum macht einer so etwas: einen Verlag gründen und Bücher ans Licht der Welt bringen? Ein Blick auf das Verlagsprogramm lässt ahnen, dass es kaum ökonomisches Interesse sein kann. Es ist die Notwendigkeit, im "Kampf der Ideen" Kräfte zu bündeln, die einen Physiker und Volkswirt bewog, den Platz eines Verlegers einzunehmen.

Das "Ende der Geschichte"?

Vor 20 Jahren machte ein Buch eines Mitarbeiters der US-Regierung Furore: 1992 erklärte Francis Fukuyama in "Das Ende der Geschichte", dass nach dem Abbruch der sozialistischen Entwicklung die Schlussphase der "politischen Systementwicklung" erreicht sei: das, was er "liberale Demokratie" nennt - der Kapitalismus - sei Ziel der Menschheitsentwicklung. Es ist nicht zu übersehen, welchen Einfluss dieser Text als ideologisches Rüstzeug bis ins links-bürgerliche Feuilleton, und auch darüber hinaus, ausgeübt hat. Das "Ende der Geschichte" ist die philosophisch verkleidete Predigt von der Unveränderbarkeit der Welt. Doch die "gesetzmäßige Entwicklung der Geschichte", die auch Fukuyama bemühte, verwirklicht sich immer im Handeln der Menschen. Da erst die Erkenntnis, dass die Welt veränderbar ist, Handlungsmöglichkeiten schafft, ist der "Kampf der Ideen" nicht zu unterschätzen,wenn es um die Veränderung der Gesellschaft geht.

Doch die Wahrheit braucht Hilfe bei ihrer Verbreitung. "Es setzt sich nur so viel Wahrheit durch, als wir durchsetzen; der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein", lässt Brecht den Galilei sagen. - Auch wenn Galilei scheiterte, war sein Einsatz für die Wahrheit nicht vergebens.

"Pläne."

So erklärt sich, was einen "Vernünftigen" an den Platz eines Verlegers bringen kann: der Wunsch, die Wahrheit durchzusetzen. Doch was leistet der Verlag Wiljo Heinen im "Kampf der Ideen"? Auch wenn zunächst die "technischen Dienstleistungen" ins Auge springen (Lektorat, Korrektur, technische Umsetzung, Vermarktung), die entscheidende Aufgabe eines Verlages ist die Bündelung von Ideen: ein "Verlagsprofil", das aus Entscheidungen der Sortierung - auch Aus-Sortierung - entsteht, dem Zusammensetzen von Titeln zu thematischen Schwerpunkten. Das Verlagsprofil verortet einen Verlag im Raum der Ideen: Leser finden eine Orientierung, einen ersten Anhalt, was sie in einem neu entdeckten Buch erwarten wird. Autoren finden ein Umfeld, in dem ihre Ideen, gemeinsam mit anderen verwoben, eine größere Sicht vermitteln.

In diesem Sinne betrieben leistet der Verlag einen substanziellen Beitrag im "Kampf der Ideen": Einzelne Texte werden Teil einer Gesamtheit, deren Vielfältigkeit den Blick auf den einzelnen Text ändern kann - oder auch erst lenkt. Das Verlagsprogramm bietet den Blick auf die Gemeinsamkeit der Ideen, aber auch auf die unterschiedlichen Perspektiven der Autorinnen und Autoren innerhalb dieser Gemeinsamkeit. In seiner Beständigkeit soll es gleichzeitig Neugier wecken. Kurz: Abseits von technischen Dienstleistungen, die sich auch einzeln "einkaufen" lassen, ist es die wohlüberlegte "Bündelung" von Publikationen, mit denen der Verlag eine Qualität hinzufügt.

Unser aktuelles Verlagsprogramm steht unter dem Motto "Pläne.". Bücher über Kuba, über China, Deutschland und Vietnam, Portugal im April, Bücher, die in die "Erinnerungsschlacht" um das Gedächtnis an die DDR eingreifen, Bücher zur aktuellen Situation und zur Geschichte der BRD finden sich. Biografisches zu Thälmann, Guevara, Modotti, Literatur aus der DDR ist im Programm, ebenso wie eine marxistische Analyse der Ideen Trotzkis. Allen Büchern ist gemeinsam, dass sie Pläne zum Inhalt haben, wie die Welt zum Besseren geändert werden kann. Pläne, die ausgeführt wurden, solche, die in diesem Augenblick umgesetzt werden, Pläne, die geschmiedet werden. Sie setzen der Predigt vom "Ende der Geschichte" die Vernunft der Veränderbarkeit der Welt entgegen.

West, Ost, Links

Bleibt zu fragen, was den "Verlag Wiljo Heinen" auszeichnet? "Besondere Würze" verleiht die Kombination von (überwiegend) aus der DDR stammenden Autorinnen und Autoren mit dem in der Alt-BRD aufgewachsenen Verleger. Ich lernte die DDR erst wirklich kennen, als sie nicht mehr existierte. Diese Kombination führt zu spannenden Aufgaben und Ergebnissen. Immer noch verläuft in vielen Köpfen eine Trennlinie zwischen "West" und "Ost" und zu leicht verschwimmt dann der Blick auf die Linie zwischen Oben und Unten. Sicher sind Unterschiede in der Mentalität der Menschen in Ost- und West-Deutschland regelmäßig augenscheinlich (und erklärbar). Dennoch, oder gerade deswegen: Auch wenn Publikationen guten Absatz finden, die "Raubzüge der Wessis" anprangern - objektiv schaden sie im "Kampf der Ideen", verbrämen sie ordinäre Raubzüge des Kapitals. Wir gehen einen anderen Weg. Die einzigartige Ost-West-Würze kann erstaunliche Ergebnisse bringen. Die Autorinnen und Autoren vermitteln dem Verleger aus dem Westen neue Einsichten auch in das Wesen der DDR. Nachdem die einmal dessen Kopf durchlaufen haben, liefern sie, dem Autor gespiegelt, neue Ansätze für seine Arbeit Vieles ließe sich über dieses fruchtbare Zusammenspiel schreiben.

Ein Gedankengang soll noch angerissen werden: Es ist nicht zu übersehen, dass sich in DDR und BRD eine unterschiedliche Kultur entwickelt hat. Heute wird in beiden Teilen der Neu-BRD die gleiche Sprache gesprochen, doch die Sätze haben unterschiedliche Bedeutung - in jeder Äußerung ist die Erfahrungswelt des Äußernden der Hintergrund, vor dem Worte ihre Bedeutung erlangen. Ganz bewusst bewegt sich der Verlag Wiljo Heinen auch in diesem Spannungsfeld, will so genannte "Ost-Themen" (die solches nur scheinbar sind) auch zu "West-Bürgern" transportieren.

Schwierigkeiten mit der Wahrheit

Bevor die Vernunft in den Köpfen der Leser wirken kann, muss sie die Köpfe erreichen. Hier und heute haben wir in der Realität einer Marktwirtschaft zu arbeiten, und in aller Profanität ist der "Kampf der Ideen" zunächst auch eine Konkurrenz um die Geldbörse der Leser. Hier erwarten uns zwangsläufig "Schwierigkeiten mit der Wahrheit", genauer: ihrer Verbreitung. Wären unsere Bücher "Mainstream", dann würden sie zu Zehntausenden gekauft. Doch die Predigt von der Unveränderlichkeit der Gesellschaft ist tief in die Gehirne der Menschen gedrungen, sie ist "Mainstream". Das begründet die Notwendigkeit, Aufklärung zu verbreiten, und macht gleichzeitig Schwierigkeiten bei ihrer Verbreitung unausweichlich, denn die Ökonomie lässt sich nur schwer überlisten.

Jedes veröffentlichte Buch ist für uns ein kleiner "Sieg der Vernunft" gegen die Regeln der herrschenden Ökonomie. Wir arbeiten mit großer Sorgfalt und wenig Personal - die Möglichkeit des Scheiterns immer vor Augen, doch Brechts Galilei immer im Kopf und Solidarität auf unserer Seite.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Wiljo Heinen an seinem Büchertisch während der letzten Rosa-Luxemburg-Konferenz

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Fakten und Meinungen

Fritz Welsch

Johan Galtungs Beitrag zur Friedenstheorie

Der 1930 geborene Norweger Johan Galtung wurde für seine theoretischen Leistungen in der Friedensforschung und seine praktische Tätigkeit für eine friedliche Welt mit dem Alternativen Friedensnobelpreis und dem Ghandi-Preis ausgezeichnet. In den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts entwickelte er als Weiterführung der traditionellen, pazifistisch geprägten Friedensforschung gemeinsam mit Krippendorf, Senghaas, Narr und einigen weiteren Friedenskämpfern die "Kritische Friedensforschung".

Diese Forscher setzten an mit der Kritik am bestehenden Abschreckungssystem und der "organisierten Friedlosigkeit" und hoben die zentrale Bedeutung sozio-ökonomischer Konfliktfaktoren hervor. Sie betonten die Bedeutung gewaltloser Konfliktlösung, lehnten den militanten Antikommunismus als Friedensgefährdung ab und wandten sich gegen alle Formen imperialistischer Gewaltpolitik. Eine zentrale Rolle spielte in Theorie und Praxis die Unterscheidung von personeller und struktureller Gewalt sowie positivem und negativem Frieden. Später entwickelte vor allem Galtung eine Vielzahl von Maßnahmen, wie Konflikte gewaltfrei zu lösen sind und stellte dies in der Transcent-Methode dar.

Galtung bezeichnete den Typ der Gewalt, bei dem es einen Akteur gibt, als personale oder direkte Gewalt und die Gewalt ohne Akteur als strukturelle oder indirekte Gewalt. Positiver Frieden ist erst dann erreicht, wenn nicht nur die Waffen schweigen, sondern auch die strukturelle Gewalt überwunden ist. Dem Wesen nach besteht strukturelle Gewalt in sozialer Ungerechtigkeit. Es ist strukturelle Gewalt, wenn jährlich Millionen Menschen verhungern, obwohl die Erde genügend Möglichkeiten bietet, auch eine verdoppelte Weltbevölkerung ausreichend zu ernähren.

Senghaas hat einmal geschrieben, dass durch strukturelle Gewalt jährlich mehr Menschen sterben als durch direkte Gewalt im Zweiten Weltkrieg. Es ist strukturelle Gewalt, wenn in der "Dritten Welt" Kinder an Krankheiten sterben, weil Medikamente gegen diese Krankheiten in den Lagern der Pharmakonzerne lagern, aber nicht ausgeliefert werden, weil sie zu wenig Profit bringen. Es ist schließlich strukturelle Gewalt, wenn den Kleinbauern ihre Lebensgrundlage genommen wird, weil die Agrarkonzerne die Landwirtschaft für die Großproduktion umorganisieren. Galtungs Schlussfolgerung: Der Kapitalismus hat mancherlei geleistet. Das Wohl der Menschen gehörte nie dazu. Nach wie vor sind die Militärausgaben das größte Hindernis, den Problemen der sozialen Gerechtigkeit nahe zu kommen.

Aktuell: Im Jahre 2011 betrugen die weltweiten Militärausgaben 1,74 Billionen Dollar, davon die der USA 711 Milliarden. Nach Angaben der Welternährungsorganisation FAO würden 35 Milliarden Dollar ausreichen, um den Hunger in der Welt zu beenden. Angesichts dieser Tatsachen ist die Heuchelei zu erkennen, wenn zu jährlichen Beratungen der Großmächte des Westens "Hilfen" versprochen werden, ohne an den Hauptursachen zu rühren. Und dies wiederum wird verschleiert durch das, was Galtung kulturelle Gewalt nennt, nämlich das Wirken der Medien und der gesamten Kultur, personelle wie strukturelle Gewalt zu verschleiern und das Aufdecken der wirklichen Ursachen von Gewalt und Krieg zu verhindern.

Auf eines dieser Problemfelder hat sich Galtung besonders intensiv orientiert, nämlich auf die Konflikte, die sich daraus ergeben, dass von 180 Ländern nur in 20 eine Einheit von Staatsvolk und Nationalität existiert, da aus traditionellen Entwicklungen heraus der Wunsch von Nationalitäten besteht, von Menschen gleicher Nationalität regiert zu werden. Galtung macht das an zahlreichen Beispielen klar, verweist auch auf die aktuelle Situation in Spanien, Frankreich, im ehemaligen Jugoslawien, vor allem aber auf Länder in der "Dritten Welt" - aktuell auf Syrien, wo wir ja kaum erfahren, dass es unterschiedliche Nationalitäten sind, die im Kampf stehen.

In 40 Fällen wurde Galtung zur Hilfe bei Konfliktlösungen eingeladen - meist von Regierungsvertretern - und in einigen Fällen auch mit Erfolgen. Dabei unterstreicht Galtung: "Konflikte sind kein Spiel, das man verliert oder gewinnt, sondern sie bestehen oft in einem Kampf ums Überleben, um Wohlergehen, Freiheit, Identität, das heißt um die Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse." (J. Galtung: Konflikte und Konfliktlösungen, Kai Homilius Verlag 2007, S. 9) Galtung meint, je weniger strukturelle Gewalt es gibt und je weniger kulturelle Gewalt diese legitimiert, umso mehr Frieden gibt es. Und aktuell formuliert er seine Meinung gegen die jüngsten NATO-Aktivitäten überall in der Welt: "Wenn statt der neumodischen und höchst blutigen NATO-Einsätze die klassische internationale Friedenssicherung gemäß Kapitel 5 der UN-Charta wieder bemüht werden könnte, wäre einem anspruchsvollen Frieden konkret geholfen." ("junge Welt" vom 13. April 2012)

Die Friedensforschung in der DDR hat sich der "kritischen Friedensforschung" teils zustimmend, teils kritisch gegenüber verhalten. Wir würdigten die neuen theoretischen Ansätze und auch die konsequente Haltung im persönlichen Leben. Galtung ertrug als Kriegsdienstverweigerer sechs Monate Gefängnishaft und hatte als konsequenter Friedenskämpfer Angriffe und Verleumdungen zu ertragen. Ein hoher Beamter des Europarates führte z. B. aus: "Ein Herr Galtung schlug vor, dass wir uns mit den Kommunisten an einen Tisch setzen sollten, um europäische Probleme zu besprechen. Ich komme nicht umhin zu sagen, dass jeder, der so etwas sagt, selbst Kommunist ist." (J. Galtung: s. o., S. 163) Unterdessen hat die Geschichte gezeigt, wer Recht hat.

Unsere Einwände betrafen letztlich die Position eines Ausgleichs bestehender Widersprüche. Obgleich Galtung Marxens Leistungen nicht selten würdigte, blieb ihm letztlich fremd, dass Marx Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte als materielle gesellschaftliche Verhältnisse aufgedeckt hat, deren Wechselverhältnisse objektiv bedingt sind und deshalb auch materiell gelöst werden müssen.

Da Galtung idealistische Positionen einnimmt, appelliert er z. B. an Kapitalisten, die Arbeiter etwas weniger auszubeuten, und an die Arbeiter, sich mit ihren Lohnforderungen zurückzuhalten. Da er sowohl den Kapitalismus wie den Sozialismus als unvollkommen ansieht, empfiehlt er einen Gesellschaftstyp "sozialdemokratischer Prägung", ohne dies freilich zu präzisieren. Galtung weiß natürlich, dass alle sozialdemokratischen Ansätze zur Festigung der "bürgerlichen Diktatur" (ein Ausdruck Galtungs) führten. Der erste Ansatz, darüber hinauszugehen, wurde von der Sozialdemokratie Chiles unter Allende versucht. Mit Hilfe der amerikanischen Gemeindienste wurde dieser Versuch blutig niedergeschlagen. Der Versuch eines "dritten Weges" wird auch in Zukunft scheitern. Nichtsdestoweniger steht aktuell die Existenz der Menschheit auf dem Spiel und der Beitrag der Friedensforscher unterschiedlichster Weltanschauungen ist unverzichtbar, um dieser unmittelbaren Gefährdung entgegenzutreten.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Johan Galtung

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Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Maria und Peter Michel

Im Atelier

Dass die Zeit der überkommenen Gattungen der bildenden Künste vorbei sei, wird seit Jahrzehnten immer wieder behauptet und scheinbar durch solche Monsterschauen wie die documenta bewiesen. In der Kunstgeschichte hatte sich seit der Renaissance eine Art Rangordnung darstellungswürdiger Bildstoffe entwickelt: u. a. das Altar- und Historienbild, die Landschaft, die Architekturansicht, das Stillleben, das Genrebild und das Porträt. Im 20. Jahrhundert wurden diese Gattungsbezeichnungen im Zusammenhang mit der modernen Kunstentwicklung erweitert. Man spricht z. B. seit langem vom abstrakten Bild, vom Environment, vom kinetischen und vom Materialbild, vom Happening usw. Tatsächlich war damit auch eine Ausdehnung der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten verbunden, und neue Käuferschichten traten auf den Plan. Auch in der bildenden Kunst löste in den vergangenen Dezennien der spätkapitalistische Warenbegriff den der Darstellungswürdigkeit auf.

Damit untrennbar verbunden war das Totsagen des Realismus, seit den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts massenhaft praktiziert, als es darum ging, die Vorherrschaft des Abstraktionismus zu sichern. Das führte letztendlich bis zur Verwässerung und Auflösung des Kunstbegriffs überhaupt, ohne dass man sich darauf besann, dass realistische Kunst in den unterschiedlichsten historischen Perioden eine ständig wiederkehrende Erscheinung von großer Vielfalt war. Das ist bis heute so geblieben, auch wenn sich ständig neue Bildmedien auf den Markt schieben.

Die wahrheitsgemäße Aneignung der Realität durch ein eigenwilliges künstlerisches Subjekt ist und bleibt spannender, erlebnis- und erkenntnisreicher als ein naturalistischer, mechanistischer Abklatsch der Wirklichkeit. Und das Genre des Porträts, das die Kunstgeschichte seit dem 15. Jahrhundert - als Selbstbildnis, als Repräsentationsdarstellung, als Gruppen- oder Doppelporträt, als Freundschaftsbild usw. - durchzieht, ist ebenso wenig gestorben. Alle großen Maler, Bildhauer und Zeichner haben sich ihm zugewandt. In der jüngeren Kunstgeschichte Deutschlands waren es, angeregt von neuen Auftraggebern, vor allem die Künstler im Osten, die diese nicht abreißende Traditionslinie sehr bewusst fortsetzten. Zu ihnen gehört Ronald Paris.

Es gab einen besonderen Anlass, als wir ihn am 29. Juli 2012 in seinem Atelier besuchten und unsere Gedanken über das unaufhaltsame Fortleben des Realismus und insbesondere der Porträtmalerei austauschten. Hans Modrow war gekommen, um sein Porträt in Empfang zu nehmen. Seit den Fünfzigerjahren hatte sich Ronald Paris immer wieder mit dem Individualporträt beschäftigt; er zeichnete und malte seine Mutter, seine Familie und sich selbst, er porträtierte Wissenschaftler, Bauern, Künstler und Freunde. Sein unbequem ehrliches Ernst-Busch-Porträt hatte ihm zu Beginn der Siebzigerjahre Ärger beschert. Und wir erinnerten uns mit Freude an seine großen Darstellungen der Schauspieler Inge Keller und Dieter Mann, die vor einem Jahr in der GBM-Galerie zu sehen waren (vgl. ICARUS 3/2011, S. 32).

In altmeisterlicher Manier hatte sich Ronald Paris - wie auch bei früheren derartigen Arbeiten - seinem Modrow-Porträt angenähert, zunächst durch großformatige Zeichnungen, in denen er unterschiedliche Züge der Persönlichkeit seines Modells erfasste: sein Selbstbewusstsein, das Jugendliche, das immer noch in ihm lebt, seine Sensibilität, seine Gelassenheit, auch die Spuren komplizierter Entscheidungen, die Skepsis hohlen Worten gegenüber, das Bewusstsein schwerer Verluste, Enttäuschungen und verlorener Hoffnungen, doch auch die Kraft, zu seinen Erkenntnissen zu stehen. Nicht umsonst trägt eines der Bücher von Hans Modrow den Titel "Für ein neues Deutschland, besser als DDR und BRD" (1990). In einem anspruchsvollen Porträt geht es nicht darum, einen bestimmten Augenblick festzuhalten, sondern ein möglichst vielschichtiges Erscheinungs- und Charakterbild zu gestalten, so wie der Künstler es sieht, denn er steckt immer in jedem Bild, auch wenn er sich nicht selbst darstellt.

Die Endfassung des Porträts in Öl auf Leinwand fasst viele dieser Züge zusammen. Die gelassene Heiterkeit, die sich in einer der vorangegangenen Zeichnungen ausdrückt, wird in diesem Gemälde weniger betont; es dominiert der Staatsmann, der sich auch jetzt nicht zur Ruhe gesetzt hat. Hans Modrow reagierte bescheiden, aber mit verstecktem Stolz darauf. Ronald Paris ist wieder ein bleibendes Werk gelungen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Ronald Paris und Hans Modrow im Atelier vor dem vollendeten Porträt
- Ronald Paris, Hans Modrow, 2012. Kohlezeichnung 72 x 52 cm
- Ronald Paris, Hans Modrow (Detail), 2012. Öl auf Leinwand, 80 x 60 cm

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Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Yoel Moreno-Aurioles Pupo

Baum meiner Seele

Der kubanische Maler Yoel Moreno-Aurioles Pupo, genannt Pincho, geboren 1973 in Las Tunas, der an der Hochschule für Industrielle Formgebung in Havanna studierte und gegenwärtig als Maler und Illustrator in Sevilla (Spanien) lebt, zeigte bis zum 31. August 2012 in der GBM-Galerie eine Porträt-Ausstellung unter dem Titel "Baum meiner Seele". Die Kubanische Botschaft und die GBM hatten diese Exposition gemeinsam vorbereitet. Anlässlich der Eröffnung dieser Bilderschau am 22. Juni 2012 hielt der Maler folgende Rede:

Ich studierte an einer Schule, die den Namen "José Martí" trägt; das war meine beste Schule. Dort lernte ich großartige Freunde kennen, dort bin ich gewachsen und dort prägte sich meine Berufung aus, formte sich mein Charakter. Nur drei Jahre waren es, aber sie erschienen mir, als seien sie mein ganzes Leben. Es war mehr als eine Schule: fast eine Stadt mit dem Namen jenes Mannes, der so klein war und doch so groß.

