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ICARUS/023: Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur 2/2012


ICARUS Heft 2/2012 - 18. Jahrgang

Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur



INHALT
Autor
Titel

Kolumne
Wolfgang Richter
Günter Grass - ein Warner in schwierigen Zeiten

Gewalt statt Frieden
Bruno Mahlow
Ernst Woit
Georg Grasnick
Brzezinskis Visionen
Weltgewaltordnung statt Weltfriedensordnung
Früchte der "Wende" (I)

Fakten und Meinungen
Ralph Hartmann
Horst Schneider
Norbert Rogalski
Schwarzmalerei? Ein Rückblick in die Gegenwart
Denn sie säen Wind und werden Ungewitter ernten (Hosea 8.7)
Leipzig vom IOC ausgebremst

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"
Peter Michel
Luise Weigel
Kurt Neuenburg
Klaus Georg
Der eigene Schlüssel
Versteinerter Reiter
Wie man sich selbst erhöht
Friedericus Rex. Ein Sonett

Bücherkiste
Siegfried Forberger
Maria Michel
Olga Strauch
Erich Buchholz
Peter Michel
Michael Frey
Daimler-Stern und Hakenkreuz
Den Mond in drei Teile teilen
Notlandung
Über ehrliches Christentum
Ja, das gab es!
Vor sich selbst bestehen

Marginalien



Echo
Ein paar kleine Wahrheiten
Aphorismen

Kolumne

Wolfgang Richter

Günter Grass ein Warner in schwierigen Zeiten

Etwa dreißig Mal, so registrierten viele Friedensforscher oder ihre Institutionen nach dem Zweiten Weltkrieg, habe es im Kalten Krieg die Gefahr gegeben, dass sich regionale oder globale Konflikte zum atomaren Weltkrieg ausweiten. Wir leben noch. Weil es laute Mahner und auch auf Koexistenz setzende vernünftige Politiker und Regierungen gab, ein labiles, doch wirksames atomares Gleichgewicht zu bewahren.

Schriftsteller sind sozusagen Mahner aus Profession. Schriftstellerkongresse kamen in den Wirren der Nachrüstungsdebatten und ihrer Folgen mühsam und mutig gleich mehrere Male zusammen angesichts der "Verfinsterung der militärischen und politischen Situation", wie Stephan Hermlin in einer Einladung schrieb. Im Dezember 1981 folgte die so genannte "Berliner Begegnung" an der Akademie der Künste und der Akademie der Wissenschaften der DDR. Die "Nachrüstung" stellte auch auf deutschem Boden eine große Belastung der Beziehungen zwischen USA und NATO auf der einen und SU und Warschauer Vertrag auf der anderen Seite dar. Ein Warner hatte auch hier das Wort ergriffen - zum wiederholten Mal: Günter Grass. Ein großer Schriftsteller. Er tat es weniger aus Wissensgründen über Waffentechnologien und -strategien, wie man sie an Militärakademien gelehrt bekommt, sondern aus Gewissensgründen. Für ihn, der, wie er sagte, "eigentlich nicht dazu neigt, sich von Weltuntergangsstimmungen tragen zu lassen, ist das Ende der menschlichen Anwesenheiten auf dem Planeten Erde vorstellbar geworden". Das Berliner Treffen gab einen wichtigen Auftakt, die Sprachlosigkeit zu durchbrechen. Das nächste internationale Schriftstellertreffen fand im Mai in Haag statt, im Juni tagte der Internationale Schriftstellerkongress, die "Interlit", an deren Abschluss das "Kölner Manifest 82" stand. An diesen Begegnungen nahm Günter Grass lebhaft teil. Und es erbost jetzt die Medienmeute im Land, dass er die Gefahren heute offenbar immer noch unverändert so sieht. Wie viele sehen das nicht auch so!? Er sagt nicht nur, "was gesagt werden muss", das könnte ja jeder behaupten, sondern auch aus guten Gründen, Gewissensgründen eben.

Das erinnert daran, dass es 37 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik dauerte, ehe in ihr der erste Internationale Schriftstellerkongress stattfand. Er hatte ausschließlich die Bedrohung des Weltfriedens, ihre Gefahren für die Menschheit und die Ziele einer breiten und kämpferischen Friedensbewegung zum Gegenstand. 148 Schriftsteller aus Ost und West, darunter auch Günter Grass, mussten aber auch enttäuscht feststellen, dass die Bedeutung der Berliner Begegnung 1981/82 außerhalb der BRD weit höher bewertet und genauer analysiert wurde als in ihr selbst. Das einstimmig angenommene "Kölner Manifest" wandte sich an die Weltöffentlichkeit. Alle Teilnehmer verpflichteten sich in ihm, sich "gegen jeden Missbrauch der Sprache zu wenden", der der "Verschleierung oder Beschönigung kriegerischer Absichten dient". "Wir begrüßen jede Vorleistung, die zur Verminderung der Bedrohung erbracht wird. Hierzu zählen wir den Verzicht auf den 'Erstschlag', gleich mit welchen Waffen, wozu wir alle Mächte auffordern." Auch das fand nicht den ungeteilten Beifall der Parlamentarier und Medien der BRD. "Beifall gewinnt leichter, wer Beifall leistet", überschrieb H. Vormweg einst das Vorwort zu Grass' "Gesammelten Gedichten" (1971). Das hat er bis heute nicht wirklich gelernt.

Bereits vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Sowjetunion von den USA auf lange Sicht als der neue Feind betrachtet. Die Erlangung der Erstschlagfähigkeit, zunächst vor allem mit der neuen Atomwaffe der USA verbunden, so dachten die Militärs im Umkreis des amerikanischen Präsidenten, "würde akut, wenn Stalin an geeignete Mittel gelangte, die USA anzugreifen oder einen US-Angriff zurückzuschlagen. Das decke alle erdenklichen Fälle ab".

Das aktuelle Gedicht von Günter Grass hat auch deshalb mehr bewirkt, als vor einem regionalen Konflikt und vor einem erneuten Holocaust im Kriege, nicht ohne Schuld der israelischen Regierung, zu warnen. Es geht noch immer und immer drängender um das Überleben der Menschheit, wo wir als "Überlebende allenfalls Fußnoten" bleiben könnten. (Grass)

An dieses Thema des Präventivschlags knüpfte Günter Grass nun nach 30 Jahren wieder an. Die Kriegsgefahr ist nicht gemindert. Er warnt vor einem "Recht auf Erstschlag", das sich aktuell die israelische Regierung in der Auseinandersetzung mit dem - angeblich - über die Atombombe verfügenden Iran vorbehält. Das Pochen auf ein Recht auf Aggression ist hier zum Greifen nahe. Grass warnt vor in die Welt gesetzten Beschuldigungen, vor belastender Lüge, die als Kriegsgrund umgeht. Das war schon so bei Jugoslawien, Irak und Afghanistan - und nicht nur dort.

An Tribunalen über diese Kriege nahmen nicht selten Schriftsteller teil, wie Sarah Flounders (USA), Boris Olejnik (Ukraine) oder Gisela Steineckert (Berlin). Auf all diesen Tribunalen gab es Warnungen vor Präventivkriegen. Solche Schriftsteller warnten in der gesamten Zeit des Kalten Krieges bis heute vor einer angestrebten Erstschlagfähigkeit, die das zentrale Ziel, die treibende Vision des Wettrüstens um die Weltherrschaft der USA und der NATO war und ist. Stephan Hermlin mahnte auf dem Kölner Schriftstellerkongress von 1982 unter Berufung auf Günther Gaus "vor der Möglichkeit und der Gefahr, dass die Bereitwilligkeit zum Krieg schneller wächst als die Friedensbewegung". Diese Gefahr ist heute genauso aktuell. Das weist noch über den Nahen Osten hinaus - und sollte alle aufrütteln. Und auch an die DDR erinnern, die den Rufern des Friedens in schwieriger Zeit einen Diskussionsraum gab.

*

Warnen als Pflicht

Schweigen war immer schon bequemer als reden, und wer das Vaterland alarmiert und auf die drohenden Gefahren hinweist, kann keinesfalls sein Feind sein.

Sándor Petöfi (1823-1849): Aus politischen Aufsätzen, 27. Mai 1848, in: Ein Lesebuch für unsere Zeit, Weimar 1955, S. 323

*

Gewalt statt Frieden

Bruno Mahlow

Brzezinskis Visionen

Obamas Anpassungsstrategie und das jüngste Schachspiel Zbigniew Brzezinskis

Die von Obama kürzlich verkündete "neue Verteidigungsstrategie" ist gekennzeichnet durch eine gewisse Anpassung an eine schwindende wirtschaftliche Stärke im Inland und eine Schwächung des Einflusses der USA in der Welt. Welches sind ihre wesentlichen Elemente?

• Das sind gewisse Einsichten, die dafür sprechen, dass sich die USA in ihrer Hegemonial- und Militärpolitik übernommen haben und dennoch im Wesentlichen an ihr und somit an ihrem Sendungsbewusstsein festhalten wollen.

• Trotz einiger Abstriche bei Bodentruppen und deren Einsätzen sowie in der Personalstärke wird ein auf Qualifizierung und Modernisierung gerichteter Rüstungskurs und somit das Ausspielen militärischer Überlegenheit beibehalten.

• Es gibt eine Abkehr von der Doktrin zweier Landkriege zugunsten einer Doktrin von anderthalb Kriegen: Während eines großen Krieges soll gleichzeitig die Fähigkeit zum Vereiteln einer den USA nicht genehmen Entwicklung in einer anderen Region erhalten bleiben.

• Mit der Entwicklung neuer Waffen, insbesondere von Hightechsystemen, von unbemannten Drohnen und Mitteln für Cyberattacken und -abwehr will man "agil, flexibel und auf alle Notfälle und Bedrohungen vorbereitet sein".

• Aus Besorgnis vor der Weltmacht China zeigt man höhere Präsenz im asiatisch-pazifischen Raum.

• An die Stelle von Rüstungsabbau und Abrüstungsvorschlägen tritt ein "Verteidigungshaushalt, der größer ist als der der ... zehn Staaten mit dem größten Verteidigungshaushalt zusammen". Gleichzeitig machen der Bericht der 16 US-Geheimdienste und insbesondere die Meinung der CIA deutlich, dass Russland weiterhin zu den größten potenziellen Gefahren für die USA gerechnet wird.

Mit der Anpassungsstrategie Obamas korrespondieren viele Aussagen des Sicherheitsberaters des ehemaligen US-Präsidenten Carter - Zbigniew Brzezinski - in seiner Rede im Oktober 2011 in der Normandie und in seinen Artikeln vom Januar 2012 in der Zeitschrift "Foreign Policy" zu seinem Buch "Strategische Konzeption: Amerika und die Krise der globalen Macht".


Brzezinskis jüngstes Schachspiel

Zbigniew Brzezinski, ein Politologe, der über Jahrzehnte die US-Strategie maßgeblich mitformte, erhielt am 14. Oktober 2011 in der Normandie aus den Händen von Valery Giscard d'Estain (ehemaliger Präsident Frankreichs) den Alexis-de-Tocqueville-Preis. Diese Auszeichnung ist nach dem französischen Historiker, Soziologen und Politiker benannt, der 1831-32 in den USA ein Buch "Über die Demokratie in Amerika" schrieb, in dem er die potenziellen Gefahren für die amerikanische Gesellschaft voraussah.

Joseph Stieglitz, Nobelpreisträger für Wirtschaft, meint, dass es Tocqueville gelang, die Hauptquelle der eigenartigen Genialität der amerikanischen Gesellschaft zu erkennen, die er "self-internst property understood", d. h. "richtig verstandenen Egoismus" nannte. Das frühere Amerika berücksichtigte und respektierte seiner Meinung nach den Egoismus anderer - im Verständnis, dass die Achtung des Allgemeinwohls Voraussetzung für das persönliche Wohl eines Jeden ist. Hier einige wesentliche Aussagen aus dieser Rede Brzezinskis:

• Das heutige Amerika ist ein Land enormer sozialer Kontraste. 1 Prozent der reichsten Familien besitzen über 35 Prozent des nationalen Reichtums, wogegen 90 Prozent der Bevölkerung nur über 25 Prozent verfügen.

• Den USA geraten globale Veränderungen in sozialökonomischen und geopolitischen Bereichen außer Kontrolle.

• "Sozial und ökonomisch verwandelte sich die Welt in ein Spielfeld, in dem drei dynamische Realitäten vorherrschen: Globalisierung. Internetisierung und Deregulierung". Die spekulative Finanzsphäre, technische Innovationen und neue Arbeitsformen schaffen schnelle Reichtümer. Es herrschen merkantiler Egoismus und nicht nationale Interessen.

• Die Konzentration globaler Macht bei einigen Staaten wird begleitet von der Auflösung der politischen Macht. Der Niedergang des Westens erfolgt ohne Willen zur Einheit bei gleichzeitigem Wachsen der Macht des Ostens. Es gibt Gefahren egoistischer Konkurrenz und potenzieller Konflikte, keine effektive Disziplin; die finanzwirtschaftliche Globalisierung erfolgt ohne Kontrolle.

• Brzezinski maß dem Phänomen des massenhaften politischen Erwachens eine besondere Bedeutung bei. Es gebe eine rasante Entwicklung der Kommunikation; die arbeitslose Jugend in Entwicklungsländern und Studenten in entwickelten Industriestaaten protestieren gegen die Reichen und gegen die korrupten Regierungen. "Die Empörung über die Macht und die Privilegien entfacht populistische Leidenschaften, deren explosives Potenzial internationale Unordnungen großen Maßstabes in sich birgt", meinte Brzezinski. Er sah die sozialpolitischen Besonderheiten der amerikanischen Gesellschaft in deren Unwissenheit und Ignoranz, in deren Folge die Qualität der politischen Führung sinkt, woraus sich der Widerstand gegen gerecht verteilte soziale Opfer im Interesse einer langfristigen Wiederherstellung des Wohlstandes des Landes erkläre.

• Des weiteren verwies Brzezinski auf die Enge und den Egoismus der Parteien, forderte eine neue Breite des Herangehens, die Wiederherstellung des nationalen Vertrauens, eine umfassende strategische Vision, ein Erfassen historischer Ziele und somit die globale Anerkennung eines "richtig verstandenen Egoismus" sowie eine harte nationale und internationale Kontrolle der Finanzsphäre.

• Die USA müssten ihre ambitionöse Politik erneuern, dem transatlantischen Bündnis neue Bedeutung beimessen, kurzfristig dem Verhältnis zwischen USA und EU, langfristig der Einbeziehung Russlands und der Türkei.

• In Russland geht es nach Brzezinskis Meinung ums Überleben unter den Bedingungen der inneren Stagnation und des Bevölkerungsrückgangs, des aufstrebenden Ostens und des - wenn auch verwirrten - reichen Westens. Daher gelte es, die engen Kontakte der Ukraine zur EU zu fördern; das sei eine wichtige Voraussetzung zur Stimulierung Russlands für ein näheres Einbeziehen des Landes in den Westen. Dies sei unter Putin nicht möglich, aber die Voraussetzungen für eine demokratische Evolution in Russland würden wachsen.

• Die Türkei müsse ihre Zukunft im Westen sehen, und zwar auf der Grundlage einer Demokratisierung und Modernisierung, die sich mit dem Islam vereinbaren ließe. Ihre Aufgabe sei eine friedliche Kooperation mit den nahöstlichen Nachbarn; auch ihre Haltung gegen den islamischen Extremismus und ihre Rolle für die regionale Stabilität in Zentralasien seien wichtig. (Anmerkung: Offensichtlich setzt Brzezinski dabei auch auf den Kooperationsrat türksprachiger Staaten - Aserbaidshans, Kasachstans, Kirgistans und der Türkei - mit seinen Leitungsorganen und dem Sekretariat in Istanbul).

• Langfristig und mittelbar wichtig für Europa sei auch die Rolle der USA bei der Entwicklung des neuen Ostens, nicht ausschließlich in China, sondern in China und Japan. Die USA müssten die zunehmende Konkurrenz zwischen China und Indien zurückdrängen.


Brzezinskis Schlussfolgerungen

In seinen Artikeln in "Foreign Policy" erklärte Brzezinski seine Sicht auf die Folgen der "Unbestimmtheit in der internationalen Arena, der Verschärfung der Reibungen zwischen den globalen Rivalen und sogar eines offenen Chaos". Der Verfasser ruft die USA dazu auf, entweder eine neue außenpolitische Strategie durchzuführen oder sich auf globale Erschütterungen vorzubereiten. Eine Schwächung der globalen Rolle der USA berge Gefahren regionaler Konflikte in sich. Er fürchtete eine Umverteilung der Macht, eine weitere Stärkung Russlands und Chinas und zählte Länder auf, die durch den Niedergang der Macht der USA verlieren würden: Georgien, Taiwan, Südkorea, Belarus, die baltischen Staaten, die Ukraine, Afghanistan, Pakistan, Israel und eine Reihe anderer schwacher Staaten. Das ist zweifellos eine sehr aufschlussreiche Liste, wenn man die USA-Positionen und Interessen gegenüber diesen Staaten berücksichtigt.

Brzezinski erkannte, dass unter den Bedingungen der Deregulierung und des globalen politischen Erwachens die traditionellen politischen Hebel zur Regulierung der gesellschaftlichen Prozesse an Wirkung verlieren. Nach Marx, auf dessen Methodologie immer mehr Forscher zurückgreifen, offenbart sich eine deutliche Nichtübereinstimmung zwischen dem politischen Überbau und der sozialökonomischen Basis. Damit wächst für das westliche und das globale politische System die Gefahr des Abgleitens ins Chaos.

Brzezinski plädiert daher für die Schaffung eines globalen politischen Überbaus, für eine Revolution von oben zur Verhinderung einer Revolution von unten, für die Bildung einer neuen politischen Elite, für neue Strukturen und Mechanismen - mit friedlichen, aber auch mit anderen Mitteln. Die tödliche Gefahr müsse den Westen aufrütteln, sich unter USA-Dominanz zu vereinen. Erforderlich seien vernünftiger Egoismus und Aufgabe eines Teils der Souveränität. Von Russland fordert er faktisch den Verzicht auf eine eigenständige politische Rolle.

Das heißt, für die US-Strategie gilt die transatlantische Gemeinschaft, von den USA dominiert, als Hauptachse. Russland und die Türkei sowie möglichst China und Indien sollten eine Art Balance schaffen. Wichtige kritische Faktoren für das Überleben Russlands sieht Brzezinski in der Ukraine und in einem starken Mann (daher die Furcht vor Putin). Teile der russischen Elite sind für die Visionen Brzezinskis ansprechbar.

Iran, Saudi-Arabien und Israel sollen auf ihre Ambitionen verzichten. Offenbar rechnet Brzezinski damit, dass die Macht der USA ausreicht, um andere Völker und Staaten zu "überzeugen". Für ihn geht es faktisch um die "letzte Schlacht" in einer tödlichen Konfrontation zwischen dem zivilisierten Westen und dem "barbarischen" Russland. In Zeiten der strategischen Parität gab es in der geopolitischen Konfrontation keine Aussicht auf einen Sieg; jetzt gehe es dagegen um das Ende der Geschichte eines der Zentren, entweder des Westens oder Russlands.


Und was folgt daraus für die Linken?

Die Anpassungsstrategie des Imperialismus spielte schon in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts in den Diskussionen um die Einschätzung des internationalen Kräfteverhältnisses und um die Potenzen der dem kapitaldominierten System gegenüberstehenden Kräften eine Rolle. Im Grunde war die Konvergenztheorie bereits ein beredter Ausdruck dafür, wie der Westen nach Reserven und Möglichkeiten suchte, seine Positionen in der Systemauseinandersetzung zu stärken und sich antikapitalistischen Alternativen zu widersetzen. In der Politik der UdSSR und anderer sozialistischer Staaten, in der kommunistischen Bewegung wurde die Anpassungsstrategie unterschätzt. Das hatte unter anderem auch mit einem mechanistischen Herangehen an Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung zu tun. Die Rolle der Ökonomie, der wissenschaftlich-technischen Revolution wurde unterschätzt. Mit dem Erringen des militärstrategischen Gleichgewichts allein konnte der in allen Lebensbereichen geführte Wettstreit zwischen den beiden Gesellschaftssystemen nicht zugunsten des Sozialismus entschieden werden. Daraus gilt es, Lehren zu ziehen.

Zweifellos wurden und werden die Möglichkeiten und Grenzen des kapitalistischen Systems sowohl von seinem inneren Zustand als auch von der Kraft und dem Einfluss der ihm gegenüberstehenden Kräfte bestimmt. Seine innere Lage ist gegenwärtig von einer umfassenden Systemkrise bestimmt. Selbst die "Financial Times" lässt daran keinen Zweifel, indem sie von "capitalism in crisis" spricht. Erst recht reicht es für die Linken nicht, nur dies zu bestätigen oder zu meinen, nach positiven Seiten des Kapitalismus und Möglichkeiten seiner Reformierbarkeit Ausschau halten zu müssen. Vielmehr gilt es zu erkennen, dass der Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit heute viel tiefer denn je ist, d. h. Mehrheiten der Gesellschaft erfasst hat. Mehr noch: Die globalen Probleme auf unserem Planeten, die Sicherung der Existenz der Menschheit erfordern antikapitalistische Alternativen, das Zusammenwirken aller progressiven Kräfte und in erster Linie die Konzentration der Linken auf ein Zusammengehen in Hauptfragen. Gestützt auf Marx - denn ohne revolutionäre Theorie gibt es keine revolutionäre und somit keine den Kapitalismus überwindende Praxis - gilt es, schöpferisch den heutigen Herausforderungen gerecht zu werden. Nur so kann man auch allen fortschrittsfeindlichen Anpassungsschachspielen eine Niederlage bereiten.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Zbigniew Brzezinski
- Von einem U-Boot aus startende Cruise-Missiles-Raketen

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Gewalt statt Frieden

Ernst Woit

Weltgewaltordnung statt Weltfriedensordnung

Über das völkerrechtliche Verbot des Angriffskrieges und die von den USA und der NATO nach ihrem Sieg im Kalten Krieg geführten Angriffskriege

Nach ihrem Sieg im Kalten Krieg orientierten sich die USA zusammen mit ihren Verbündeten in der NATO darauf, durch den rücksichtslosen Gebrauch ihrer nun global absolut überlegenen Militärmacht die Weltherrschaft zu erlangen. Zur ideologischen und politischen Rechtfertigung ihrer seitdem geführten Angriffskriege haben die USA und ihre NATO-Verbündeten immer wieder das für die UNO-Charta fundamentale Verbot der Androhung oder Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen - und damit das völkerrechtlich verbindliche Verbot von Angriffskriegen - in historisch beispiellos zynischer Weise missachtet. Aufschlussreich ist die von den Aggressoren dabei jeweils zur Rechtfertigung dieser Kriege entwickelte Argumentation, die im Interesse des gegenwärtigen und künftigen Friedenskampfes nicht vergessen werden darf.


Präzedenzfall Jugoslawienkrieg

Am 24. März 1999, an dem die NATO Jugoslawien überfiel, wandte sich der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder über das Fernsehen an die Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Dabei erklärte er: "Heute Abend hat die NATO mit ihren Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. Damit will das Bündnis weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte unterbinden und eine humanitäre Katastrophe im Kosovo verhindern. Der jugoslawische Präsident Milosevic führt dort einen erbarmungslosen Krieg.... Wir führen keinen Krieg. Aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen...."[1] Bundeswehr-General Heinz Loquai, der 1998/99 die Gruppe der Militärberater bei der deutschen OSZE-Vertretung in Wien leitete, erläuterte in einem Interview den Hintergrund und entlarvte zugleich die Fragwürdigkeit der nicht nur von Bundeskanzler Schröder zur Rechtfertigung des Angriffskriegs der NATO gegen Jugoslawien entwickelten Argumentation: "Vom Verteidigungsministerium wurde die argumentative Marschroute ausgegeben, dass es sich bei den Luftschlägen der NATO nicht um Kriegshandlungen handeln würde, schließlich habe es ja keine Kriegserklärung gegeben. Wenn man diese Argumentation gelten lässt, dann waren Hitlers Überfälle auf Polen und auf die Sowjetunion auch keine Kriege. Daran zeigt sich die ganze Fragwürdigkeit dieses Arguments."[2]

In einem anderen Interview weist General Loquai - gestützt auf seine genaue Kenntnis der damaligen Lage - nach, dass damals im Kosovo keine humanitäre Katastrophe drohte: "Man muss es vielleicht noch deutlicher auf den Punkt bringen. Die NATO hat gegen ein souveränes Land einen Krieg begonnen. Ohne UN-Mandat und ohne dass ein NATO-Land angegriffen war. Wie war denn die Situation am 24. März oder kurz davor? Begründet wird der Krieg ja damit, dass einer Völkermord-Situation, einer humanitären Katastrophe Einhalt geboten werden musste. Gab es überhaupt eine humanitäre Katastrophe, die einen Krieg rechtfertigte? Wenn man sich vergegenwärtigt, welche Lagedarstellung das Führungszentrum der Bundeswehr am 25. März, einen Tag nach Kriegsbeginn, dem Verteidigungsausschuss und dem Auswärtigen Ausschuss gibt, wenn man liest, was die militärischen Nachrichtenexperten am 24. März in einer Lageanalyse feststellen, wenn man den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19. März sieht - dies alles ist ja inzwischen auch veröffentlicht -, dann kann man konstatieren: Keine dieser Quellen bietet einen Anhalt dafür, dass eine Völkermordsituation vorlag oder dass zu dieser Zeit groß angelegte, massenhafte, systematische Vertreibungen der Albaner aus dem Kosovo erfolgten. Die großen Flüchtlingsströme begannen nach dem Kriegsbeginn." Gefragt,ob er noch konkrete Zahlen über Opfer im Kosovo nennen könne, antwortete General Loquai: "Es gibt eine Statistik der OSZE, die im einzelnen registriert hat, wie viele Menschen im Kosovo in der Zeit vom Dezember 1998 bis März 1999 gewaltsam ums Leben kamen. Dies waren zum Beispiel vom 1. bis 19. März 39 Menschen. Etwa ein Drittel der Getöteten waren serbische Polizisten und jugoslawische Soldaten, etwa ein Drittel Kämpfer der UCK, die anderen waren serbische und albanische Zivilisten. "[3]

Eine besondere Institution zur permanenten und auch nachträglichen Rechtfertigung des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ist der mit der Resolution 827 des UNO-Sicherheitsrats 1993 geschaffene Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY). Gerade unter diesem Aspekt muss immer wieder daran erinnert werden, dass die NATO mit Hilfe dieses Gerichtes Präsident Milosevic - das Staatsoberhaupt des von ihr überfallenen Staates - zum Hauptangeklagten machen konnte. In einem Gespräch mit der ersten Chefanklägerin dieses Gerichts, Carla del Ponte, erinnerte Oliver Tolmein daran, dass dieses Tribunal nicht unabhängig sein kann; hatte NATO-Sprecher Jamie Shea doch selbst darauf hingewiesen, "dass die NATO-Staaten einen Großteil der Finanzen dieses Tribunals zur Verfügung stellen".[4] Aufschlussreich, dass Carla del Ponte in ihrer Antwort hervorhob: "Wir untersuchen nicht, ob die Intervention der NATO im Kosovo an sich rechtmäßig war oder nicht. ­... Unsere Zuständigkeit betrifft nur Kriegsverbrechen - nicht den Krieg als solchen."[5]

Doch dieses Tribunal behandelte in keinem Fall die von der NATO gegenüber Jugoslawien begangenen Kriegsverbrechen. Nie zuvor war in der Militärgeschichte ein Konflikt so ausgetragen worden, dass der Aggressor faktisch ohne eigene Verluste sein Ziel erreichte. "Während der über 25.000 Luftangriffe wurden nur zwei Flugzeuge abgeschossen. ­... Der Plan von General Clark, einen 'Krieg ohne Flugzeugverluste' zu führen, erwies sich als durchführbar. ... Demgegenüber waren die materiellen Verluste auf jugoslawischer Seite beträchtlich. Die militärische und industrielle Infrastruktur, darunter Elektrizitätswerke,wurden schwer beschädigt oder unbenutzbar gemacht. Dasselbe gilt für Hauptverkehrswege wie Brücken, Eisen- und Autobahnen. ... Nach Aussage verschiedener amerikanischer Generäle wurde das Land in seiner Entwicklung zwei Jahrzehnte zurückgebombt."[6] Nach Herfried Münkler hat ein solcher Krieg "alle Charakteristika der klassischen Duellsituation verloren und sich, zynisch gesagt, gewissen Formen von Schädlingsbekämpfung angenähert".[7]

Aufschlussreich ist, dass der Philosoph Jürgen Habermas unmittelbar nach Beginn des NATO-Krieges gegen Jugoslawien dessen völkerrechtliche Konsequenzen als "die Transformation des Völkerrechts in ein Recht der Weltbürger" interpretierte,das er explizit als ein "durch die Souveränität der Staaten hindurchgreifendes Recht" definiert. Das begründet Habermas im Zusammenhang mit dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien so: "Im Rahmen des klassischen Völkerrechts hätte das als Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates, das heißt als Verletzung des Interventionsverbots gegolten. Unter Prämissen der Menschenrechtspolitik soll dieser Eingriff nun als eine bewaffnete friedensschaffende Mission verstanden werden. Nach dieser westlichen Interpretation könnte der Kosovo-Krieg einen Sprung auf dem Weg des klassischen Völkerrechts der Staaten zum kosmopolitischen Recht einer Weltbürgergesellschaft bedeuten."[8] Es sei angemerkt, dass Jürgen Habermas auf dieser jeden Aggressionskrieg rechtfertigenden Interpretation der Menschenrechte nicht stehen geblieben ist. Zehn Jahre später schrieb er: "Wenn die Menschenrechtspolitik gar zum Feigenblatt und Vehikel der Durchsetzung von Großmachtinteressen wird; wenn die Supermacht die UN-Charta beiseite schiebt, um sich Interventionsrecht anzumaßen; wenn sie unter Verletzung des humanitären Völkerrechts eine Invasion durchführt und im Namen universaler Werte rechtfertigt: dann bestätigt sich der Verdacht, dass das Programm der Menschenrechte in seinem imperialistischen Missbrauch besteht."[9]

Welche gefährlichen Konsequenzen die Instrumentalisierung der Menschenrechte zur Kriegsrechtfertigung hat, entlarvte der Völkerrechtler Norman Paech: "Die Umwandlung der Menschenrechte von individuellen subjektiven Rechtsansprüchen zu objektiven Systemzwecken hat nicht nur juristisch ihre Ablösung aus ihrem rechtsstaatlichen Normengerüst zur Folge, sondern ganz handfest die Legitimierung so genannter humanitärer Interventionen, die die Weltfriedensordnung entgegen den klaren Bestimmungen in der UNO-Charta in eine Weltgewaltordnung verkehren."[10]


Weltherrschaft als Ziel

Es gibt unendlich viele Tatsachen und offizielle Verlautbarungen der Politiker der USA und der NATO, die beweisen, dass die von ihnen geführten Kriege kein anderes Ziel als die Erringung der Weltherrschaft des kapitalistischen Imperialismus hatten und haben. Am 19. März 1999 - nur fünf Tage vor Beginn des Krieges gegen Jugoslawien beschloss der US-Kongress das so genannte Seidenstraßenstrategiegesetz (Silk Road Strategy Act), "das die umfassenden wirtschaftlichen und strategischen Interessen der USA in einer riesigen Region definiert, die sich vom Mittelmeer bis nach Zentralasien erstreckt".[11]

In seiner Eigenschaft als Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE nahm der CDU-Politiker Willy Wimmer Anfang Mai 2000 in Bratislava an einer gemeinsam vom US-Außenministerium und dem American Enterprise Institut einberufenen Konferenz mit den Schwerpunkten Balkan und NATO-Erweiterung teil. Wimmer informierte Bundeskanzler Gerhard Schröder darüber in einem Brief, der mit folgender eindeutiger Einschätzung endete: "Die amerikanische Seite scheint im globalen Kontext und zur Durchsetzung ihrer Ziele bewusst und gewollt die als Ergebnis von zwei Kriegen im letzten Jahrhundert entwickelte internationale Rechtsordnung aushebeln zu wollen. Macht soll Recht vorgehen. Wo internationales Recht im Wege steht, wird es beseitigt. Als eine ähnliche Entwicklung den Völkerbund traf, war der Zweite Weltkrieg nicht mehr fern. Ein Denken, das die eigenen Interessen so absolut sieht, kann nur totalitär genannt werden."[12]


Irak-Krieg als Krieg für einen "demokratischen Neokolonialismus"

Nach ihrem Sieg im Kalten Krieg wurde die Beseitigung der Ergebnisse des antikolonialen Befreiungskampfes zum Hauptziel der Globalstrategie des US-Imperialismus und seiner Vasallen. Hatte der antikoloniale Befreiungskampf doch das globale Kräfteverhältnis gravierend verändert, allein von 1955 bis 1962 die UNO um 50 neue Mitgliedsstaaten anwachsen lassen und die UNO damit zu einer wirklichen Weltorganisation entwickelt. Als die Regierungen Iraks, Irans, Kuwaits, Saudi-Arabiens und Venezuelas 1960 das OPEC-Kartell gründeten, kontrollierte diese Organisation bereits knapp 80 Prozent der weltweit nachgewiesenen Erdölreserven. Es war daher kein Zufall, dass James Woolsey (1993/94 Chef der CIA) unmittelbar vor dem Einmarsch der US-Streitkräfte in den Irak 2003 in einem Interview erklärte: "Wir müssen dem Nahen Osten die Ölwaffe wegnehmen. ... Man braucht eine langfristige Strategie. ... Wir fangen jetzt mit dem Irak an."[13]

Vor dem Einmarsch in den Irak machte der UN-Sicherheitsrat unter dem Druck der USA und Großbritanniens den Irak zwölf Jahre lang mit den schärfsten Wirtschaftssanktionen, die je über ein Land verhängt wurden, wirtschaftlich verteidigungsunfähig. Im Ergebnis dieser Wirtschaftssanktionen verstarben mindestens 1,5 Millionen Iraker an Hunger und nicht behandelten Krankheiten, darunter mindestens 500.000 Kinder. Zu diesen schlimmen Folgen - faktisch einem Genozid als Preis für Wirtschaftssanktionen - befragt, erklärte die frühere Außenministerin der USA, Madeleine Albright, auch noch Jahre später: "Es ist eine sehr schwierige Entscheidung, aber der Preis - wir glauben, der Preis ist es wert."[14]

Ein anderes Element des Krieges vor der Invasion waren die über dem Norden und dem Süden des Irak festgelegten Flugverbotszonen. Für sie gab es keine Resolution des UN-Sicherheitsrates. Sie wurden von den USA und Großbritannien in Kolonialherrenmanier eigenmächtig verkündet und dienten diesen beiden Staaten als Zielgebiete für nahezu tägliche willkürliche Bombardements des Irak. In der viertägigen Operation "Wüstenfuchs" im Dezember 1998 flogen US-amerikanische und britische Luftstreitkräfte nicht weniger als 600 Angriffe auf Bagdad und die umliegende Infrastruktur, wobei sie über 400 Cruise Missiles einsetzten und etwa 1600 Zivilisten töteten. Es hatte vorher weder einen Angriff seitens des Irak noch eine Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat für diese extrem völkerrechtswidrigen Bombardements gegeben. Der UN-Sicherheitsrat verurteilte diese Verbrechen an einem UNO-Mitgliedsstaat aber auch nicht. Er akzeptierte sie stillschweigend und nahm sogar hin, dass diese Bombardements immer wieder bewusst provokativ und unmittelbar vor bzw. während seiner Beratungen über den Irak durchgeführt wurden.

Nach Einschätzung des Völkerrechtlers Norman Paech hat insbesondere der über viele Jahre nahezu täglich gegen den Irak geführte Luftkrieg dazu beigetragen, diesen Staat "im Bewusstsein der atlantischen Bevölkerung zu einer Region zu reduzieren, für welche die Grundsätze und Prinzipien der UNO-Charta nicht mehr gelten, wobei alles erlaubt ist, um ein Regime zu stürzen, welches sich der US-amerikanischen Außenpolitik in den Weg stellt."[15]

Mit der Verabschiedung des "Iraq Liberation Act" am 28. September 1998 hatte der US-Kongress bereits höchst offiziell einen Regierungswechsel im Irak zum strategischen Ziel der USA erklärt. Das spektakulärste Manöver zur internationalen Rechtfertigung eines Angriffskrieges gegen den Irak inszenierten die USA am 5. Februar 2003: einen Achtzig-Minuten-Auftritt ihres Außenministers Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat, wo er wider besseres Wissen eine Bedrohung der ganzen Welt durch die Massenvernichtungswaffen des Irak behauptete. In der Nacht zum 7. März 2003 erklärte US-Präsident Bush in einer Pressekonferenz, dass die USA handeln, wenn sie handeln müssen - und dass sie "dafür wirklich nicht die Zustimmung der Vereinten Nationen brauchen".[16]

Besonders prägnant definierte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" das Ziel der nun von den USA und ihren Verbündeten geführten Angriffskriege, als sie am Tage des Einmarsches in den Irak in einem redaktionellen Artikel unter der Überschrift "Der Krieg, der bleibt" verkündete: "Der Irak soll als Feind verschwinden, indem die Amerikaner ihn mit imperialen Mitteln neu gründen. Die Verwerfungen der postkolonialen Zeit werden durch einen neuen demokratischen Kolonialismus zugeschüttet."[17] Richard Herzinger sieht mit dem Irak-Krieg eine ganze "neokolonialistische Epoche" beginnen, die erst dann enden werde, wenn sie weltweit gesiegt habe.[18]

Alexander Schuller bezeichnete die auf der UNO-Charta beruhende multipolare Weltordnung als "Gefahr für den Weltfrieden" und forderte unmittelbar vor dem Beginn des Irak-Krieges in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", statt der UNO eine hegemonial beherrschte Weltordnung zu schaffen: "Irak ist nur der erste Schritt auf diesem langen, verantwortungsvollen und vielleicht auch blutigen Weg. Dieser Hegemon kann, wenn überhaupt, nur eine einzige Macht sein: Die Vereinigten Staaten.... Das Imperium Americanum ist unsere Chance. Eine andere haben wir nicht."[19]

Auch Christian Hacke, viele Jahre Professor an der Hamburger Universität der Bundeswehr, inzwischen an der Bonner Universität, propagierte im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg die "Pax Americana" - und damit das Ende der UNO - als gleichsam einzige Weltfriedens-Chance, indem er eine "Krisendiplomatie der Stärke" forderte, "welche die Vereinigten Staaten als Vor-, Hegemonial-, Imperial- oder Ordnungsmacht (wie auch immer man sie bezeichnen mag) auch in Zukunft praktizieren werden. ... Wer von der amerikanischen Hegemonie nichts wissen will, der kann die Hoffnung auf Weltfrieden begraben."[20]

Auch Jürgen Habermas sieht als entscheidende Voraussetzung zur "kooperativen Bewältigung der globalen Herausforderungen" eine Reform der UNO und meint dann, diese habe aber "nur dann eine Chance, wenn sich die Supermacht an die Spitze dieser Reformbewegung setzt. Und dies nicht nur, weil sie eine Supermacht ist, die andere mitziehen kann, sondern weil die USA diese Supermacht sind - die älteste Demokratie der Erde, die von idealistischen Traditionen lebt und sich im Geist des 18. Jahrhunderts dem Universalismus mehr als irgendeine andere Nation geöffnet hat." Ausgehend von dieser den USA-Imperialismus geradezu weltfremd idealisierenden Sicht fordert Habermas von den Europäern "einen unbefangenen Blick auf die USA, der zugleich selbstkritisch genug ist, um auch den leisesten Regungen von Antiamerikanismus zu widerstehen"[21]


Der Libyen-Krieg der NATO

Jüngstes Beispiel der von der NATO nach ihrem Sieg im Kalten Krieg systematisch betriebenen Ignorierung des in der UNO-Charta völkerrechtlich für alle Mitgliedsstaaten verbindlich fixierten Verbots von Angriffskriegen ist die bewaffnete NATO-Intervention in den libyschen Bürgerkrieg. Von März bis Oktober 2011 flogen NATO-Kampfflugzeuge zugunsten aufständischer Rebellen gegen die Kräfte der Regierung Ghaddafi nicht weniger als 26.000 Einsätze, die nach Angaben der neuen Regierung bis zu 60.000 Opfer forderten.[22]

Diese Militärintervention war die erste, die der UN-Sicherheitsrat mit seiner Resolution 1973 unter direkter Berufung auf das Prinzip der Schutzverantwortung (englisch: Responsibility to Protect) legitimiert hatte. Nach Meinung der Wochenzeitung "Die Zeit" war Libyen dafür der Präzedenzfall. Aber: "Dem Präzedenzfall haftete ein Makel an. Aus dem UN-Mandat zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung machten die drei wichtigsten Interventionsmächte freihändig ein Mandat zum Regimewechsel. ... Aus einer Intervention zum Schutz der Zivilbevölkerung wurde eine Intervention zum Schutz der Rebellion." Dennoch betonten die Autoren bereits in der Überschrift: "Dieser Krieg war gerecht."[23]

Der Libyenkrieg der NATO war auch unter einem anderen Aspekt ein Präzedenzfall: Er verdeutlichte, wie weit z. B. die deutschen Völkerrechtler inzwischen bereit sind, Angriffskriege zu rechtfertigen. Norman Paech schätzt das sehr präzise so ein: "Wer glaubt, dass im 21. Jahrhundert auf der Grundlage der UN-Charta imperialistische Kriege völkerrechtlich nicht mehr legitimiert werden können, muss sich gründlich korrigieren. Eine der wirklich tief greifenden Veränderungen, die der 9. September in der Nachkriegspsyche der deutschen politischen Klasse bewirkt hat, ist die Rückwendung zu einem positiven Kriegsbild - vielfach popularisiert durch Autoren wie Herfried Münkler, Josef Joffe und Jan Ross. Alle in diesem Land zum Krieg in Libyen befragten Völkerrechtler haben sich zu seiner völkerrechtlichen Berechtigung bekannt. ... Das liegt weder an der UN-Charta noch an dem auf ihr basierenden Völkerrecht; sie verbieten einen derart offen geführten Interventionskrieg. Es liegt einzig an der Organisation dieser Wissenschaft, deren erfolgreichste Vertreter von der engen Anbindung an die Regierung leben."[24]

Unter den deutschen Völkerrechtlern, die sich zum NATO-Krieg gegen Jugoslawien geäußert haben, nennt Norman Paech eine Ausnahme: Reinhard Merkel, Professor für Strafrecht, Völkerstrafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg. Merkel betonte im Gegensatz zur Mehrzahl seiner Kollegen, dass "die NATO-Intervention in Libyen Grundlagen des Völkerrechts beschädigt", denn: "In anderen Weitgegenden als denen der NATO nährt das einen lange schwelenden Verdacht: Das Völkerrecht von Krieg und Frieden entwickle sich zu einem neuartigen Typus hegemonialen Rechts, das über den Sicherheitsrat eine leere Form der Legalität für die eigenen, von keinem Rechtsprinzip gedeckten Interessen zu mobilisieren versteht."[25]

Damit wertet der Völkerrechtler Reinhard Merke! die Folgen der NATO-Intervention in den libyschen Bürgerkrieg für die Grundlagen des Völkerrechts ähnlich prinzipiell wie der Kasseler Bundesausschuss Friedensratschlag, der zu der Einschätzung kam, dass "die UNO der eigentliche Verlierer des Krieges" ist. "Auf der Strecke bleiben die in der UNO-Charta verankerten Prinzipien des Gewaltverbots (Art. 2.4), der territorialen Integrität und staatlichen Souveränität (Art. 2.2) und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten (Art. 2.7)." Unter Berufung auf eine besondere "Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) hat der UN-Sicherheitsrat das Geschäft der NATO besorgt und das Völkerrecht weiter ausgehöhlt".[26]


Fazit

Nach ihrem Sieg im Kalten Krieg haben die USA und die NATO mit ihren Angriffskriegen zur Durchsetzung einer von ihnen beherrschten "neuen Weltordnung" nicht nur immer wieder gegen das völkerrechtliche Verbot des Angriffskrieges verstoßen, sondern inzwischen auch erreicht, dass dieses für die UNO-Charta fundamentale Verbot in der Praxis des UN-Sicherheitsrates - für sie nicht mehr gilt.