José Martí begleitet uns in jeder Phase des Lebens mit seinen Werken, mit seinen schlichten Versen, seiner reinen und leuchtenden Erscheinung. Er war und ist einer von uns, und ich habe ihn so wahrnehmen wollen.

Kuba ist dieser große Baum; manchmal ist er eine Palme, gerade und würdig, manchmal ein kahler Kapokbaum, aber immer unberührbar. Er ist zauberhaft und übersinnlich: ein Baum meiner Seele. Ein Stamm, in den mein Name und deiner eingegraben sind wie Spuren dessen, was gewesen ist. Du stehst immer am gleichen Ort, deine Wurzeln sind tief und deine Samen weit verstreut.

Mein Land sind seine Menschen. Es ist Frohsinn, Tanz, Sinnlichkeit, Sport, frische Früchte, Zuckerrohr, Schmetterlinge. Mein Kuba ist auch Nostalgie, unbemalte Wände, Kampf, Stille, es ist weiß und schwarz. Mein Kuba ist Hoffnung.

Die Farben meiner Bilder sind gemischt; es gibt nicht nur eine, es gibt viele. Wenn ich verschiedene Menschen male, sind es die meinen, und ich bin es selbst in jedem Porträt. In ihren kleinen Händen können sie wenig halten. In ihren großen Köpfen aber offenbart sich ihr umfassendes Denken. Diese und jene Person lässt hinter ihrer durchsichtigen Schutzhülle Sorgen und Verletzungen erkennen, aber auch Ruhe und Beständigkeit. Mein tägliches Üben beginnt mit dem bitteren Geschmack kubanischen Kaffees vor dem dunklen Hintergrund der Leinwand und gipfelt im Dunkel der Nacht mit einem guten Geschmack im Mund. Auf diesem Weg höre ich Lecuona, die Camerata, Celia, Omara; aber es kommen auch Töne von anderen Seiten: Mozart, Beethoven, Tschaikowski ­...

Ich möchte der Galerie der GBM für die Aufnahme meines Werkes in diese Räume danken. Ich danke der Kubanischen Botschaft in Berlin und besonders Héctor E. Corcho für die Unterstützung, auch meinem großen Freund und Meister Arturo Montoto und dessen Ehefrau Maria Eugenia Lopez-Rositch, allen Freunden, die mich begleitet haben, und denen, die nicht hier sein können.

Letztendlich widme ich diese Ausstellung den Wurzeln und den Samen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Ausstellungseröffnung am 22. Juni 2012. 1. Reihe v.r.n.l.: Hétor E. Corcho, Kulturattaché der Kubanischen Botschaft; seine Ehefrau (zugleich Dolmetscherin); Ehrengast Nancy Morejon, Nationalpreisträgerin für Literatur und Vorsitzende des Kubanischen Schriftstellerverbandes; Yoel Moreno-Aurioles Pupo, Maler

- Yoel Moreno-Aurioles Pupo, Baum meiner Seele (José Martí mit Königspalmen), 2012. Acryl auf Leinwand, 100 x 75 cm

- Yoel Moreno-Aurioles Pupo, Eine Schönheit, 2012. Acryl auf Leinwand, 75 x 45 cm

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Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Peter Michel

Das Einfache, das schwer zu machen ist

Rede zur Eröffnung der Gedenkausstellung "Max Lingner Zeichnungen aus der Banlieue" in der GBM-Galerie am 14. September 2012

Vor 57 Jahren veröffentlichte Max Lingner im Verlag der Kunst Dresden unter dem unspektakulären Titel "Mein Leben und meine Arbeit" seine Autobiographie. Das geschah zehn Jahre nach dem Ende des Krieges und vier Jahre vor seinem Tod. Und als habe er das schon gespürt, zog er in einem Schlusssatz eine Art Bilanz und äußerte eine Erwartung: "Vielleicht zählt auch mich einmal eine neue deutsche realistische Kunst, die kommen wird, weil sie kommen muss, zu ihren Wegbereitern."

Auch wenn heute Künstler wie Lingner immer wieder dem Vergessen entrissen werden müssen, so steht doch für die Kunstgeschichte fest, dass Lingners Hoffnung nicht trügerisch war. Für eine ganze Periode der Kunstentwicklung im Osten Deutschlands gehörte er tatsächlich zu den Wegbereitern - wie Arno Mohr, Wilhelm Rudolph, Bernhard Kretzschmar, John Heartfield, Will Lammert, Hans und Lea Grundig, Theo Balden, Curt Querner und viele, viele andere. Gerade uns als Menschenrechtsorganisation ist sein geistiges und künstlerisches Erbe nahe. Ist doch sein gesamtes Werk durchdrungen von der Liebe zum Menschen, vom Streben nach menschenwürdigen Verhältnissen, nach einer Welt ohne Kriege, nach sozialer Gerechtigkeit, nach der Achtung vor dem Leben und nach seinem Schutz.

Jene, die Lingner noch kannten, werden immer weniger. Gertrud Heider, die sich intensiv und akribisch um seinen Nachlass kümmerte, lebt nicht mehr. Christine Hoffmeister, hatte sich als Kunsthistorikerin auch immer wieder mit ihm beschäftigt. Sie musste aus gesundheitlichen Gründen das Angebot ablehnen, heute hier zu sprechen. Doch wenn man sich mit den Wenigen unterhält, die ihm noch begegneten, so spürt man die große Verehrung für seine Persönlichkeit und sein Werk. Vera Singer stellte vor wenigen Jahren ihre sensiblen Porträts in unserer Galerie aus. Sie war an der Akademie der Künste Lingners Meisterschülerin. Waltraut Mai erinnert sich an einen Atelierbesuch bei ihm. Und nicht zuletzt befindet sich unter den Trägerinnen des Menschenrechtspreises der GBM auch Heidrun Hegewald, die Lingner zwar nicht mehr persönlich begegnete, aber 1980 den Max-Lingner-Preis der Akademie der Künste der DDR entgegennahm. Natürlich ist der expressive, aufstörende Gestus Heidrun Hegewalds nicht mit der künstlerischen Sprache Lingners vergleichbar, doch in einem - und darauf wies der damalige Laudator Wolfgang Heise hin - gleichen sie sich: Beide wollten und wollen eine Kunst lebendiger Kommunikation.

Doch leider gibt es auch Menschen, die zu DDR-Zeiten Loblieder auf Lingner sangen und ihn nach 1989 verdrängten. Noch 1988 formulierte z. B. Hermann Raum in einer Laudatio auf Gertrud Heider, die damals ebenfalls den Max-Lingner-Preis erhielt: "Ich habe 17 Jahre lang an einer Tageszeitung als politischer Zeichner gearbeitet. ... Mein Vorbild war wirklich Max Lingner. Die Frische und wahrhaftige Heiterkeit, die treffsichere formale Verknappung, die klare Zeichenhaftigkeit der Form, die nie die Lebendigkeit ihrer anonymen proletarischen Helden reduzierte - ich habe mich mit einer gewissen Leidenschaft um diese bei Lingner so natürlich erscheinende bildnerische Fähigkeit bemüht und dieses nie erreicht: dieses Einfache, das schwer zu machen ist. ..." Er lobte an Lingners Werk die Unermüdlichkeit, ein großes, gutes Anliegen in erfassbare, klare, durchsichtige und überzeugende Form und so an die Leute zu bringen, an seinesgleichen "und über die Grenzen des Landes hinaus im Geiste des proletarischen Internationalismus, der ihm und seinen Arbeiten auf das Selbstverständlichste eingewachsen war."[1] Hier kann man eigentlich jedes Wort unterstreichen. Doch was tat Hermann Raum, um auch nach 1989 noch up to date zu sein? Er ließ Max Lingner in seinem im Jahr 2000 erschienenen Band "Bildende Kunst in der DDR" einfach weg; der vor 1989 so hoch Gelobte taucht nicht einmal mehr in einem Nebensatz auf.

An Max Lingner scheiden sich jetzt die Geister. Aber was als hoffnungslos veraltet apostrophiert wird, hat - nicht nur meiner Meinung nach - die Potenz, auch künftigen Künstlergenerationen Impulse zu vermitteln. Dass dieses Erbe heute in der von Gertrud Heider 2007 gegründeten Lingner-Stiftung gepflegt, aufgearbeitet und verbreitet wird, ist für alle Freunde seiner Kunst - und für solche, die es werden wollen - ein großes Verdienst. Seine Biographie ist ungewöhnlich und greift zugleich auf selbstverständliche Art vor auf das, was heute als europäische Einigung immer wieder beschworen, aber nicht im sozialen Interesse der Menschen realisiert wird.

1888 geboren, wuchs Lingner in Leipzig in einem Elternhaus auf, in dem er schon als Kind mit den Holzschnitten Albrecht Dürers und Ludwig Richters in Berührung kam. Sein Vater war Holzschneider und führte ihm handwerkliche Sorgfalt vor. Solidität war auch das Kennzeichen seiner Studienzeit an den Akademien in Leipzig und Dresden. Während in Dresden damals die expressionistische Künstlergruppe "Die Brücke" wirkte, übten aber die Arbeiten Max Klingers und Hans Thomas einen größeren Einfluss auf Lingner aus. Und er suchte immer wieder in den Dresdener Kunstsammlungen Begegnungen mit den alten Meistern, so wie er es später in den Berliner Museen und im Pariser Louvre tat.

Den Ersten Weltkrieg erlebte er an den unterschiedlichsten Fronten mit, beteiligte sich als revoltierender Matrose am Arbeiter- und Soldatenrat in Kiel und zog sich nach der Niederschlagung der Novemberrevolution enttäuscht aus dem politischen Leben zurück. Auf dem Darß lebte er drei Jahre als Besitzer einer kleinen Bauernstelle in Born; und das, was er damals schuf - Fischerporträts und Landschaften -, wies stark in die Richtung einer nachimpressionistischen Malerei und Graphik. Er spürte aber bald, dass kein rechtes Heimatgefühl aufkommen wollte und dass die Isolierung von der widerspruchsvollen Wirklichkeit seinem Schaffen nicht nützte. So siedelte er nach Weißenfels um, in die Stadt der Schuhindustrie und der Chemiearbeiter, wo er etwa sechs Jahre wohnte. Zwar tauchten in seiner Bildwelt jetzt Arbeiter und Arbeiterinnen auf und er begann, für die Zeitungen "Leunaprolet" und "Klassenkampf" zu zeichnen, aber der wirkliche Durchbruch zu dem für ihn Typischen erfolgte erst in Paris.

Käthe Kollwitz und andere Künstlerkollegen hatten ihn in seinem Vorhaben bestärkt, nach Paris zu reisen. Diese "Reise" dauerte schließlich mehr als 20 Jahre - von 1928 bis 1949. Er kam aus eingeengten deutschen Kunstverhältnissen, war von der Atmosphäre, dem pulsierenden Kunstleben dieser Stadt überwältigt und hatte zunächst das Gefühl des Versiegens der eigenen Schöpferkraft. Ab 1930 aber, nachdem ihn Henri Barbusse für die Arbeit an der Zeitschrift "Monde" gewonnen hatte, brachte er es Schritt für Schritt zu wirklicher Meisterschaft vor allem auf dem Gebiet der Pressezeichnung. Bis zum Ende seiner Pariser Jahre ließ ihn die Tätigkeit bei Zeitschriften und Zeitungen nicht los, ab 1936 auch für die "L'Avant-Garde" und die "L'Humanité". Die graphische Arbeit stand im Vordergrund. Er musste sich mit den Techniken der Zeitungsherstellung und der Reproduktion intensiv beschäftigen. Die Pressezeichnung spielte damals in Frankreich eine weit größere Rolle als heute. Auch bei uns führt sie gegenwärtig neben der Karikatur und dem Cartoon ein Schattendasein, im besten Fall noch als Zeichnung aus dem Gerichtssaal. In Frankreich aber war etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Zeichnung - ob farbig oder schwarzweiß - fester Bestandteil der Zeitungsarbeit. Namen wie Honoré Daumier, Charles Gilbert-Martin, August Roubille, Jacques Villon oder Juan Gris stehen dafür. Und für Max Lingner war es besonders Théophile-Alexandre Steinlen, von dem er sich anregen ließ. Durch seine Arbeit für die Zeitungen war er gezwungen, sich täglich mit den großen Problemen seiner Zeit auseinanderzusetzen. Da immer wieder Aktualität gefordert war und schnell gearbeitet werden musste, war im Handwerklichen Sicherheit gefragt. Die brachte er mit, und seine Zeichnungen wurden immer besser und treffender. In manchem ähnelte die dabei notwendige Verknappung jener Ausdrucksweise, wie sie später auch für Arno Mohr typisch war. Die künstlerische Handschrift in Lingners Zeichnungen übertrug sich auch auf seine Gemälde und Aquarelle.

Man darf dabei nicht vergessen, dass Lingner in Frankreich Ausländer war und dass er, weil er für kommunistische Blätter arbeitete und schließlich Mitglied der KPF wurde, Schwierigkeiten mit der Polizei hatte. Hinzu kam, dass er zu Beginn seine neue Umgebung mit deutschen Augen sah; doch ein intensives Studium der Menschen, der städtischen Umwelt und der Natur verhalf ihm zu neuartigen, frischen Darstellungen. Hier sei angemerkt, dass es ihm später - nach seiner Rückkehr nach Deutschland - in umgekehrtem Sinne ähnlich ging. Seine Pariser Zeichnungen zeigen die unschönen Vorstadtstraßen in der Banlieue (Bannmeile), in denen sich Demonstranten bewegten, den Autobusverkehr, das liebenswürdige arbeitende Pariser Volk und die selbstbewussten Frauen, die ihn faszinierten und denen er sich - auch in Gemälden (siehe Titelbild) - immer wieder zuwandte. Die Banlieue, der Vorortbereich der französischen Hauptstadt, war nicht nur damals ein Brennpunkt sozialer Kämpfe. Wir erinnern uns an die Gastspiele des Berliner Ensembles im "Roten Gürtel" von Paris und an die brutalen Polizeieinsätze, die sich noch vor wenigen Jahren gegen dort lebende Ausländer, ausgegrenzte Jugendliche und andere richteten. Hier lag das Hauptfeld des Interesses von Max Lingner. Noch 1948, ein Jahr vor seiner Rückkehr nach Deutschland, schuf er einen Aquarellzyklus über die Banlieue, und dieses Thema bestimmt auch unsere Ausstellung.

Als 1940 die Hitlerwehrmacht Frankreich überfiel, wurde Max Lingner in drei Internierungslagern gefangen gehalten. Schließlich gelang ihm 1943 die Flucht aus dem Lager Gurs, in dem auch Hannah Arendt, Ernst Busch und Marta Feuchtwanger inhaftiert waren. Er lebte anschließend illegal unter dem Namen Marcel Lantier und schloss sich 1943 der Resistance an. 1944 zeichnete er bereits wieder für die "L'Humanité". All das hatte seine Gesundheit untergraben. Nach dem Krieg wechselten Krankenhausaufenthalte mit nur kurzen Schaffensperioden ab. 1947 zeigte er eine dritte und letzte Personalausstellung in Paris. Sein französisches Zeichenwerk ist fast unübersehbar; etwa 8000 Blätter sind in dieser Zeit entstanden.

Als 1949 die DDR gegründet wurde, kehrte er zurück nach Berlin. Eine große Zahl von Werken aus den Jahren 1928 bis 1948 schenkte er aus diesem Anlass dem neuen Staat der sie in der Nationalgalerie aufbewahrte. In der DDR wurde er hoch geehrt. Er war Professor an der Kunsthochschule Berlin Weißensee, Gründungsmitglied Leiter einer Meisterklasse und Sekretär der Sektion Bildende Kunst der Akademie der Künste; er wurde 1952 und 1955 mit dem Nationalpreis und 1954 mit dem Vaterländischen Verdienstorden der DDR in Gold ausgezeichnet. Doch in den Endvierziger- und Fünfzigerjahren erging es Lingner ähnlich wie Hans Grundig oder Otto Nagel. Ihre Kunst hatte sich in einer Zeit herausgebildet, in der die Klassengegensätze und gesellschaftlichen Widersprüche schließlich in die Katastrophe des Faschismus mündeten. Sie hatten ihr Wirken als Teil einer Bewegung verstanden, die sich gegen die Menschenfeindlichkeit dieser Ideologie richtete, und ihre bildnerische Sprache war davon geprägt. Wenn sie nach 1945 bei ihren ureigensten Sujets blieben, blieb auch ihre Kunst stark und unverkennbar. Doch dann, wenn sie aus tiefster innerer Überzeugung die Forderungen ihrer Partei nach der Darstellung eines optimistischen Neuanfangs nach den Schrecken des Krieges zu ihrem eigenen Anliegen zu machen versuchten, fiel es ihnen schwer, dafür auch die adäquaten künstlerischen Mittel zu finden. Bei Otto Nagel fällt diese Schwäche u. a. in seinen Stalinallee-Bildern und in manchen Gruppenporträts auf; auch hier gestaltete er den in neue gesellschaftliche Verhältnisse hineinwachsenden Menschen ohne Pathos, doch er fühlte sich nicht imstande, die immer noch harte und spannungsvolle Wirklichkeit zu verklären und zu verschönern. Hans Grundig erkannte wohl selbst, dass ihm die erwarteten illustrativen Äußerlichkeiten in seinem Wandbild "Jugend" von 1951 im Dresdener Rathaussaal nicht lagen, und er vollendete es nicht. Max Lingner gestaltete 1952/53 gemeinsam mit vier anderen Malern am ehemaligen Haus der Ministerien einen auf Meißener Kacheln gemalten Wandfries, in dem der Aufbau der DDR bildhaft werden sollte. Diesem Bild fehlt "die gedankliche und gestalterische Geschlossenheit einer großen Szene",[2] wie sie z.B. fünf Jahre später Bert Heller in seinem komplexen Gemälde "Scheideweg XX. Jahrhundert" erreichte; es blieb eine additive Aneinanderreihung von symbol- und bühnenhaften Darstellungen. Lingners Stärken lagen - wie wir gesehen haben auf anderem Gebiet, und er hat das sicher selbst gespürt.

Gefreut hat er sich bestimmt über Bertolt Brechts Telegramm vom 15. Juli 1955: "Gratuliere zu Deinem Bauernkrieg - ein künstlerisches Ereignis ersten Ranges."[3] Dieses Wandbild war eines seiner letzten. Er starb am 14. März 1959 in Berlin. Dass sein Werk erst danach gebührend gewürdigt wurde, wie heute oft behauptet. Natürlich gab es den Formalismus-Vorwurf auch an ihn, der mit seinem nun "französischen Blick" nicht so recht ins erwartete Bild passen wollte. Verehrer hatte er damals und hat er auch heute.


Anmerkungen:

[1] Hermann Raum: Vom Wert des Dienens. Laudatio anlässlich der Verleihung des Max-Lingner-Preises der Akademie der Künste der DDR 1988 an Gertrud Heider, in: Bildende Kunst, Heft 2/1989, S. 9

[2] Helmuth Heinz: Max Lingner, in: Wegbereiter. 25 Künstler der DDR, VEB Verlag der Kunst Dresden 1976, S. 53

[3] In: Max Lingner, Veröffentlichung der Deutschen Akademie der Künste, Einleitung von Albrecht Dohmann, VEB Verlag der Kunst Dresden 1958, S. 26


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Max Lingner (rechts) und Otto Nagel in einer Ausstellung sowjetischer Graphik im Zentralhaus der DSF Berlin am 5. Januar 1955
- Max Lingner, Vergesst sie nicht!, 1938. Pinselzeichnung
- Max Lingner, Unsere Alten, 937. Pinselzeichnung
- Max Lingner, Flucht aus Paris, 1940. Federzeichnung mit Deckweiß - Max Lingner, Aufbau der Republik, 1952/53. Wandbild am heutigen Bundesministerium für Finanzen in Berlin, Malerei auf Meißener Kacheln, 3 x 24 m

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Personalia

Karl-Heinz Wendt

Glückwunsch für Friedrich Wolff

Hochverehrter Genosse Dr. Friedrich Wolff!

Der Vorstand der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde gratuliert auch im Namen aller Mitglieder Dir, dem ehrwürdigen Jubilar, sehr herzlich zum 90. Geburtstag.

Dieser besondere Tag ist für uns einmal mehr Anlass, Dir, lieber Friedrich Wolff, für all das Dank zu sagen, was Du seit dem Bestehen unserer Gesellschaft für uns, für unsere Mitglieder als Rechtsanwalt und erfahrener Berater getan hast. Nur in bescheidenem Maße konnten wir Dir dafür bei verschiedenen Gelegenheiten unsere Anerkennung zum Ausdruck bringen. Die Verleihung des Menschenrechtspreises der GBM an Dich war für uns eine besondere Ehre.

Die ungezählten Verdienste zu nennen, die Du Dir bei der Verteidigung - und Verteidigung soll hier im weitesten Sinne des Wortes gemeint sein - vieler aufrechter Menschen erworben hast, die von der Siegerjustiz der BRD für ihren jahrzehntelangen Einsatz und ihr Wirken für ein besseres Deutschland beim Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik und deren Sicherung verfolgt wurden, hieße wahrlich Eulen nach Athen zu tragen.

Wir wünschen Dir noch viele erfüllte Jahre, vor allem Gesundheit und persönliches Wohlergehen.

Mit solidarischen Grüßen

Karl-Heinz Wendt
Bundesvorsitzender


Abbildung der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht:

Dr. Friedrich Wolff, geb. am 30 Juli 1922

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Personalia

Ernst Woit

Gratulation für Horst Schneider

Für die historische Wahrheit, gegen Lügen zum Zweck der "Delegitimierung" der DDR

Am 25. Oktober 2012 wird der Dresdner Historiker Professor Horst Schneider 85 Jahre alt. Das ist Anlass genug, an seine in Anzahl und Überzeugungskraft wohl beispiellosen publizistischen Aktivitäten zur Auseinandersetzung mit jenen Lügen-Konstruktionen zu erinnern, die die herrschende Klasse der Bundesrepublik Deutschland einsetzte und einsetzt, um die DDR - wie es Justizminister Kinkel 1991 auf dem 15. Deutschen Richtertag gefordert hat - juristisch und moralisch zu "delegitimieren".

Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete Horst Schneider zunächst als Neulehrer und schließlich als Schulleiter. Von 1955 bis 1990 lehrte er an der Pädagogischen Hochschule Dresden, ab 1980 als Professor für allgemeine Geschichte. Dazwischen berief man ihn zu Beginn der Siebzigerjahre in den diplomatischen Dienst der DDR in Tansania. Gleichzeitig war Horst Schneider als überzeugter Sozialist stets aktiv politisch engagiert. Von 1990 bis 1994 residierte er als Alterspräsident des Dresdner Stadtparlaments. Nach dem Beitritt der DDR zur BRD wurde Horst Schneider zum Gründungsmitglied und bis heute stets aktiven Mitstreiter in der Sächsischen Friedensinitiative Dresden (SFID) und der Gemeinschaft für Menschenrechte im Freistaat Sachsen (GMS).

Geprägt durch diese beruflichen und gesellschaftlichen Erfahrungen engagiert sich Horst Schneider seitdem in zahlreichen Büchern und kaum noch zu zählenden kleineren Publikationen - darunter nicht zuletzt auch in mehr als dreißig Artikeln in den ICARUS-Heften - für Frieden und Menschenrechte im Grundsätzlichen und für die Entlarvung der Lügen-Konstrukte zur "Delegitimierung" der DDR im Besonderen. Ich kenne keinen Historiker, der in diesen nunmehr über 23 Jahren so produktiv und zugleich durch seine Quellen-Akribie so überzeugend gewirkt hat wie Horst Schneider. Außerordentlich inhaltsreich und quellenmäßig präzise abgesichert weist der Historiker und Zeitzeuge Schneider in seinem 2011 bei "auruspress" Dresden erschienenen Buch "Artikel 23 / kein anschluss unter dieser nummer" nach, wie im Prozess der deutschen "Wiedervereinigung" das Völkerrecht, die Verfassung der DDR und das Grundgesetz der BRD sowie zahlreiche internationale Verträge und Prinzipien gröblichst verletzt worden sind. Einen besonderen Platz in Horst Schneiders Publikationen nimmt jene "Erinnerungsschlacht" ein, in der die heutigen Machthaber die DDR als "Unrechtsstaat" so zu verteufeln suchen, dass das deutsche Geschichtsbild von jeglicher positiven Erinnerung an den Sozialismus-Versuch und die antifaschistische Tradition, die die DDR verkörperte, "entsorgt" wird. In hohem Maße konzentriert sich diese "Erinnerungsschlacht" auf historische Gedenkstätten. In seinem 1997 im Berliner "verlag am park" erschienenen Buch "Todesurteile am Münchner Platz" setzte sich Horst Schneider mit den Hintergründen und Zielen einer Politik auseinander, die zur Prägung eines Feindbildes DDR am Münchner Platz in Dresden ein gemeinsames Denkmal für die Toten des antifaschistischen Widerstands und die in der DDR in den Fünfzigerjahren zum Tode verurteilten Verbrecher errichten ließ.

Sehr großen Anklang fand sein 2005 im Spotless-Verlag Berlin erschienenes Taschenbuch "Das Gruselkabinett des Dr. Hubertus Knabe(lari)", das innerhalb eines Jahres drei Auflagen erreichte. Wie Klaus Huhn in seinem Vorwort betont, hat sich Horst Schneider mit diesem Buch beispielhaft überzeugend für das Thema "Kreuzzug gegen die DDR" entschieden und in dem brisanten Frontabschnitt "Stasi" die von Hubertus Knabe geleitete "Gedenkstätte" Hohenschönhausen kritisch durchleuchtet. Sein 85. Geburtstag ist uns Anlass, ihm Gesundheit, Schaffenskraft und weiterhin eine spitze Feder zu wünschen. An Anlässen für sein Engagement wird es nicht fehlen.


Abbildung der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht:

Prof. em. Dr. sc. phil. Horst Schneider

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Personalia

Wolfgang Konschel

Er fehlt uns
Erinnerung an Prof. Dr. Ernst Bienert

Nach langer mit Geduld, mit dem festen Willen zu siegen und lang anhaltender Hoffnung konnte er den Kampf gegen die aufzehrende, böse Krankheit letztlich nicht mehr bestehen. Und so mussten wir unseren Gefährten Ernst Bienert am 21. März auf seinen letzten Weg begleiten. Wir alle waren und sind tief betroffen und wissen, dass es sehr schwer werden wird, die große Lücke zu schließen, die sein Tod aufgerissen hat.

Als Mitbegründer des Arbeitskreises Senioren und der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde (GBM) galt sein Wirken vor allem der Durchsetzung gerechter Renten und sozialer Menschenrechte. Seine ausgezeichneten Kenntnisse des Renten- und Sozialrechts der DDR bildeten eine Grundlage, um die Benachteiligungen durch die Rentenüberleitung der in der DDR erworbenen Ansprüche zu verstehen und Gegenmaßnahmen auszuarbeiten. Sein Wissen und seine Erfahrungen fanden ihren Niederschlag in zahlreichen Presseveröffentlichungen und in Hinweisen, mit denen die Versicherten selbst ihre Ansprüche überzeugend vertreten und durchsetzen konnten. So erreichten durch sein Wirken für gerechte Renten - insbesondere für die Anerkennung der aus Zusatz- und Sonderversorgungen erworbenen Ansprüche - Zehntausende von Bürgern, nicht nur Mitglieder der GBM, zum Teil beträchtliche Rentenverbesserungen. Er war ein gefragter und weit über die GBM hinaus bekannter und geachteter Experte zu Rentenfragen. Gemeinsam mit Prof. Dr. Axel Azzola erarbeitete er Grundlagen für eine echte Rentenreform. Wäre sie verwirklicht worden, hätte sie eine Systemänderung gebracht, um zahlreiche Nachteile des gegenwärtigen Rechts zu überwinden und eine Neuordnung von Regelungen zu schaffen. Eine solche Reform hätte zu einer Altersversorgung geführt, mit der ein ausreichender Lebensstandard für viele bis dahin Benachteiligte erreicht worden wäre und die dem Verfassungsgrundsatz eines Lebens in Würde und Gerechtigkeit nach dem Arbeitsleben gedient hätte. Diese Vorschläge für eine Rentenreform waren von Experten der Bundesversicherungsanstalt geprüft und als realistisch und finanzierbar gewertet worden. Leider wurden sie nicht realisiert.

Ernst Bienert wurde am 21. Juli 1932 in Riesa/Elbe geboren. Nach der Abiturprüfung studierte an der Karl-Marx-Universität Leipzig Wirtschaftswissenschaft. Mit einer planmäßigen Aspirantur und der Promotion erwarb er den wissenschaftlichen Titel eines Dr. rer. oec. habil. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Oberassistent und Dozent an der Leipziger Universität wurde er 1965 als Abteilungsleiter in der Vereinigung Volkseigener Betriebe des Landmaschinenbaus eingesetzt. Seine Kenntnisse und Erfahrungen führten dazu, dass er ab 1968 als Leiter des Büros des Staatssekretärs für Arbeit und Löhne tätig werden konnte. 1976 betraute man ihn zusätzlich mit einer Professur für Arbeitswissenschaften, wiederum an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Wie Zehntausende hochqualifizierte Wissenschaftler und Staatsfunktionäre wurde auch er 1990 aus beiden Funktionen verdrängt. Arbeitslosigkeit und geringe Aussichten auf Wiederbeschäftigung waren für ihn kein befriedigender Zustand. Er fand ehrenamtliche, ausfüllende Tätigkeit als Rentenkonsultant und Mitbegründer des Förderkreises Senioren sowie der GBM. So konnte er seine publizistische und wissenschaftliche Tätigkeit fortsetzen und Befriedigung in der Unterstützung der Rentner bei ihrem Kampf um gerechte Renten finden. Als Geschäftsführer der GBM trug er wesentlich zum Aufbau der GBM und ihrer Ortsverbände bei. Von 1994 bis 1997 unterbrach er sein Engagement für die GBM, um eine hauptamtliche Tätigkeit im Innenministerium des Landes Brandenburg zu übernehmen; dort war er für die Überleitung der Rentenansprüche der ehemaligen Mitarbeiter der Polizei und der Abteilungen für Inneres in den Bezirken und Kreisen zuständig. Auch in dieser Arbeit verhinderte er manches Rentenunrecht, indem er Lösungen durchsetzte, die auf der Grundlage der Gesetzlichkeit der Bundesrepublik die in der DDR erworbenen Ansprüche so weit wie möglich in Rentenansprüche bei der Gesetzlichen Rentenversicherung der BRD umwandelten.

Nach 1997 arbeitete er wieder ehrenamtlich in der GBM. Als Mitglied des Bundesvorstandes wirkte er in all den Jahren und bis zu seinem Ende an allen wichtigen Vorhaben der GBM aktiv mit. Darüber hinaus erwarb er sich hohes Ansehen in der Volkssolidarität und in anderen sozial engagierten Organisationen. Überall, wo dies möglich war, half er, realistische Haltungen zur Rentenüberleitung einzufordern, und hatte Anteil an den Verbesserungen, die bei den Renten - insbesondere hinsichtlich der Ansprüche aus den Zusatzversorgungen erreicht wurden. Als Redner bei Veranstaltungen, weit über den Rahmen der GBM hinaus, und durch seine Veröffentlichungen, warb er für die Positionen der GBM zur Rente und zu den Forderungen zu anderen Menschenrechtsfragen. Seine forschungs- und publizistische Arbeit würdigte die GBM unter anderem 2006 mit einer Auszeichnung für "Verdienste um soziale Menschenrechte".

Ich kann diesen Nachruf nicht beenden, ohne auf die Unterstützung einzugehen, die er mir gab. Aus seiner wissenschaftlichen Tätigkeit als Leiter des Büros des Staatssekretärs für Arbeit und Löhne hatte er umfassende Kenntnisse des Arbeits- und Rentenrechts der DDR. Ich konnte mir keinen besseren Lehrmeister zu diesen Fragen wünschen und ich habe dies gern genutzt. Auch im Erfahrungsaustausch über alle Probleme der Rentenüberleitung lernte ich viel von ihm. Mit seinem Tod habe ich einen guten Freund und Kampfgefährten verloren. So wie es schwer wird, die Lücke auszufüllen, die sein Tod in der GBM reißt, so wird er auch mir sehr fehlen.


Abbildung der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht:

Prof. Dr. Ernst Bienert

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Personalia

Karl-Heinz Wendt

Abschied von einem Freund

Nachruf für Gerd Buddin

Unser Freund und Genosse, der Diplom-Lehrer Gerd Buddin, verstarb am 27. Juli 2012 im Alter von 65 Jahren in Berlin. Als langjähriges Mitglied des Bundesvorstandes der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V. (GBM) und seit 2010 als stellvertretender Bundesvorsitzender vollbrachte er mit großem Einsatz und kluger Umsicht bedeutende Beiträge für die GBM. Auch in der Gewerkschaft und in der Partei Die Linke leistete er über lange Jahre allseits anerkannte Arbeit. 1991 war er Mitbegründer der "Initiative für die volle Gewährung der verfassungsmäßigen Grundrechte und gegen Berufsverbote" und leitete seit dieser Zeit eine Arbeitsgruppe der GBM zum Kampf gegen Berufsverbote, insbesondere im Osten Deutschlands. Er war maßgeblich an der Vorbereitung und Durchführung des Internationalen Hearings "Berufsverbote im vereinigten Deutschland und das neue Europa" im Januar 1993 in Berlin beteiligt. Er engagierte sich für eine gerechte Bildungspolitik und für gewerkschaftliche Rechte und brachte viele Anregungen und Erkenntnisse aus diesen Aktivitäten in die Arbeit der GBM ein. So war er 1994 Mitherausgeber des Weißbuches Nr.3 der GBM: "Bildungswesen und Pädagogik im Beitrittsgebiet". Mit unserem hochgeschätzten Freund Gerd Buddin verlieren wir einen immer aktiven, stets hilfs- und einsatzbereiten Mitstreiter für die Ziele der GBM im Kampf um die Durchsetzung der Bürger- und Menschenrechte. Wir werden sein Andenken in Ehren bewahren.

Im Namen des Bundesvorstandes der GBM

Karl-Heinz Wendt
Bundesvorsitzender


Abbildung der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht:

Gerd Buddin

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Personalia

Werner Krecek

Alle Kunst hat eine Tendenz

Nekrolog für Kurt Maetzig

Zwei Demonstrationszüge kommen in einer Trümmerlandschaft um die Reste eines zerbombten Gebäudes vom links und rechts zusammen. Das Bild kennt jeder DDR-Bürger, es illustrierte auch Schulbücher, wurde als Foto wahrgenommen und gilt nach wie vor als ein Symbol für die Vereinigung der beiden deutschen Arbeiterparteien 1946 in der damaligen SBZ. Weitaus weniger bekannt sein dürfte, dass es von Kurt Maetzig für seinen Dokumentarfilm "Einheit SPD-KPD" inszeniert wurde. Für den Streifen drehte der am 9. August 2012 im Alter von 101 Jahren verstorbene Nestor des deutschen Films viele Sujets im ganzen Land, mit denen er eindeutig nachwies, dass diese Einheit von unten gewollt war und begrüßt wurde - auch wenn das heute gern negiert wird. Zwei Grundsätze im Leben und Schaffen Kurt Maetzigs vereinen sich in dieser Anfangsarbeit: Realismussinn und Vision.

Beides zeichnet die über 30 Spiel- und Dokumentarfilme aus, die Maetzig, der am 25. Januar 1912 in einem linksbürgerlichen Berliner Elternhaus geboren wurde, geschaffen hat. Er ist als Mann der ersten Stunde der Erfinder des "Augenzeugen" und seines Mottos "Sie sehen selbst. Sie hören selbst. Urteilen sie selbst". Nicht nur hat der Dokfilmer Maetzig mit dieser Dreifachmaxime eine Gegenposition zur verlogenen Nazipropaganda und deren Demagogie zum Mundtodmachen aufgestellt, sondern er hat sie bis zum Ende seines Schaffens künstlerisch praktiziert. Davon zeugt schon sein erster Spielfilm "Ehe im Schatten", der 1948 den ersten Bambi erhielt und den 12 Millionen Zuschauer sahen. Maetzig drehte den Film frei nach dem Schicksal des Schauspielers Joachim Gottschalk, der geheim seine jüdische Frau schützte, aber unter dem Nazidruck zusammenbrach und 1941 mit seiner Familie den Freitod wählte. "Ehe im Schatten" tangierte in gewisser Weise auch Maetzigs eigenes Leben: Seine Mutter war Jüdin, ihre Ehe zerbrach und sie beging vor dem drohenden Abtransport 1944 Suizid. Vor dem eigenen Film hatte Kurt Maetzig dafür gesorgt, dass Wolfgang Staudte schon 1946 den ersten deutschen Nachkriegsfilm "Die Mörder sind unter uns" mit Hildegard Knef in der Hauptrolle bei der DEFA drehen konnte.

Überhaupt: Maetzig und die DEFA. Nicht nur, dass er zu den Unterzeichnern der Gründungsurkunde gehörte - eine weitere Unterschrift stammt vom Schauspieler Hans Klering, in dessen Wohnung ich sie auch gesehen habe -, er hat ihre Entwicklung maßgeblich beeinflusst, ihr Ansehen nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen Filmen mitgeprägt, im DEFA-Spielfilmstudio aber auch für ein schöpferisches Klima gesorgt. Die von ihm initiierten Arbeitsgruppen, die ihre Filme eigenverantwortlich entwickelten und mit mehr oder weniger Erfolg gegen oft brutale Eingriffe von außen verteidigten, vereinten Mitarbeiter - vom Regisseur bis zu den Gewerken als Kollegen und nicht als Konkurrenten - im Interesse des künstlerischen Anliegens. Nicht Funktionäre, sondern die Künstler selber sollten über ihre Arbeit entscheiden, begründete ihr Erfinder diese grundlegende Neustrukturierung gegen Ende seines Lebens nicht ohne einen gewissen Stolz; er, der sonst nicht viel Aufhebens um seine Person machte: "Wir wollen ein Deutschland ohne Krieg und Faschismus! Dass sich die ganze DEFA darauf richtete, dass sie das zeitweilig aus Idealismus klug anfing und dann wieder auf Irrwege geriet, das ist das Leben. Und das zeigt, wie die Erkenntnis auf diesem Gebiet nicht nur einfach erdacht, sondern erlebt werden muss." (Nach "junge Welt" aus einem Gespräch für das Buch "Das Prinzip Neugier", das demnächst im Verlag Neues Leben erscheint.)

"Zur Kunst gehört ein Standpunkt" - dieses Credo steht über jedem Maetzig-Film. In "Die Buntkarierten" gelang ihm 1949, nach einer Vorlage von Berta Waterstradt volksstückartig vom Leben einfacher Leute, von der Geschichte einer Berliner Arbeiterfamilie über drei Generationen zu erzählen; Held war ein Sozialdemokrat. 1950 entstand "Der Rat der Götter" über die Beteiligung der IG Farben am Nazikrieg nach Protokollen des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses. Das Szenarium schrieben Friedrich Wolf und Philipp Gecht. Den Film lobte sogar "Der Spiegel". Gezeigt wurde er in der BRD aber nicht: Trotz der vor 60 Jahren beschlossenen Liquidation blieb der Konzern noch bis Anfang dieses Jahres börsennotiert.

Mit dem zweiteiligen Film über Ernst Thälmann entstand 1954/55 ein Monumentalwerk, das durch ständiges politisches Hineinreden von außen vor allem im zweiten Teil jede Widersprüchlichkeit verlor und dessen Titel- zu einer Sockelfigur hochstilisiert wurde. Anzumerken bleibt, dass der Film, dessen Pflichtbesuch massenhaft vor allem für Schulen organisiert wurde, seinen Beitrag zu einem antifaschistischen Geschichtsbild leistete, wenngleich die Reduzierung der Historie auf eine kultisch erhobene Einzelfigur mit den realen Abläufen nichts zu tun hatte. Kurt Maetzig hat sich später von dem Werk mit den Worten distanziert, er bekäme, wenn er daran denke, jedes Mal "rote Ohren". Er ging wohl damals bis an die Grenze der Selbstaufgabe.

1956 folgt "Schlösser und Katen", die zweiteilige Geschichte verschiedener Familien, die in der Nachkriegszeit auf dem Lande aufrecht gehen lernen. Es war ein gelungener Gegenentwurf zu den in jener Zeit hoch im Kurs stehenden und heute wieder hervorgeholten verkitschten Heimatfilmen. Berührend vor allem das Schicksal des "krummen Anton", zugleich Untertitel des ersten Teils. Diese Rolle verkörperte Raimund Schelcher; es war eine seiner besten.

Mehrfach wandte sich Kurt Maetzig Geschichts- und geschichtsträchtigen Stoffen zu, so im "Lied der Matrosen" (1958) oder in der "Fahne von Kriwoi Rog" (1967). Er drehte aber auch mit leichter Hand die Tragikomödie "Vergesst mir meine Traudel nicht" (1957), in der er seinen Thälmann-Darsteiler Günther Simon ebenso besetzte wie in dem ersten Science-Fiction-Film der DEFA "Der schweigende Stern" (1959).


Kurt-Maetzig-Filmografie
Auswahl
1947: Ehe im Schatten / 1949: Die Buntkarierten / 1950: Der Rat der Götter, Immer bereit (Dokumentarfilm), Familie Benthin / 1952: Roman einer jungen Ehe / 1954: Ernst Thälmann - Sohn seiner Klasse / 1955: Ernst Thälmann - Führer seiner Klasse / 1956: Schlösser und Katen - Der krumme Anton, Schlösser und Katen - Annegrets Heimkehr / 1957: Vergesst mir meine Traudel nicht / 1958: Das Lied der Matrosen / 1959: Der schweigende Stern / 1960: Septemberliebe / 1961: Der Traum des Hauptmanns Loy, Der Schatten (TV-Film) / 1962: An französischen Kaminen / 1965: Das Kaninchen bin ich / 1967: Das Mädchen auf dem Brett, Die Fahne von Kriwoi Rog / 1972: Januskopf / 1975: Mann gegen Mann


Einen tiefen Einschnitt, der bis ans Lebensende Maetzigs seine Wirkung hinterließ, bedeuteten die Geschehnisse um seinen Film "Das Kaninchen bin ich",vor allem dessen Verbot. Ausgelöst durch eine hektische Reaktion auf diesen Film auf dem 11. Plenum des ZK der SED kam es zum Verdikt fast einer ganzen Jahresproduktion des DEFA-Spielfilmstudios. Der Film entstand nach einem nicht zugelassenen Roman von Manfred Bieler. Der "Kaninchen"-Film zeigt die Odyssee des Mädchens Maria, dessen Bruder wegen republikfeindlicher Äußerungen ins Gefängnis kommt und das sich just in den Richter verliebt, der den Bruder verurteilte (Angelika Waller und Alfred Müller). Der Film plädierte gegen Heuchelei und für eine Reform der Rechtsprechung, für einen besseren, demokratischen Sozialismus. Kurt Maetzig hat nach diesem ihm, der DEFA und der DDR-Kunst überhaupt widerfahrenen Unrecht Selbstkritik geübt; ob aus Selbstverleugnung, Anpassung oder weil er Kollegen schützen wollte - wovon sein langjähriger Weggefährte Wolfgang Kohlhaase überzeugt ist -, bleibt offen. Festzuhalten ist, dass der Nestor der DEFA nach diesem Widersinn nicht mehr zu einem großen Wurf ansetzen konnte.