Anmerkungen:

[1] Nach H. Loquai: Der Kosovo-Konflikt - Wege aus einem vermeidbaren Krieg, Baden-Baden 2000, S. 9
[2] Unsere Zeit, Essen, vom 8.12.2000, S. 6
[3] Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Nr. 3/2001, S. 293
[4] O. Tolmein: Welt. Macht. Recht, Hamburg 2000, S. 97
[5] ebenda, S. 98
[6] I. Ramonet: Kriege des 21. Jahrhunderts, Zürich 2002, S. 154
[7] H. Münkler: Die neuen Kriege, 5.Auflage, Reinbek 2003, S. 234
[8] J. Habermas: Bestialität und Humanität, in: Die Zeit, Hamburg, Nr. 18 vom 29.4.1999
[9] J. Habermas: Das utopische Gefälle, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin , Nr. 8/2010, S. 53
[10] N. Paech: Ein kämpferisches Gelehrtenleben, in: Ossietzky, Hannover 2011, Nr. 15/16, S. 596 f.
[11] M. Chossudovsky: GLOBAL BRUTAL, Frankfurt am Main 2002, S. 391
[12] Nach: Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Nr.9/2001, S. 1060
[13] Der Spiegel, Hamburg, Nr. 4/2003, S. 109
[14] M. K. Albright: Der Mächtige und der Allmächtige, München 2006, S. 73
[15] N. Paech: Beginn einer neuen Weltordnung, in: R. Göbel/J. Guillard/M. Schiffmann [Hrsg.): Der Irak. Ein belagertes Land, Köln 2001, S. 14
[16] Nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.3.2003, S. 2
[17] Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.3.2003, S. 37
[18] R. Herzinger: Wo Demokraten schießen, in: Die Zeit, Hamburg, Nr. 25 vom 12.6.2003, S. 8
[19] A. Schuller: Wir brauchen das Imperium Americanum, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.3.2003, S. 11
[20] Ch. Hacke: Deutschland, Europa und der Irakkonflikt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Berlin, Nr. 24/25.2003 vom 10.6.2003, S. 16
[21] J. Habermas: Erste Hilfe für Europa, in: Die Zeit, Hamburg, Nr. 49 vom 29.11.2007, S. 7
[22] Nach: junge Welt, Berlin, vom 12/13.11.2011, S. 6
[23] J. Bittner/A. Böhm: Dieser Krieg war gerecht, in: Die Zeit, Hamburg, Nr. 44 vom 27.10.2011, S. 10
[24] N. Paech: Die Völkerrechtler des Krieges, in: Ossietzky, Hannover, Nr. 19/2011, S. 709
[25] R. Merkel: Der illegitime Triumph, in: Die Zeit, Hamburg, Nr. 37 vom 8.9.2011, S. 60
[26] Ghadaffis Sturz - Niederlage der UNO, in: PAX REPORT, Berlin, Nr. 3/2011, S. 14


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Titel des Buches "Die Zerstörung Jugoslawiens" mit einem Vorwort von Klaus Hartmann, 2006
- Bombardierung dcrAutofabrik ZASTAVA in Kragujevac durch NATO-Truppen
- In Libyen von "Rebellen" abgeschlachtete Schwarze, Migranten und Libyer in einem Massengrab

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Gewalt statt Frieden

Georg Grasnick

Früchte der "Wende" (I)

Eine Dokumentation

Jetzt "bricht in Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit aus".[1] Eine Vision, beschworen am 21. November 1990 in der "Charta von Paris für ein neues Europa". Demokratie! Frieden! Einheit! Welch hehre Worte. Sie drückten die Hoffnungen und Erwartungen so vieler Deutscher aus, auch von so manchem ehemaligen DDR-Bürger. Für den Imperialismus bedeutete das "neue Zeitalter" die "Befreiung" von seiner Alternative, von seinem ärgsten Widersacher, von der Sowjetunion, vom europäischen Staatssozialismus. Neue Realitäten entstanden, die für ehemalige DDR-Bürger in neuen Begriffen gipfelten: Achse des Bösen, Schurkenstaaten, Global War on Terrorism, Regime Change, atomarer Präventivschlag, Operation Enduring Freedom usw. Der Imperialismus offenbarte mehr denn je sein aggressives Wesen. Die These von der "Friedensfähigkeit" des Imperialismus erwies sich als gefährlicher Trugschluss.

Das "neue Zeitalter" bot Politikern und Militärs der nunmehr einzigen Supermacht eine völlig veränderte internationale Lage, ein qualitativ neues Kräfteverhältnis, um den lange gehegten Plan einer "neuen Weltordnung" in die Tat umzusetzen. Washington sprach von einem "amerikanischen Jahrhundert". Pläne für eine "neue Weltordnung" hatten während der Jahre des Zweiten Weltkrieges von 1939 bis 1945 Experten des U.S.-Statedepartments und des Rates für Auswärtige Angelegenheiten beschäftigt. Das Thema ihrer jahrelangen Überlegungen und Erörterungen für die Nachkriegsstrategie der USA lautete: "Wie organisieren wir die Welt?" Die Experten waren überzeugt, dass die USA im Ergebnis des Krieges zur globalen Vorherrschaft gelangen würden. Als "Grand Area" steckten sie ein Gebiet ab, das die gesamte westliche Hemisphäre, das in Auflösung begriffene Britische Empire und den Fernen Osten umfasste. "Das war das Minimum - das Maximum war das Universum", kommentierte Noam Chomsky.[2] Dem "Maximum", der Weltherrschaft des US-Imperialismus, hatte die Sowjetunion im Weg gestanden. Nun, 50 Jahre später, war das "Roll back des Kommunismus" gelungen.


"Neue Weltordnung"

In den 45 Jahren von 1945 bis 1990 hatte es keinen Krieg in Europa gegeben. Das so genannte relative "Gleichgewicht des Schreckens" zwischen den beiden Supermächten und ihren Militärbündnissen hatte sich als friedenssichernd erwiesen. Dank sozialistischer Politik hatten die Völker unseres Kontinents die längste Friedensperiode in ihrer Geschichte erlebt.

Ein Jahr nach der "Charta von Paris", nach dem Untergang des europäischen Sozialismus, wurde im November 1991 auf dem NATO-Gipfel in Rom mit Blick auf eine "neue Weltordnung" ein "neues Strategisches Konzept" beschlossen. Der Aufbau "mobiler, schnell und weiträumig verlegbarer Streitkräfte" wurde in Angriff genommen. Ihr Einsatz, so hieß es, könne notfalls auch ohne UNO-Mandat erfolgen.[3] Die "neue Weltordnung", so befand später George W. Bush, beruhe auf militärischer, nicht auf ziviler Macht und Regelung. Stabilität und Ordnung in der Welt seien durch die Macht der USA gewährleistet. Der einflussreiche US-Stratege Richard Perle meinte, Sicherheit durch internationales Recht zu gewährleisten, sei liberaler Schwachsinn.

Die Interventionskriege der USA und der NATO bedeuten eine Absage an die UNO-Charta, an das Völkerrecht. An die Stelle des 1945 in die Charta gesetzten Gebots, "künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren" und in den internationalen Beziehungen die "mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt"[4] zu unterlassen, setzte der US-Imperialismus das Faustpfand. Das "neue Zeitalter" wurde gegenständlich. 1997 legte der US-Präsidentenberater Zbigniew Brzezinski in seinem Buch "Die einzige Weltmacht" die geostrategischen und geoökonomischen Ziele des US-Imperialismus dar. Als entscheidendes Terrain für deren Verwirklichung nannte er "Eurasien" als "das Schachbrett, auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft" ausgetragen werde.[5] In Europa rückte die NATO bis an die Grenzen Russlands vor. Das 20. Jahrhundert endete mit dem völkerrechtswidrigen Krieg zur Zerstörung Jugoslawiens. In Europa wurde wieder Krieg geführt, auf dem Balkan und im Kaukasus.

2001 bekamen die US-Strategen durch die terroristischen Anschläge auf das World Trade Center in New York Ersatz für das verloren gegangene Feindbild Sozialismus und Anlass für neue Feldzüge. Die US-Administration setzte den "Global War on Terror", den weltweiten Krieg gegen den Terrorismus, auf die Tagesordnung der Weltpolitik. Wie das 20. Jahrhundert endete, so begann auch das 21. Jahrhundert: mit völkerrechtswidrigem Krieg. Der damalige US-Präsidenten Clinton hatte angekündet, es müsse, wie das vorige, ein "amerikanisches Jahrhundert" werden. Schon vor dem 11.9. hatte das Pentagon Afghanistan und Irak als nächste Interventionsziele festgeschrieben. Der Anschlag auf das WTC lieferte lediglich den Anlass.

Zur Führung ihrer Ressourcen- und Neuordnungskriege und zur Durchsetzung der angestrebten globalen Hegemonie praktizieren die USA die Selbstmandatierung für die Anwendung militärischer Gewalt. Und sie beanspruchen das Recht und propagieren die Bereitschaft zum atomaren Erstschlag. Bush jun. hatte militärische Macht als wesentliches Element internationaler Regelungen genannt, wobei das Primat der Ökonomie, die Interessen und Ziele des Kapitals im Hintergrund als entscheidende Stimulatoren wirken. Die Hauptkraft, die über Reichtum, Macht und Einfluss verfügt, sind die Transnationalen Konzerne (TNK). "Die 500 transkontinentalen kapitalistischen Gesellschaften der Welt kontrollieren heute 52 Prozent des Bruttosozialprodukts des Planeten. ­... Die 500 Konzerne kontrollieren Reichtümer, die größer sind als die kumulierten Guthaben der 133 ärmsten Länder der Welt."[6]

Drei Prozent der TNK kontrollieren heute 80 Prozent der Umsätze aller transnationalen Unternehmen. Die meisten Konzerne, die die Welt unter sich aufgeteilt haben, sind Finanzkonzerne. Die TNK benutzen ihre Macht, um die Politik, um Regierungen zu veranlassen, ihren Interessen zu entsprechen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass das Finanzkapital gegenüber dem Realkapital seinen Einfluss kontinuierlich ausbauen konnte, wobei die Konzerne der Realwirtschaft zunehmend einen bedeutenden Teil ihrer Gewinne in den profitgünstigeren Finanzsektor stecken.


Dritter Weltkrieg?

Der italienische Philosoph Domenico Losurdo charakterisierte die von den USA um globale Hegemonie geführten Kriege als Dritten Weltkrieg. Den Kriegen gegen Jugoslawien, Afghanistan und Irak folgte im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts der gegen Libyen. Fertige Pläne für eine militärische Intervention gegen Syrien liegen, wie Ende April 2012 eingestanden wurde, im Pentagon vor. Ein "Regime Change" in Damaskus wird als wichtiger Hebel betrachtet, um auch gegen den Iran zum Zuge zu kommen. Die Aufstände in Tunesien und Ägypten wurden in dem Westen genehme Bahnen umgeleitet. Die progressiven Entwicklungen in Lateinamerika - in Venezuela, Bolivien, Nicaragua und Ecuador - bleiben im Visier der globalen Hegemonieziele der USA. Stärkste Hindernisse für diese Ziele bleiben allerdings die Veto-Mächte Russland und die Volksrepublik China. Im Rahmen der US-Globalstrategie hat das Interventionsbündnis NATO die Umkreisung Russlands fortgesetzt.

Moskau sieht das von den USA in Europa geplante Raketenabwehrsystem, das der NATO unterstellt wird, als ernste Bedrohung Russlands an. Die Leitzentrale des Systems wird im bundesdeutschen Ramstein angesiedelt werden. Es soll das russische Zweitschlagspotenzial neutralisieren. "Wenn die Vereinigten Staaten einen Nuklearangriff gegen Russland (oder China) führten, bliebe dem angegriffenen Land nur ein kleines Arsenal übrig - wenn überhaupt. Dann wäre sogar ein relativ bescheidenes oder wenig wirksames Raketenabwehrsystem zur Vergeltung gegen Vergeltungsschläge ausreichend, denn der schwer angeschlagene Feind hätte nur noch wenig Sprengköpfe und Ablenkungsattrappen. ... Washingtons konsistente Weigerung, einen Erstschlag auszuschließen und die Entwicklung einer begrenzten Fähigkeit zur Raketenabwehr bekommen so eine neue, möglicherweise weit bedrohlichere Bedeutung."[7]

Die Pläne zur Ausschaltung Russlands sind nicht neu. Der frühere US-Präsident Clinton hatte 1995 als eine der Aufgaben des nächsten Jahrzehnts genannt: "Aufspaltung Russlands in Kleinstaaten vermittels zwischenregionaler Kriege". Der frühere Präsidentenberater und Stratege Brzezinski vertrat zwei Jahre später die Auffassung, Russland zu dreiteilen. Längst ist auch die Volksrepublik China ins Visier der US-Globalstrategie geraten. Bush sen. hatte China als "potenziellen Feind" deklariert und als "Bedrohung des Status quo in Südostasien" wahrgenommen.

Gegenwärtig vollzieht die Obama-Administration eine strategische Neuausrichtung. Sie proklamierte das "pazifische Jahrhundert". Die USA als pazifische Hegemonialmacht sehen angesichts des Aufschwungs Chinas perspektivisch ihre Führungsrolle in dieser Region gefährdet. Der weitgehenden Abwicklung der Truppenpräsenz im Irak und in Afghanistan soll die bereits begonnene Konzentration militärischer Ressourcen im pazifischen Raum folgen. Obama leitete entsprechende Maßnahmen ein. Ein "präventiver Feuerring" wird um China errichtet. Auf einer an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin durchgeführten Tagung wurde ausgeführt, dass sich die USA im "allgemeinen Streit um die Vorherrschaft in Ostasien" auf einen "potenziellen militärischen Schlagabtausch" mit der Volksrepublik vorbereiten.[8] In der US-Globalstrategie erhielt die psychologische Kriegführung einen noch höheren Stellenwert als bisher.


Die "Enttabuisierung des Militärischen"

Mit dem Untergang des europäischen Sozialismus konnte der deutsche Imperialismus zunächst mit dem Anschluss der DDR seinen Machtbereich bedeutend erweitern. Das "neue Zeitalter" beflügelte seine Repräsentanten, lang gehegte politische Vorstellungen zu realisieren. Was spielten da noch völkerrechtlich verbindliche Verpflichtungen eine Rolle? So sollten im Territorium der ehemaligen DDR keine NATO-Standorte errichtet und NATO-Truppen stationiert werden. Die Zusagen des damaligen US-Präsidenten Bush sen. und des damaligen NATO-Generalsekretärs Wörner erwiesen sich schnell als leere Worte. Bei der zügig in Angriff genommenen Osterweiterung der NATO wurde als erstes das Territorium der ehemaligen DDR in den Herrschaftsbereich des aggressiven Militärpakts einbezogen.

Führende BRD-Politiker bekundeten ihre Bündnistreue. Sie hoben die "besondere Verantwortung Deutschlands" hervor. Bundeskanzler Kohl versprach "Rückkehr zur Normalität".[9] Sein Nachfolger im Amt Schröder setzte die "Enttabuisierung des Militärischen"[10] auf die Tagesordnung. Der Umbau der Bundeswehr zu einer Interventionsstreitmacht begann. Unmissverständlich wurde klargestellt, die Streitkräfte des Landes seien "unverzichtbares Instrument, um die Interessen (Deutschlands, d. Verf.) und seinen internationalen Einfluss zu wahren.". Die Bundeswehr wurde Instrument der bundesdeutschen Außenpolitik.

Der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General Klaus Neumann, brachte es schon 1992 auf den Punkt: "Es gibt nur zwei Währungen auf der Welt: Wirtschaftliche Macht und die militärischen Mittel, sie durchzusetzen."[11] Im gleichen Jahr tat sich der damalige BRD-Außenminister Kinkel mit dem Schlachtruf hervor: "Serbien muss in die Knie gezwungen werden."[12] Es dauerte dann doch noch einige Jahre, bis die NATO den völkerrechtswidrigen Krieg zur Zerstörung Jugoslawiens entfesselte und die Bundeswehr ihr mörderisches Kriegshandwerk ausüben konnte. In dem 1990 abgeschlossenen "Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland", dem "2+4-Vertrag", war noch feierlich versichert worden: "Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik bekräftigen ihre Erklärungen, dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird."[13] Das galt nun nicht mehr. Die DDR war nicht mehr existent. Deutschland war wieder kriegsführende Macht. Deutsche Kampfflugzeuge waren wieder - wie einst - über Jugoslawien im Einsatz.

Die "Rückkehr zur Normalität" war vollzogen. Das Militärische war "enttabuisiert". Deutschland wird seit einem Jahrzehnt "am Hindukusch verteidigt". Mögliches Einsatzgebiet der Bundeswehr ist erklärtermaßen die ganze Welt. Zum völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak trug die BRD vor allem durch logistische Absicherung und die Auswahl von Bombenzielen bei. 300.000 deutsche Soldaten waren bisher an Auslandseinsätzen beteiligt. Die von Deutschland beanspruchte Weltmachtrolle schließt als "nationale Zielvorgabe" der deutschen Streitkräfte ein, rund "10.000 Soldatinnen und Soldaten bereitstellen zu können". Die Bundeswehr soll demnach, so Verteidigungsminister de Maizière, auf zwei großen und mehreren kleineren Einsatzgebieten präsent sein können. Und er demonstrierte "Realismus", als er hinzufügte: "Das Sterben und Töten gehören dazu, das müssen wir akzeptieren und bejahen."[14] Die Bundeswehr wird dafür fit gemacht. Auch für die Kriegsführung im virtuellen Raum. Ein "Nationales Cyber-Abwehrzentrum" ist in Aktion. In Afghanistan setzt die Bundeswehr Drohnen ein. Und zwar nicht nur für Aufklärungszwecke, sondern auch für gezielte Einsätze gegen Menschen, also für Hinrichtungen. Der "Eurofighter" wird als eine Art Wunderwaffe mit einer "Mehrrollenfähigkeit" gepriesen. Auf Grund seiner Bewaffnung eigne er sich, wie Afghanistan zeige, hervorragend zur "Luftnahunterstützung" von Bodentruppen und, wie Libyen bewiesen habe, für die Ausschaltung des gegnerischen "Luftkriegspotenzials", um dadurch die Möglichkeit für Dauerbombardements zu schaffen.[15] Von deutschem Boden soll "nur noch Frieden ausgehen"? Die "Enttabuisierung des Militärischen" marschiert. Der deutsche Militarismus befindet sich weiterhin in Hochform und auf dem Vormarsch.


"Friedensdividende" - ein leeres Versprechen

Das 1990 versprochene "neue Zeitalter des Friedens" hatte unter den Völkern große Hoffnungen geweckt. Vom Frieden erhofften sie ein Eindämmen der Kriege und bewaffneten Konflikte sowie eine spürbare Reduzierung der Rüstungsausgaben. In den Jahren des Kalten Krieges hatte es außerhalb unseres Kontinents zahlreiche Kriege und bewaffnete Konflikte gegeben. Meist waren die USA die Interventen bzw. die Initiatoren. Während es in den 1950er Jahren 12 Kriege bzw. bewaffnete Konflikte gab, tobten in den 1990er Jahren,nach der "Wende", über 50 Kriege und bewaffnete Konflikte in der Welt.

Im neuen Jahrhundert entfesselten die USA und die von ihnen geführte NATO drei größere Kriege. Darüber hinaus gibt es zahlreiche bewaffnete Konflikte. 2011 stieg die Zahl der kriegerischen Auseinandersetzungen: 25 Kriege und 38 bewaffnete Konflikte wurden registriert. Die Kriege, die im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts von USA und NATO geführt wurden, forderten (bisher) über eine Million Tote. Die Repräsentanten des Menschenrechtsimperialismus interessieren diese Zahlen nicht. Der Oberkommandierende der US-Streitkräfte beim Überfall auf Afghanistan, Tommy Franks, meinte: "Wir machen keine Leichenzählung."[16] Dass im Irak etwa eine Million Menschen als Opfer des von den USA und der NATO geführten Krieges gezählt wurden - in Afghanistan weit über 100.000, in Libyen etwa 50.000, in Pakistan etwa 35.000 -, beruht vor allem auf Ermittlungen von Menschenrechtsorganisationen. Millionen und aber Millionen Menschen sind in den vom Krieg heimgesuchten Staaten Flüchtlinge geworden. Sie irren im eigenen Land umher oder haben ihre Heimat verlassen. Die BRD hat durch direkte oder indirekte Unterstützung der Kriege Anteil an diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Was die globalen Militärausgaben angeht, so entwickelten sie sich mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation tatsächlich zunächst rückläufig. 1998 erreichten sie mit 834 Milliarden Dollar den niedrigsten Stand seit Jahrzehnten. Mit den Ressourcen- und Neuordnungskriegen der USA und der NATO erreichten diese Ausgaben inzwischen jedoch einen Rekordstand. 2011 wurden 1,738 Billionen Dollar für Rüstung und Kriege verpulvert, davon 70 Prozent von den NATO-Staaten. Jedes Jahr werden von den Atomwaffenländern mehr als 100 Milliarden Dollar für die Montage neuer Atomsprengköpfe, die Modernisierung alter Sprengköpfe sowie den Bau von atomwaffentragenden Raketen, Bombern und U-Booten ausgegeben. Die Kriegskosten der USA beliefen sich im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts auf drei bis fünf Billionen Dollar.