Der Querdenker hat den Stellenwert der DEFA als Teil der deutschen Filmgeschichte der Nachkriegszeit entscheidend mitgeprägt. Einigkeit herrschte unter den DEFA-Akteuren vom Neubeginn an in der Zielsetzung, dass der Film mit seinen Möglichkeiten einem friedlichen Streben seiner Zuschauer dienen sollte, getreu dem Grundsatz Maetzigs: "Alle echte Kunst hat eine Tendenz und nimmt zu etwas Stellung". Diesem Credo folgte er auch in seiner sonstigen Tätigkeit. Er war Gründungsrektor der Filmhochschule Babelsberg (1954-1964) und berufener Professor für Filmregie. Er war eine leitende Persönlichkeit im Verband der Film- und Fernsehschaffenden und aktives Mitglied der Akademie der Künste.

Als er mit 65 Jahren mit der aktiven Filmarbeit aufhörte und sich in sein Haus in Windkuhl im Mecklenburgischen zurückzog, wurde er Vizepräsident der internationalen Filmklubvereinigung FICC und deren Ehrenpräsident auf Lebenszeit. Er war Präsident des Nationalen Spielfilmfestivals der DDR, der Zentralen Arbeitsgemeinschaft der Filmklubs der DDR und schrieb über sein Schaffen ein Buch mit dem schlichten Titel "Filmarbeit". Gern gesehen war er als häufiger Gast und aktiver Mitgestalter in Veranstaltungen der Filmklubs im Kulturbund.

Bis zu seinem Tod blieb er seiner Lebensmaxime treu, die er vor knapp zehn Jahren formulierte: "Ich bin in all den Jahrzehnten ein Humanist, ein Aufklärer und ein demokratischer Sozialist gewesen. Als solcher bin ich in die Kommunistische Partei eingetreten. Das bin ich auch geblieben und das bin ich heute noch."

Und er hatte auch seinen eigenen Humor. Nicht als Aufruf zur Selbstaufgabe sollte sein Spruch legendär werden: "Wir können nicht noch größere Autos in noch größeren Karambolagen von noch höheren Brücken stürzen lassen als Hollywood."


Abbildung der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht:

Kurt Maetzig, 25. Januar 1911 - 7. August 2012

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Personalia

Rüdiger Bernhardt

Die Konturen einer menschlichen Zukunft

Zu Erwin Strittmatters 100. Geburtstag

Viele Menschen erinnern sich an die Werke des sozialistischen Schriftstellers Erwin Strittmatter: an Bücher wie "Tinko", "Ole Bienkopp", "Der Wundertäter" und andere; man nennt sie noch heute "prägende Leseerlebnisse" (Joachim Jahns), obwohl die Erlebnisse oft von der Schule ausgingen. Pflichtlektüre aber hinterlässt meist mehr Abwehr als Zuneigung. Was war, was ist bei den Büchern Erwin Strittmatters, die ein riesiges Publikum fanden und finden, das quer durch die sozialen Schichten ging, anders? Begründet die Antwort auch die Zurückhaltung, die das heutige Bildungssystem Strittmatter gegenüber übt?

Zwei Besonderheiten machen - neben den gewählten Themen - Strittmatters Bücher zu dauerhafter Literatur: Zum einen gelang es dem Schriftsteller, schlichte und einfache Menschen seiner Gegenwart erzählen zu lassen und naive Erzähler einzusetzen, die mit den Feinheiten der Politik und Diplomatie, auch des bürgerlichen Umgangs und der die Salons bestimmenden Kunstgespräche nicht umfassend vertraut sind, aber dafür ihren Alltag hartnäckig bewältigen und daraus Gefühle für Gerechtigkeit und Schönheit entwickeln, die sie zum Maßstab ihres Lebens machen. Tinko, die Titelgestalt des Romans von 1954, ist bereits am Anfang des Strittmatter'schen Schaffens eine auffallende Gestalt, der andere folgten: Er "erfindet" in der Schule Aufsätze und liebt Gedichte. Der Roman ist in mehr als einer Million Exemplaren verbreitet, wurde 1957 verfilmt und 1971 von Hans Dieter Schmidt zum Schauspiel verarbeitet. Das Buch, ursprünglich "Für Leser von 13 Jahren an" vorgesehen, hat sein Publikum in allen Altersklassen gefunden. Seine Besonderheit? Strittmatter setzte einen jungen, zwölfjährigen Erzähler ein, aus dessen naiver Sicht die schwierigsten Zusammenhänge mitgeteilt werden. Nicht immer gelingen dabei die notwendigen radikalen Vereinfachungen, aber das jugendliche Erzählvermögen schafft in seiner Mischung aus Sprödigkeit und Überschwang eine beeindruckende Dichtung.

Zum anderen haben Strittmatters Erzähler ein Fernziel vor Augen, das utopisch anmutet, aber dessen soziale Konturen man erkennt, wenn man nicht durch die Schwierigkeiten der Gegenwart, von denen es in Strittmatters Romanen und Erzählungen genügend gibt, erstarrt und blind wird, sondern danach fragt, was durch die Arbeit des Menschen für die Menschen möglich wird. Ole Bienkopp, der Titelheld des Romans von 1963, war beispielhaft: Der Selbsthelfer sucht Verbündete in der Partei, die "bescheidener (ist), geneigter zuzuhören, was man liebt und fürchtet". Bienkopp hatte seine Probleme mit der Partei, wie sie auch Strittmatter hatte. Aber die menschlichen Schwächen der Genossen ließen ihn nicht am Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung zweifeln, die für ihn durchaus offen für alles war, was er für menschenwürdig erkannte: Selbst esoterische Ideen und der Buddhismus drangen so in seine Werke, etwa in den "Wundertäter III", ein. Gestalten wie Tinko, Bienkopp und Esau Matt kamen zu legendärer Berühmtheit. Seine Massenwirksamkeit unterschied Strittmatter von anderen erfolgreichen Autoren der DDR. Christa Wolf hatte ihr Publikum wie Volker Braun vor allem unter Intellektuellen und Akademikern; Hermann Kant fand es insbesondere unter Studenten und der neuen Intelligenz. Allenfalls Erik Neutsch, wie Strittmatter kam auch er vom Journalismus zur Literatur, konnte ein sozial breit gefächertes Publikum fesseln, unterschied sich von Strittmatter jedoch durch die Themen aus Industrie und städtischem Umfeld. Strittmatters Themen kamen bevorzugt vom Lande; Gemeinschaft und Bauernhilfe waren schon im "Tinko" zentrale Begriffe; die Genossenschaft war eine Form, der sich Strittmatter anschloss. Sein Lesepublikum war nicht nur sozial ausgewiesen - über Proletarier hinaus waren es die "kleinen Leute" -, sondern ethisch.

Strittmatters Werk lässt keinen Zweifel an seiner literarischen, politischen und moralischen Bedeutung zu. Die unsäglichen Diskussionen über die Rolle des Schriftstellers im Zweiten Weltkrieg haben ergeben, dass Strittmatter nicht der SS angehörte und ihm Schuld nicht nachgewiesen werden kann. Annette Leo hatte für "Erwin Strittmatter. Eine Biographie" (2012) die Briefe aus dem Privatarchiv der Strittmatters zur Verfügung und konnte die meisten Vorwürfe entkräften; bestätigen konnte sie eine Haltung, die in den Briefen an die Eltern das sagte, was die Zeit hören wollte, zumal wenn man selbst nicht sehr mutig war. Das aber war Strittmatter nicht. Nur schmälert eine solche Schwäche nicht ein Werk, dass zudem nach mehrfacher Bestätigung durch den Schriftsteller angelegt war, Schuld, Scham und menschliche Schwächen zu sühnen und aufzuarbeiten.

Joachim Jahns hat Strittmatters Verstrickung in seinem Buch "Erwin Strittmatter und die SS" (2011) minutiös nachgewiesen und begründet, warum die Zerstörung des Strittmatter-Bildes von bestimmten Kreisen so rigoros betrieben wurde: Sollte die "geschickte Inszenierung" dazu dienen, ihren Erfinder Liersch heute "an die Seite der 'Sieger der Geschichte' zu führen" (Jahns, S. 11)? Strittmatter hat im Zweiten Weltkrieg bei der Polizei gedient, aber das literarische Werk des Schriftstellers diente der Aufarbeitung der Schuld aus faschistischer Zeit, die weit geringer ist als die früherer Bundespräsidenten, Kanzler, Minister und anderer hochrangiger Politiker. Strittmatter jedenfalls sah seine Werke als Bemühung, "meine Verfehlungen zu tilgen" (Jahns, S. 45). Es ergab sich, dass Strittmatter seine Zugehörigkeit zu einer Polizeieinheit in Lebensläufen nicht verheimlicht hatte und dass seiner Tagebucheintragung Glauben zu schenken ist: "Ich kann mich dem Ansturm von Kollektiv-Scham nur entziehen, wenn ich daran denke, dass den ganzen Krieg über keine Kugel meinen Gewehrlauf verließ." (6. August 1963); Anderes blieb Vermutung, Gerücht, Legende. Die Beschädigung Strittmatters passte manchem CDU-Politiker in den Kram; der Stadtrat in Strittmatters Geburtsstadt Spremberg lehnte eine Ehrung des Schriftstellers zu seinem 100. Geburtstag ab, angetrieben vom Fraktionsvorsitzenden der SPD im Stadtrat von Spremberg Andreas Lemke: Man konnte sich hinter den Vorwürfen verstecken, um nicht auf Strittmatters Werke eingehen zu müssen, denn das auf soziale Gerechtigkeit und die Beseitigung von Ausbeutung zielende Werk Strittmatters passt samt dem dazugehörigen Weltbild nicht ins heutige Bildungssystem und noch weniger ins Programm der herrschenden Politik. Dass Lemke bei dieser Gelegenheit eine neue Literaturgeschichtsschreibung installierte, indem er zum Grundsatz machte, Werk und Biografie eines Schriftstellers müssten übereinstimmen, zeigt, mit welcher Oberflächlichkeit und Verantwortungslosigkeit heute Urteile gefällt werden: In dieser Literaturgeschichte des Herrn Lemke würde vieles fehlen, auch die großen Werke der Weltliteratur, deren Autoren unbekannt sind. Die Geschehnisse in Strittmatters Werken sind alltäglich, vollziehen sich im ländlichen Raum, wo alte Hausmittel noch an der Tagesordnung sind; alles unterliegt jedoch Gesetzmäßigkeiten, die aus sozialen Grundlagen entstehen. Am Ende steht immer die Vorstellung einer Gesellschaft, die nie als vollkommenen oder vollendet erscheint, sondern in Umrissen erkennbar wird, die auszubauen sind. Die Treue zu dieser Thematik verschaffte den Werken den Eindruck des Dauerhaften, Beständigen und des Aufrichtigen. Dazu trugen auch die eingesetzten ästhetischen Mittel bei, die sich von keiner Mode beeinflussen ließen.

Ein schönes Beispiel ist die Eröffnung des "Ole Bienkopp": "Die Erde reist durch den Weltenraum. Der Mensch sendet eiserne Tauben aus und harrt ungeduldig ihrer Heimkehr. Er wartet auf ein Ölblatt von Brüdern auf anderen Sternen." Was in diesen drei Zeilen Handlung wird - eine ähnliche Romaneröffnung verwendete Arnold Zweig in "Der Streit um den Sergeanten Grischa" -, sind Mythos und Weltgeschichte, Gesellschafts- und Menschheitsprogramm. An die Errettung der Menschen aus der Sintflut wird ebenso erinnert wie an Symbole des Friedens, und auf anderen Sternen lebende Wesen werden in ein Programm der Gemeinsamkeit, der Brüder, eingefügt, das seine Herkunft aus der Aufklärung zu erkennen gibt. Was mit dem Weltraum beginnt, wird im nächsten Absatz auf ein Dorf übertragen, schließlich auf die Menschen. Der kleine Ausschnitt wird zum Exempel für weltgeschichtliche Vorgänge. Damit der Leser das auch nicht vergisst und weiß, wie sein Wirken auch im Alltäglichen nicht nur Lebensgrund schafft, sondern die Welt mitbestimmt, wird die Eröffnung am Ende des Romans mehrfach variiert. So entstehen Meisterwerke.

Es begann am 24. Februar 1950 mit dem Fortsetzungsabdruck des Romans "Ochsenkutscher", der 1951 als Buch erschien und dessen Held ein kindlicher, naiver Träumer war, der erste der Strittmatter'schen Helden. Auch in diesem Roman sind die ersten Sätze ein Programm: "Es klatscht. Lope fährt aus seinem Traum in die Wirklichkeit." Geklatscht hatte die Ohrfeige, die er von der Mutter erhielt, weil er eingeschlafen war, wieder geträumt hatte. Weltliterarische Parallelen sind erkennbar: Dieser Lope, naiv und nach Bildung drängend, ist ein Verwandter von Henrik Ibsens Peer Gynt (aus "Peer Gynt"), der ein Träumer und ein Lügner ist, wobei Lüge für Phantasie steht. Selbst in der Welt der Katen - Strittmatters Roman handelt in den Zwanziger- und Dreißigerjahren - vergessen Autor und Erzähler nicht, auf weltliterarische Traditionen hinzuweisen; Leo Tolstoi sei stellvertretend für eine lange Reihe genannt. Lope im "Ochsenkutscher" liest Tolstois Tagebuch und träumt sich von dort aus "nach dem fernen Lande", einem Land der sozialen Gerechtigkeit und des Friedens. Strittmatter hatte mit dem ersten Roman seinen Heldentyp, seinen unverwechselbaren Ton und seine Thematik gefunden. Zwar lernte er die "artistischen Tricks" von Hamsun bis Hemingway, von Stifter bis Gerhart Hauptmann, von Puschkin bis Laxness, "aber im Grunde blieb ich, der ich war, vom 'Ochsenkutscher' an", schrieb er rückschauend am 16. Mai 1971 in sein Tagebuch. Noch Strittmatters Erzähler in der späten Romantrilogie "Der Laden" (1983-1992), die auch zum Fernsehereignis wurde, bekennt sich zu seiner Naivität und setzt sie in Beziehung zu Brecht. Mit ihm hatte Strittmatter zeitweise enge freundschaftliche Beziehungen, entstanden aus gemeinsamer Arbeit am "Katzgraben" (1953) am Berliner Ensemble.

Um die Naivität seiner Erzähler und Helden wirken zu lassen, setzte Strittmatter sie bei Themen ein, die er kannte, die autobiografisch gesichert werden konnten. Das bedeutete nicht, dass alles Biografische in den Werken seinen Niederschlag fand, wie heute irrigerweise gefordert wird und wie es kein Schriftsteller je erfüllte. Sie schrieben, von Goethe bis zu Gerhart Hauptmann, wenn sie Autobiografien schrieben, Wunschbiografien. Strittmatter schrieb keine Autobiografie. Aber natürlich spielte Erlebtes - auch als Erdachtes auf der Grundlage des Selbsterlebten - die wichtigste Rolle. Die thematischen Ähnlichkeiten zwischen der Trilogie "Der Wundertäter" und der Trilogie "Der Laden" bestätigen das, waren aber thematische Varianten zu Konflikten, nicht zu biografischen Details. Strittmatters Vorräte an Themen, Figuren und Konflikten schienen unerschöpflich zu sein. Die Vielfalt der Themen in seinem Werk ist die Variation des einmaligen, keineswegs geradlinigen Lebens Strittmatters, in dem es auch fragwürdiges Verhalten gab. Das ist allerdings kein Kriterium für den Wert des Werkes, das sich dem Thema vom tätigen, freien und die Zukunft im Blick habenden Menschen widmet, wobei die Bodenreform entsprechende Besitzverhältnisse als Voraussetzung durchsetzte. Das wurde das Programm in Strittmatters literarischem Werk, wie es Programm seiner Arbeit - ob als Schriftsteller, als Genossenschaftsmitglied und als Verbandspolitiker - wurde. Die Konzentration auf diese Themen und den naiven Helden ließ Politiker selten in seine Werke ein oder zur Karikatur werden wie Frieda Simson im "Ole Bienkopp".

Bereits den "Ochsenkutscher" las die Kritik im Zusammenhang mit der Bodenreform, die im Roman selbst keine Rolle spielte, aber mitgedacht werden konnte. Dem Thema blieb Strittmatter treu; im letzten Band des "Ladens" ließ er keinen Zweifel daran: "Jener Held Lope Kleinermann, den ich schon in meiner Gartenhütte in Thüringen erfunden hatte, war bisher eine Figur aus Tinte und Papier geblieben. Er ging umher und befürwortete, leis propagandistisch, die Bodenreform und tat so, als ob sie der positive Schluss eines Märchens sei. Mit dem Land, von dem er nicht genau wusste, ob es geschenkt oder gestohlen sei, wollte er glücklich leben bis ans Ende." ("Der Laden III", S. 129) Aus dem Roman "Ochsenkutscher", einem Entwicklungsroman, einer von Strittmatter bevorzugten Form, wurde der Gesellschaftsroman "Ole Bienkopp", der am Ende - mit der Verwendung des Stafettenprinzips - an Anna Seghers' Gesellschaftsroman "Die Toten bleiben jung" erinnert: Die Kinder, die kommen werden, tragen Tat und Idee der Väter weiter. Ole Bienkopp stirbt, - dieser Tod war bei den Lesern umstritten, aber auch der alte Kraske war schon gestorben -, doch Oles Geliebte Märtke wird ein Kind von ihm bekommen, in dem Ole weiterlebt: "... ein Zipfelchen Glück, ein Vermächtnis".

Den Biografien der Strittmatter'schen Figuren liegt ein Modell zu Grunde: Ole Bienkopp hieß eigentlich Hansen, der Spitzname assoziiert Unruhe: Er hatte einen Bienenschwarm auf seinem Kopf nach Hause getragen. Er ist ein Träumer, der seine Utopien nicht aus dem Rüstzeug der Philosophen ableitet - die er zur Kenntnis nimmt -, sondern aus sozialen Erfahrungen. Der Erzähler lässt keinen Zweifel dann, dass die soziale Erfahrung zu den philosophischen und künstlerischen Entwürfen gehört. Im "Ole Bienkopp" wird deshalb Goethes "Faust" zitiert: Ole und sein Freund sind "freie Hirten unter freiem Himmel". Zu Goethes freiem Volk auf freiem Grund ist es ein weiter Weg, auf dem Ole am Ende des Romans ist. Als er Sümpfe trocken legt, um Düngemittel, Mergel, zu finden, stirbt er, nicht eine Illusion wie Faust, sondern einen realen Entwurf der Zukunft vor Augen: "Traktoren rumpeln über die Wiesen. Männer streun Mergel. Sauergräser und Binsen verschwinden. Klee sprießt, Luzerne und Honiggras. Mächtige Kühe, gescheckte Hügel, stehn bis zum Euter im hohen Gras."

Die Werke sind in ländlichen Räumen angesiedelt, in denen Strittmatter lebte und arbeitete, auch in der Genossenschaft. Die Aufbrüche seiner Gestalten in Städte sind selten, beschränken sich auf Kleinstädte (an Spremberg ist zu denken) und scheitern zumeist; die literarischen Figuren kehren in die Ländlichkeit zurück. Der Inbegriff wurde Strittmatters Schulzenhof (Dollgow, Ortsteil Schulzenhof), der sowohl als geographischer Ort wie auch als literarische Wirklichkeit in Briefen existiert. In den literarischen Texten ist die Niederlausitz bestimmend. Der Ausschnitt wird zum Konzentrationspunkt der Welt. Darin handeln meist Menschen, die mit ihrer Naivität Probleme vereinfachen, sie auf den Punkt bringen und erzählbar machen. Das trifft für das Kind Tinko zu, das sich zwischen Großvater und Vater entscheiden muss, die stellvertretend stehen für unterschiedliche Auffassungen von Arbeit und Besitz. Der Erzähler Tinko ist ein Kind, Ole Bienkopp ist ein "großes Kind", der Wundertäter Stanislaus Büdner erhält sich seine kindliche Naivität. Esau Matt (im "Laden") berichtet zumeist aus naiv-kindlicher Perspektive über "Familienkatastrophen", die Abbild anderer Katastrophen sind. Nichts in den Beziehungen seiner Figuren untereinander entspricht tradierten Normen; der Sonderfall wird gesucht. Strittmatters Texte sind eine besondere Art der Erinnerungsliteratur, die ästhetischen Genuss bereitet und soziale wie gesellschaftliche Einsichten vermittelt, die das Bild einer entstehenden sozialistischen Gesellschaft erhalten.

(Vorabdruck aus der Zeitschrift "Marxistische Blätter" Nr 5/2012 mit freundlicher Genehmigung der Redaktion)


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Eva und Erwin Strittmatter beim Schriftstellerbasar in der Berliner Kongresshalle am 7. Oktober 1974
- Taschenbuchausgabe von Strittmatters "Der Laden" Aufbau-Verlag 2009)

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Rezensionen, Annotationen, Empfehlungen

Klaus Eichner

"Üb' immer Treu und Redlichkeit"?

Frank Baier. "'Die Garnisonkirche braucht niemand'. Argumente gegen den Wiederaufbau", Spotless-Reihe Nr. 254, Verlag Das Neue Berlin 2012, 96 S., brosch., ISBN 978-3-360-02071-0, 5,95 €

Der Naturwissenschaftler Frank Baier legt mit diesem Spotless-Buch eine wertvolle Arbeit vor, die als Widerspruch zum Friedrich-Kult in diesem Jahr unsere Aufmerksamkeit verdient. Das Buch ist als eine Antwort auf die verstärkten Bemühungen konservativer Kreise zur Wiedererrichtung der Garnisonkirche in Potsdam und damit zur Wiederbelebung des "Geistes von Potsdam" angelegt. Der Autor weist überzeugend die Verquickung von Preußentum und Militarismus mit den reaktionärsten Kirchenkreisen nach, die 1933 mit dem Händedruck zwischen Hindenburg und Hitler im Schatten der Garnisonkirche am "Tag von Potsdam" ausdrücklich und öffentlich besiegelt wurde.

Es liegt wohl auch im Traditionsverständnis der Bundesweht dass bereits 1987 das Fallschirmjägerbataillon 271 in Iserlohn das von einer Traditionsgemeinschaft Potsdamer Glockenspiel e.V. gestiftete Glockenspiel der Garnisonkirche übernahm.

Es verwundert deshalb nicht, dass an der Spitze aller Aktivitäten zum Wiederaufbau der Garnisonkirche immer hohe Dienstgrade der Bundeswehr standen und stehen. Die Verantwortlichen für diese frühe Attacke zur Belebung des Geistes von Potsdam handelten im vollen Bewusstsein, dass von der Kanzel der Garnisonkirche in den Jahren der faschistischen Herrschaft immer und immer wieder "das Kämpfen, das Töten, das Siegen und das Sterben gepredigt (wurde) wie schon immer in Preußen". (S. 25)

Frank Baier fügt in seine Arbeit auch einen kritischen Exkurs ein über den besonderen Kult, der in der Bundesrepublik über den Widerstand gegen Hitler aus Kreisen führender Militärs der Naziwehrmacht mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 betrieben wird. Er weist nach, dass die Akteure fast bis zuletzt treu ergebene Vollstrecker des Willens der faschistischen Führung waren. Erst angesichts der drohenden Niederlage sahen sie im "Tyrannenmord" einen Ausweg.

Der Autor stellt abschließend einige Alternativen zur Garnisonkirche zur Diskussion, die alle einem Ziel dienen sollten: "Lasst uns dieser deutschen Stadt Potsdam, die über Jahrhunderte Ausgangspunkt zahlreicher Kriege war, ein neues Leben geben und lasst uns das den Völkern unseres Erdballs mit neuen Symbolen zeigen." (S. 84)

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Rezensionen, Annotationen, Empfehlungen

Horst Jäkel

Gegen die kannibalische Weltordnung

Jean Ziegler: "Das Imperium der Schande", Wilhelm Goldmann Verlag München, erschienen im Pantheon Verlag München 2007, ISBN 978-3-442-15513-2, 8,95 €

Der Schweizer Humanist, Politiker und Diplomat aus Genf war von 2000 bis 2004 UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und informierte sich in vielen Ländern der Erde über die reale Lage der Menschen. Er greift die Verursacher von Hunger, Elend, Krankheiten, Krisen und Krieg, die er als Beutejäger des globalisierten Kapitals bezeichnet, scharf an und benennt sie mit Namen.

Ziegler besuchte Hungernde und Kranke in Äthiopien, Brasilien, Bangladesh, Palästina und weiteren Ländern. Immer wieder stieß er auf die Hauptschuldigen, die Verursacher von Tod und Umweltzerstörung. Er nimmt kein Blatt vor den Mund und findet deutliche Worte zur Bezeichnung dieses Imperiums der Schande, der transnationalen Privatgesellschaften, der Industrie, der Banken, des Dienstleistungssektors und des Handels, deren oberstes Prinzip in der Profitmaximierung besteht. Mit kosmokratischer Barbarei, todbringender (Un-)Ordnung, Hirngespinst der Freiheit, globalisiertem Raubtierkapitalismus, "Weltkrieg gegen den Terrorismus", willkürlicher totalitärer Gewalt, Diktatur der Kosmokraten, Ideologen des Präventivkrieges, Inquisitoren im Weißen Haus oder Schergen des IWF aus Washington und ähnlichen Begriffen charakterisiert er dieses Ausbeutersystem.

J. Ziegler belässt es nicht bei drastischen Bezeichnungen, sondern belegt seine Einschätzungen mit beweiskräftigen Fakten, so zum Beispiel mit Privatisierung des Wassers, organisiertem Mangel an Nahrungsgütern, Verschuldung durch Wucherzinsen, Preisdiktat (niedrige Rohstoffpreise, hohe Preise für Industriegüter, Saatgut, Medikamente) in den armen Ländern, aufgezwungenen Waffenkäufen, Brandrodung für die Agrarindustrie zur Treibstoffproduktion auf Kosten von Nahrungsgütern, Lobbyismus, Bestechung, Korruption, Propaganda, Zerschlagung von Gewerkschaften, Umweltverschmutzung und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen und anderem.

Nicht wenige besonders drastische Beispiele der imperialistischen Verbrechen nimmt er direkt aufs Korn: den Einsatz von Agent Orange (Dioxin) durch das USA-Militär in Vietnam mit 800.000 Menschenopfern, den US-NATO-Raubüberfall auf den Irak, das israelische Kolonialregime gegen die Palästinenser, die Begünstigung des Mobutu-Verbrecher-Regimes durch Schweizer Banken, die CIA-gesteuerten Putsche in Lateinamerika am Beispiel von Chile und Brasilien, die Vergiftung von mehr als 20.000 Menschen in Bhopal (Indien) durch die raffgierige USA-Firma Union Carbide und andere mehr.

Mehrere kapitalistische Beutegreifer werden konkret unter die Lupe genommen: der Schweizer Josef Ackermann (Deutsche Bank), die "Krake von Vevey" (Nestlé-Konzern, Schweiz), die US-Politiker D. Cheney, D. Rumsfeld, C. Rice, G.W. Bush, H. Kissinger und andere. Nicht zuletzt belegt J. Ziegler mit Fakten, wie der USA-Imperialismus die UNO schwächt und mit geheimdienstlichen Mitteln UNO-Mitarbeiter überwacht und mit deren Liquidierung bedroht.

Zieglers Blick auf China und Russland scheint mir korrekturbedürftig. Die Rolle der kubanischen Ärzte in armen Ländern sowie die Aktivitäten von Chavez, Morales und Lula würdigt er positiv. Jean Ziegler legt nicht nur eine brauchbare Analyse über das Imperium der Schande vor, sondern fordert auf zum Widerstand, zur Solidarität der Betroffenen, zur Überwindung der "kannibalischen Weltordnung", zum "Krieg für die planetarische soziale Gerechtigkeit", zur Revolution, zum totalen Umsturz.

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Rezensionen, Annotationen, Empfehlungen

Dieter Rostowski

Ritterlich?

Klaus Weier: "Schreckliche Generäle", Militärverlag 2012, 288 S., kart., Art.-Nr. 69534, 19,95 €, bestellbar unter der kostenfreien Telefonnummer 0800/1818118

Was der in Kamenz lebende Militärhistoriker Klaus Weier mit diesem neuen Buch dem Leser offeriert und entlarvt, ist alles andere als ritterlich: die Generalität der deutschen Wehrmacht. Über Jahrzehnte hatte sich in der alten Bundesrepublik das Bild von der "sauberen Wehrmacht" gehalten. Einzig der "Befehlsnotstand" habe die Militärs zu Handlungen gezwungen, die ihren "humanistischen Überzeugungen" widersprachen. Da darf schon mal gefragt werden, welche humanistischen Überzeugungen denn das gewesen sein sollen.

Anerkennenswert ist, dass Klaus Weier mit diesen Legenden endgültig aufräumt. Mehr noch: Mit vielfältigen Archivunterlagen und Selbstzeugnissen liefert er eine faktenreiche und überzeugende Abrechnung mit dem deutschen Militarismus. Er entlarvt die Kriegspläne seit 1919 und schlägt den Bogen bis zu den Vorkommnissen der Gegenwart im Irak oder in Libyen.

Schon bevor der Hitlerclique die Macht übergeben wurde, hatte die deutsche Militärführung mobil gemacht. Denn bereits im Januar 1932 legte sie ihr Rüstungsprogramm vor. So sollte bis 1937 "das neue Friedensheer" auf 21 Divisionen gebracht werden. Diese Clique war auch in der Folgezeit die treibende Kraft, und ihre Kriegsziele und die der Naziführung stimmten völlig überein. Die verantwortlichen Militärs waren mehrheitlich erzkonservativ und antibolschewistisch eingestellt. Sie alle zusammengenommen träumten von der Weltherrschaft, allen voran Hitler, ihr oberster Befehlshaber.

Begrüßenswert ist, dass dieses Buch schon jetzt, im Vorfeld des 70. Jahrestages der endgültigen Niederlage des deutschen Faschismus und Militarismus, auf den Buchmarkt kommt; ein guter Beitrag zum Tag der Befreiung des deutschen und sorbischen Volkes vom verbrecherischen Hitler-Faschismus 1945.

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Rezensionen, Annotationen, Empfehlungen

Wolfgang Runge

Unverfälscht

Erich Honecker "Zu dramatischen Ereignissen", Verlag Wiljo Heinen 2012, Weißdruck-Reihe 6, 188 S., brosch., ISBN 978-3-939828-98-3, 7,50 €

Dieses Buch wurde - im Unterschied zu anderen Veröffentlichungen - von Erich Honecker autorisiert. So bietet sich dem Leser die Chance, am authentischen Text selbst zu prüfen, ob Honeckers Meinung vor der Geschichte Bestand hat. Wolfgang Runge schrieb u. a. in seinem Nachwort: "Vor 20 Jahren, Anfang Juli 1992, erschien im W. Runge Verlag Hamburg ein schmaler Band mit einem hochbrisanten Text. Der frühere Generalsekretär der SED und Vorsitzende des Staatsrates der DDR nahm in diesem Text Stellung zu den dramatischen Ereignissen, die sich mit dem Abbruch des sozialistischen Entwicklungsweges in den Staaten des Warschauer Vertrages abzeichneten. Erich Honecker, damals noch im Exil in Moskau, hat diesen Text, ohne einen großen wissenschaftlichen Apparat zur Verfügung zu haben, verfasst. Es ist der einzige von ihm autorisierte Text. Die Versuche, noch nachträglich aus Tonbandaufzeichnungen zusammengeschriebene Texte als von Erich Honecker autorisierte Stellungnahmen auszugeben, wie das wiederholt von den Geschichtsverdrehern eines Fernsehsenders gemacht wurde und wird, zeigen nur, dass die Delegitimierung der DDR trotz des Einsatzes von viel Geld und der Mitwirkung von Wendehälsen unter den damaligen DDR-Historikern nicht den gewünschten Erfolg hat. Letztlich zeigt sich auch daran, dass die Erklärungen Erich Honeckers auch heute noch von großer Bedeutung für die Geschichte sind. Der historische Wert dieser Veröffentlichung besteht darin, dass dieser Text, in der politischen Auseinandersetzung 1989/90/91 geschrieben, auch nach zwanzig Jahren noch seine Bestätigung findet. Anlass für junge Leserinnen und Leser, dieses zeitgeschichtliche Dokument zu den dramatischen Ereignissen zu lesen. Sie werden feststellen, dass dieser Text vor der Geschichte Bestand hat."

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Rezensionen, Annotationen, Empfehlungen

Klaus Georg Przyklenk

Das Urteil des Paris

Karlen Vesper: "Roland Paris. Wahr und wahrhaftig", Verlag Das Neue Berlin 2012, 240 S., geb. mit Schutzumschlag, 16seitiger farbiger Bildteil, 16 S. Zeichnungen, ISBN 975-3-360- 02147-2, 18,95 €

Ja, etwas anderes als seine Weltanschauung kann uns ein Maler nicht geben. Und doch klingt im herrschenden Mainstream das Wort wie ein Vorwurf, nicht allzu weit weg vom Vorwurf des Kleinbürgers "Pfui, ein garstig Lied, ein politisch Lied".

Die Weltanschauung des Malers Roland Paris wird uns in diesem Jahr, in dem er am 12. August seinen 79. Geburtstag feierte, zwiefach und eindringlich zur Kenntnis gebracht. Zum einen sind da seine Bilder, die vom 3. Juni bis zum 12. August in der Willi-Sitte-Galerie in Merseburg gezeigt wurden. Und dann ist es dieses Buch "Wahr und wahrhaftig" aus dem Verlag Das Neue Berlin. Beides gibt eine sehr genaue Vorstellung von der Weitsicht des Ronald Paris. Im Interviewband der ND-Journalistin Karlen Vesper gibt er auf kluge Fragen kluge, bekenntnishafte Antworten: "Glauben Sie, dass sich die Sisyphosarbeit Sozialismus die Menschen noch einmal antun wollen?" "Davon bin ich überzeugt. Wie viel Zeit ist ihm denn zum Üben vergönnt gewesen? Ein paar Jahrzehnte. Nicht mal ein volles Jahrhundert. Was ist das im Vergleich zu der mehrtausendjährigen Menschheitsgeschichte? Die Idee des Sozialismus ist nicht tot und gewinnt neue Kraft." Solche Sätze gelten dem bürgerlichen Feuilleton allemal als Ausweis dafür, jemanden alten Denkens, der Ostalgie, der Unbelehrbarkeit wegen zu verurteilen. Das kümmert Paris wenig, weiß er sich doch ohnehin als Künstler der DDR gebrandmarkt.

Wohl wird in dem Buch der Lust auf das Anekdotische breiter Raum gewährt; die klugen Fragen nach dem Gehalt der Malerei geraten dabei aber nicht an den Rand. Und eine dieser Fragen ist die nach dem "sozialistischen Realismus". Paris antwortet mit Gabriele Mucchi: "Gabriele war einem Realismus im Denken und in der Kunst verpflichtet. ­... Für ihn war einzig die ideelle Haltung wichtig, nicht ein Stil. 'Eine realistische Haltung ist dialektisch', betonte er."

Hier, an so einer Stelle hätten auch die Fragen gestellt werden können, die der Journalistin nicht einfielen, die ein Kunstwissenschaftler an dieser Stelle wohl hätte stellen mögen: Welche gestalterischen Probleme bewegten den Maler, bestimmten seine Farbwahl, seine Formverfremdungen, seinen weitgehenden Verzicht auf die perspektivische Raumdarstellung? Es wären die Fragen nach künstlerischem Suchen und Finden von Bildlösungen, Fragen auch nach Traditionslinien, die für ihn doch offensichtlich weitab von der offiziell verordneten Menzel- und Repinnachfolge gelegen haben müssen. An dieser Stelle weist Paris auch auf die immer noch schmerzende Wunde der Formalismusdebatte, und er weiß eine nicht entschuldigende, aber doch verständlich machende Antwort auf Karlen Vespers Stichwort von den "DDR-Ideologen": "Vielleicht lag es ja auch am Mangel an Bildung. Sie haben immer nur gekämpft und gekämpft. Und nun mussten sie ein Land regieren, hatten also keine Zeit mehr, Bildung nachzuholen, die ihnen in ihrer Jugend verwehrt war auch weil sie ab 1933 in Zuchthäusern und Konzentrationslagern saßen oder sich im Exil mit existenziellen Problemen herumschlagen mussten. Das darf man ja nicht vergessen. Ich will niemanden Vorhaltungen machen. Ich frage mich aber, warum Politbüromitglieder sich so selten in Theatern und Opern oder bei Konzerten sehen ließen.Ausgenommen Wilhelm Pieck ... und Otto Grotewohl." Unbelehrbar? Das liest sich anders.

Abschließend noch die ernüchternde Feststellung: Bis auf den Glaubenssatz, dass Kunst das ist, was sich im Kunsthandel verkaufen lässt, hat auch die bürgerliche Kunstwissenschaft noch nicht zu definieren gewusst, was Kunst ausmacht. Nur eins wissen sie genau. Paris deutet es an, wenn er, nach Baselitz befragt, an dessen generellen Verriss der Malerei erinnert. Wie gesagt, Paris deutet es nur an. Baselitz-Originalton: "In der DDR gab es keine Maler. Das waren alles Arschlöcher."

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Rezensionen, Annotationen, Empfehlungen

Bernhard Igel

Wirklichkeit und Traum

Armin Stolper: "Kaschpar und Hobbelewitje", GNN-Verlag Schkeuditz 2012, 360 Seiten, brosch., ISBN 978-3-89819-382-5, 18,00 €

Mit "Kaschpar und Hobbelewitje" hat Armin Stolper den zweiten Band einer im Entstehen begriffenen Trilogie vorgelegt. Der erste Band mit dem Titel "Kaschpar Theater" erschien im vergangenen Jahr. Verlegt hat sie der rührige Schkeuditzer GNN-Verlag.

Stolpers Kaschpar ist eine an närrischen Verwandten reiche Kunstfigur mit einem starken und kaum verschlüsselten autobiographischen Hintergrund. Er sieht sich als "eine alte Mensch, aus Schlesien gebürtig", als "halbe Pole und eine ganze Idiot", dabei "hoffnungslos rückwärts gewendet" und "Kommunist vom Scheitel bis zu Sohle", als "schlesischen Laberarsch", "Nationalliteraturfabrikanten", "parteilichen Mensch ..., religiös manchmal, aber auch nur, wenn es sich handelt um Verbindung zwischen Jesus und Marx", als einen also, der etwas getan hat "für Fortschritt und Sozialismus, für Humanismus und Frieden in diese Welt". Dies charakterisiert den Stolper-Kaschpar: "... immer wenn man ist verzweifelt in Gegenwart, verraten von Vergangenheit, muss man denken an Zukunft." Seine generelle politische Sorge: die "veruneinigten Kommunisten".

Kaschpars Partner, Hobbelewitje, ist eine Schöpfung des Flamen Felix Timmermans, zu finden in dessen hochpoetischer Erzählung "Das Jesuskind in Flandern", wo er als Narr von Herodes auftritt. Stolper hat der bei Timmerman nur episodisch angelegten Figur volles Leben eingehaucht und sie als "Strolch, der sich herumtreibt in alle Zeiten und Zonen von Welt", als "eine selten dämliche Kerl, diese gute Mensch" charakterisiert.

Beide Erznarren, stand- und trunkfest, sind "unglicklich, wenn sie beisammen und streiten sich und sind noch unglicklicher, wenn sie getrennt und nicht kennen huldigen von Dialektik". Zu zweit bilden sie die kleinste linke Parteigruppe. Hobbelewitje, ein "Gespenst aus der Vergangenheit", das zum "lerneifrigen Genossen der Gegenwart" aufsteigt, ist als markante literarische Figur der unerlässliche Stichwortprovokateur und Dialogpartner Kaschpars. Man merkt dem Buch im Übrigen an, dass sein Verfasser ein gestandener Dramatiker ist. Hier wird nicht fortlaufend erzählt, sondern das Geschehen schreitet in Zwiegesprächen mit seinen schnell wechselnden Realien konfliktreich voran. Bewertete Personen, Ereignisse und Zustände wechseln unablässig so wie das in Alltagsdiskussionen meistens der Fall ist. Sie lassen für lange Schilderungen keinen Raum, was den außerordentlichen Reichtum an betrachteten und beurteilten Erscheinungen aus dem täglichen Leben von Vergangenheit und Gegenwart ermöglicht.

Zwei Themenkomplexe durchdringen die erzählte Welt: das stets gegenwärtige familiäre Umfeld des Autors, sein Leben und Schaffen sowie die überwiegend deutsche Gesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts in ihrer Totalität, gebrochen durch deren Betrachter. Zu fragen ist also nicht, was Kaschpar und Hobbelewitje alles kritisch am Wickel haben, sondern was ihnen im Eifer der Wortgefechte entgangen ist. Viele Anspielungen auflebende und tote Personen, z. B. Politiker, Schriftsteller, Theaterschaffende, Dissidenten, Wendehälse, Verräter und Getreue, dürften nur den intimen Kennern der "Szene" sofort geläufig sein.

"Kaschpar und Hobbelewitje" besteht aus fünf Kapiteln mit insgesamt 58 in sich geschlossenen feuilletonartigen kurzen Geschichten zu jeweils einem thematisch dominierenden Dialogkomplex. Sie sind in ihrer Abfolge relativ unproblematisch austauschbar, wenn man davon absieht, dass Hobbelewitje als gelehriger Schüler seines Mentors Kaschpar eine sprunghafte Entwicklung in der Breite und Tiefe seines Interessenspektrums erfährt. Er, der große Liebhaber und Lüstling, schlüpft im Fortschreiten der aktivierenden Beziehungen zu Kaschpar in die verschiedensten Gestalten, um gesellschaftliche Tatbestände aller Art zu erfahren und beurteilen zu können. Nichts wird um seiner selbst willen erzählt. Auch das längst Vergangene holen die beiden Erznarren mit oft geradezu artistischen gedanklichen Sprüngen in die Gegenwart zurück und verschmelzen es so zu einem provokativen politischen Komplex.

Ein erhebliches Problem für viele Leser dürfte die völlig ungewohnte und originelle sprachliche Gestaltung des Buches sein. Stolper erzählt, fern der genormten deutschen Hochsprache, in einer von ihm erfundenen Abart des Wasserpolnischen. Der verwendete Wortschatz ist umgangssprachlich-salopp, stark bildhaft, kraftvoll, unmittelbar und gepfeffert mit allerlei polnischen und deutschen Vulgarismen. Diese verfremdende sprachliche Formgebung ermöglicht dem Autor Aussagen, die er so hochdeutsch nicht an den Mann bringen könnte. Dass dabei gelegentlich etwas zuviel des Guten getan wird, sei lächelnd am Rande vermerkt. Gesagt werden muss aber auch, dass bei aller Schärfe des gebrauchten Wortmaterials in dessen Hintergrund ein warmer und heiterer Ton mitschwingt. Das "Deutsch" der beiden Narren ist reine Gewöhnungssache. Je weiter man im Buch vorankommt, desto vertrauter und liebenswerter wird es einem, da es deren eigentliche Existenzform ist.

"Kaschpar und Hobbelewitje" ist ein realistisches Werk der politischen und kulturpolitischen Abrechnung mit der reaktionären Welt von gestern und der Reaktion von heute. Man spürt von der ersten Geschichte an, dass sich Armin Stolper den in Jahrzehnten aufgehäuften Frust von der Seele schreibt und sich damit in die Reihe derer stellt, die all jenen entgegentreten, die "falsch Zeugnis ablegen" wider die DDR, die sie verunglimpfen und verteufeln und deren Bürger demütigen, indem sie ihnen mit Missachtung ihre Lebensleistung absprechen. Mit Nachdruck bekennt "Sztolpehrs" Kaschpar: "War DDR nicht nur so beschissn wie oft in Wahrheit, sie war auch so, wie sie war in unsere Träume. Und lassen wir uns beides nicht wegnehmen: Wirklichkeit und Traum."