Mit der steigenden Zahl von Kriegen und Bürgerkriegen boomt das Rüstungsgeschäft. Bei den weltweiten Waffenausfuhren liegt Deutschland hinter den USA und Russland an dritter Stelle. Die deutschen Rüstungsexporte verdoppelten sich in den Jahren 2006 bis 2010 gegenüber dem vorangegangenen Jahrfünft.

Die führenden 100 Waffenkonzerne der Welt verkauften 2010 Kriegsgerät im Wert von rund 411 Milliarden Dollar. Die BRD-Konzerne belieferten unter anderem die reaktionären Ölscheichs, in deren Herrschaftsbereichen Menschenrechte nicht gelten. 2006 erhielten 44 Länder, deren Menschenrechtssituation als sehr bedenklich eingestuft ist, deutsche Rüstungsgüter. Die Rüstungskonzerne beliefern auch Länder in ausgesprochenen Spannungsgebieten. Sie sind damit am Entfachen neuer Bürgerkriege beteiligt. Auch auf ihre Konten kommen die Opfer dieser Kriege. Bestimmungen des Kriegswaffenkontrollgesetzes werden auch von der BRD fortwährend ausgehöhlt und unterlaufen.


Nord-Süd-Konflikt heute oder Mörderische Gesellschaft

Ein spezielles Kapitel der Missachtung und Verletzung der Menschenrechte stellt die Lage in den so genannten Entwicklungsländern dar. 1948, wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" von der UN-Vollversammlung beschlossen. In ihr heißt es im Artikel 25: "Jedermann hat das Recht auf einen für die Gesundheit und das Wohlergehen von sich und seiner Familie angemessenen Lebensstandard, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung, Wohnung und notwendiger Sozialleistungen, sowie ferner das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwitwung, Alter oder von anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände."[17]

In den Jahren nach diesem Beschluss erreichte mit der Existenz des sozialistischen Weltsystems und seiner Solidarität mit den kolonial unterdrückten Völkern der Kampf um nationale Befreiung einen bedeutenden Aufschwung. Er führte zur Herausbildung junger Nationalstaaten und zum Zusammenbruch des Kolonialsystems.

Mit dem Ende des europäischen Sozialismus setzten die imperialistischen Mächte alles daran, verlorene Machtpositionen wiederzugewinnen. Heute sind die Länder des Südens fest in die Kreisläufe der kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung eingebunden. Sie sind den Wirkungen der neoliberalen Globalisierung unterworfen. Transnationale Konzerne und das Finanzkapital plündern die Reichtümer dieser Länder rücksichtslos aus. Die Zoll- und Subventionspolitik der entwickelten kapitalistischen Länder erzwingt günstige Absatzmärkte und den Abbau von Zollbarrieren. Afrikanische Unternehmen, afrikanische Kleinbauern und Fischer haben gegen die wettbewerbsfähigere Konkurrenz keine Chance.

So praktizieren beispielsweise private und staatliche Investoren, Agrarkonzerne, Banken und Versicherungen in Asien und Afrika das so genannte Land-Grabbing. Hunderte Millionen Hektar fruchtbaren Bodens wurden aufgekauft, um nun anbauen zu lassen, was "Nachfrage bedient, die Kaufkraft hat", d. h. was in den führenden kapitalistischen Ländern Absatz findet. Als ein weiteres profitables preistreibendes Geschäft erweist sich die Spekulation mit Lebensmitteln. Es kommt hinzu, dass die Förderung der Produktion von Agrartreibstoffen ebenfalls die Lebensmittelpreise in die Höhe treibt. Immerhin werden rund 20 Prozent des Getreides zu so genanntem Biosprit und zu Schmierstoffen verarbeitet.

Die mit dem Abtreten des europäischen Sozialismus erfolgte "Wende" in der Weltpolitik hatte auch zur Folge, dass die neoliberale Globalisierung in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten zu einer enormen Vertiefung der Kluft zwischen Nord und Süd führte. Die bittere Realität in den Entwicklungsländern zeigt, dass Menschen nicht nur in den vom Imperialismus entfesselten Kriegen ums Leben gebracht werden. 1,02 Milliarden Menschen leiden an chronischer Unterernährung. Rund 900 Millionen Menschen haben weniger als zwei Dollar pro Tag zum Leben. Fast jeder sechste Mensch in unserer Welt ist hungerkrank. 24.000 Kinder sterben Tag für Tag an Hunger, mangels sauberen Wassers und wegen fehlender medizinischer Betreuung. Mit den steigenden Lebensmittelpreisen werden die Hungersnöte verstärkt, die Zahl der Hungertoten steigt. Jean Ziegler klagt an: "Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet. Hungertod ist immer Mord."[18] Außer dem Hunger mangelt es 900 Millionen Menschen an sauberem Wasser. 1,3 Milliarden Menschen werden nicht angemessen medizinisch versorgt. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Afrika beträgt bei Frauen 52,8 Jahre, bei Männern 50 Jahre! Jedes fünfte Kind hat keine Möglichkeit, Lesen oder Schreiben zu lernen. Dabei reichen zwei Prozent der Gelder, die für Rüstung und Krieg missbraucht werden, um den Hunger aus dem Leben der Völker zu verbannen.

Über 18 Millionen Afrikaner sind seit Jahren auf der Flucht vor dem Hunger, vor Bürgerkriegen, weil sie infolge der Zoll- und Subventionspolitik der entwickelten kapitalistischen Industrieländer wirtschaftlich ruiniert wurden und keine Lebensperspektive mehr in ihren Heimatländern sehen. Sie fliehen von Land zu Land. Viele haben sich auf den Weg nach Europa gemacht. Tausende haben dabei ihr Grab im Mittelmeer gefunden. Jene, die unseren Kontinent erreichten, scheitern an der "Festung Europa".

Die im Jahre 2000 von den Staats- und Regierungschefs von 192 UNO-Mitgliedsstaaten beschlossenen Milleniumsziele sahen u. a. die "Beseitigung der extremen Armut und des Hungers" und die "Reduzierung der Kindersterblichkeit" vor. Die Profitjagd der Transnationalen Konzerne in den entwickelten Industrieländern ist mit der Verwirklichung dieser Ziele nicht zu vereinbaren. Die Krise des kapitalistischen Systems verschlechtert überdies die Lebensbedingungen der Mehrheit der Menschen auch in der "Dritten Welt". Die reichen Industrieländer geben das Zehnfache für Rüstung und Ressourcenkriege als für Entwicklungshilfe aus. Die UNO hat für ihre humanitären Programme nicht einmal ein Prozent der Mittel, die jährlich für Rüstungszwecke eingesetzt werden.


Steuergeschenke und Krise fördern Polarisierung

"Nun ist die Zeit gekommen, in der sich die jahrzehntelangen Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfüllen: ... Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit."[19] Das Versprechen ist in der "Charta von Paris für eine neues Europa" vom 21. November 1990 nachzulesen. Die Realität bietet ein anderes Bild. Der ehemalige DDR-Bürger erlebt eine für ihn völlig unbekannte Ungleichheit zwischen Spitzen- und Geringverdienenden, die unaufhörlich auch in der Krise wächst. Die deutsche Bundeskanzlerin hat vor zwei Jahren prognostiziert, dass die Krise eine "Chance" biete und dass Deutschland besser als vor der Krise dastehen werde. Eine richtige Prognose, wenn man mit Deutschland das deutsche Kapital und die Reichen meint. Vor allem Banken, Versicherungen und Hedgefonds erweisen sich als Gewinner der Krise. Das Finanzvermögen nahm in atemberaubendem Tempo zu. Es übertrifft heute das reale Produkt um ein Vielfaches.

Die Bundesregierung hat mit "Rettungsschirmen" maßgeblich zu diesem Prozess beigetragen. Es ist üblich geworden, bei diesen "Hilfsaktionen" mehr und mehr in Billionen zu rechnen. Die Europäische Zentralbank (EZB) vergab den Banken eine Billion Euro mit einem Zinssatz von 1 Prozent bei einer Laufzeit von drei Jahren! Die Risikopapiere, die der deutsche Bankensektor in den Büchern führt, belaufen sich auf eine Billion Euro. Der als permanenter Europäischer Stabilisierungsmechanismus (ESM) fungierende "Rettungsfonds" wurde auf 800 Milliarden Euro angehoben. Täglich erfolgen an den Börsenmärkten Umsätze von rund einer Billion Dollar!

Das private Geldvermögen betrug im Jahr der "Wende" 1,635 Billionen Euro. Ende 2011 war es auf 4,74 Billionen Euro angestiegen. Die Zahl der Geld-Dollar-Millionäre wuchs von 810.000 im Jahre 2008 auf 924.000 im Jahre 2010. Das sind 1,1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Ihr Anteil am Geldvermögen in Deutschland beträgt 45,6 Prozent.[20] 27 Prozent aller Deutschen sind ohne Vermögen oder verschuldet.

Das sind Realitäten, die verdeutlichen, wie die Konzerne den Staat als Dienstleistungseinrichtung zur Umsetzung ihrer Profitinteressen nutzen. Staatsmonopolistischer Kapitalismus eben - und in Aktion. Das Bild wäre unvollständig, würde man die Steuergeschenke, die die Bundesregierungen unter Schröder und Merkel an Konzerne und Reiche verabreichten, nicht erwähnen.

Im Einzelnen waren das:

• eine mehrfache Senkung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer (von 53 auf 42 Prozent),

• eine mehrfache Senkung des Körperschaftssteuersatzes, der Gewinnsteuer für Kapitalgesellschaften (von 56 auf 15 Prozent),

• die Begünstigung der Bezieher hoher Zins- und Kapitalbeträge durch eine einheitliche 25-prozentige Abgeltungssteuer,

• eine Reform der Erbschaftssteuer, die Großerben und Firmenerben begünstigt, und

• das "Wachstumsbeschleunigungsgesetz", das die Unternehmens- und Erbschaftssteuerreform nachbesserte, sowie Steuervergünstigungen für Hoteliers.

Diese Steuergeschenke machen etwa 50 Milliarden pro Jahr aus. Seit dem Jahr 2000 sind dem Fiskus auf diese Weise rund 400 Milliarden Euro verloren gegangen. "Würde Deutschland den durchschnittlichen EU-Steuersatz verlangen, hätten wir jedes Jahr 70 bis 85 Milliarden an Mehreinnahmen", bemerkt verdi-Vorsitzender Bsirske.[21]

Die Schuldenkrise wird mit neuer Verschuldung "bekämpft". Die BRD steht inzwischen mit über zwei Billionen Euro bei den Finanzmärkten in der Kreide. Während die Bundesregierungen mit immer weiteren günstigen Krediten das Finanzkapital bedienen, wachsen die Zinsraten, die alljährlich für die Staatsschulden aufzubringen sind. Die Schuldenbedienung - 2011 waren das 60 Milliarden Euro - macht den zweitgrößten Etatposten im Bundeshaushalt aus.[22] Die BRD ist das am dritthöchsten verschuldete Land in der Welt. Die Pro-Kopf-Verschuldung ist auf über 25.000 Euro angewachsen. Sie betrug in der DDR, die angeblich vor dem Staatsbankrott stand, 1.050 Euro.

(Fortsetzung im ICARUS 3/20/2)


Anmerkungen.

[1] Dokumente zu Deutschland 1944-1994, Bayerische Landeszentrale für Politische Bildung, München 1996, S. 229
[2] zit. in: Marxistische Blätter, Spezialheft zum Irak-Krieg, Februar 2003
[3] zit. in: Georg Grasnick: America First, 2. Auflage, Selbstverlag 2003, S. 38
[4] Menschenrechte, Dokumente und Deklarationen, Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 1999, S. 38
[5] Zbigniew Brzezinski: Die einzige Weltmacht, Beitz Quadriga Verlag 1997, S. 57
[6] Jean Ziegler: Das Imperium der Schande, Wilhelm Goldmann Verlag München 2005, S. 39
[7] Foreign Affairs, März/April 2006
[8] German Foreign Policy, Newsletter, 10. März 2012
[9] Tagesspiegel vom 10. September 2000
[10] Zag-Berlin.de/antirassismus/archiv
[11] www.tundp.info
[12] Der Spiegel, Nr. 23/1992
[13] Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland vom 14. September 1990, in: Dokumente zu Deutschland, S. 211
[14] Süddeutsche Zeitung vom 29Juni 2011
[15] German Foreign Policy, Newsletter, 5. März 2012
[16] meta, tagesschau.de/id...afghanistan, 11. März 2012
[17] Menschenrechte, a. a. O., S. 57
[18] www.liv.online.de/Webseite/spezials, 26. September 2011
[19] Charta von Paris für ein neues Europa vom 21. November 1990, in: Dokumente zu Deutschland, S. 229
[20] isw-Wirtschaftsinfo 46, Bilanz 2011 - Ausblick 2012, S. 48
[21] ebenda, S. 21
[22] ebenda, S. 43


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Massendemonstration in Syrien gegen eine NATO-Intervention
- Dagahaley-Lager in Kenia

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Fakten und Meinungen

Ralph Hartmann

Schwarzmalerei? Ein Rückblick in die Gegenwart

Der Autor schrieb diesen Beitrag im Juni 1990, am Vorabend des Inkrafttretens des "Vertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion der BRD und der DDR" also vor der "Wiedervereinigung" Deutschlands. Dieser Artikel wurde seinerzeit wegen "Schwarzmalerei" von der Chefredaktion einer linken Tageszeitung abgelehnt.

"Meine Herren, arbeiten wir rasch! Setzen wir Deutschland, sozusagen, in den Sattel! Reiten wird es schon können." Das wurde nicht etwa im Bonner Bundestag gesagt. Nein, im Norddeutschen Reichstag, von Bismarck, am 11. März 1867, als es darum ging, die Vereinigung unter Preußens Führung voranzupeitschen. Aber aus dem Munde des Kanzlers der BRD hätten diese Worte durchaus kommen können. Mit dem Staatsvertrag über die deutsch-deutsche Wirtschafts- und Währungsunion setzt er Deutschland in den Sattel, aber wohin wird es reiten?

Mit jedem Tag, der das Inkrafttreten des Vertrages näher bringt, wachsen im Volk Ungewissheit und Sorge um die Zukunft. Über unserem Land liegt millionenfache Existenzangst, wie es sie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr gegeben hat. Das ist nicht das Ergebnis der Panikmache, der die Linken in der DDR immer wieder bezichtigt werden. Die Sorge hat leider sehr reale Ursachen. Wirtschaftsminister Pohl von der Ost-CDU ist gewiss kein Linker, aber er weiß schon, weshalb er einen "heißen Herbst" erwartet. Die geschätzte Zahl der Arbeitslosen schwankt zwischen einer und vier Millionen. Die solche Prognosen stellen, sind keine Laien. Zu ihnen zählt der SPD-Bundestagsabgeordnete Andreas von Bülow. Gegenüber dem Politisch-Parlamentarischen Pressedienst erklärte er unlängst zu den Auswirkungen des Staatsvertrages: "Zunächst wird die ganze DDR-Produktion zu größeren Teilen nicht mehr absetzbar sein. Es gibt Sachverständige in der DDR, die schätzen, dass 80 Prozent der Produktion zum Stillstand kommen, 80 Prozent der Betriebe nicht überleben können. ... Ich schätze, dass wir in der DDR zwischen drei und vier Millionen Arbeitslose haben werden. ... Man hat mit dieser Schnelligkeit des Staatsvertrages versucht, die Übersiedlerströme einzufangen. Das wird überhaupt nicht funktionieren, weil in der DDR eine unglaublich depressive Arbeitslosigkeit im Maß der Zwanzigerjahre auf uns zukommt ... ." Selbst wenn man wesentlich "optimistischere" Voraussagen nimmt, steht fest: Unglück, großes Unglück kommt über Land und Volk. Was heißt denn eine Million Arbeitslose in der DDR? Das betrifft in etwa jede dritte werktätige Familie. Und welches Leid empfinden außerdem die Eltern, wenn ihre Söhne und Töchter, die Großeltern, wenn ihre Enkelkinder von der Arbeitslosigkeit betroffen sind? Ein ganzes Volk muss für des Kanzlers großen Ritt bezahlen, für das historische, aber traurige Spektakel "Helmut Kohl reitet für Deutschland".

"Wir sind das Volk", riefen die Leipziger, die Dresdner, die Berliner im Herbst, als sie ein degeneriertes System, das mit hehren Idealen angetreten war und sie zuschanden gemacht hatte, stürzten. Seitdem ist das Volk in aller Munde; sein angeblicher Wille muss für alles herhalten, auch für jegliche Verletzung seiner Interessen und seiner Souveränität. Laut Bundeskanzler wird das Tempo der deutschen Vereinigung nicht von ihm, nicht vom Großkapital und seinen Verwaltern vom Stile seines Kanzleramtschefs oder des freidemokratischen Grafen bestimmt, sondern vom Volk in der DDR. Und der Ministerpräsident unseres eigenen Landes hält eine Volksbefragung über eine neue Verfassung, über den Weg zur deutschen Einheit für nicht erforderlich, denn das Volk habe ja schon entschieden, am 18. März.

Aber hat das Volk tatsächlich für all das gestimmt, was andere jetzt in seinem Namen auf den Weg bringen? Hat es sich nicht mehrheitlich entschieden "für Einheit, Recht und Freiheit", für "Wohlstand für alle", die jetzt auf der Strecke bleiben? In einer gegebenen gesellschaftlichen Situation hat ein großer Teil des Volkes sein "Ja"-Wort einem Partner gegeben, aber doch nicht dafür, dass es in dieser Ehe erniedrigt, entmündigt und vergewaltigt wird. Das Volk ist doch keine einheitliche, graue, amorphe Masse, es besteht doch aus einzelnen Individuen, gesellschaftlichen Gruppen, die ihre ganz konkreten gemeinsamen und auch recht unterschiedlichen Interessen haben. Hat dieses Volk das gewollt, was ihm jetzt in seinem Namen bereitet wird? Haben Hunderttausende, Millionen von Arbeitern und Angestellten gewollt, dass sie ihre Arbeitsplätze verlieren und auf die Straße fliegen? Haben die Bauern gewollt, dass ihre Produkte verderben und das Gespenst der sozialen Not immer realere Züge annimmt? Haben die Selbstständigen und Gewerbetreibenden gewollt, dass sie, gestern noch als Zukunftsträger und Arbeitsbeschaffer hochstilisiert, durch Währungsschnitt und übermächtigen Konkurrenzdruck vorzeitig Bankrott anmelden müssen? Haben die Kultur- und Kunstschaffenden gewollt, dass Macht und Profit zum Maß aller Kultur und Kunst werden? Haben die Rentner gewollt, dass ihr so mühselig Erspartes zu einem großen Teil halbiert wird und viele von ihnen zu Sozialhilfeempfängern werden? Haben die Studenten gewollt, dass wieder der Geldbeutel der Eltern über ihre Perspektiven entscheiden soll? Haben die Mieter gewollt, dass sich die Mieten bereits in wenigen Monaten verdoppeln und später Höhen erreichen, die für viele unerschwinglich werden? Haben Hunderttausende von Kleingärtnern und Wochenendgrundstücksbesitzern gewollt, dass sie ihre gehegte und gepflegte Zufluchtsstätte in der Natur verlieren oder sich der Willkür wachsenden Pachtdruckes ausgesetzt sehen?

Wer sind sie denn, die Arbeiter und Angestellten, die Bauern, die Gewerbetreibenden, die Kultur- und Geistesschaffenden, die Rentner und Studenten? Sind sie nicht das Volk, auf das sich alle so gern berufen? Hat dieses Volk, das gegen die Senilität und die Privilegien der alten Führungsriege aufbegehrte, gewollt, dass die von ihnen Gewählten sich neue Privilegien schaffen (Monatlich 6.000,- Mark Diäten für die Volkskammerabgeordneten sind mehr als das Gehalt früherer Präsidenten dieser Kammer.), dass fehlende Kompetenz in Regierungsressorts zum Himmel schreit und Dinge geschehen, über die man sich, gelinde gesagt, nur wundern kann: Die Frau Staatsoberhaupt, die souverän und unbestechlich die Interessen des Volkes zu vertreten hat, lässt sich von einer Marzipanfabrikantin einkleiden, der Herr Außenminister macht seinen leiblichen Bruder zum Personalchef seines Ministeriums und der Herr Abrüstungs- und Verteidigungsminister bezieht ein Wohnobjekt, zu dem im Vergleich das Honecker-Haus in Wandlitz eine Bruchbude war.

Hat dieses Volk, haben die Bürger dieses Landes gewollt, dass sie zu Deutschen zweiter Klasse werden, dass in ihnen in bedrückender Weise das Gefühl wächst, wieder Bewohner einer Besatzungszone zu werden, keiner sowjetischen, sondern einer bundesdeutschen? Hat dieses Volk tatsächlich diesen Staatsvertrag in seiner vorliegenden Form gewollt, dem der "Urknall" folgen soll, diese gesellschaftliche Katastrophe, die Millionen ins Elend stürzt und nur für eine Minderheit zu einem Leben in Wohlstand auf Kosten der Mehrheit führt? Nein, diesen Absturz, diese Restauration wollte das Volk nicht. Die modifizierte Abfolge des Rufes "Wir sind das Volk" - "Wir sind ein Volk" - "Wir sind ein dummes Volk" stimmt nicht. Das Volk ist nicht dumm, aber es wird wieder einmal, wie schon so häufig in der Geschichte, verraten und verkauft.

Die Katastrophe ist vorprogrammiert, und noch während sie heraufzieht, stimmen ihre Verursacher die Instrumente auf das Lied von der Generalschuld der SED ein. Diese Partei hat gewiss viel auf dem Gewissen, doch bot die von ihr hinterlassene Erbmasse die Chance zu einem Neubeginn oder zumindest zu einem Tempo der deutschen Vereinigung, das das jetzige Desaster vermieden hätte. Verantwortlich für das heutige und morgige Geschehen sind die, die heute Verantwortung tragen, die mit Inkompetenz und Servilität gegenüber Bonn das angeschlagene Staatsschiff samt Besatzung und Passagieren in die Klippen statt an einen sicheren Ankerplatz steuern.