(Nachbemerkung der Redaktion: Am 28. Juni 2012 las Armin Stolper, einfühlsam moderiert von Hanka Görlich, in der GBM-Galerie Berlin aus diesem Buch.)

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Jeder, der in der Geschichtsschreibung die Tatsachen fälscht, ist ein schlechter Staatsbürger.

(Claude-Adrien Helvétíus: Vom Menschen, von seinen geistigen Fähigkeiten und von seiner Erziehung, Berlin und Weimar 1976, S. 60)

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Rezensionen, Annotationen, Empfehlungen

Maria Michel

Ein verlorenes Klischee

Matthias Krauß: "Völkermord statt Holocaust.Jude und Judenbild im Literaturunterricht der DDR", Schkeuditzer Buchverlag 2012, 224 S., 16 Schwarzweißabbildungen, brosch., ISBN 978-3-935530-89-7, 14,50 €

Holocaust: ein Wort, das uns wie unzählige Anglizismen und Amerikanismen überflutet, unsere schöne Sprache wegspült und stattdessen Wörter serviert, die oft nicht richtig verstanden werden, Wörter, die die Wahrheit verschleiern, eben wie Holocaust. Damit, so erläutert der aus der Alt-BRD stammende brandenburgische Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg in seinem Vorwort, ist ein gottgewolltes Brandopfer gemeint, ergo wird den Toten von Auschwitz und Treblinka die Weihe eines göttlichen Opfers verliehen. So ist das doch angemessener in einem Staat, in dem der damalige Bundeskanzler Kurt Kiesinger ehemaliges Mitglied der NSDAP war - wie auch wohl viele Lehrer und andere Amtsinhaber. Also bleiben wir bei Völkermord, um die Opfer nicht zu entwürdigen. In der lesenswerten Vorbemerkung von Rautenberg schneiden wir Ossis, das Thema Völkermord statt Holocaust betreffend, gut ab. Mit der "Akribie eines Buchhalters", so Rautenberg, behandelt der Autor Stoffe in Lehrplänen der DDR, die sich - entsprechend dem Untertitel - mit "Juden und Judentum im Literaturunterricht der DDR" auseinandersetzen. Er zieht Lesebücher, Unterrichtshilfen und Schüleraufzeichnungen heran. Der Journalist Matthias Krauß, der auch Politiker-Porträts schrieb, ist in Hennigsdorf zur Schule gegangen. Die das Thema betreffenden Unterrichtsstoffe der Klassen 6 bis 12 behandelt er ausführlich und beweist umfassende Kenntnisse der Literatur; er überzeugt durch gründliche Recherchen, die Rautenberg einem "linientreuen" Lehrer der ehemaligen DDR nicht zutraut. Ich war so ein "linientreuer" Lehrer und habe Lehrpläne nicht als Korsett empfunden. Hier muss ich dem Rezensenten Jörg Schlewitt widersprechen, der zur ersten Auflage dieses Buches von einem "streng normierten Lektürekanon" schrieb, "der keine Nuancen bei der Lektüre und Interpretation der Werke aus Gegenwart und Vergangenheit zuließ".[1]

Eine Schülerin meiner 9. Klasse sagte mir nach der Behandlung von J. R. Bechers "Kinderschuhe aus Lublin": "Es hat mich so erschüttert. Ich habe es wieder und wieder gelesen. Jetzt könnte ich es selbst vortragen." Als ich das Schicksal der Anne Frank vorstellte, erlebte ich die gleiche tiefe innere Anteilnahme. Wir hatten Schüler, die selbst denken konnten. Matthias Krauß behandelt in seinem Buch alle Themen des Lehrplans so gründlich,dass man es als Unterrichtshilfe bezeichnen könnte. Ich frage mich: Tut das Not, auch ganze Passagen der Werke abzudrucken? Ja, es ist wohl so: Viele kennen heute diese Werke nicht. Wer liest jetzt noch im Zeitalter der Medien? Was lesen Schüler; was geben die heutigen Lehrpläne - für jedes Bundesland andere, kein "Einheitslehrplan" wie in der vergangenen DDR - den Schülern vor? Aber das ist schon wieder ein neues Thema. Dabei liefert der Autor keine Verklärung der DDR, ist kritisch, zeigt aber Sympathie und Anerkennung für die Leistungen der Polytechnischen Oberschule auf dem Gebiet der Literatur. Ab Klasse 6 tauchte in jedem Lehrplan Heinrich Heine auf, überboten nur von Bertolt Brecht. Krauß meint, es sei verschwiegen worden, dass Heine Jude war; dem Lehrer war jedoch freigestellt, darauf hinzuweisen; ich habe es getan. Die bekannte "Loreley" wurde in der Nazi-Zeit einem Unbekannten zugeschrieben, weil ein Jude nicht als Verfasser eines so bekannten "Volksliedes" genannt werden durfte; auch darauf habe ich hingewiesen. Krauß bezeichnet Heine als "Star des Honecker-Ministeriums" (S. 38); spielt er heute diese Rolle? In Ostrowskis Roman "Wie der Stahl gehärtet wurde", ebenfalls Bestandteil des Literaturunterrichts, lesen wir von einem grausamen Judenpogrom; der sowjetische "Paradedichter" wird von Matthias Krauß der Schwarzweißmalerei bezichtigt. In Apitz' Roman "Nackt unter Wölfen" geht es um die Rettung eines jüdischen Kindes. Krauß wertet den Roman als "Bilderbuch-Klassenkampf" (S. 60) und unterstellt der DDR politisch motivierte einseitige Geschichtsbetrachtung. Aber gleichzeitig weist er darauf hin: "Wenn zu DDR-Zeiten eine einseitige Geschichtsbetrachtung Triumphe feiern konnte, so ist die Einseitigkeit heute noch wesentlich ausgeprägter." (S.67) Besondere Erwähnung findet das Drama "Professor Mamlock": Ein Jude, der nicht mehr nur in der Opferrolle ist, der aufbegehrt, wenn er als Ausweg auch nur den Selbstmord sieht, während bei Brechts "Gewehren der Frau Carrar" diese Frau den richtigen Schluss zieht und anstelle ihres toten Sohnes Juan in den Kampf geht. Der Autor kommt zu dem Fazit: "Bei der Zusammenstellung des Lehrplans wurde in verblüffend hohem Maße auf Werke jüdischer Autoren zurückgegriffen". (S. 146) Im Anhang sind interessante Beiträge zur Stellung der DDR zum Thema Juden zu finden, so: "Streifzug durch die DDR-Buchproduktion zum Thema", "Offizieller und geschichtswissenschaftlicher Blick der DDR auf die Themen Juden und Israel", "Kippt die Stimmung gegen Israel? Was prägt die DDR in dieser Frage? Die Debatte wird beherrscht von Klischees, Dogmen und Tabus".

Der Porträtzeichner Harald Kretzschmar, der das Typische seiner Modelle erfasst und mit Illustrationen im Buch vertreten ist, meint: "Juden. Es gab sie im Staat DDR. Sie waren nicht lediglich vorhanden, wie heute die offiziöse Lesart ist. War es Zufall, dass sie in den Chefetagen zu finden waren? ... Für mich als Porträtzeichner waren sie auffällig. Weniger der Nase, nebbich, nein, des Wesens wegen." (S. 198) Etwas näher möchte ich auf "Zwei Gegenmeinungen" (S. 200 ff.) eingehen. In der "Süddeutschen Zeitung" erschien im Juni 2006 eine Serie: "Befreit. Besetzt. Geteilt. - Deutschland 1945-49". Darin heißt es: "Die DDR wurde gegründet auf dem Mythos vom antifaschistischen Widerstandskampf. Für die Frage nach jüdischen Opfern des NS-Staates war kein Platz ..." (S. 200). Dass es sich hier um keinen Mythos, sondern um Fakten handelt, ist hinlänglich bewiesen, und jüdische Opfer hatten im Gedenken ihren Platz, auch im Unterricht. Im Weiteren geht es um das "Teufelswerk der Enteignung" (S.202) Die Methode der Nazis war: "Jüdisches Eigentum ist raffendes-kapitalistisches Eigentum und wird abgeschafft, arisches Eigentum ist schaffendes Eigentum und wird nicht abgeschafft." Die Eigentumsfrage ist die Quelle "verheerender und zerstörerischer Konflikte" (S. 203). Über den Juden Helmut Eschwege, der in der DDR Repressalien ausgesetzt war, ist in "Wer war wer in der DDR?"[2] nachzulesen. 1990 wurde er als Opfer des Stalinismus rehabilitiert.

Solche verurteilungswürdigen Beispiele gab es zweifellos, doch kann man sie nicht verallgemeinern. Zu unterstreichen ist die Feststellung, dass "problematische Seiten der DDR" hämisch in die Öffentlichkeit gezerrt und auseinander genommen wurden, während die BRD immer verschont blieb. Auch das Beispiel des Hans Noll - alias Chaim Noll -, der in der DDR aufgewachsen ist, zeigt, auf welch entwürdigende Art er bedacht ist, die DDR in den Dreck zu treten. Seine Beweise sind fadenscheinig und falsch, das stellt Matthias Krauß eindeutig klar. Es waren viele Juden, die die DDR mitgestaltet haben, wie Albert Norden, Kurt Hager, Hermann Axen, Louis Fürnberg und andere (S. 209), die Noll als "ostentative" Besetzung bezeichnet.

Sehr gut finde ich eine Auflistung von Büchern im Anhang, die in der DDR zum Thema Juden, Judenverfolgung und Israel erschienen. Hinweisen möchte ich auch auf Detlef Josephs interessantes Buch "Die DDR und die Juden. Eine kritische Untersuchung" (vgl. die Rezension im ICARUS 4/2010, S. 49). Dort zitiert er Meinungen von Mitgliedern jüdischer Gemeinden: "Wir sind dankbar, geschützt und geachtet in unserer DDR zu leben und vor jedem Sturm bewahrt zu sein." Oder: "Wir, die kleine Zahl der jüdischen Bürger, sind stolz darauf, nach allem, was wir in der Zeit des Nazifaschismus erleben mussten, an diesem Staat mitgebaut zu haben, in dem wir als geachtete und gleichberechtigte Bürger in jeder Weise unbehelligt und treu unserem Glauben leben können."[3]

Matthias Krauß schickte Margot Honecker sein Buch und bekam einen herzlichen Brief, in dem sie schrieb: "Ihre Arbeit ist ja mehr als eine Betrachtung über 'Juden und Judenbild im Literaturunterricht der DDR', sie ist ein heute so notwendiger Beitrag zu einem wahrheitsgetreuen Geschichtsbild." (S. 223)

Das Buch ist für Ossis und Wessis gleichermaßen interessant; es ist informativ und zeigt sorgfältige und beachtenswert gründliche Recherchen. "Die Wessis müssen sich damit abfinden, dass ihnen nach der Lektüre ein Klischee über die DDR abhanden gekommen und durch eine differenzierte Betrachtung ersetzt worden ist", resümiert Erardo Rautenberg in seiner ausgezeichneten Einleitung zur 2. überarbeiteten Auflage. Matthias Krauß hat ein kritisches und kluges Buch geschrieben, das ich wärmstens empfehlen kann. Es trägt zur Erkenntnis bei, dass die DDR nicht nur eine Fußnote der Geschichte war. Bleibt mir nur, ihm eine dicke "Eins" zu verpassen.


Anmerkungen:

[1] www.julim-journal.de vom Dezember 2007, S. 1

[2] Müller-Enbergs, Wielgohs Hoffmann (Hrsg.): Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Lexikon, Ch. Links Verlag Berlin 2000, S. 195

[3] Detlef Joseph: Die DDR und die Juden. Eine kritische Untersuchung, Verlag Das Neue Berlin 2010, S. 70

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Rezensionen, Annotationen, Empfehlungen

Horst Schneider

Im Schatten des Kreuzes

Alfred Kosing: "Im Schatten des Kreuzes. Der Einfluss der Kirche auf Staat und Gesellschaft", Verlag am Park in der Edition Ost, Berlin 2010, 284 S., brosch., ISBN 978-3-89793-253-1, 16,90 €

Jeder politisch Interessierte erlebt fast täglich Beispiele, dass, wie und mit welchen Folgen, die (vor allem katholische) Kirche auf Staat und Gesellschaft einwirkt. Frage sich jeder: Welche faschistische Diktatur - von Mussolini über Franco bis Pinochet - hätte ohne das reaktionäre Wirken des Vatikans entstehen und die Macht ausüben können?[1] Wie hätte Hitler seinen antibolschewistischen "Kreuzzug" ideologisch begründen und die faschistischen Aggressionen ohne den Segen der Bischöfe durchführen können?[2] Wie erklärt sich das "Wunder", dass just in der entscheidenden Phase des Kalten Krieges, als es um die Existenz des Sozialismus ging, ein polnischer Papst "Stellvertreter Gottes" auf Erden wurde?[3] Ist es ein Zufall oder weiser Ratschluss des Herrn, dass Ratzingers Wahl zum Papst die Vorherrschaft des deutschen Imperialismus in Europa symbolisiert? War es ein Geschenk des Himmels, dass gejubelt werden konnte: "Wir sind jetzt (auch) Papst"?[4] Zwar verfügt der Papst als Kirchenoberhaupt und Chef des Vatikanstaates (bisher) über keine Panzer, wie schon Stalin vermerkte, aber er besitzt die Macht, Politiker und Staaten zum Einsatz militärischer Mittel zu veranlassen und als gottgefällig erscheinen zu lassen. Mit welchen Zielen? In wessen Interesse?

Solchen Fragen widmet sich Alfred Kosing, der in der DDR zu den führenden marxistischen Philosophen gehörte.[5] Im ersten Kapitel wählte der Autor einen aktuellen "Einstieg". Er zitiert den letzten Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maiziere, und dessen Freund und Rechtsanwaltkollegen Gregor Gysi. Der Expremier glaubt nicht an einen persönlichen Gott, aber an eine überirdische Macht, die er Gott nennt. Gregor Gysi wird mit dem Bekenntnis zitiert, das er im Blatt eines katholischen Militärbischofs abgegeben hat, er könne sich eine gottlose Welt nicht vorstellen. Gysi begründete das so: "Ohne Religionen, ohne Glauben, ohne Kirchen gäbe es keine Grundlage für allgemein verbindliche Moralnormen gegenwärtig in unserer Gesellschaft. Das hätte zerstörerische Konsequenzen. Obwohl ich nicht religiös bin, fürchte ich also eine gottlose Gesellschaft nicht weniger als jene, die religiös gebunden sind."[6]

Die Gesellschaft, um die sich Gysi sorgt, ist der Kapitalismus. Die Moralnormen, die ohne Kirchen in Gefahr seien, sind im Kapitalismus jene "göttlichen" Gesetze, die Feudalherren wie "moderne" Ausbeuter in die Massen einbläuen lassen, damit "zerstörerische Tendenzen" verhindert werden. Mit "Opium für das Volk" ist diese Funktion nicht ausreichend definiert.

Das apodiktische Urteil Gysis müsste noch weiter geprüft werden, z. B. nach den Konsequenzen für die historische Beurteilung der Aufklärung: Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! Irrten jene, die ihre Philosophie und Politik auf den Erkenntnissen der Aufklärung aufbauten? (Und dazu gehörte immerhin die revolutionäre Arbeiterbewegung: Es rettet uns kein höh'res Wesen, ....)

Für Kosing bietet das Gysi-Zitat die Möglichkeit, die Ansicht des Berliner Rechtsanwalts mit strategischen Überlegungen des deutschen Papstes zu vergleichen: "Dann erweist es sich nur als ein Element einer umfassenden Strategie zur religiösen Durchdringung und Konfessionalisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens mit dem Ziel, es wieder in die Position des obersten Wächters und Schiedsrichters zu bringen." So wie es zweitausend Jahre in Europa gewesen ist.

Dass Alfred Kosing nicht übertrieb, als er das strategische Ziel Benedettos enthüllte, hat der Papst inzwischen selbst mehrfach bewiesen, u. a. in seiner Rede vor dem Bundestag am 22. September 2011. Der Papst unterstrich ausdrücklich seine Rolle in der Völker- und Staatengemeinschaft und seine internationale Verantwortung kraft seines Amtes. Gysi, der zuhören durfte, vermerkte anschließend, dass er sich gewünscht hätte, der Papst hätte erklärt,dass der Krieg kein politisches Mittel sei.[7] Hätte denn der Papst die Militärbischöfe zur Arbeitslosigkeit verdammen sollen?

Ausgehend von aktuellen Fragestellungen wirft Kosing einen Blick auf die Vergangenheit. Die Titel der Kapitel lauten: "Religion - was ist das?", "Das Christentum und seine geistigen Grundlagen" (Hier wird eine ungemein fesselnde Kurzfassung des alten und neuen Testaments angeboten), "Aus der Geschichte der christlichen Religion und Kirche" (Dieser lehrbuchhafte Abriss umfasst u. a. die urchristlichen Gemeinden, die Kreuzzüge und die Inquisition, die Reformation und das Bündnis von Thron und Altar in Preußen).

Das mit 146 Seiten umfangreichste Kapitel hat die Überschrift "Religion und Kirche in der säkularen Gesellschaft". Hier trägt Kosing seine philosophisch begründeten Ansichten zu wichtigen aktuellen Entwicklungen vor: zu den Wandlungen und Herausforderungen in Religion und Kirche, zum Verhältnis von Staat und Kirche im Allgemeinen und in der BRD im Besonderen, zu den Verleumdungen und Lügen über die Kirchenpolitik der DDR.

Eine überzeugende und herzerfrischende Polemik gegen den Theologen auf dem Berliner Theologie-Lehrstuhl Richard Schröder ist ein vergnüglicher Text zur christlichen Kultur, zu moralischen Werten und zum Verhältnis von Wissenschaft und Religion.

Die Aktualität der Aussagen, die Überzeugungskraft der Argumente und der Stil machen das Lesen zum Vergnügen und das Buch unentbehrlich.


Anmerkungen:

[1] Karl-Heinz Deschner: Mit Gott und den Faschisten. Vatikan und Faschismus, Stuttgart 1965

[2] Gerhard Besier: Der Heilige Stuhl und Hitler-Deutschland. Die Faszination des Totalitären, München 2004

[3] Carl Bernstein/Marco Politi: Seine Heiligkeit Johannes Paul II. Macht und Menschlichkeit des Papstes, München 1988

[4] John L. Allen: Joseph Ratzinger. Biographie, Düsseldorf 2005

[5] Alfred Kosing: Innenansichten als Zeitgenosse. Philosophie und Politik in der DDR, Berlin 2008

[6] Zeitschrift "Soldat in Welt und Kirche", Nr. 9/2008, zitiert bei Kosing: Im Schatten des Kreuzes, S. 10

[7] Horst Schneider: "Lücken" in einer päpstlichen Lektion, in: RotFuchs vom Dezember 2011

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Rezensionen, Annotationen, Empfehlungen

Eberhard Rehling

Rentenpolitik und Menschenrechte

Wolfgang Konschel: "Der lange Weg zur Rentengerechtigkeit", GNN-Verlag Schkeuditz 2012, brosch., 180 S., ISBN 978-3-89819-365-8, 14,00 €

Wolfgang Konschel legt mit dieser Arbeit eine sehr gründliche und umfassende Darstellung der Geschichte der Überleitung des Rentensystems der DDR in das bundesdeutsche Rentensystem vor. Dabei weist er besonders auf die erheblichen Mängel und Ungerechtigkeiten in diesem Prozess hin. Während tatsächlich in den ersten Jahren nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik Deutschland Verbesserungen in der Altersvorsorge für ostdeutsche Rentnerinnen und Rentner eingetreten waren, kann man davon nach mehr als 20 Jahren nicht mehr sprechen.

Grundsätzlich muss die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse in Deutschland Maßstab für Löhne und Renten sein. Die gesetzliche Rente ist das Ergebnis der Lebensleistung für abhängig Beschäftigte. Das Rentenstrafrecht für so genannte "staatsnahe" Tätigkeiten in der DDR ist noch immer nicht überwunden. Dabei wurden und werden keine Unterschiede zwischen Ministern, Mitgliedern des Politbüros, Bürgermeistern oder sogar deren Kraftfahrern gemacht. Insbesondere gegen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit wird diese Keule geschwungen, ob es sich nun um Leiter, Sekretärinnen, Kindergärtnerinnen oder Krankenschwestern handelt. Auch Sachverhalte wurden erfunden, die es niemals gab, z. B. die Bezeichnung "Staatssekretär beim Politbüro der SED".

Wolfgang Konschel hat sich mit diesen vielfältigen Problemen gründlich auseinandergesetzt und vor allem die zahlreichen juristischen Aktivitäten zur Unrechtsbeseitigung mit ihren teilweisen Erfolgen und vielen Misserfolgen dargestellt. Er konnte dies eindrucksvoll tun, weil er von Anfang an zu den Aktivisten des Kampfes für Rentengerechtigkeit gehörte und bis hin zum Bundesverfassungsgericht die Interessen der Betroffenen vertreten hat. Er verweist in der vorliegenden Broschüre auch auf die unerfüllten Vereinbarungen aus dem Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990 und dem Einigungsvertrag vom 31. August 1990.

Der Beitritt der DDR zur BRD erfolgte auf Beschluss der Volkskammer vom 23. August 1990 gemäß dem damals geltenden Artikel 23 des Grundgesetzes mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 in der Annahme, dass bis dahin die Beratungen zum Einigungsvertrag abgeschlossen sein werden; der Einigungsvertrag wurde am 30. August 1990 unterzeichnet. Staatsrechtlich erfolgte also der Beitritt als bedingungslose Anerkennung des Grundgesetzes und ohne Kenntnis des Textes des Einigungsvertrages. Die Parlamente beider Staaten stimmten dem Einigungsvertrag am 20. September 1990 mit Mehrheiten von 78,6 Prozent in der Volkskammer und von 89,8 Prozent im Bundestag zu. Die Bundesregierung war sich nach dem erklärten Anschluss der DDR darüber im Klaren, dass ihr Vertragspartner mit dem 3. Oktober 1990 als Völkerrechtssubjekt verschwinden würde. Somit konnte sie davon ausgehen, dass sie kein Rechtsnachfolger der DDR sein würde. Sie konnte also mit dem Eigentum der DDR nach Belieben umgehen, was sie auch sehr intensiv tat.

Am 28. Juni 1990 hatte die Volkskammer ein "Rentenangleichungsgesetz" beschlossen. Danach sollten Ansprüche aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen wie Ansprüche aus der Freiwilligen Zusatzrentenversorgung (FZR) behandelt werden. Durch eine Weisung des damaligen Bundessozialministers Norbert Blüm wurden die dazu im Sozialministerium der DDR ausgearbeiteten Durchführungsbestimmungen zur Makulatur. Und der Geist dieses Beispiels durchzieht das gesamte Verhalten der bundesdeutschen Sozialjustiz; es kam nur zu einzelnen Erfolgen bei Sozialgerichten. Das Bundesverfassungsgericht folgte der praktischen Weisung des damaligen Bundesjustizministers Kinkel zur Delegitimierung der DDR.

Was den politischen und parlamentarischen Kampf zur Durchsetzung der Rentengerechtigkeit angeht, so verweist Wolfgang Konschel auf die unablässigen Bemühungen der PDS bzw. Linkspartei im Bundestag. Ob anfangs als Gruppe oder später als Fraktion: In jeder Legislaturperiode wurde und wird dafür gesorgt, dass dieses Thema überhaupt auf die Tagesordnung des Bundestages kam und kommt. Besonders anzumerken ist, dass auch die Abgeordneten der LINKEN aus den alten Bundesländern die Forderungen nach Rentengerechtigkeit mittragen.

Wir dürfen alle gespannt sein, was die Bundesregierung auf die Große Anfrage der Linksfraktion zu den kritischen Feststellungen des Wirtschafts- und Sozialrates der UNO vom 20. Mai 2011 antworten wird. Was wird sie auf die dort formulierte Besorgnis über die Diskriminierung von Bürgern der östlichen Bundesländer hinsichtlich der sozialen Sicherheit - wie sie in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 2011 über die Renten der Minister und deren Stellvertreter zum Ausdruck kommt - zu sagen haben? Welche Konsequenzen werden aus der Aufforderung gezogen werden, unverzüglich effektive Maßnahmen zu ergreifen, um das Fortdauern der Diskriminierung auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit abzuschaffen und bestehende Fälle einer solchen Diskriminierung zu beseitigen?

Aus meiner Sicht - und da bin ich mit Wolfgang Konschel völlig einig - müssen die Bemühungen der Betroffenen noch stärker öffentlich gemacht werden. Das trifft insbesondere auf künftige Rentnergenerationen zu. Zu viele haben sich mit den Verhältnissen abgefunden.

Was Wolfgang Konschel zur Generationenfrage schreibt, ist voll zu unterstützen: Wir haben nicht zu viele Alte, wir haben zu wenig Junge! Und zu oft wird der gewaltige Produktivitätssprung einfach übersehen oder bewusst in der Wahrnehmung unterdrückt. Kriterien für Rentenreformen dürfen nicht, wie leider bisher, an dem den Profit der Unternehmen stärkenden niedrigen Beitragssatz gemessen werden. Sie müssen so ausgelegt werden, dass die gesetzliche Rente vor Altersarmut schützt.

Die der Broschüre angefügte Anlage ist ein übersichtliches Informationsangebot für alle Betroffenen und Interessierten. Für die Sozialgeschichte ist diese Ausarbeitung ein Material, in dem nachgezeichnet wird, wie die Überführung der Renten und Rentenansprüche tatsächlich verlief. Die Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten in Ostdeutschland ist die politische Grundlage dieser wichtigen Schrift. Der Entzug von eindeutig nachzuweisenden Rentenansprüchen ist eine Begrenzung von Freiheitsrechten und somit eine Verletzung der Charta der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 und vieler ihr folgender, von der Bundesrepublik ratifizierter UNO-Konventionen und internationaler und europäischer Menschenrechtsabkommen.

Dieser Broschüre wünsche ich viele Leser. Für die kommende Bundestagswahl 2013 gibt es allerdings auch eine Schlussfolgerung: Aktuelle und künftige Rentnerinnen und Rentner aus dem Beitrittsgebiet können eigentlich nur die LINKEN wählen.

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Rezensionen, Annotationen, Empfehlungen

Werner Roß

"Deal" statt Volksjustiz

Erich Buchholz: "Das DDR-Justizsystem - das beste je in Deutschland?", Verlag Wiljo Heinen Berlin 2012, Blaudruck 3, 400 S., brosch., ISBN 978-3-939828-94-5, 18,00 €

Erich Buchholz wirft im Untertitel seines Buches "Das DDR-Justizsystem" die Frage auf, inwieweit es das beste je in Deutschland war. Er beantwortet diese Frage aus dem Vergleich zwischen dem Recht der DDR und der BRD. Dabei verweist er auf bestimmte Kontinuitätslinien des Rechts der BRD, die sich aus der feudal-kapitalistischen deutschen Geschichte ergeben. Buchholz analysiert das materielle und z. T. prozessuale Recht und beschränkt sich nicht nur auf seine Rechtsmaterie als Strafrechtler, sondern verweist auf andere Rechtszweige, so auf das Verfassungs- und das Staatsrecht, das Arbeits- und das Zivilrecht. Allerdings verbleibt er hier im Grundsätzlichen, ohne jedoch an ihn den Anspruch eines Universalisten stellen zu wollen. Die Gerichtsbarkeit steht im Mittelpunkt seiner Darlegungen. Bei der Bezugnahme auf das Zivilrecht bleibt das neue Zivilgesetzbuch der DDR unterbelichtet, das m. E. auch beispielgebend für das Rechtssystem der DDR war und gegenüber dem BRD-Recht eine höhere Qualität aufwies. Auch die Ausführungen zum Verwaltungsrecht in der Pro- und Contra-Diskussion spielen bis auf wenige Randbemerkungen keine Rolle.

Gerade hier geht es aber um wichtige Fragen des Schutzes subjektiver Rechte und somit des Demokratiegedankens. Diskussionswürdig ist die Auffassung des Autors, dass der Gesetzgebung im Verwaltungsrecht "keineswegs Forderungen von Bürgern zugrunde lagen" (S. 200). Das betrifft auch seine Bemerkungen zum "Gesetz über die Zuständigkeit der Gerichte zur Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen vom 14.10.1988", also 2 Jahre vor dem Ende der DDR (ebenda). Fairerweise muss angemerkt werden, dass der Verfasser in dem Abschnitt Petitionen und Eingaben (S. 333 ff.) den Rechtsschutz der DDR-Bürger durch das Eingabenrecht gewahrt sieht und dass er die Petition, die zwar als Grundrecht im Art. 17 des Grundgesetzes normiert wurde, für den BRD-Bürger mit juristischen Risiken behaftet einschätzt.

Insgesamt ist bemerkenswert, dass E. Buchholz bei einer reinen Faktizität im Hinblick auf die Beurteilung der Rechtssysteme nicht stehen bleibt und sich damit theoretisch nicht einengt. Deshalb kommt er zu einer eindeutigen Ursachendarstellung für die Analysebewertung. Sein Schlüsselgedanke ist auch in vielen seiner anderen Publikationen[1] erkennbar, der darin besteht, dass die gesellschaftliche Zeitenwende durch den Untergang der UdSSR, der DDR u. a. sozialistischer Staaten in Europa untrennbar mit der Rechtswende verbunden ist. Deshalb nimmt es nicht Wunder, dass die vornehmlich durch die Konterrevolution durchgesetzte Systemänderung in allen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere auf politischem und ökonomischem Gebiet (so in der Eigentumsfrage), eine andere Rechtsordnung zur Stabilisierung kapitalistischer Verhältnisse bedingt. Somit blieb auch nicht unhinterfragt, wie das Kapital seine Systemregulierung im Interesse der Profitmaximierung vornimmt. Dabei kommen rechtliche, aber auch außerjuristische Mechanismen zur Anwendung. Unter Bezugnahme auf die Verfahrenserledigung mittels eines "Deals" in Strafsachen macht der Autor bewusst, dass "der Gerichtssaal zum Markt und die Gerechtigkeit zum Handelsobjekt" wird. Hier ergibt sich eine Affinität zur geistig bissigen Bemerkung von B. Brecht unter Hinweis auf die Gerechtigkeit im Kapitalismus: "Die Waage ihrer Gerechtigkeit nehme ich herab und zeige die falschen Gewichte".

Für die Bürger der DDR war die neue, für sie nunmehr verbindliche Rechtsordnung der BRD nicht nur ein formeller Lernprozess, sondern hier wurde tief in ihre Psyche eingeschnitten. Ein besonderer Verlust waren die eingetretenen Demokratiedefizite. Gerade die Beteiligung einer Vielzahl von DDR-Bürgern an der Rechtspflege - als Schöffen in Zivil- und Familiensachen sowie als Mitglieder gesellschaftlicher Gerichte - "machte die DDR-Justiz", wie Buchholz vermerkt (S. 374), "zu einer demokratischen Justiz, zu einer Volksjustiz".

Der Entfremdungsprozess nahm ungeahnte Formen an, auch schon durch die Kompliziertheit und die wenig verständliche Sprache des bundesdeutschen Rechts- und Justizsystems. Obgleich es viel Verwirrungspotenzial in Zusammenhang mit dem bürgerlichen Recht als Freiheitsideal gab, mussten die DDR-Bürger erkennen, dass im Kapitalismus der Bürger verbürokratisiert, veramtlicht und verrechtlicht wird, dass es Rechthaberei "qua Amt" gibt, dass die juristischen Hürden im Hinblick auf ihre Ansprüche sehr hoch gesteckt sind, dass die Freiheitsrechte durch den Überwachungsstaat immer mehr eingeschränkt werden, dass den Bürgern Ansprüche nicht von Amts wegen gewährt werden, sondern diese gefordert und erstritten werden müssen und dass der Rechtsweg - wie oftmals beschrieben - sich vielfach als Marathon darstellt, risikobeladen, geldverzehrend und zeitraubend. E. Buchholz weist auf diese Problematik überzeugend und kenntnisreich hin.[2] Hier zeigt er sich als profunder Kenner des Sujets. Schon aus diesem Grunde ist das Buch, vor allem seiner großen juristischen Faktendichte wegen, als Nachschlagewerk zu empfehlen. Es bringt nicht nur einen Erkenntnisgewinn für den rechtlichen Laien, sondern auch für den Juristen. Auch wenn es nicht explizit das Anliegen des besprochenen Buches von E. Buchholz war, so kann der Rezensent doch nicht an zwei zukunftsträchtigen Fragestellungen vorbeigehen. Das ist erstens die mögliche Rolle des Rechts bei den anzuvisierenden radikal-demokratischen Reformen im Kapitalismus im Verfolg der Dialektik von Reform und Revolution. Zweitens geht es um die Bedeutung des Rechts bei einem zu konzipierenden Sozialismusbild.

Was den ersten Fragekomplex angeht, so handelt es sich um Übergangsprogramme[3] einer marxistischen Partei, also um Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe, deren Ziel es ist, den Kapitalismus zu beseitigen. Dabei muss jeder Teilschritt, jede Stufenlösung im Kapitalismus politisch hart erkämpft werden. Es versteht sich, dass solche Übergangsprogramme auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens erarbeitet werden müssen. Ohne den Einschluss des Rechts würden sie ihre Zielsetzung verfehlen. Allein die Demokratisierung der Wirtschaft und die damit verbundene Beschränkung der Verfügungsmacht der Kapitaleigentümer verlangt ein ausgewogenes juristisches Instrumentarium. Damit werden verfassungsrechtliche, verwaltungs-, gesellschaftsrechtliche, arbeits- und sozialrechtliche Problemstellungen tangiert.[4]

Ein zweiter Aspekt ist unsere künftige Vorstellung vom Sozialismus. Es ist eine hinlänglich bekannte Tatsache, dass diese Aufgabe ohne die Aufarbeitung der Geschichte der DDR mit all ihren bewahrenswerten, aber auch widersprüchlichen Aspekten nicht zu lösen ist. So gesehen, ist das Buch von E. Buchholz ebenfalls ein Beitrag zur Geschichte der DDR. Zugleich müssen wir auch den neuen Zeitbezug, die Entwicklungsbedingungen unter Beachtung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, den Vergesellschaftungsprozess von Arbeit und Produktion, die Veränderungen in der Struktur der Arbeiterklasse und den durchgreifenden Demokratisierungsgedanken (um nur einige Gesichtspunkte zu nennen) beachten. Für den auszuformenden kommenden Rechts- und Sozialstaat werden qualitativ neue Fragen aufgeworfen, die einer wissenschaftlich fundierten Antwort bedürfen.


Anmerkungen:

[1] So seine Schrift "Rechtsgewinne?" - Welche Rechte gewannen die DDR-Bürger durch den Beitritt? Haben sie Rechte verloren?, Verlag Wiljo Heinen Berlin, ISBN 978-3-9392828-54-9

[2] Vgl. Abschnitt IV: Versuch eines Vergleichs der Justizsysteme der beiden deutschen Staaten

[3] Ingo Wagner hat mit seinem Aufsatz "Das Übergangsprogramm heute" einen wertvollen Beitrag zur Dialektik von Reform und Revolution geleistet und damit das Nachdenken zu dieser hochaktuellen Problematik angeregt (vgl. Heft des Marxistischen Forums, Berlin, vom Januar 2007, S. 3.)

[4] Näher hierzu W. Roß "Die Demokratisierung der Wirtschaft - eine Fundamentalfrage radikal-demokratischer Reformen zur Schaffung von Gegenmacht", Topos, Heft 26, S. 85 f.

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Annotation

Im Verlag am Park (Edition Ost) erschien kürzlich Bruno Mahlows Buch "Wir stehen in der Geschichte und damit in der Verantwortung. Texte 2004 bis 2012" (ISBN 978-3-89793-285-2, 332 S. mit Abb., brosch., 19,95 €). Damit legt der Autor seine erste eigene Buchpublikation vor. Die Liste seiner Veröffentlichungen ist lang, aber es handelte sich bisher um Beiträge für Sammelbände, Zeitungen, Zeitschriften u.a. Im Buch sind Texte aus acht Jahren versammelt, in denen er sich vorwiegend mit Russland und China beschäftigt. Als intimer Kenner der Verhältnisse weiß er, von welcher Bedeutung die Entwicklung beider Staaten im internationalen Kontext ist, und er erinnert immer wieder daran, welche Achtung man als Deutscher gegenüber anderen Völkern haben sollte.

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Marginalien

Echo
Im Schatten von Buchenwald

(Zur Rezension über Georg Wenzels Buch "Gab es das überhaupt?" im ICARUS 2/2012, S. 46)

Dieser Text zu Thomas Mann ist richtig und notwendig. Ich erinnere mich daran, dass Johannes R. Becher als damaliger Kulturminister den Schriftsteller Thomas Mann 1948 von der Zonengrenze nach Weimar abholte, wo ich dann mit meinem Onkel Zuhörer im Nationaltheater sein durfte. Thomas Mann hielt eine große Rede zum Goethejahr 1948 mit allerlei Anspielungen auf den Gehorsam der Stadt zur Zeit des Nationalsozialismus - als ein höchst unwürdiges Geschehen im Schatten von Buchenwald. Ich verstand damals nur ein Minimum dessen, was in großer Sprachgewalt in mein Ohr drang. Mein Onkel war auch nicht gerade entzückt davon, was er zu hören bekam; gab es doch nicht nur Vorbehalte gegenüber dem Dichter, auch dessen Haltung wurde von jenen als Provokation empfunden, die vor allem in den Westzonen während der Adenauer-Ära noch lange einem alten Denken folgten. Auch das Weimarer Geistesleben hatte anfangs durchaus vieles neu zu lernen. Diese Ausführungen zu Georg Wenzel verdienten weitere Veröffentlichungen; warum z. B. nicht auch im "Spiegel"? Mögen sie dort auch abgelehnt werden; zur Kenntnis genommen zu werden, wäre der Mühe wert.

Prof Ronald Paris, Maler und Graphiker
15834 Rangsdorf

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Intellektuelle Prostituierte

In der als "Rechtsstaat" und "Demokratie" sorgfältig frisierten Geld-Diktatur namens BRD werden die meisten Medien von Psychotechnikern gelenkt; sie überziehen mit ihren ideologischen Spinnennetzen das Bewusstsein der Menschen. Lassen wir einen Eingeweihten zu Wort kommen. John Swaiton, langjähriger Herausgeber der "New York Times" - also einer, der es wissen muss -, sagte Folgendes auf einem Bankett: "Eine freie Presse gibt es nicht. Sie, liebe Freunde, wissen das, und ich weiß es gleichfalls. Nicht ein Einziger unter Ihnen würde es wagen, seine Meinung ehrlich und offen zu sagen. Das Gewerbe des Publizisten ist es vielmehr, die Wahrheit zu zerstören, geradezu zu lügen, zu verdrehen, zu verleumden, zu Füßen des Mammons zu kuschen und sich selbst und sein Land und seine Rasse um des täglichen Brotes willen wieder und wieder zu verkaufen. Wir sind Werkzeuge und Hörige der Finanzgewaltigen hinter den Kulissen. Wir sind die Marionetten, die hüpfen und tanzen, wenn sie am Draht ziehen. Unser Können, unsere Fähigkeiten und selbst unser Leben gehören diesen Männern. Wir sind nichts als intellektuelle Prostituierte." Die Würde des Menschen ist unantastbar?

Adolf Eduard Krista, Jurist und Schriftsteller
37339 Worbis

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Unvergessen

(Zum Artikel "Die können ja noch malen!" der in der Tageszeitung "junge Welt" vom 3. August bereits als Vorabdruck erschienen war)

Ein sehr schöner Beitrag, der Anerkennung und Dank verdient. Ende Juni waren wir mit Freunden in Weimar, besuchten Erfurt, Eisenach, die Wartburg und auch das Panorama-Museum in Bad Frankenhausen, wo man bekanntlich Werner Tübkes Bauernkriegsgemälde bewundern kann. Unsere Freunde, die wir hier in Baden-Württemberg gefunden haben, waren zutiefst beeindruckt und schenkten mir das wunderbare Buch über Tübkes Leben und Schaffen, herausgegeben vom Leipziger Seemann-Verlag. Zu DDR-Zeiten sind wir meist mehrfach in die Kunstausstellungen nach Dresden gefahren - mit der ganzen Familie, aber auch mit Schülern, Arbeitskollegen und Jugendlichen, die in der Ausbildung standen. Die Begeisterung war allemal grenzenlos. Das alles ist lange her, und wer erinnert sich noch wirklich an diese kulturellen Höhepunkte von damals? Die in Peter Michels Artikel genannten Künstler und viele andere, deren Bilder man in Dresden zu den Kunstausstellungen bewundern bzw. über die man oft heftig diskutieren konnte, sind uns noch heute vertraut. Wir möchten sie nicht aus unserem Erleben streichen, weil sie unser Kunstverständnis bereicherten und auch unserem Leben Inhalt gaben, denn sie spiegelten unseren Alltag wider. Wie das heute durch die ideologischen Apologeten des Kapitalismus auch immer bewertet und beurteilt werden mag: Für uns sind die Kunstwerke unserer DDR-Künstler ein fester Bestandteil unseres Denkens, unseres Lebens und Erlebens. Ob es Werner Tübkes Panoramagemälde oder Walter Womackas "Bauchbinde" um das ehemalige Berliner Haus des Lehrers oder Cremers Buchenwald-Denkmal um nur einige zu nennen - ist: Das alles ist unvergessen und wurde von deutschen Künstlern geschaffen. Und in einer Zeit, in der Dekadenz und Unkultur Konjunktur haben, sollten wir uns alle glücklich schätzen, dass wir das bewahren können und bewahren müssen.

Martin Runow
69412 Eberbach am Neckar


(Die Redaktion behält sich vor, Leserzuschriften sinnwahrend zu kürzen.)

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Errata

Im Heft 4/2011 veröffentlichten wir den Artikel "Gegen Hunger, Klimaverschlechterung und Energieverknappung" von Klaus-Jürgen Künkel und Erich Rübensam. Der zweite Absatz dieses Textes muss richtig beginnen: Der Weltklimagipfel in Kopenhagen ist leider gescheitert. Dagegen legte der Berliner Agrarminister-Gipfel 2010 in der Abschlusserklärung konkrete Maßnahmen fest, denen wir aus agrarwissenschaftlicher Sicht vorbehaltlos zustimmen und nachstehend begründen.

Im Beitrag "Rechte für Alte und unheilbar Kranke - auch Menschenrechte" (ICARUS Heft 1/2012) wurde versehentlich statt des Wortes "e-Demokratie" fälschlicherweise nur "Demokratie" gedruckt. Es muss auf Seite 23 richtig heißen. "e-Demokratie, eine völlig neue Dimension für die Durchsetzung von Menschenrechten im 21. Jahrhundert, ist nur eine davon". Dazu schrieb uns der Autor Stephan Tanneberger:

Kann eben vorkommen, wird man sagen. Richtig! Aber was nicht vorkommen darf: dass wir nicht genug nachdenken über "e-Demokratie". 75,5 Prozent der Deutschen benutzen mehr oder minder täglich das Internet,[1] e-care oder e-learning sind inzwischen Selbstverständlichkeiten und in Deutschland gibt es eine e-Partei, die nach einem furiosen Start innerhalb von 5 Jahren 10 bis 12 Prozent Zustimmung bei den Wählern findet.