Jedoch das Bild stimmt nicht völlig, denn die Bonner Lotsen sind längst an Deck, und die von ihnen bestimmte Route heißt Einverleibung, Restauration. Zerstört wird alles, was an Demokratischem, Fortschrittlichem nach 1945 im Osten Deutschlands geschaffen wurde, und restauriert wird die alte Ordnung, die in der Geschichte über das deutsche Volk und die europäischen Völker so häufig Unheil und Verderben gebracht hat. Liquidiert werden alle Errungenschaften der demokratischen Volksbewegung vom Herbst des Vorjahres, von der Basisdemokratie der Runden Tische bis zur Glasnost der Staatsgeschäfte. Hat das Volk diese Entwicklung gewollt? Wünschte es, aus der sozialen Geborgenheit in Angst und Sorge um den morgigen Tag zu geraten? Nein, gewiss nicht!

Doch so weit man auch blickt, niemand zeigt sich imstande, der verhängnisvollen Entwicklung Einhält zu gebieten. Die Lage ist erschreckend, aber noch erschreckender ist der Fatalismus, der ein ganzes Volk zu lähmen scheint. Gibt es keine vernünftige Alternative? Realitätssinn gebietet einzugestehen, dass das Inkrafttreten des Staatsvertrages, dieser "eminenten Fehlentscheidung", wie ihn Lafontaine kennzeichnete, in seinem Kern nicht mehr zu verhindern sein wird. Die parlamentarischen Mehrheiten lassen das nicht zu. Im Gange ist bereits vor der Ratifizierung seine praktische Verwirklichung, damit - wie Kohl und Krause so fürsorglich erklärten - der DDR-Bürger pünktlich am 2. Juli in den Urlaub fahren kann. Das wäre freilich auch mit einem gescheit ausgehandelten Währungsverbund gegangen mit dem Unterschied, dass der heimkehrende Bürger auch noch seinen Arbeitsplatz und damit eine gesicherte soziale Existenz hätte. Die Regierungen in Bonn und Berlin haben diesen Weg versperrt; was bleibt ist, alles zu tun, um weiteren Schaden zu begrenzen. Es ist ein Gebot der Vernunft, einheimische Industrie, Landwirtschaft und Gewerbe mit Zöllen, Steuern und Sonderabgaben zu schützen und ihnen einen einigermaßen verträglichen Übergang in die raue Welt der totalen Marktwirtschaft zu sichern. Die Rettung der Wirtschaft der DDR verlangt gebieterisch, dass beim Ritt in das einheitliche Deutschland die Gangart verändert wird. Nicht selbstmörderischer Galopp, sondern Schritt oder kontrollierter Trab: eine neue demokratische Verfassung der DDR und nicht Anschluss an das Bonner Grundgesetz, eine Volksbefragung zur deutschen Einheit und nicht überstürzte gesamtdeutsche Wahlen im Interesse rechter Wahlstrategen und zum Schaden der Menschen in Deutschland, die vertragliche Einbettung der deutschen Vereinigung in den gesamteuropäischen Sicherheitsprozess statt NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands und Zerstörung der Grundlagen des europäischen Hauses.

Wie das künftige einheitliche Deutschland, wie unsere eigene Zukunft und die unserer Kinder und Kindeskinder aussehen werden, wird heute, in den bevorstehenden Wochen und Monaten entschieden. Nicht fatalistische Passivität, sondern mitgestaltende Aktivität ist gefordert, damit die Zukunft vom und nicht gegen das Volk gestaltet wird, damit schmerzvolle Geschichte sich nicht wiederholt, in der die DDR, wie Stefan Heym formulierte, nur als Fußnote vermerkt wird.

Wie lange noch wird sie existieren, diese kleine DDR? Das Land, das sich im Scherz zu den drei mit dem Buchstaben "U" beginnenden Supermächten zählte: UdSSR, USA und Unsere Republik. Nun klopft, ja hämmert Deutschland an die Tür. "Hurra, Germania", überschrieb Ferdinand Freiligrath ein im Juni 1870 entstandenes Gedicht. Aber wenige Monate später schrieb Georg Herwegh, übrigens Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei seit ihrer Gründung: "Germania, mir graut vor dir!". Jeder Deutsche weiß, dass Deutschland "Germania" hieß, und in Russisch und in nicht wenigen anderen Sprachen heißt es noch heute so.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Wenige Tage nach der letzten Wahl zur Volkskammer der DDR. Königsbrücker Straße in Dresden-Neustadt im März 1990
- Mitarbeiter der Maxhütte Unterwellenborn fordern im Dezember 1990 von der Treuhand die Sicherung ihrer Arbeitsplätze
- Gesehen in der Berliner Mulackstraße 1990

*

Fakten und Meinungen

Horst Schneider

Denn sie säen Wind und werden Ungewitter ernten
(Hosea 8.7)

Anmerkungen zur Rolle Joachim Gaucks als Prediger zur DDR-Geschichte

Das langjährige Staatsoberhaupt der DDR (Staatsratsvorsitzender 1960-1973) Walter Ulbricht war stolz darauf, dass er drei Berufe hatte: Tischler, Politiker und Historiker. Wer sich zu DDR-Zeiten mit Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung beschäftigte, lernte Ulbrichts Beiträge schätzen. Nun haben wir einen Bundespräsidenten, der gar vier Berufe ausübt. Joachim Gauck war bis November 1989 Pastor in Rostock, eilte dann als "Bürgerrechtler" nach Berlin, wurde Politiker und Abgeordneter, übernahm als Chef der Gauck-Behörde (mit seinem Amtsbruder Rainer Eppelmann) die Abrechnung mit der DDR-Geschichte und ihren Gestaltern.[1] Er erwarb sich bei den einen den Ruhm als "Großinquisitor", bei den anderen Ablehnung und Hass. Dass er die Nation spaltet, ist verbreitete Erkenntnis.[2]

Uns interessiert hier eine Seite seines Wirkens: sein Geschichtsbild und seine Wirkung. Joachim Gauck weist seinem Geschichtsbild eine geschichtsbildende Kraft zu. Er fühlt sich als "Wanderprediger" der historischen Wahrheit. In seiner ersten Rede als Bundespräsident am 23. März 2012 erklärte er vor dem Bundestag: "Ich will meine Erinnerung als Kraft und Kraftquelle nutzen, mich und uns zu lehren und zu motivieren. Ich wünsche mir also eine lebendige Erinnerung auch an das, was in unserem Land nach all den Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur und nach den Gräueln des Krieges ist. In Deutschlands Westen trug es, dieses Gelungene, als Erstes den Namen 'Wirtschaftswunder'. Deutschland kam wieder auf die Beine. Die Vertriebenen, gar die Ausgebombten erhielten Wohnraum. Nach Jahren der Entbehrung nahm der Durchschnittsbürger teil am wachsenden Wohlstand, freilich nicht jeder im selben Maße."[3]

Dass es zwei deutsche Staaten gab, scheint der Ex-DDR-Bürger Gauck nicht zu wissen, auch nicht, dass und wie Umsiedlern und Bombenopfern in der DDR Hilfe widerfuhr. Richard von Weizsäcker, Willy Brandt, Günther Gaus, Roman Herzog[4] zollten - vor 1989 - der DDR für ihre Aufbauleistungen Respekt; der erste "ostdeutsche" Bundespräsident betrachtete die DDR als terra incognita. Warum wohl? Er hält sich für ein "Opfer des Stalinismus", weil 1951 sein Vater von sowjetischen Organen inhaftiert worden war und bis zur Freilassung der noch inhaftierten Kriegsverbrecher 1955 in Sibirien Zwangsarbeit leistete.[5] Mit diesem Vorfall in seiner Kindheit begründete Joachim Gauck seinen militanten Antikommunismus, den er nach 1990 seiner gesamten Arbeit zugrunde legte, auch in seinen Reden und Schriften. Ich wähle hier Beispiele aus.

Als Mitte der Neunzigerjahre der Ex-Maoist Stéphane Courteois das "Schwarzbuch des Kommunismus"[6] herausgab, eines der übelsten Machwerke in der antikommunistischen Literatur, fehlten dem Verlag deutsche Autoren, die über die DDR zu schreiben bereit sein würden. Offensichtlich wollte kein seriöser Historiker seinen Ruf ruinieren. Wer sprang ein? Zwei DDR-Pastoren aus dem Stall Gauck, Erhart Neubert und der Chef Joachim Gauck höchstpersönlich. Und was lieferte Gauck ab? Ein Sündenregister der DDR-Politik? Recherchen über "Unterdrückung, Verbrechen und Terror in der DDR"? Lassen wir ihn selbst zu Wort kommen: "Dem Wunsch des Piper Verlages, diesem Schwarzbuch einen Essay aus ostdeutscher Sicht beizufügen, entspreche ich nur zögernd. Ich bin weder Historiker noch Politikwissenschaftler. Zwar veranlasst mich mein jetziges Amt, am öffentlichen Diskurs über die untergegangene DDR-Gesellschaft teilzunehmen. Aber eine erneute Analyse des Stasi-Systems könnte kaum über das hinausreichen, was schon in den letzten Jahren zutage gefördert wurde. Zudem legen die erregten Diskussionen über das Schwarzbuch nahe, einem ganz anderen Phänomen nachzugehen - dem Phänomen der selektiven Wahrnehmung. Warum haben wir nicht gewusst, was wir wussten? Warum haben wir nicht gewusst, was wir nicht wussten? Warum ist selbst unser Erinnern selektiv? Um es gleich zu sagen: Die Beschäftigung mit diesem Thema fiel mir nicht leicht. Denn ich spürte und spüre eine deutliche Unlust, meinen eigenen Wahrnehmungsdefiziten zu begegnen, die nun - fast zehn Jahre noch dem Umbruch - überdeutlich geworden sind."[7]

Gauck entdeckte zwar bei sich "Wahrnehmungsdefizite". Er unternahm dennoch einen Streifzug durch die DDR-Geschichte, wie sie in seiner Wahrnehmung existiert. Für den "stalinistischen Terror" nannte er einen Fakt: "Ich wuchs in einer der vielen Familien auf, die nach dem Krieg die neue Ordnung als despotisch, ungerecht, staatsterroristisch erfuhren. Als ältestes von vier Kindern erlebte ich, wie es ist, wenn der Ernährer 'abgeholt' wird. Mein Vater war einer der Deutschen, die ohne Grund in einem Verfahren eines sowjetischen Militärtribunals zu 25 Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt wurden."[8] Der Vater kehrte 1955, als Joachim Gauck 15 Jahre alt war, zur Familie zurück. Hat der Sohn nie seinen Vater gefragt, warum er inhaftiert worden war?

Natürlich wiederholte Gauck die bekannten Klischees über den 17. Juni 1953 und den "Mauerbau". Aber er fügte eine Passage ein, mit der er partielle Erfolge der SED zu erklären versuchte: "Nach dem Fiasko des Dritten Reiches fanden die Kommunisten bei Teilen der Intellektuellen und Arbeiter ... Gehör mit ihrer Forderung nach einer sozialistischen Alternative. Denn das 'Monopolkapital' und die 'Finanzoligarchie' hatten die Diktatur in den Sattel gehoben; nur eine Macht der Arbeiter und Bauern würde eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung garantieren können. Die Themen Gerechtigkeit und Frieden knüpften zudem an alte Heilserwartungen aus der christlichen Verkündigung an. Bodenreform und sonstige Enteignungen sollten Reichen nehmen und Armen geben - war es nicht Jesus Christus selbst, der die Armen selig gepriesen hatte?"[9] Warum das Fragezeichen? Zweifelt Gauck an der Aussage der Bibel? Stand Christus nicht bei den Armen gegen die Reichen? Nach einem Exkurs über die Entspannungspolitik in den Achtzigerjahren, die er kritisch wertet, lautete sein Urteil: "Eine nüchterne Betrachtung der politischen Verhältnisse wird dennoch zu einem Urteil gelangen, das den Kommunismus ebenso als totalitär einstuft wie den Nationalsozialismus."[10]

Diesen Satz müssen wir uns merken. Joachim Gauck vergleicht den Kommunismus und "Nationalsozialismus" nicht, er setzt beide gleich. Würde Gauck, etwas geschichtliche Bildung vorausgesetzt, vergleichen, müsste er stutzig werden. Waren es nicht die Kommunisten, die schon vor 1933 vor einer Herrschaft der Faschisten warnten? War es nicht Ernst Thälmann, der 1932 als Präsidentschaftskandidat prophezeite: Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler. Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!? War es nicht Otto Dibelius, der den symbolischen Akt mit Hindenburg und Hitler am "Tag von Potsdam" segnete?[11] Welcher katholische oder protestantische Bischof hat zum Widerstand gegen Hitler und den Krieg aufgerufen, wie das die Kommunisten - und 1944 einige Offiziere, die den Kriegsausgang voraussahen - aufopferungsvoll taten?

Es ist infam, diejenigen mit den Faschisten gleichzusetzen, die Deutschlands friedliche Zukunft erkämpfen wollten. Heißt es in Gaucks Bibel nicht mehr: "Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten"? Gaucks Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus lässt aufmerken. Das tun sonst nur extrem rechte reaktionäre Totalitarismusforscher.[12] Die Folgerungen, die Gauck im Schlusssatz seines Beitrags formuliert, liegen auf der Hand: "Die Wahrnehmung der 'schwarzen' Tatsachen roter Herrschaft lässt nur eine Einstellung zu: den antitotalitären Konsens aller Demokraten, der die intellektuelle und politische Äquidistanz gegenüber Demokratie und Sozialismus verbietet."[13] Gauck spricht hier wie jemand, der über das Denken zu gebieten hat. Nur eine Einstellung hat es zu geben.Wie aber erklärt sich, dass Otto Dibelius - wie alle protestantischen Bischöfe - Hitler und den faschistischen Eroberungskrieg segneten, Gauck und seinesgleichen aber die DDR bekämpften?[14]


Der "Staatsinsasse" Gauck

Wir kommen auf den "Antitotalitarismus" Gaucks zurück. Zunächst: Das Mitwirken von Gauck am "Schwarzbuch des Kommunismus" hat Symbolkraft. Er wollte zu den Einpeitschern des Antikommunismus gehören. Und dieser Beitrag war ja kein "Ausrutscher". Der Großinquisitor nutzte jede Gelegenheit (mein Vater hätte "jede Hundehochzeit" gesagt), um als "Prediger der Wahrheit" aufzutreten. Wenden wir uns zunächst seinen Auftritten auf den Bautzen-Foren zu, die jährlich im Mai stattfinden. Joachim Gauck ist fünf Mal aufgetreten und besitzt damit einen Auftrittsrekord.[15] Auf dem 5. Bautzen-Forum 1994 sprach er über "Ermutigende Erkenntnisse aus den Akten-Beispielen für Zivilcourage". Er trug Berichte über Schicksale von Bürgern vor, die sich der "Stasi" entzogen haben. 1996 widmete sich Gauck dem Thema "Lernort Bautzen - Erinnerung und Aufarbeitung als Element geistiger Befreiung". Er postulierte, dass es "für einen Demokraten angesichts der konkreten kommunistischen Gewaltherrschaft selbstverständlich (ist), Antikommunist zu sein".[16] Ein Jahr später war Gauck wieder in Bautzen. Sein Thema: "Von einer Vergangenheit ohne Demokratie zu einer Zukunft ohne Zivilcourage". Nach einer langen Pause tauchte Gauck 2005 wieder in Bautzen auf Nun predigte er über "Lebenswege in der SED-Diktatur". Der Text nimmt in der Dokumentation 29 Seiten ein. Die Geschichten, die Gauck aneinander fügte über Mariechen, "die kleine Diplomatin", und Paul, der Arzt werden will - sind so possierlich, dass selbst der Redner einflocht: "Nun denken Sie, ich betreibe hier Kabarett, aber das denkt man ja manchmal, wenn man von damals erzählt."[17] Auf diesem Forum begründete Gauck auch, warum er in der DDR nicht Staatsbürger, sondern "Staatsinsasse" gewesen sei, der nicht einmal die Tür aufmachen und rausgehen durfte.[18]


Prediger der "Wahrheit"

Joachim Gauck suchte als "Prediger der Wahrheit" nicht nur Bautzen heim, sondern er kann stolz auf eine umfangreiche Liste von Auftritten verweisen. Hier eine Auswahl:

• 19. Juli 1996: "Unterwerfung, Anpassung, Widerstand - Anmerkungen zum Leben unter totalitärer Herrschaft", Festvortrag im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin

• 9. November 1999: Rede zum 10. Jahrestag des Mauerfalls, Sonderveranstaltung im Deutschen Bundestag

• 28. März 2006: "Welche Erinnerungen braucht Europa?", Stiftungsvortrag der Robert-Bosch-Stiftung im Rahmen der Vortragsreihe "Europa bauen, den Wandel gestalten" in Stuttgart

• 21. April 2009: 3. Berliner Rede zur Freiheit am Brandenburger Tor

• 10. Oktober 2010: Laudatio zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an David Grossmann

• 2010 Vortrag: "Unrechtsstaat DDR: Willkür, Gewalt, Macht", dokumentiert in: "Unrechtsstaat DDR: Willkür, Macht, Gewalt; 21. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung,Büro Leipzig. 6. und 7. Mai 2010", Friedrich-Ebert-Stiftung, Büro Leipzig, 2010, S. 23-38

• Grundsatzrede im Deutschen Theater Berlin am 22. Juni 2010

• Januar 2011: Rede auf dem Neujahrsempfang der Evangelischen Akademie Tutzing'[19]

• 2011: Joachim Gauck: "Freiheit, Verantwortung, Gemeinsinn - Herausforderungen an Bürger, Staat und Politik"

• 2011: Festrede zu den Salzburger Festspielen: "Es gilt das gesprochene Wort!"

• 19. September 2011: Laudatio zur Verleihung des Menschenrechtspreises 2011 der Friedrich-Ebert-Stiftung an den tunesischen Blogger Slim Amamou und den ägyptischen Blogger Khaled Said (posthum)

• 18. März 2012: Rede vor der Bundesversammlung

Schon aus den Überschriften geht der rote Faden der höchst unchristlichen, hasserfüllten Reden Gaucks hervor, die unbarmherzige Abrechnung mit der DDR. Es dürfte zweckmäßig sein, den Platz dieser Reden und damit Gaucks in der politischen Auseinandersetzung der Gegenwart zu bestimmen. Wir lassen uns dabei von Karl Marx und Friedrich Engels helfen. Sie schrieben in der "Deutschen Ideologie": "Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse."[20]

Dass Joachim Gauck seinen Platz als "Wanderprediger" der staatlich verordneten Totalitarismusdoktrin bewusst übernimmt, wird besonders deutlich in solchen Reden sichtbar, die er bei offiziellen Anlässen vor Landesparlamenten hält. Der CDU-geführte Sächsische Landtag hatte Joachim Gauck zum "Festakt zum Tag der Deutschen Einheit" am 3. Oktober 2007 eingeladen.[21] Eine Bilanz war es nicht. Das war auch nicht beabsichtigt, wie das Thema zeigt: "Freiheit wagen". Wer soll welche Freiheit wagen? Haben denn alle Bürger wenigstens die gleichen Chancen zum Reden wie z. B. Gauck? "Verantwortung leben"; wer ist in welchem Sinne gemeint? "Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen" heißt doch - in die Politik übersetzt -: "Wir" sollen mehr Kriegslasten tragen. Für wen, warum? Diese Rede Gaucks umfasst in der Festbroschüre siebzehn Seiten, auf denen 174-mal die Worte "ich" und "wir" vorkommen. Er geht offensichtlich davon aus, dass seine Erfahrungen und Gefühle auch die aller anderen Bürger (über den Landtag hinaus) sind. Er fand es schön, "dass hier ein Vertreter der nationalen Minderheit sprechen darf". Das steht im Widerspruch zu den Tatsachen und zu seiner ersten Bemerkung. Um Missverständnisse zu vermeiden, präzisierte er, dass er mit "Minderheit" nicht die Mecklenburger meint: "Ich meine die Menschen, die Freiheit für die Hauptsache im politischen Leben einer Nation halten." Ich wiederhole: Welche und wessen Freiheit?


Freiheitsliebender und Staatsdiener

Wir halten fest: Solche Leute, die die Freiheit lieben, sind die Minderheit. Gauck gehört ihr an und im Saal hat er weitere Mitglieder dieser Minderheit entdeckt. Welch ein Lichtblick für Sachsen, aber: "Ich weiß, dass wir daran noch lange zu arbeiten haben, dass die Freiheit, die wir für so wichtig halten, auch von einer Mehrheit als Hauptsache anerkannt wird", verkündete Gauck. Gauck als Lehrer für das ungebildete Volk.

Nun könnte mancher neugierig werden und fragen, welche Freiheit Gauck meinte. Für die "Krupps" ist es einfach: die "Freiheit", fremde Arbeitskraft zu kaufen und möglichst profitabel auszubeuten. Für die "Krauses" ist die "Freiheit" auch erfassbar: die eigene Arbeitskraft (sein eigenes Fell) möglichst teuer zu verkaufen. (Die Begriffswelt vertauscht die Rollen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern.) Die einen wie die anderen benötigen Freiheiten: die einen, um Maximalprofit zu erzielen, und die anderen, um ihre nackte Existenz zu sichern.

Gauck, der "gelegentlich so durch das Land" geht, sagte zwar nicht, was er unter Freiheit versteht, aber er fand "auch in manch privater Runde", dass es "in diesem Land einen Artikel 1 einer geheimen Verfassung gibt, der da lautet: Die Besitzstandswahrung ist unantastbar. Aber Sie alle wissen, dass unsere wirkliche Verfassung im Artikel 1 einen völlig anderen Text hat. Dort ist die Rede davon, dass die Würde eines Menschen unantastbar sei. Diese Aussage unterscheidet nicht zwischen zu kurz Gekommenen und Übersättigten, Starken und Schwachen, zwischen Demokraten und Gleichgültigen oder Widersachern. Sie alle, die so unterschiedlichen Menschen, haben diese Würde. Es ist ganz schön kompliziert, das zu glauben und das zu leben." Ei der Daus! Gauck entdeckte den Unterschied zwischen dem geschriebenen Artikel 1 des Grundgesetzes und der politischen Praxis. Ich halte fest: Laut Gauck gibt dieser Staat allen Bürgern gleiche Würde und gleiche Rechte, gleichsam wie ein Weihnachtsmann als Geschenk. Ob Eifrige oder Faulenzer, Begabte oder Dummköpfe: in der Würde sind sie alle gleich, sagt Gauck.