Mein Nachdenken über "e-Demokratie" begann kurioserweise vor gut 10 Jahren in einem "Entwicklungsland". In Gesprächen mit Dipankar Gupta über dessen Buch "Mistaken Modernity" ("Falsch verstandene Modernität"), einem Bestseller im Indien, kamen wir darauf.[2] Ergebnis des Nachdenkens: Das 21. Jahrhunden bedarf neuer Formen für ein demokratisches Miteinander der Menschen. Mit Demokratie à la "Weimarer Schwatzbude" oder den im Kalten Krieg erfrorenen Demokratie-Neuanfängen im Osten ist die Welt im 20. Jahrhundert nicht sehr weit gekommen. In seiner Urform war Demokratie eine Gesellschaftsordnung der gleichberechtigten Mitwirkung aller mündigen Bürger an den Entscheidungen, die alle betrafen. Beides ist verloren gegangen. Sich aller vier Jahre rituell aus dem Plakate-Wald an der Straße ein Gesicht und einen populistischsten Slogan aussuchen zu dürfen, hat trotz Abgeordnetenwatch nichts mit gleichberechtigter Mitwirkung zu tun. Volksbefragungen als Alternative gelten als "zu teuer". Und mündige Bürger? Die stehen vor einem unübersehbaren, manchmal verlogenen Blätterwald, einem Chaos von TV-Informationen und allen Werbetricks, die denkbar sind, um den Bürger unmündig zu machen. Schließlich funktionieren die Medien nach Marktgesetzen und mündige Käufer "rechnen sich" schlecht. Trotzdem nach Mündigkeit suchen? Das ist möglich, aber anstrengend. Beliebter Ausweg, den je nach Wahl 30-50 Prozent der Bürger bevorzugen: nicht zur Wahl gehen.

Gründe zum Nachdenken über "e-Demokratie" gibt es also reichlich. Die Piraten-Erfolge allein sind keineswegs alles. Mitwirkung an der Politik per Computer oder Telefon ist zudem schon Alltag. Ständig werden Meinungsumfragen und Wählerumfragen von dem Medien meinungsbildend zitiert und beeinflussen politische Entscheidungen oder Wahlkämpfe. Dabei wird allerdings auch sichtbar, wie viel noch zu tun ist. Statistik, Meinungsumfragen bedürfen sauberer Wissenschaft. Wer fragt? Wie viele werden befragt? Wie wird befragt? Sind die Befragten meinungskompetent? Tangierende Einflussfaktoren - wie Wohnort, Wohnlage, Beruf, Lebensumstände - sind zu beachten und bestimmen die Stichprobengröße. Nicht selten werden ernste, methodische Fehler unterschätzt und fragwürdige Schlussfolgerungen in die Welt posaunt.

"e-Demokratie", egal ob mit PC oder Telefon, kann nicht heißen, dass jeder alles fragen, sagen, schreiben kann und damit ernst genommen werden muss. Die Summe vieler Meinungen ist nicht automatisch die richtige Meinung. Sicher kann es nicht das Ziel sein, zu allen Fragen alle Bürger zu befragen. Das gab es nicht mal im Altertum. Da wurde der "Rat der Alten" befragt. Heute heißt mündig nicht mehr alt, sondern sachkundig zu sein. "Räte der Sachkundigen" braucht es; und gerade hier kann das Internet helfen. Was spricht gegen kompetente e-Beraterstäbe der Regierung, wobei jeder Berater per Internet seine Meinung offen legt? Sicher finden sich ohne Mühe in Deutschland ein paar tausend erfahrene Ärzte, die von den Bürgern anerkannt werden und die den Gesundheitsminister beraten. Diese Beraterstäbe dürfen nicht parteigebunden oder gar parteibezahlt sein. Wissenschaft kennt keine Parteigrenzen und wissenschaftliche Meinungen sind keine bezahlbare Handelsware.

Natürlich ist das nur ein Beispiel für "e-Demokratie". Der Computer kann in sehr vielen Fällen helfen, mehr Sachlichkeit in die politischen Entscheidungen und mehr Vertrauen in die Politik zu bekommen. Und das kann er nicht nur, weil er eben ohne Mühe und große Kosten intelligente, personell unbegrenzte Beraterstäbe der Politik schafft, sondern auch, weil er allen viel bessere Möglichkeiten gibt, mündige, motivierte Wähler zu sein. Jeder Zweite geht heute dank Internet mit viel Wissen über seine Krankheit zum Arzt. Genau so kann der Computer zu einem viel besseren Bildungsstand beim Gang an die Wahlurne verhelfen. Vielleicht reicht das schon, um sichtbar zu machen, dass "e-Demokratie" eine ernst zu nehmende neue Möglichkeit ist, um nach besserer Demokratie zu suchen und Lösungen für die gewaltigen Menschheitsprobleme des 21. Jahrhunderts zu finden. Dass damit nicht e-Bürokratie gemeint ist, die auch auf dem Vormarsch ist, sollte klar sein.

Natürlich erhebt sich nun sofort die Frage, ob es richtig ist, das Gebiet allein denen zu überlassen, die sehr deutlich Altes über Bord werfen und in Sandalen oder Schiebermütze in den Parlamenten Einzug halten, die unter Irokesenschnitt zeigen, wie "scheißegal" (Sprache dem outfit angepasst) ihnen doch die Prinzipien ihres Großvaters sind. Sicher nicht! Aber wo sind die jungen Genossen, die jungen Grünen oder jungen Christen, die es besser machen? Auch für die gilt: Macht euch vertraut mit "e-Demokratie". Macht euch los von der Links-Rechts-Schlagwortpolitik, von Polemik im edlen grünen Gewande oder mit Wutbürgergelärme. Lasst ab von Politik nach Farben, die sich mischen, wenn es um Macht und Posten geht, egal, was der Wähler will. Das 21. Jahrhundert braucht keine pensionshungrigen Politikbeamten, die sich für satte Gehälter selbstgefällig über Nebensächlichkeiten streiten; das braucht wirkliche Modernität. Und Modernität heißt auch nicht bloß, liebe alte Genossen, alte Grüne und alte Christen, bei der nächsten Talkshow den parteifarbenen Schlips nicht mehr umzubinden und das Hemd bis zum Gürtel aufzuknöpfen. Modernität, das heißt viel eher nachdenken über "e-Demokratie", darüber, wie wir das Internet, den wohl größten technischen Fortschritt der Menschheit in den letzten dreißig Jahren, nutzen können, um zu den dringend notwendigen Fortschritten in der Politik zu kommen und eine Welt des Frieden und der Menschenwürde für alle zu erreichen.

Auch dem ICARUS steht vielleicht solches Nachdenken gut zu Gesicht. Da wollte doch Vater Daedalus etwas Neues. Er baute Flügel, um mit Sohn Ikarus der Gefangenschaft auf der Insel Kreta zu entkommen. Vielleicht macht der ICARUS mit beim Fliegen in eine neue Welt der "e-Demokratie" mündiger Bürger. Das kann man doch nicht allein den Piraten überlassen. Und wenn die vernünftig sind, klicken die mal auf www.icarus.gbmev.de und lesen, was dort zu Menschenrechten für alle steht. Auch zu Menschenrechten für Piraten. Und wenn alle zusammen in Eintracht fliegen, stürzt vielleicht auch keiner ab.[3] So wie der arme Ikarus im Altertum.


Anmerkungen:

[1] UNDP-Bericht über die menschliche Entwicklung 2010, S. 245
[2] Gupta D.: Mistaken Modernity, Indian between worlds 2000, Harper Collins Publisher, New Delhi
[3] S. Tanneberger: Notlandung, Steffen Verlag Friedland 2010

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Marginalien

Heidrun Hegewald

ICARUS-Nachruf

Mit dem ICARUS veröffentlichen wir Zeitzeugen ein Erinnerungswerk, um zu hinterlassen, was mit Kultur in einer sozialistischen Zivilisation gemeint war. Wir pflegen die Kultur des Gedächtnisses - das Gedächtnis der Kultur. Wir kultivieren - und müssen nun bereit sein, das in die Form der Vergangenheit zu setzen - ein humanistisches GEGENGEWISSEN. Der ICARUS ist in diesem Sinne ein Kompendium großartiger Leistung, an der keine qualitativen Abstriche gemacht werden dürfen.

Dass es möglich war, bei zumeist finanziell bedrückender Lage eine so kultiviert gestaltete und beinhaltete Zeitschrift wie den ICARUS über achtzehn Jahre intern und welthaltig herzustellen, verdient große Anerkennung. Wir wollen darauf stolz sein. Der uneingeschränkte Dank für diese bemerkenswerte Leistung geht an den langjährigen Chefredakteur Dr. Peter Michel und auch an Maria Michel. Ohne qualitativen Bruch führte Dr. Klaus Georg Przyldenk die verantwortungsvolle Arbeit weiter; durch den Verlauf seiner Krankheit ist er von der Belastung entbunden.

Kein leistungswilliger oder leistungsfähiger Ersatz bietet sich an, um weiter pflegend unser Gedächtnis und die kontinuierliche Beweisführung unseres Handelns als politische Haltung in diese Zeichen zu verdinglichen, wie sie im ICARUS bislang überdauernd aufgehoben sind. An Dr. Peter Michel kann die Last nicht zurückgehen. Unsere Kräfte schwinden als Resultat der natürlichen lebensendlichen Verluste.

Wir sind Realisten und tragen unsere Kämpfe in Würde aus. So bleibt uns die Verabschiedung von der Idee und der großartigen jahrelangen Verwirklichung im ICARUS. Dieser war auch mein Forum. Es schmerzt mich ganz persönlich, diesen Verzicht akzeptieren zu müssen.

Aber: Der ICARUS existiert! Vielleicht schaffen wir es finanziell, den Jahrgängen - gebunden - in entsprechend gestalteter "Bündelung" eine kompaktere unübersehbare Präsenz zu geben.

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Marginalien

Ein paar kleine Wahrheiten

In der Jugend bald die Vorzüge des Alters gewahr zu werden, im Alter die Vorzüge der Jugend zu erhalten, beides ist nur ein Glück.
(Johann Wolfgang von Goethe)


Der Antikommunismus ist, wie alle Welt weiß, ein Mittel zu dem Zweck, die Demokratie zu unterwühlen und die in Bildung Begriffenen niederzuhalten.
(Heinrich Mann)


Der Antisemitismus ist stets ein Symptom reaktionärer Hochkonjunktur.
(Erich Mühsam)


Das Ziel des Schreibens ist es, andere sehend zu machen.
(Joseph Conrad)


Jeder Mensch, der in der Geschichte das Bild der öffentlichen Missstände betrachtet, wird schon bald gewahr, dass die Unwissenheit, die noch barbarischer als die Selbstsucht ist, das meiste Unheil auf der Erde angerichtet hat.
(Claude-Adrien Helvétíus)

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"'Schwerter zu Pflugscharen' ist Schnee von gestern ..."

Ralf Alex Fichtner, Freiheitlicher Kommentar zum Freiheitsprediger Gauck, 2012. Lavierte Finelinerzeichnung, 21 x 14,8 cm

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Was zu Günter Grass zu sagen ist

Der Zivilisationskritiker Günther Anders (1902 bis 1992) war ein Rufer mit dem Rücken zur Wüste! Der Meister des letzten Wortes. Sein Warnruf war "Hiroshima ist überall". So auch der Titel eines seiner Bücher. Günther Anders nennt die nukleare Bombenlast dieser Erde den "blutenden Mond". Der "blutende Mond" ist über uns, auch wenn er seine kriegerische, versehentliche, wahnhafte, terroristisch beabsichtigte Bestimmung noch nicht erhalten hat. Sein Vorhandensein allein schon ist die Bedrohung. Und die ist der radioaktive Apokalypsereiter, dessen Entsorgung schon apokalyptisch ist. Günther Anders: Wir Menschen sind "apokalypseblind ... Analphabeten der Angst ... Die Zukunft kommt nicht mehr, wir machen sie ... Die Menschheit als ganze ist tötbar ... Der individuelle Tod (ist) so etwas wie ein Friedensluxus." Günther Anders hat die Verzweiflung, nicht gehört worden zu sein, mit ins Grab genommen.

Günter Grass, "gealtert und mit letzter Tinte", nicht "apokalypseblind", begeht seinen Aufstand des Gewissens. Wissend, dass dieses Ausmaß seiner Zivilcourage Missverständnis und Unterstellungen hervorrufen wird. Es geht ihm um mehr - Selbstschutz vernachlässigend. Günter Grass schrieb ein gerechtfertigtes Testament des Gewissens - ein Testament der Hoffnung auch: Er hat einen realisierbaren Vorschlag gemacht. Mit Wort-Noblesse, ohne im Ton oder mit Termini antisemitisch zu sein. Grass beteuert seine Verbundenheit mit Israel. Er weiß und wir wissen, dass wirkliche Freunde Israel "kritische Solidarität" schuldig sind. An dieser Stelle das Verschweigen wegen eines betonierten Tabus wäre Instrumentalisierung des Holocaust. Günter Grass benennt die Kontrahenten und beschwört eine politische Lösung. Bevor ein nuklearer Erstschlag, der in seiner Totalität unumkehrbar "auslöscht" und aus dem Inferno Nahost möglicherweise einen grauenvollen Anfang macht. Die Verteufelung von Grass in Deutschland dient einer Zwecklüge. Sie soll von der Rüstungsgeschäftigkeit zwischen Deutschland und Israel ablenken. Man bedenke: Die Liquidation ist nun mal das Ziel einer Produktion. Konsumtion von Waffen ist Krieg. Krieg ist Waffengeschäft. Zerbomben ist waffengeschäftig!

Ich bitte darum, "Was gesagt werden muss" mit klugem Kopf und empfindsamem Gewissen zu lesen und sich der verlogenen Verurteilung des Nobelpreisträgers für Literatur Günter Grass zu widersetzen.

Heidrun Hegewald


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Heidrun Hegewald, Die Kanaille ist keine Legitimation für Israel, 1982. Kohle auf Transparentpapier, 43 x 61 cm

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Ikarus

gelang es nur einmal - na, sagen wir: annähernd. Hingegen die Leichtigkeit des Seins in 2000 Gleitflügen als erster Mensch erfahren zu können, war die geniale Pionierleistung von Otto Lilienthal - bis er 1896 nach einer Bruchlandung zu Tode kam. Auf der Suche nach alten und neuen Wundem in Berlin bestieg ich den Abhang, die erste Flugschanze, an der Gedenkstätte für den fliegenden Menschen in Lichterfelde.

Anschließend versuchte ich, den Erfinder des steuerbaren Gleitflügels mit Emailfarbe auf Glas zu bannen. Ein Windhauch transparenter Pinselstriche schien über die durchsichtige Rundscheibe zu huschen: In der Tat eine gelungene Hommage an Otto Lilienthal! Fürs Archiv fertigte ich gleich noch zwei Fotos an, ganz behutsam.

Doch dann eine ganz kleine Unachtsamkeit: Im Bruchteil einer Sekunde zerschellte die frisch gebrannte Scheibe am Boden. Hochstimmung und Hochmut - wie bei Ikarus - waren im wahrsten Sinne des Wortes vor dem Fall gekommen.

Nils Burwitz

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Unsere Autoren:

Rüdiger Bernhardt, Prof.- Dr. - Literaturwissenschaftler, Bergen i.V.
Lutz Boede - Geschäftsführer der Potsdamer Wählergemeinschaft
"Die Andere", Potsdam Nils Burwitz - Maler und Graphiker, Valldemossa (Mallorca)
Klaus Eichner - Diplomjurist, Lentzke
Hans-Jürgen Falkenhagen, Dr. - Wirtschaftswissenschaftler und Fachübersetzer, Potsdam
Siegfried Forberger - Diplomjurist, Berlin
Georg Grasnick, Prof. Dr. - Politologe, Berlin
Heidrun Hegewald - Malerin, Graphikerin und Schriftstellerin, Berlin
Wiljo Heinen - Physiker, Volkswirt und Verleger, Berlin und Böklund
Bernhard Igel, Dr. - Literaturwissenschaftler, Eisenach
Horst Jäkel - Diplomlehrer, Potsdam
Hellmut Kapfenberger - Diplomjournalist, Berlin
Wolfgang Konschel - Staatsrechtler, Berlin
Werner Krecek, Dr. - Kulturwissenschaftler, Berlin
Klaus-Jürgen Künkel, Dr. - Diplomlandwirt, Müncheberg
Eckart Mehls, Prof. Dr. sc. - Historiker, Panketal
Siegfried Mechler, Prof. Dr. sc. - Diplomwirtschaftler, Präsident des Ostdeutschen Kuratoriums von Verbänden, Berlin
Günter Meier, Dr. - Kunstwissenschaftler, Blankenfelde
Maria Michel - Kunsterzieherin, Berlin
Peter Michel, Dr. - Kunstwissenschaftler, Berlin
Norbert Podewin, Dr. - Journalist und Historiker, Berlin
Klaus Georg Przyklenk, Dr. - Publizist, Woltersdorf
Yoel Moreno-Aurioles Pupo - Maler und Graphiker, Sevilla
Brigitte Queck - Diplomstaatswissenschaftlerin, Leiterin des Vereins "Mütter gegen den Krieg" in Brandenburg, Potsdam
Eberhard Rehling - Diplomingenieur, Berlin
Roger Reinsch - Diplomphilosoph, Berlin
Wolfgang Richter, Prof. Dr. sc. - Philosoph und Friedensforscher, Berlin
Dieter Rostowski, Dr. - Historiker, Kamenz
Werner Roß, Prof. Dr. sc. - Wirtschaftsrechtler, Zwickau
Wolfgang Runge - Verleger, Hamburg
Horst Schneider, Prof. Dr. sc. - Historiker, Dresden
Armin Stolper - Schriftsteller und Dramatiker, Berlin
Stephan Tanneberger, Prof. Dr. Dr. - Onkologe, Rankwitz/Liepe
Fritz Welsch, Dr. sc. - Philosoph, Berlin
Karl-Heinz Wendt - Fremdsprachenkorrespondent, Vorsitzender der GBM, Berlin
Ernst Woit, Prof. Dr. Dr. - Philosoph und Friedensforscher, Dresden

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Titelbild:
Max Lingner, Skizze zu "Les Midinettes de Paris", 1937. Gouache, 31 x 32 cm

2. Umschlagseite:
Ronald Paris, Ikarus, 1995. Federzeichnung

Rückseite des Umschlags:
Nils Burwitz, Ikarus, 2002. Emailfarben auf Glas, gebrannt bei 610 °C, rückseitig sandgestrahlt, Durchmesser 45 cm

Abbildungsnachweis:
Archiv Michel: S. 8, 9, 26, 49, 65, 67
Archiv Reinsch: S. 22-25
Archiv Woit: S. 78
Aufbau-Verlag: S. 86
Ingrid Bienert: S:80
Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz: S. 31
Bundesanstalt für Arbeit: S. 53
Bundesarehiv: S. 38
Nils Burwitz: Rücktitel dapd: S. 82
ddr.baumaschiXen.de: S. 46
Klaus Eichner: S. 40
Ekran Fiatowiec: S. 64
Feuchtwanger-Archiv: S. 36
Ralf-Alex Fichtner: S. 104
Flickr: S. 77
Heinz Funk: S. 74
Getty: S. 55
GNN-Verlag: S. 92, 93, 97
Goldmann Verlag: S. 88
hammerfoto: S. 78
Bernhard Igel: S. 60
Jo Jastram: S. 50
Katalog: 43 (3), 44
Katalog Entartete Kunst: S. 33, 34
Bernd Kuhnert: 3. Umschlagseite kommunisten-online.de: S. 66
Günter Meier: S. 44
Jürgen Michel: S. 42
Peter Michel: S. 49, 71 (2), 72
Nachlass Erich Heckel Hemmenhofen: S. 35
Max-Lingner-Stiftung: Titelbild, S. 75 (2), 76
Militärverlag: S. 89
nd-Archiv: S. 84
Ronald Paris: 2. Umschlagseite
Yoel Moreno-Arioles Pupo: S. 73 (2)
Ilja Pytajew: S. 62
Rheinisches Bildarchiv Köln: S. 34
Jens Schulze: S. 81
SEIUS Flickr: S. 5
Gabriele Senft: S. 3, 6, 73
serenoregis.org: S. 69
Stadtarchiv München: S. 28
stepmap: S. 56
Stimme Russlands: S. 19 (2)
Verlag am Park: S. 95, 100
Verlag Das Neue Berlin: S. 91
Verlag Wiljo Heinen: S. 68, 90, 98
Wikipedia: S. 14, 15

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Impressum

Herausgeber: Gesellschaft zum Schutz von
Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.
Weitlingstraße 89, 10317 Berlin
Telefon: 030/5578397
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Homepage: http://www.gbmev.de
E-Mail: gbmev@t-online.de
V.i.S.d.P.: Karl-Heinz Wendt
Begründet von:
Dr. theol. Kuno Füssel,
Prof. Dr. sc. jur. Uwe-Jens Heuer (†),
Prof. Dr. sc. phil. Siegfried Prokop,
Prof. Dr. sc. phil. Wolfgang Richter

Redaktion:
Dr. Klaus Georg Przyklenk
Maria Michel, Dr. Peter Michel
Hohenbinder Steig 11, 12589 Berlin
Tel.: 030/648 91 63
E-Mail: pema11@freenet.de

Layout: Prof. Rudolf Grüttner
Satz: Waltraud Willms
Verlag: GNN Verlag Sachsen/Berlin mbh Schkeuditz

Redaktionsschluss: 31.8.2012

Verlag:
GNN Verlag Sachsen/Berlin mbH Schkeuditz
ISBN 978-3-89819-379-5

Die Zeitschrift ICARUS ist das wissenschaftliche und publizistische Periodikum der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.; sie erscheint viermal jährlich und kann in der Geschäftsstelle der GBM, Weitlingstraße 89, 10317 Berlin abonniert bzw. gekauft werden. Ihr Bezug ist auch unter Angabe der ISBN (siehe weiter oben) über den Buchhandel möglich. Der Preis beträgt inkl. Versandkosten pro Heft 4,90 EUR für das Jahresabonnement 19,60 EUR.

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Quelle:
ICARUS Nr. 3 und 4/2012, 18. Jahrgang
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Dezember 2012