Aber Gauck war ja auch "Staatsdiener", Herrscher über eine staatliche Behörde, die viel hätte tun können (oder müssen), um niemandes Würde anzutasten. Hat Gauck vergessen, wie oft er die Würde anderer in den Schmutz getreten hat? Kennt er den Vorgang um die "Abwicklung" des Rektors der Berliner Humboldt-Universität, Professor Dr. Heinrich Fink, nicht mehr, in dem der Pfarrer ("Bruder") Gauck den rächenden Gottvater gegenüber dem integren Theologieprofessor spielte? Wie viele solcher "Fälle" gibt es? Warum findet solcher Frevel von Staats wegen trotz des Artikels 1 des Grundgesetzes statt? Gauck weiß seit der "Wiedervereinigung" (Ein Begriff, den Willy Brandt aus guten Gründen ablehnte.): "Deshalb ist der Hauptlehrsatz: 'Vor der Einheit kam die Freiheit." Die Schwierigkeit für Gauck ist: "Oft können wir das Davor und Danach gar nicht mehr zusammenbringen." Und dann erzählte er, was er in einem Dresdner Lokal am Abend vor seiner Rede erlebt hat. Bei einer zwanzigjährigen Kellnerin hatte er entdeckt: "Und dann freue ich mich, dass die Diktatur nicht in ihre Seele eingedrungen ist." Ein tolles Kunststück: Wer außer Pfarrer Gauck erkennt auf Anhieb, ob eine Kellnerin eine Seele hat, in die (welche?) Diktatur eingedrungen ist oder nicht?

Und dann philosophierte (phantasierte?) er über seine (die?) Vergangenheit: "Da saßen wir im Dunst der DDR-Wirklichkeit, mit Trabant und einer Spreewaldgurke. Wir fragten uns, wie kommen wir hoch, wenn wir nicht eintreten, wenn wir nicht niederfallen und sie sagten uns, wir sind eine ganze historische Epoche weiter. Na gut, wen das trösten mochte! Ja, was macht man dann? Was macht man dann? Das ist unser nächster Punkt." Im Klartext: Was machte 1989 derjenige, der "hochkommen" wollte wie Gauck? Natürlich eine "friedliche Revolution", wie manche im Landtag schon wussten und wie es den "Jungen und Zugezogenen(?)" von Gauck in Erinnerung gebracht wurde. Jedenfalls kam - auch in Sachsen - im Oktober 1989 "das allerwunderbarste Erleben, das ein politischer Mensch sich überhaupt vorstellen kann, ein Fest der Wiedergeburt". Ich stelle mir diese "Wiedergeburt" bei Pastor Eggert, Pfarrer Heitmann und dem Bausoldaten Vaatz, dem Napoleon der Revolution 1989/90 in Dresden, bildlich vor. In der Gemäldegalerie gibt es genügend Anschauungsunterricht. Immerhin, Gauck hatte Anfang Oktober 1989 Angst: "Lasst uns an diese Angst denken. Leben ohne Angst ist nicht zu haben!" Wie wahr, die Frage ist wohl nur, wovor jemand Angst hat. Für Gauck war die Angst auf jene Tage der "friedlichen Revolution" befristet, für die er sich bei den "Kirchen des Landes" bedankt. Waren die Kirchen 1989 Träger der Revolution gegen die Obrigkeit, die bis dato immer gottgewollt war? Zwar ist jeden Tag in Fernsehbildern aus aller Welt zu sehen, dass es von den Herrschenden abhängt, ob Protest und Widerstand "friedlich" möglich sind. Aber diese Erfahrung auch für die DDR wahrheitsgemäß festzustellen, hieße ja zuzugeben: dass die Rückkehr des Kapitalismus - das ist das Wesen der "Wiedervereinigung" -, der völkerrechtswidrige "Anschluss der DDR an die BRD" friedlich erfolgte, ist Krenz, Modrow und anderen zu verdanken, nicht den Krakeelern, die vor westdeutschen Kameras posierten und den Betenden in irgendwelchen Kirchen. Gauck umschrieb das,wenn er es "wunderbar" fand, dass sich damals SED-Mitglieder an der "Delegitimierung" der DDR beteiligten. Die Entwicklung in Berlin und Moskau und von Kuba bis Korea konnte Gauck in wenigen Sätzen erfassen. ("Ja, in Korea fressen [!] die Unterdrückten zeitweilig Gras und das über Jahre.")


Gauck und das undankbare Volk

Gauck hat nicht vergessen, dass in Rostock zwei Oberschüler gefeuert worden sind, weil sie das Abzeichen "Schwerter zu Pflugscharen" getragen hatten. Das war sicher ein Fehler der Schule. Es wäre interessant zu erfahren, wie die verantwortlichen Lehrer diesen Fehler 1990 gebüßt haben. Aber was ist zu den Pfarrern zu sagen, die nach 1990 ihren Bibeltext veränderten und jetzt Waffen segnen? Welcher "Fehler" ist schlimmer?

Gauck kam noch einmal breit auf 1989 zurück: "Es ist für mich sehr interessant gewesen, dass es das Volk als politisch handelnden Akteur tatsächlich gibt. Ich dachte immer, das ist eine Erfindung aus politischen Büchern. Aber sich selber als Teil eines Volkes zu sehen und zu erleben, das bereit und fähig ist, etwas zu riskieren für die Zukunft, das hat mein ganzes Denken und auch mein Verhältnis zu meinen Landsleuten total verändert." Welche politischen Bücher mögen das gewesen sein, in denen das Volk vorkam? Doch nicht etwa Marx über die Kommune oder Engels über den Bauernkrieg?

Die in Sachsen geprägte Losung "Wir sind das Volk!" war für Gauck ein "göttliches Geschenk", das für ihn besondere Folgen auslöste: "Ich hatte in diesen Wochen der überzogenen und hektischen Aktivitäten überhaupt keine körperlichen Gebrechen mehr." Gauck wurde 1989 nicht nur seine Gebrechen los, er spürte auch die "Befreiung": "Es ist ein Fest gewesen. Die zauberhafte Hochzeit und noch kein Gefühl für die spätere lange Ehe und ihre Probleme. So etwas gibt es, solche Feste des Lebens. Die Mühen der Ehe sind da noch nicht im Blick, sondern es ist schön. Es explodiert. Die Befreiung ist immer schöner als Freiheit, weil da etwas anfängt. Deshalb sind wir heute ganz natürlicherweise anderer Stimmung. Dauerhochzeit ist nun mal nicht möglich, übrigens auch nicht wünschenswert." Gauck weiß, warum es eine so miese Stimmung im Osten gibt: Die "zauberhafte Hochzeit" von 1989 ist als "Dauerhochzeit" nicht wünschenswert. Aber Gauck hat 1989 erlebt. Angesichts solcher segensreicher Wirkungen wird sich hoffentlich bald jemand finden, der die Urheberrechte an den Losungen "Wir sind das Volk!" und "Wir sind ein Volk!" anmeldet.

Nachdem sich Gauck über seine Erlebnisse und Gefühle lang und breit ausgelassen hatte, griff er in die offizielle Erinnerungspolitik ein: "Wir treffen uns im Osten Deutschlands. Und die Menschen, die hier aufgewachsen sind, haben 12 plus 44 Jahre Diktatur hinter sich. Klar, unter unterschiedlichen Fahnen und Ideologien, aber in so unterschiedlichen Ideologien konnten die, die unten waren, gleichwohl sehr ähnliche Erfahrungen machen. Und wer immer diese Zeit erlebt hat, kennt jene Mischung aus Anpassung und Angst, die viele von uns umgeben hat, so als Schutzhaltung. Nur nicht auffallen. ... Man braucht die DDR nicht nur über Stasi zu definieren, ich habe es selbst übrigens nie getan. Ich habe vor über zehn Jahren schon darauf hingewiesen, dass die Aufarbeitung der DDR scheitern wird, wenn sie sich nur auf die Stasi konzentrieren würde. Aber allein die Aufzählung der Defizite zeigt uns, dass die DDR und die kommunistischen Satellitenstaaten insgesamt ein politischer Unort waren."

Gauck als Ratgeber der "Geschichtsaufarbeitung" ist inzwischen eine Art Generalissimus geworden. Und die vom Kommunismus befreiten "Unorte" sind inzwischen Orte unbegrenzter Freiheit und christlicher Glückseligkeit, Sachsen vor allem. Nun auch ganz Deutschland? Am 19. Februar 2012 drückte Gauck, neben der Kanzlerin sitzend, seinen größten Wunsch aus: "Mir ist am wichtigsten, dass die Menschen in diesem Land wieder lernen, dass sie in einem guten Land leben, das sie lieben können. Weil es ihnen die wunderbaren Möglichkeiten gibt, in einem erfüllten Leben Freiheit zu etwas und für etwas zu leben." Lebt Gauck gedanklich noch in der DDR? In der DDR konnte jeder bei ehrlicher Arbeit für eine friedliche Zukunft leben. Die "Dresdner Rede" Gaucks ist ein Musterbeispiel dafür, wie der ideologische "mainstream" aussehen soll und wie Leute wie Joachim Gauck ihn hemmungslos bedienen. Mit einer ähnlichen Rede suchte Joachim Gauck die Landesvertretung Mecklenburg-Vorpommern am 13. Januar 1998 heim.[22]


Totalitarismusforscher Gauck

Die Anmerkungen zu Gaucks Geschichtsbild können nicht beendet werden, ohne seine Stellung zur Totalitarismus-Doktrin und zur Totalitarismusforschung hervorzuheben. Das tut auch Klaus Huhn in seinen verdienstvollen Recherchen, auf die ich hier nachdrücklich verweise.[23] Das Totalitarismus-Schema - in der Regel die Gleichsetzung von Drittem Reich und DDR - ist die Folie, mit der die DDR-Geschichte überzogen wird. Die Totalitarismusforschung wird an speziellen Institutionen, in Dresden auch unter dem Missbrauch des Namens Hannah Arendt, betrieben.[24] Diese verfügen auch über Zeitschriften und Jahrbücher. Eine Art Dach und Zentrum für die Totalitarismusforschung ist der "Veldensteiner Kreis zur Geschichte und Gegenwart von Extremismus und Demokratie". Auf der Burg vor den Toren Nürnbergs, die von 1939 bis 1945 Hermann Göring gehörte, trifft sich seit 1990 zweimal im Jahr eine illustre Runde unter der Schirmherrschaft von Prof. Dr. Eckhard Jesse (TU Chemnitz), Prof. Dr. Uwe Backes (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung Dresden) und Prof. Dr. Werner Müller (Universität Rostock). Referenten waren und sind neben Dr. Joachim Gauck Dr. Hubertus Knabe, Prof. Dr. Seebacher-Brandt, Günter Schabowski, Dr. Stefan Wolle und Prof. Dr. Ernst Nolte. (Das ist jener Historiker, der in den Achtzigerjahren die steile These aufstellte, der Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion sei ein Präventivkrieg gewesen und die Gulags in der Sowjetunion hätten die Vorlage für die Nazi-Konzentrationslager geliefert.) Zu den rechtslastigen Referenten gehörte auch Prof. Dr. Stéphane Courteois, Mitherausgeber des "Schwarzbuchs des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror".[25]

Zwischen Totalitarismusforschern und der Behörde, der Gauck seinen Namen gab, gibt es Berührungspunkte bei der politischen Zielstellung, den staatlich vorgegebenen Aufgaben und personellen Verbindungen. Klaus-Dieter Henke, Ende der Neunzigerjahre Direktor des Hannah-Arendt-Instituts, arbeitete vorher in der Gauck-Behörde und publizierte dort. Sein Nachfolger Gerhard Besier nutzte für seine Angriffe auf DDR-Bischöfe und Pfarrer die Unterlagen der Gauck-Behörde.[26] Clemens Vollnhals schrieb für die Gauck-Behörde, ehe er an das Hannah-Arendt-Institut wechselte.[27] Wie die "Bürgerrechtler" von sich sagen können: "Wir kannten uns alle", so können das auch die Totalitarismusforscher von sich sagen, deren Förderer und Wanderprediger jetzt Bundespräsident ist.


Siegerjustiz

Klaus Huhn ist es zu verdanken, dass Kritiker Joachim Gaucks nun auch das Dokument im Wortlaut prüfen können, das als deutsche Erstunterzeichner die Unterschriften der Herren Joachim Gauck und Christoph Schaefgen trägt, jenes Staatsanwalts, der nach 1990 die "Regierungskriminalität der DDR" zu ahnden hatte und ungeschminkt die "Siegerjustiz" organisierte. In dem Dokument ("Manifest"), das im Februar 2010 von Wortführern des strammsten Antikommunismus verabschiedet wurde, wird die ideologische Marschrichtung für "Europa" verordnet: "Wir, Teilnehmer der internationalen Konferenz 'Verbrechen der kommunistischen Regime', die vom 24. bis 26. Februar 2010 in Prag stattfand, erklären:

1. Kommunistische Regime begingen - und begehen in einigen Fällen immer noch - Verbrechen gegen die Menschheit in allen zentral- und osteuropäischen Ländern und in anderen Staaten, in denen der Kommunismus immer noch lebendig ist.

2. Verbrechen gegen die Menschheit unterliegen, nach internationalem Recht, keiner gesetzlichen Verjährungsfrist. Die Gerechtigkeit, die den kommunistischen Verbrechern in den letzten 20 Jahren widerfahren ist, ist jedoch höchst unbefriedigend.

3. Das Recht auf Gerechtigkeit darf Abermillionen Opfern des Kommunismus nicht verweigert werden.

4. Da Verbrechen gegen die Menschheit, die kommunistische Regime begehen, nicht unter die Gerichtsbarkeit bestehender internationaler Gerichte fallen, fordern wir die Einsetzung eines neuen internationalen Gerichts für kommunistische Verbrechen mit Sitz in der EU. Kommunistische Verbrechen gegen die Menschheit müssen von diesem Gericht in ähnlicher Weise verurteilt und bestraft werden wie etwa die Nazi-Verbrechen vom Nürnberger Gericht oder die Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien.

5. Kommunistische Verbrecher nicht zu bestrafen bedeutet, das Völkerrecht zu missachten und dadurch zu schwächen.

6. Als Akt der Wiedergutmachung und Entschädigung müssen europäische Länder Rechtsvorschriften zur Angleichung der Renten und Sozialleistungen der kommunistischen Verbrecher einführen. In ihrer Höhe müssen sie jenen ihrer Opfer gleichwertig oder geringer sein.

7. Da die Demokratie lernen muss, sich zu verteidigen, muss der Kommunismus in ähnlicher Weise verurteilt werden wie der Nazismus. Wir setzen die jeweiligen Verbrechen des Nazismus und des Kommunismus nicht gleich. Sie müssen aber studiert und nach ihren eigenen schrecklichen Verdiensten beurteilt werden. Kommunistische Ideologie und kommunistische Herrschaft stehen im Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention und zur Charta der Grundrechte der EU. Ebenso wie wir gegen eine Relativierung der Nazi-Verbrechen sind, akzeptieren wir auch keine Relativierung der kommunistischen Verbrechen.

8. Wir rufen die EU-Mitgliedstaaten dazu auf,Kenntnis und Erziehung über die Verbrechen des Kommunismus zu vertiefen; wir erinnern sie an die Notwendigkeit, die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. April 2009 ohne Verzögerung umzusetzen, um den 23. August als europaweiten Gedenktag für die Opfer aller totalitären und autoritären Regimes zu begehen.

9. Wir appellieren an die Europäische Kommission und an den Europäischen Rat für Justiz und Inneres, einen Rahmenbeschluss über ein europaweites Verbot der Rechtfertigung, Leugnung und Verniedlichung der kommunistischen Verbrechen anzunehmen.

10. Die Einrichtung einer Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas, wie sie vom Europäischen Parlament und dem EU-Rat 2009 unterstützt wurde, muss auf EU-Ebene vollendet werden. Einzelne Regierungen müssen ihrer Verpflichtung, an der Arbeit dieser Plattform teilzunehmen, nachkommen.

11. Als Akt der Anerkennung der Opfer und des Respekts vor ihrem unermesslichen Leid, das ihnen auf dem halben Kontinent zugefügt wurde, muss Europa, dem Beispiel des Denkmals in Washington, D. C., USA, folgend, ein Denkmal für die Opfer des Weltkommunismus errichten."[28]

Joachim Gauck gehört also zu denen, die behaupten, die DDR habe "Verbrechen gegen die Menschheit" begangen, diese "Verbrechen" würden nicht verjähren, ein internationaler Gerichtshof solle gebildet werden und (wie das Tribunal in Nürnberg) die "Verbrecher" bestrafen, der Kommunismus müsse verurteilt werden wie der Nazismus, der 23. August solle europaweit als Gedenktag für die Opfer aller totalitären und autoritären Regimes begangen werden uns man solle ein Denkmal für die Opfer des Weltkommunismus errichten.


Der Balken im Auge

Nun ist Joachim Gauck "Präsident der Herzen", der auf das Wohl aller Deutschen vereidigt wurde. Er erbat "Gottes Hilfe". Das veranlasst mich, diesen Exkurs über das antikommunistische und antitotalitäre Geschichtsbild des Expfarrers mit einem Bibeltext aus Jesus Feldrede zu beenden: "Richtet niemand, dann wird Gott auch euch nicht richten. Verurteilt niemand, dann wird Gott auch euch nicht verurteilen. Verzeiht, dann wird Gott euch verzeihen. Schenkt, dann wird Gott euch schenken; ja, er beschenkt euch so überreich, dass ihr gar nicht alles fassen könnt.

Darum gebraucht andern gegenüber ein reichliches Maß; Gott wird bei euch dasselbe Maß verwenden. ... Warum kümmerst du dich um den Splitter im Auge deines Bruders und bemerkst nicht den Balken in deinem eigenen? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: 'Komm her, Bruder, ich will dir den Splitter aus dem Auge ziehen', und merkst gar nicht, dass du selbst einen ganzen Balken im Auge hast? Du Scheinheiliger, zieh erst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du dich um den Splitter im Auge deines Bruders kümmern." (Lukas 6, 37.38.41.42)


Anmerkungen:

[1] Biographisches in: Joachim Gauck: Winter im Sommer - Frühling im Herbst, München 2009

[2] Daniela Dahn: Joachim Gauck - gespalten statt versöhnt, Süddeutsche Zeitung vom 10.6.2010

[3] Text der Rede in: Das Parlament vom 26.3.2012

[4] Zitat in: Horst Schneider: Schwarz-rot-goldene Worte, Berlin 2009

[5] Joachim Gauck erklärte wiederholt, sein Vater sei Kapitän gewesen, der im Krieg nicht mehr zur See gefahren sei. Über die Gründe der Verhaftung des Vaters schrieb er in seinen Memoiren: "Die ersten 25 Jahre wegen Spionage für einen Brief, den er von Fritz Löbau erhalten hatte, seinem ehemaligen Vorgesetzten auf der Rosslauer Werft, mit dem er 1947 Schnellboote für die Sowjets erprobt hatte. Löbau hatte sich in den Westen abgesetzt und meinen Vater zu einem Besuch nach West-Berlin eingeladen, fünfzig Mark Reisegeld lagen dem Brief bei. Obwohl mein Vater nicht reagiert hatte, wurde ihm die Einladung beziehungsweise diese Bekanntschaft zum Verhängnis; Löbau soll mit dem französischen Geheimdienst zusammengearbeitet haben." Joachim Gauck: Winter im Sommer - Frühling im Herbst, München 2009, S. 36

[6] Stéphane Courteois: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München 2008

[7] Joachim Gauck: Vom schwierigen Umgang mit der Wahrnehmung, in: Courteois, a. a. O., S. 885 / Wolfgang Wippermann: Gauck und das "Schwarzbuch'" in: Jochen Zimmer (Hrsg.): Das Gauck-Lesebuch, Frankfurt am Main 1998, S. 112f.

[8] Joachim Gauck, a. a. O., S. 886

[9] ebenda, S. 888

[10] ebenda, S. 891

[11] Kurt Meier: Kreuz und Hakenkreuz. Die evangelische Kirche im Dritten Reich, München 1992 / Karlheinz Deschner: Mit Gott und den Faschisten. Vatikan und Faschismus, Stuttgart 1965

[12] Horst Schneider: Hysterische Historiker. Vom Sinn und Unsinn eines verordneten Geschichtsbildes, Berlin 2008, S. 32 f.

[13] Schwarzbuch, a. a. O., S. 894

[14] Horst Schneider: Unter dem Dach der Kirche, Berlin 2010

[15] Die Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht jährlich eine Dokumentation über die Bautzen-Foren, von denen bisher 22 stattfanden. [16] 7. Bautzen-Forum, Dokumentation, S. 143

[17] 16. Bautzen-Forum, Dokumentation, S. 26

[18] ebenda, S. 32

[19] Als Buch unter dem Titel "Freiheit. Ein Plädoyer" in München 2012 erschienen; wochenlang Bestseller im "Spiegel"

[20] Karl Marx/Friedrich Engels:Werke, Band 3, Dietz Verlag Berlin 1969, S. 20-41

[21] Unter diesem Titel erschien auch das Heft 39 der Schriftenreihe des Dresdener Landtages.

[22] Joachim Gauck: Erblast der Diktatur. Über den Sinn der Aufarbeitung totalitärer Herrschaft, 13. Januar 1998

[23] Klaus Huhn: Der Inquisitor kandidiert, Berlin 2010 / Klaus Huhn: Die Gauck-Behörde. Der Inquisitor zieht ins Schloss, Berlin 2012

[24] Horst Schneider: Das Hannah-Arendt-Institut im Widerstreit politischer Interessen, Berlin 2004

[25] Maus Huhn: Die Gauck-Behörde, a. a. O., S. 27

[26] Gerhard Besier/Stefan Wolf (Hrsg.): Pfarrer, Christen, Katholiken. Das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR und die Kirchen, Neukirchen 1992

[27] Clemens Vollnhals: Der Fall Havemann. Ein Lehrstück politischer Justiz, Berlin 1998 / Clemens Vollnhals: Die Kirchenpolitik der SED und die Staatssicherheit. Eine Zwischenbilanz, Berlin 1997

[28] Text aus Klaus Huhn: Die Gauck.Behörde, a. a. O., S. 24 f.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Gleiche Brüder, ...
- Joachim Gauck, tief beeindruckt nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten
- Herr Gauck bedankt sich für das Vertrauen

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Fakten und Meinungen

Norbert Rogalski

Leipzig vom IOC ausgebremst

Vom 27.7. bis 12.8.2012 finden die 30. Olympischen Sommerspiele der Neuzeit in London statt. Zum dritten Mal wird diese Stadt Gastgeber der Sportler, Zuschauer und Medien Vertreter aus aller Welt und Ausrichter der sportlichen Wettkämpfe sein, wie schon 1908 und 1948. Dieses Ereignis in London erinnert besonders an die Vergabepraxis zur Durchführung Olympischer Spiele durch das Internationale Olympische Komitee (IOC), weil Leipzig davon unmittelbar betroffen war. Anknüpfend an die Olympischen Spiele der Antike verband der Franzose Pierre de Coubertin - Humanist, Pädagoge, Historiker und Begründer der neuzeitlichen Olympischen Spiele - seine Idee, Sport, Kultur und Erziehung in einer harmonischen Lebensweise zu vereinigen, mit der Forderung, die sportlichen Wettkämpfe im Geiste des Fairplay durchzuführen. Er betrachtete den modernen Olympismus als Element des Friedens, der Völkerverständigung und der Solidarität. Olympische Spiele wurden so zu bedeutenden Kulturereignissen in der Welt, hatten durch die immer leistungsfähigeren Massenmedien eine gewaltige Ausstrahlungskraft und sind nun als gewinnbringender Wirtschaftsfaktor für Konzerne und die Finanzelite nicht mehr wegzudenken. Deshalb entbrennt ein regelrechter Kampf von Städten und Staaten um die Durchführung Olympischer Spiele.

Der Nominierung einer Stadt für die Austragung Olympischer Spiele geht in der Regel eine Bewerbungsprozedur mehrerer Städte eines bestimmten Landes mit einem nationalen Auswahlverfahren voraus. Leipzig hatte sich - gemeinsam mit Rostock für die Austragung der Segelwettbewerbe - gegen Hamburg, Düsseldorf, Stuttgart und andere Städte in Deutschland in einem solchen Verfahren 2003/2004 zur Bewerbung für die Olympischen Sommerspiele 2012 durchgesetzt. Von der Leipziger Bewerbungs-GmbH wurden die Unterlagen beim IOC termingerecht eingereicht, so wie auch Havanna, Istanbul, Paris, New York, Madrid, London, Rio de Janeiro und Moskau ihre Bewerbungen abgaben. Jede Stadt hatte sich noch einer Jury des IOC mit einer Präsentation vorzustellen, um zunächst fünf Bewerber für die endgültige Entscheidung auszuwählen, die letztlich das IOC trifft. Leipzig fand hohe Anerkennung mit einer sehr emotionalen Darbietung unter den Slogans "one family" und "Spiele 2012 mit uns". Um die Chance, den Zuspruch zur Austragung der Sommerspiele 2012 zu erhalten, hätte Leipzig unter den letzten fünf Bewerbern sein müssen. Dazu kam es nicht. Die Ablehnung bewegte mich aus mehreren Gründen emotional und veranlasste mich zum genaueren Nachdenken darüber, warum auch meine Hoffnung zerplatzte, in Leipzig Olympische Spiele zu erleben. Die Antwort auf die selbst gestellte Frage brachte ich zu Papier und gab ihr die Überschrift:


In die Falle gegangen

Am Beginn des Olympiajahres 2012 erinnerte ich mich meiner noch im Computer gespeicherten Überlegungen, die die Grundlage folgender Beschreibung von wesentlichen Ursachen für die erfolglose Bewerbung Leipzigs sind.

Wie Millionen von Bürgern Deutschlands saß ich am 18.5.2004 gespannt vor dem Fernsehapparat und verfolgte die Übertragung der Nominierung der fünf Städte als Kandidaten für die Austragung der Olympischen Sommerspiele 2012. Als Leipzig den nationalen Ausscheid gegen bedeutende Städte gewonnen hatte, war ich zwar skeptisch, aber doch zuversichtlich, dass Leipzig mit starker Unterstützung der zentralen und territorialen staatlichen Institutionen, des Nationalen Olympischen Komitees Deutschlands, des Deutschen Sportbundes und vor allem begleitet von der positiven Stimmung der Bevölkerung Leipzigs eine berechtigte Chance hätte, im Wettbewerb mit den Millionenstädten New York, London, Havanna, Paris und Moskau bestehen zu können. Unterstützt wurde meine Zuversicht durch die Tatsache, dass der amtierende Präsident des IOC, Jacques Rogge, mehrfach die Absicht äußerte, den Gigantismus der Olympischen Spiele zurückzudrängen, und kleineren Städten durchaus zutraute, solche Spiele im olympischen Geist, nach den Regeln des Sports, den Vorgaben des IOC und entsprechend den Sicherheitsstandards auszurichten. Den Verantwortlichen für die Bewerbung Leipzigs wurde sogar empfohlen, sich als echte Alternative zu den Möglichkeiten der anderen Millionenstädte zu bewerben. Die Begeisterung der Mehrheit der Bevölkerung von Leipzig, Rostock und Umgebung, aber auch von Millionen Bürgern aus allen Teilen Deutschlands führte letztlich zu meiner optimistischen Hoffnung, das IOC werde Leipzig für den "Endkampf" zur Nominierung als Olympiastadt 2012 zulassen. Als Bürger Leipzigs, der in dieser Stadt in den Fünfzigerjahren studiert hatte, der seit 1962 dort wohnt und für den Sport und die Sportwissenschaft viele Jahre auch in Leipzig beruflich tätig war, lag es weiterhin nahe, die Bewerbung von Leipzig emotional zu unterstützen.

Als jedoch der IOC-Präsident an jenem 8.5.2004 um 13.30 Uhr aus Lausanne die fünf Namen der Kandidatenstädte für 2012 relativ unbeteiligt ins Mikrofon sprach, die von ursprünglich neun Bewerbern noch im Rennen waren, und Leipzig nicht genannt wurde, waren auch bei mir Unverständnis und Enttäuschung groß. Journalisten berichteten vom Ort der Entscheidung und versuchten, Gründe für die Nichtnominierung von Leipzig zu nennen. Sie erwähnten vor allem, dass noch fehlende Infrastruktur und nicht ausreichende Hotelkapazitäten zum Ausscheiden von Leipzig geführt hätten. Meine Zuversicht, dass Leipzig eine Chance habe, eine Runde weiter vorzudringen, beruhte eben nur auf dem Gefühl. Meine Kenntnisse über einen solchen sportpolitischen Sachverhalt hätten mir dagegen signalisieren müssen: "Es musste zwangsläufig so kommen". Ich war in eine propagandistische Falle geraten, die zeitweilig mein Wissen vom Charakter und den Zielen des IOC außer Kraft gesetzt hatte. Was hatte ich nicht berücksichtigt oder es in den letzten zwei Jahren im Bewerbungszeitraum gedanklich verdrängt?

Zwischen Sport und Politik besteht ein enger Zusammenhang, der im Leistungssport und im internationalen sportlichen Wettkampfgeschehen besonders deutlich zutage tritt. Das Primat hat dabei die Politik; der Sport ist im Wesentlichen davon abhängig, auch wenn gelegentlich das Gegenteil behauptet wird. Diese Tatsache ist mir aus dem Blick geraten. Verlautbarungen des IOC entsprachen nicht der Wahrheit, die Entscheidung werde von einem unbeeinflussbaren computergestützten Bewertungssystem getroffen, das Punkte für die schriftliche Bewerbung und die Präsentation in eine objektive Beurteilung der Voraussetzungen für die Durchführung Olympischer Spiele verwandelt. Mitglieder des IOC und seiner Exekutive treffen die Entscheidung, nicht eine Bewertungsskala oder der Computer, der von Menschen gefüttert wird. Die Entscheidung über die Nominierung der Städte für Olympische Spiele ist ein politischer und sportpolitischer Vorgang und kein technischer, das wurde wieder deutlich sichtbar.

Meine Kenntnisse über die Art und Weise der "Wahl" der Mitglieder des IOC - also über die personelle Zusammensetzung und über persönliche Interessen bei Entscheidungen - hätten mich davor bewahren müssen, Illusionen über den Ausgang am 18.05.2004 zu haben. Seit Mitte der Sechzigerjahre sind die olympische Bewegung und Olympische Spiele schrittweise im Interesse des kapitalistischen Wirtschaftssystems vermarktet worden. Die olympische Idee wurde entwertet und der Sucht nach maximalem Gewinn geopfert, sie wurde an Konzerne, Banken und Medien praktisch verkauft. Olympische Spiele wurden zur Bühne ökonomischer Bereicherung, vom IOC toleriert und z. T. auch gefördert. Das IOC ist ebenfalls mit Millionen am Geschäft Olympia beteiligt. Das Wesen kapitalistischer Praxis auf dem Gebiet der Wirtschaft und der Finanzgeschäfte spiegelt sich damit auch in der olympischen Bewegung seit Jahrzehnten deutlich wider.

Diese Entwicklung vollzog sich gleichzeitig mit der völligen Öffnung der Olympischen Spiele für den Profi-Sport. Der ehemalige Präsident des IOC, der Spanier Antonio Sameranch, war seit 1980 bis zu seiner Abwahl 2001 das Zugpferd in eine solche Richtung und schuf sich dazu im IOC die entsprechende Lobby. Eine uneingeschränkte Kommerzialisierung und Professionalisierung des internationalen sportlichen Wettkampfgeschehens war die Folge. Sein Nachfolger, Jacques Rogge, führte diese Politik weiter. Widerstände gegen eine solche verhängnisvolle Entwicklung wurden von Funktionären des DDR-Sports in internationalen Gremien des Weltsports immer wieder vorgetragen, hatten aber keinen Erfolg. Gigantismus und maximaler Profit als Ziel Olympischer Spiele haben sich verfestigt. Eine Stadt wie Leipzig mit "nur" ca. 500.000 Einwohnern eignet sich nach Auffassung der IOC-Mitglieder nicht dazu und musste vor dem Endausscheid ausgegrenzt werden. Millionenstädte bieten dafür bessere Voraussetzungen.

Nachdem der Belgier Jacques Rogge 2001 an die Spitze des IOC kam, hatte er in seinen Reden von einer Minimierung Olympischer Spiele und deren Kosten mehrfach gesprochen. Im Glauben an Vernunft, Ehrlichkeit sowie an seine Durchsetzungskraft konnte man auch von Olympischen Spielen in Leipzig ausgehen. Doch vergaß ich wiederum, dass ein Präsident sicher größeren Einfluss zur Umsetzung sportpolitischer Ziele hat, aber nur so viel erreichen kann, wie das gesamte IOC zulässt und wie er selbst dazu gewillt ist. Wenn politische, sportpolitische, besonders aber ökonomische und finanzielle Interessen berührt oder beschnitten werden sollen, dann hat auch der IOC-Präsident keinen Entscheidungsspielraum mehr - oder er will ihn bewusst nicht nutzen. Mit Leipzig, seiner begeisterten Bevölkerung für das Projekt Olympia und dem NOK der BRD wurde unehrlich umgegangen. Man hat verschwiegen, dass eine Stadt mit weniger als 1,5 Millionen Einwohnern überhaupt keine echte Chance hat, in die engere Wahl zu kommen, wie nachträglich verlautete. Die Verantwortlichen in Leipzig und alle Beteiligten in Staat und Gesellschaft wurden hinters Licht geführt. Für die deutschen Mitglieder des IOC, Thomas Bach, Walther Tröger und Claudia Bokel, war es außerdem ein unwürdiges Schauspiel, zwei Städte - auch noch aus den neuen Bundesländern - ins Leere laufen zu lassen. Es kann vermutet werden, dass auch die deutschen IOC-Mitglieder den Ausgang der Entscheidung gegen Leipzig bereits vor dem 8.5.2004 kannten, aber ihr Wissen zurückhielten. Das wird u. a. durch die Antwort des zum Zeitpunkt amtierenden NOK-Präsidenten der BRD, Klaus Steinbach, belegt, der auf die Frage, warum sich die Hoffnungen für Leipzig nicht erfüllten, antwortete: "Leipzig ist vor allem bei der Beherbergung und der Infrastruktur schlecht bewertet worden, was schon teilweise im Vorfeld prophezeit wurde." (Leipziger Volkszeitung vom 19.5.2004) Bei der Bevölkerung wurden Hoffnungen und auch Initiativen geweckt, wobei man damit rechnete, dass sie nicht erfüllt werden. Die Bürger Leipzigs, besonders jene, die hinter der Bewerbung standen, waren bitter enttäuscht und erhielten auch auf diese Weise eine weitere Lektion über praktizierte "Demokratie" in der kapitalistischen Wirklichkeit.

Um von den tatsächlichen Gründen der Ablehnung abzulenken, wurde von den Entscheidungsträgern in den Medien weiter verbreitet, dass eine Stadt mit nur etwa einer halben Million Einwohner eine reibungslose Organisation Olympischer Sommerspiele nicht gewährleisten könne, obwohl bekannt war, dass in Leipzig in den Siebziger- und Achtzigerjahren zu DDR-Zeiten nationale Sportfeste gleichzeitig mit der zentralen Kinder- und Jugendspartakiade auf hohem organisatorischen Niveau stattfanden. Führende Vertreter des Weltsports, des IOC und nationaler Sportorganisationen waren Gäste dieser Sportfeste und sprachen sich immer wieder lobend über die Organisation dieser Sportereignisse aus. Die aktiv Mitwirkenden an den Sportfesten und die Wettkämpfer der Kinder- und Jugendspartakiaden in Leipzig ergaben addiert eine weitaus größere Anzahl von Sportlerinnen und Sportlern als bei Olympischen Sommerspielen. An den Sommerspielen in Athen 2004 nahmen lt. offizieller Statistik mit 11.988 die bisher meisten Olympia-Wettkämpfer teil. In Leipzig waren in der Regel ca. 50.000 Sportler an den Sportfesten und ca. 11.000 Mädchen und Jungen an den Spartakiaden aktiv beteiligt.

Für Sportler, Gäste und Medienvertreter bei Olympischen Spielen ist natürlich eine umfassendere Organisation im Vergleich zu dem genannten Beispiel aus DDR-Zeiten erforderlich. Die Infrastruktur Leipzigs hätte vervollkommnet werden müssen und neue Sportstätten wären zu bauen gewesen. Doch ständen dafür heute die weitaus größeren personellen, finanziellen, technischen und logistischen Möglichkeiten des vereinten, größeren Deutschland zur Verfügung. Wären die Spiele für 2012 nach Leipzig vergeben worden, hätten notwendige Investitionen von mehreren Milliarden ein gewaltiges Wirtschaftswachstum für die gesamte Region und auch erhebliche soziale Verbesserungen gebracht. Dem Leistungssport in Deutschland hätten sie gewiss einen nachhaltigen Aufschwung gegeben.

Ein Jahr später, 2005, bekam London dann den Zuschlag vom IOC. Paris hatte sich große Hoffnungen gemacht. Politiker, Sportfunktionäre und die Pariser Bevölkerung waren ebenso enttäuscht, wie ein Jahr zuvor Leipziger Bürger Tränen vergossen, als Tausende die Bekanntgabe der Ablehnung ihrer Stadt während einer Live-Übertragung aus Lausanne vor der Nikolaikirche miterlebten. Man spricht von London, vom bedeutendsten Zentrum einflussreicher Großbanken Europas, die in beachtlichem Maße die Finanzpolitik und Finanzmanipulation in der Welt mitbestimmen. Es liegt nahe, dass sie in ihrem ökonomischen und finanziellen Interesse an der Entscheidung des IOC für London mitgewirkt haben.

Wenn man sich nur vom Gefühl leiten lässt und sich nicht auf Grunderkenntnisse und gesellschaftliche Zusammenhänge bei der Beurteilung von politischen oder sportpolitischen Vorgängen, Sachverhalten und Entscheidungen besinnt, dann kann man schnell Täuschungen unterliegen und zunächst falsche Bewertungen vornehmen. Die gescheiterte Olympia-Bewerbung Leipzigs wird in die Geschichte ähnlicher, nicht erfolgreicher deutscher Bewerbungen zur Austragung Olympischer Spiele eingehen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Pierre de Coubertin
- Turn- und Sportfest 1983 im Zentralstadion Leipzig

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Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Peter Michel

Der eigene Schlüssel

Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Malerei als Lebensschrift Gemälde und Graphik von Archi Galentz" in der GBM-Galerie am 30. März 2012. An der Eröffnung nahm die Diaspora-Ministerin der Republik Armenien, Frau Hranusch Hakopyan, teil, die aus diesem Anlass den armenischen Arshil-Gorky-Orden an den Künstler verlieh. Begrüßt werden konnten auch der Außerordentliche und Bevollmächtigte Botschafter der Republik Armenien in der Bundesrepublik Deutschland, seine Exzellenz Armen Martirosyan, der offizielle Vertreter der Armenier Bergkarabachs, Herr Harutiun Grigoryan, und der Kulturattaché der Botschaft der Russischen Föderation in der BRD, Botschaftsrat Alexander Lopushinskiy.

Wir können heute eine zweifache Premiere feiern: Zum ersten Mal präsentieren wir Werke eines Malers und Graphikers, dessen Wurzeln in einer ehemaligen Sowjetrepublik liegen, die heute ihre staatliche Eigenständigkeit bewahrt; und Archi Galentz ist mit seinen 41 Jahren der jüngste Künstler, der bisher hier ausstellte. Mit ihm haben wir einen neuen Freund gewonnen und ihn mit offenen Armen aufgenommen.

Die Emanzipation von einer standardisierten, dogmatischen Kanonisierung der Künste und von ihrer Unterordnung unter eine enge Regulierungskonzeption vollzog sich in Armenien - ähnlich wie in der DDR - spätestens in den Siebzigerjahren. Es ging in diesem Prozess nicht darum, nebulösen Freiheitsvorstellungen nachzujagen, sondern vielmehr darum, künstlerisches Verantwortungsbewusstsein mit der tatsächlichen, widersprüchlichen Realität zu vereinen, große menschliche Ideale nicht über Bord zu werfen, sondern sie gerade damit zu bewahren und zugleich auf Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen. In der DDR nutzten viele Künstler dafür die Sprache der Mythen; in Armenien war es die Besinnung auf die Kraft der nationalen Traditionen; in beiden Ländern gepaart mit dem Eigensinn des künstlerischen Subjekts.

Es ist deshalb kein Wunder, wenn es gerade im Osten Deutschlands viele Künstler und Kunstinteressierte gab, die die reiche Kunst Armeniens verehrten und geradezu liebten. Namen wie Minas Awetisjan, Martiros Sarjan, Akop Kodshojan, Akop Akopjan, Sarkis Muradjan und andere waren nicht unbekannt. Einige von ihnen stellten in der DDR aus, andere spielten in der kunstpublizistischen Literatur eine Rolle. Alfred Nützmann gab z. B. in der Reihe "Welt der Kunst" des Henschelverlages Berlin 1975 ein von Genrich Igitjan geschriebenes Buch über Minas Awetisjan heraus. Diese Verehrung armenischer Kunst hält bis heute an. Erst kürzlich unterhielt ich mich mit dem Herbert-Sandberg-Schüler Ulrich Müller-Reimkasten, der als Professor an der Hochschule Burg Giebichenstein in Halle lehrt. Er sprach voller Vorfreude von einer geplanten Reise nach Armenien. Kein Wunder: Er ist auch Teppichgestalter und die Überlieferungen armenischen Kunsthandwerks interessieren ihn besonders.

Im bisherigen Schaffen von Archi Galentz vereinigen sich die Erfahrungen mehrerer Generationen. Sein Großvater mütterlicherseits, Nikolaj Nikossian, ist Bildhauer und unterrichtete an der Stroganow-Kunsthochschule in Moskau. Seine Großeltern väterlicherseits sind geachtete Künstler Armeniens, die es schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstanden, Nationales weiterzuführen und gleichzeitig offen zu sein für Neues in der Kunst Europas und der Welt. Eine große Verehrung Picassos, der Moderne überhaupt, verband sich mit dem, was in Armenien gewachsen war. Archi Galentz ist in Moskau geboren; auch sein Vater ist dort ein bekannter Maler. Wer aus einem solchen Umfeld kommt, strebt ganz selbstverständlich nach Eigenständigkeit. Archi Galentz hat allen Grund, selbstbewusst zu sein. Jede Künstlergeneration hat das Recht, einen eigenen Weg zu suchen und zu gehen. Seine Studienjahre in Jerewan und Berlin halfen ihm, die spezifischen Mittel zu finden, um die eigene künstlerische Freiheit zu nutzen.

Gesellschaftliche Umbrüche führen ja oft dazu, im Namen neuer Freiheit vieles von dem über Bord zu werfen, was über Jahrhunderte gewachsen ist. Auch bei uns gab es einige, die nun plötzlich dem, was sie für "Weltkunst" hielten, hinterher rannten. Das Ausprobieren von Neuem ist in der Kunst nicht nur legitim, sondern notwendig, doch schnell kann Freiheit in Maßstablosigkeit, im Verachten des künstlerischen Handwerks, in Dilettantismus enden.

Zu diesen Künstlern gehört Archi Galentz nicht. Seine Kunst ist voller Ernsthaftigkeit und Qualitätsstreben. Darin ist er vielen ein Vorbild. Die malerischen Erfahrungen, die er in Russland, Armenien und Deutschland sammeln konnte, führten zu Besonderheiten im figurativen Bildaufbau und vor allem - wie er selbst schrieb - zu typischen Vorstellungen von der "Farbe als raumdefinierendem Medium". Unser europäisches Auge ist beim Betrachten von Kunstwerken geschult an Leonardo da Vincis Entdeckung des "sfumato", einer Malweise, die Räumlichkeit und Bildtiefe mit weicher werdenden Umrissen, gedämpfterer Farbigkeit, mit dem Verblauen und Verblassen nach hinten erzeugt. Ganz anders deutet Archi Galentz den Bildraum. Bei ihm rückt tiefes, dunkles Blau - z. B. in seinem "Stillleben mit Zeitgenossen und Shiva" - in den Vordergrund und helle, warme Töne erscheinen in den dahinter liegenden Teilen. Es entsteht eine Definition des Raumes aus kraftvoller, expressiver und zugleich delikater Farbigkeit, die an armenische Teppiche erinnert. In weiteren Bildern kommt es zu einem Wechselspiel von Lokal-, Erscheinungs- und Symbolfarben; eine Spannung wird erzeugt, wie sie für seine Malerei kennzeichnend ist.

Die Bilder, die mich hier am meisten berühren - "Armenien. Ein Requiem" (Titelbild), "Erschießungskommando" und eine Lithographie zu einem tief tragischen Thema - verweisen auf Perioden armenischer Geschichte, an die immer wieder erinnert werden muss, weil dort die Ursachen der Diaspora vieler tausender Armenier bis in die Gegenwart liegen. Türken verübten 1895-97, 1909, im und nach dem I. Weltkrieg immer wieder schreckliche Massaker an den Armeniern, so dass der größte Teil des Volkes vernichtet wurde. Bis heute weigert sich die offizielle Türkei, diese Verbrechen des Osmanischen Reiches als Völkermord anzuerkennen. Dass uns diese Tatsachen als Menschenrechtsorganisation tief bewegen, ist selbstverständlich. Wir dürfen aber die Arbeiten von Archi Galentz zu diesem Themenkreis nicht als Illustrationen historischer Vorgänge zur Kenntnis nehmen. Gerade in ihrer künstlerischen, symbolhaften Verallgemeinerung ergreifen sie uns tiefer als äußerliche Abschilderungen der Geschehnisse.

Die große Zahl von Porträts in unserer Ausstellung wirkt wie eine Galerie der Freunde, wie ein ständiges Suchen nach menschlicher Nähe. Und in den Landschaften vermeidet Archi Galentz das, was Minas Awetisjan einmal formulierte: "Ein Künstler, der die Natur kopiert, gleicht dem Kirchendiener, der ein Gebet murmelt, ohne je sein Wesen zu begreifen. Dieser wiederholt nur, was andere vor ihm geschaffen haben, und denkt dabei nicht über seinen Sinn nach. Die Natur jedoch ist kein kanonisiertes Buch, kein Dogma. Ihre Schatzkammer öffnet jeder mit seinem eigenen Schlüssel. Wer das Sichtbare blindlings reproduziert, ist ein Künstler, der nur passiv wahrnimmt, die Natur nicht entdeckt, sie nicht versteht, sondern allein von ihr abschreibt."[1]

Nein, lieber Archi, das ist deine Sache nicht. Deine Landschaften sind nicht Abschriften, sondern Deutungen; sie demonstrieren dein subjektives Verhältnis zu ihnen. Der große Realist Courbet sagte einmal: "Kunst ist Wirklichkeit, gefiltert durch ein Temperament". Hier können wir das erleben.

Du wirst es mir nicht übel nehmen, wenn ich in diesem Zusammenhang an die Herkunft von Minas Awetisjan erinnere. Er stammte aus einem jener Dörfer, in denen sich armenische Flüchtlinge angesiedelt hatten, die aus Gegenden kamen, die vom türkischen Sultansreich verschlungen worden waren. Diese Vertriebenen hatten ihre künstlerischen Erfahrungen der Teppichknüpferei, der Gestaltung von Silberwaren und Holzgeräten mitgebracht. Sie rückten in ihrer neuen Heimat zusammen und behüteten ihre Traditionen in ihren Herzen. Das ist denke ich - ein Grundzug der Kunst Armeniens: das Bewahren und Bereichern des künstlerische Erbes über Jahrhunderte des Glanzes und der Katastrophen hinweg.

Und ich bin mir sicher, dass du, lieber Archi, dieses Erbe - nicht nur das armenische, sondern auch das russische und deutsche - bei aller Offenheit aktuellen Entwicklungen gegenüber als deine "Lebensschrift" weiterführen wirst.

Nach der Vernissage schrieb die Ministerin der Republik Armenien für die Diaspora, Frau Hranusch Hakopyan, ins Gästebuch: "Herzlichen Dank der GBM, die es ermöglicht hat, diese Ausstellung an diesem schönen Ort zu präsentieren. Das ist ein wunderbares Beispiel für die deutsch-armenische Freundschaft. Archi Galentz zeigt mit seiner Kunst auch seine Trauer, den Schmerz seiner Seele über den Völkermord an den Armeniern. Damit macht er die Öffentlichkeit der deutschen Gesellschaft auf diese menschliche Tragödie aufmerksam, die die Welt kennen und verstehen muss, damit sie in Frieden leben kann."

Anmerkung:

[1] Genrich Igitjan: Minas Awetisjan, Reihe: Welt der Kunst, Henschelverlag Berlin 1975, Klappentext


Nachbemerkung: Am 24. April 2012 fand in der Französischen Friedrichstadtkirche am Berliner Gendarmenmarkt eine bewegende Gedenkfeier für die Opfer des Genozids an den Armeniern statt, an der auch Vertreter der GBM teilnahmen. Nachdem der Vorsitzende der Armenischen Gemeinde zu Berlin, Vartkes Alyanak, die zahlreichen in Berlin lebenden Armenier und ihre deutschen und internationalen Freunde begrüßt hatte, nahm der Botschafter Armen Martirosyan das Wort und sagte u. a.: "Heute teilen Tausende von Menschen verschiedener Nationalitäten und Religionen in der ganzen Welt unseren Kummer und gedenken gemeinsam mit uns der 1,5 Millionen unschuldigen Opfer des von der Regierung des Osmanischen Reiches organisierten und durchgeführten Genozids im Jahr 1915. In den letzten 97 Jahren wurde dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit von mehr als 40 Ländern offiziell anerkannt und verurteilt. Die politische und öffentliche Anerkennung dieses Verbrechens hat nicht nur symbolischen Charakter, sondern verurteilt die staatlich-systematisch organisierte Gewalt gegen Gruppen und Gemeinschaften. Zugleich müssen wir feststellen, dass die türkische Regierung trotz der Forderungen der internationalen Gemeinschaft, sich mit ihrer Geschichte kritisch auseinanderzusetzen, ihre Propaganda intensiviert und den Genozid über die eigenen Grenzen hinaus leugnet. Die Leugnung des vom Osmanischen Reich durchgeführten Völkermords und die Rechtfertigung dieser Politik passt nicht zu einer Türkei, die sich heute in die Europäische Union integrieren will. ... Die Anerkennung und Verurteilung des Verbrechens des Osmanischen Reichs von der heutigen unschuldigen türkischen Generation ist für die Versöhnung der armenischen und türkischen Völker unumgänglich. Manche zivile Nationen sind diesen schmerzlichen, jedoch würdigen Weg gegangen, um die Last der Verantwortung der Vergangenheit zu mildern. Als offizieller Vertreter der Republik Armenien möchte ich betonen, dass sich die Beziehungen zu unserem Nachbarland Türkei ohne eine Anerkennung der Täterschaft nicht normalisieren werden. Die Republik Armenien, der Rest unserer historischen Heimat, der Ort, in dem die Hoffnungen und Wünsche nach einem Überleben und einer Zukunft nicht nur ihrer Einwohner, sondern auch der weltweiten armenischen Diaspora verdichtet sind, wird ihre Geschichte nie relativieren und weiter kämpfen gegen eine Politik der Leugnung. ... wir wollen unserer Verantwortung treu bleiben: wir wollen den Erzählungen der Überlebenden zuhören und der Opfer gedenken." Prof. Dr. Micha Brumlik von der Goethe-Universität Frankfurt am Main analysierte anschließend mit beeindruckender Quellenkenntnis und Schärfe nicht nur die menschen- und völkerrechtlichen Aspekte der Ursachen und des Verlaufs dieses Völkermords, sondern auch die Mitschuld und Mitverantwortung des Deutschen Kaiserreichs an diesem Verbrechen, die Beziehungen der Türkei und Nazi-Deutschlands - u. a. bei der Übernahme der Erfahrungen der türkischen "wandernden Konzentrationslager" bei der Vernichtung der Armenier durch die KZ-Todesmärsche 1945 am Ende der deutschen faschistischen Diktatur - und die unklare, hinhaltende Politik der deutschen Bundesregierung in dieser Frage. Zu den Höhepunkten der Gedenkfeier gehörten der Vortrag von Klavierstücken des Komponisten Komitas (1869-1935), der die Deportation schwer traumatisiert überlebt hatte, die Rezitation aus den erschütternden Lebensberichten von Aghavni Vartanyan und die von der jungen armenischen Sängerin Narine Yeghiyan vorgetragenen Lieder. Solange dieser Völkermord nicht umfassend international als solcher bezeichnet werden darf, bleibt der GBM eine Aufgabe.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Archi Galentz, Lenin. Eine Totenmaske, 2001. Eitempera, 30 x 20 cm
- Archi Galentz, Stillieben mit Zeitgenossen und Shiva, 2004. Öl/Leinwand, 50 x 70 cm
- Eröffnung der Archi-Galentz-Ausstellung in der GBM-Galerie. V.r.n.l.: Harutiun Grigoryan, Offizieller Vertreter der Armenier in Bergkarabach; Prof. Dr. Wolfgang Richter, Bundesvorsitzender der GBM; Archi Galentz, Maler und Graphiker; Hranusch Hakopyan, Diaspora-Ministerin der Republik Armenien; Armen Martirosyan, Außerordentlicher und Bevollmächtigter Botschafter der Republik Armenien in der BRD; Dr. Peter Michel, Sprecher des Arbeitskreises Kultur der GBM
- Archi Galentz, Schogakat, 2005. Bleistift, 21,5 x 15 cm

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Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Luise Weigel

Versteinerter Reiter

Anmerkungen zu einer Graphikausstellung

Auf der Burg Beeskow, dem Bildungs-, Kultur- und Musikschulzentrum des Landkreises Oder-Spree unter Leitung von Tilman Schladebach, wurde am 28. Januar die Ausstellung "Versteinerter Reiter" eröffnet; sie schloss am 29. April 2012 ihre Pforten und hatte ein bemerkenswertes Echo. Der Titel bezog sich auf Pablo Nerudas Werk "Der große Gesang", dem Arno Rink 1978 seine Graphik widmete. Sie stammt aus einer Mappe unter dem Thema "Revolutions- und Freiheitslieder".

155 Grafikmappen entstanden im Auftrag von Parteien und Massenorganisationen, des Kulturfonds der DDR und des Magistrats von Berlin (Ost). Auch der Staatliche Kunsthandel und der Verband Bildender der DDR brachten jährlich eine Mappe heraus, die Werke aus dem Wettbewerb "Hundert ausgewählte Graphiken" enthielt. Solche Mappen fanden großen Anklang in der kunstinteressierten Bevölkerung, u. a. deshalb, weil die Preise erschwinglich waren. Auch die von Lea Grundig 1965 ins Leben gerufene "INTERGRAFIK" brachte dieser Kunstform viele neue Freunde.

"Bei der Auswahl der Graphiken für die Ausstellung war wichtig, dass alle Generationen von Künstlern einbezogen wurden, die sich in den vier Jahrzehnten der DDR mit graphischen Arbeiten auseinandergesetzt hatten", so die Kuratorin der Ausstellung, Frau Dr. Tippach-Schneider. Zustande kam die Präsentation in Kooperation mit dem Muzeum Lubuskie, Gorzów Wielkopolski. Ziel war es, "Grenzen zu überwinden durch gemeinsame Investitionen in die Zukunft". Die Arbeiten überzeugten durch ein hohes künstlerisches Niveau und die glanzvolle Beherrschung verschiedenster Techniken. Typische Beispiele der Gestaltung mit Verschlüsselungen und Gleichnissen schufen Hubertus Giebe ("Die Puppe") und Lutz Dammbeck ("Das eigensinnige Kind II"). Eine gut durchdachte Hängung wertete die Präsentation auf und ließ sie zu einem Erlebnis werden.

Die Kuratorin, die auch den Begleittext im Katalog verfasste, betonte in ihrer Eröffnungsrede, dass die Frauen "im Grafikbestand des Kunstarchivs deutlich unterpräsentiert sind und nicht die nötige Anerkennung fanden". Festgestellt wurde auch, dass die Kulturpolitik versuchte, "Kunst für das politische System ideologisch" zu nutzen (Welche Kulturpolitik macht das nicht?), wobei wir wieder bei der geschmähten "Auftragskunst" wären. In der Ausstellung gab es Wiederbegegnungen mit Arbeiten von Susanne Kandt-Horn, Petra Flemming, Nuria Quevedo, Ronald Paris, Gabriele Mucchi, Bernhard Heisig, Werner Tübke, Walter Womacka und vielen anderen. Der Eröffnung wohnten auch die polnischen Mitveranstalter bei.

Die Burg Beeskow ist immer einen Besuch wert. Von sechs Fördervereinen wird sie unterstützt. Im abwechslungsreichen Programm finden sich Konzerte, Ausstellungen, Lesungen, Theater und Wettbewerbe, so der Vorlesewettbewerb oder der Regionalwettbewerb "Jugend musiziert". In der Zeitschrift "Ossietzky" (Heft1/2012) war ein Artikel von Ralph Hartmann unter der Überschrift "Die Burg Beeskow und die Stasi" veröffentlicht. Er informierte dort darüber, dass die Europäische Union es ablehnte, die benötigten 10 Millionen Euro Fördergeld für den dringend erforderlichen Neubau eines Depots in Beeskow zu bewilligen. "Begründet wird das mit vielerlei Argumenten, das ulkigste lautet, dass es sich bei dem Kulturgut in Beeskow doch letztlich nur um 'Auftragskunst' handle". Hartmann führt weiter aus: "Nein, die Schmähung der Kunstsammlung in Beeskow als 'Auftragskunst' ist ebenso flachsinnig wie albern. Der wahre Grund für die Knauserigkeit der bundesdeutschen Kassenwarte ist darin zu suchen, dass es sich bei den Werken der bildenden Kunst um den ungeliebten Nachlass eines "Unrechtsstaates handelt."

Bleibt zu wünschen, dass der geplante Bau trotzdem realisiert werden kann, denn das Vorhaben wird nicht aufgegeben, die Kunstwerke aus dem verschwundenem Land DDR in der Burg Beeskow fachgerecht aufzubewahren als ein nicht wegzudenkender Bestandteil der deutschen Nationalkultur.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Wolfgang Mattheuer, Spaziergänger, 1973. Holzschnitt, 37,7 x 38,5 cm
- Susanne Kaudt-Horn, Für Victor Jara - Für Chile, 1973. Lithographie, 37,5 x 44 cm

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Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Kurt Neuenburg

Wie man sich selbst erhöht

Nachbemerkung zu einer wichtigen Dresdener Ausstellung

Am 8. Januar 2012 schloss die Ausstellung "Neue Sachlichkeit in Dresden - Malerei der zwanziger Jahre von Dix bis Querner" im Lipsiusbau auf der Brühlschen Terrasse ihre Pforten. Sie hatte ein zahlreiches Publikum und war für jeden, der sie sehen konnte, ein großes Erlebnis. Der gesellschaftskritische Grundzug jener Kunstrichtung wurde ebenso deutlich wie ihre verschiedenartigen Ausprägungen. George Grosz, Otto Dix, Conrad Felixmüller, Otto Griebel, Bernhard Kretzschmar und andere stellten mit schockierender Deutlichkeit ein illusionsloses Bild der Weimarer Republik dar. Hans Grundig und Wilhelm Lachnit gehörten zu denen, die sich nicht mit Anklagen begnügten, sondern zugleich ihre Hoffnung auf eine bessere Welt bildnerisch formulierten. Curt Querner, Rudolf Bergander und Willy Wolff, die später zu den Wegbereitern der Kunst in der DDR zählten, hatten - wie andere - bei Otto Dix studiert und schufen vor der Machtergreifung der Faschisten noch einmal bedeutende Werke dieser kritisch-realistischen Kunst. Sie und zahlreiche weitere Maler, Graphiker und Bildhauer gerieten deshalb schnell in den Sog der "entarteten Kunst". Die Ausstellung bot dafür einen ausgezeichneten Überblick. Allen, die an Konzeption, Gestaltung und Begleitprogramm mitarbeiteten, gebührt Dank und hohe Anerkennung, auch dafür, dass Lea Grundig, deren Erbe erst kürzlich rechtspopulistischen Anfeindungen ausgesetzt war, nicht "vergessen" wurde und wenigstens mit einem Blatt vertreten war.

An einer Stelle muss jedoch unsere Kritik ansetzen. Sowohl im Katalog als auch im Faltblatt und in den Texten, die in der Ausstellung zu sehen waren, wird behauptet: "Eine konzentrierte Auswahl bekannter und neu entdeckter Werke von 80 Künstlern bietet zum ersten Mal einen Überblick über die Malerei der Neuen Sachlichkeit in Dresden." (Faltblatt, S. 3) Was den Überblick betrifft, mag das für Dresden stimmen, obwohl auch dort vor 1989 Ausstellungen solcher Künstler stattfanden.Wenn man aber den Kreis größer zieht, kommt man darauf, dass bereits 1974 in den Staatlichen Museen zu Berlin eine umfangreiche Exposition unter dem Titel "Realismus und Sachlichkeit - Aspekte deutscher Kunst 1919-1933" stattfand, die einen Überblick über Malerei, Plastik, Fotomontage, Aquarelle, Zeichnungen und Druckgraphik jener Jahre bot. Gezeigt wurden 329 Werke von 121 Künstlern. Leihgaben kamen aus 14 ausländischen Museen, aus 23 Kunstsammlungen der DDR (auch in großer Zahl aus Dresden), von 8 Kunstsammlern und Künstlern aus der BRD (Franz Radziwill lebte damals noch.) und von 14 privaten Leihgebern aus der DDR. Dazu erschien ein zwar äußerlich bescheidener, aber wissenschaftlich wohldurchdachter Katalog, der sich auf 222 Seiten intensiv mit verschiedenen Aspekten der Ausstellung beschäftigte. Autoren waren Willi Geismeier, Roland März, Renate Hartleb, Richard Hiepe, Ursula Horn und Harald Olbrich. Neben einer ausführlichen Dokumentation (Chronik, Manifeste, Texte) enthielt der Katalog auch eine umfangreiche Bibliographie und ein detailliertes Ausstellungsverzeichnis. Man hatte jahrelang an der Vorbereitung dieser Ausstellung gearbeitet. Wenn auch manche Wertungen und Einordnungen heute dem herrschenden Zeitgeist geschuldet sind, so musste man wohl doch bei der Dresdener Ausstellung nicht alles neu erfinden; zumal dort Arbeiten gezeigt wurden - u. a. von Griebel, Dix, Kretzschmar, Spies, Völker, Querner und II. Grundig -, die bereits 1974 in der Berliner Ausstellung zu sehen waren.

Bei der Neugestaltung der Galerie Neue Meister in Dresden nach dem Hochwasser von 2002 fehlte im Ausstellungsrundgang die Neue Sachlichkeit völlig. Diese Kunstrichtung heute quasi als Neuentdeckung zu feiern, ist deshalb nach dem langen "Wegsperren" - gelinde ausgedrückt - unlauter. Sollte es zutreffen, dass diese Werke bewusst für die Ausstellung "Neue Sachlichkeit in Dresden" zurückgehalten wurden, so darf man gespannt sein, ob sie nun nach Abschluss dieser Schau in der ständigen Präsentation wieder auftauchen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Franz Radziwill, Hinterhäuser in Dresden, 1931. Öl auf Holz, 98 x 112 cm
- Otto Dix, Drei Weiber, 1926. Öl und Tempera auf Sperrholz, 181 x 101,5 cm

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Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Eine Anmerkung zur Potsdamer Ausstellung "Friederisiko":

Klaus Georg

Friedericus Rex

Ein Sonett

Was wär dies Jahr für ein Event geworden,
hät' Friedrich nicht nur Schlesien geraubt:
auch Leningrad und Narvik hoch im Norden.
Nicht groß wär er. Er wär der Größte überhaupt.

Doch ließ er Schlösser bauen, sorgenfreie, lichte,
in denen er die dunklen Zeiten überstand.
Schrieb Briefe an Voltaire und schrieb Gedichte
und übte auf der Flöte sich mit eigner Hand.

Er liebte Hunde und er liebte die Soldaten,
doch die, nur wenn sie lebten, um zu fallen:
So soll es heißen, wenn er seinen Namen nennt.

Nach diesem fragt, wenn ihr nach Potsdam rennt
und ihr bestaunen sollt der Schlösser schöne Hallen:
Seht ihn im Blutmorast der Schlachtgefilde waten.

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Bücherkiste

Siegfried Forberger

Daimler-Stern und Hakenkreuz

Helmuth Bauer: "Innere Bilder wird man nicht los - Die Frauen im KZ-Außenlager Daimler-Benz Genshagen", Metropol-Verlag Berlin 2011, ISBN 978-3-940938-88-6, 704 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, 39,90 €

Dieses Buch über faschistische Barbarei im kapitalistischen Hitler-Deutschland verdient in mehrfacher Hinsicht gesellschaftspolitisches Interesse. Der Autor setzte den über 1100 Frauen aus neun europäischen Ländern, die 1944/45 im KZ-Außenlager Daimler-Benz Genshagen gepeinigt wurden, ein literarisches Denkmal. Unter ihnen befand sich die langjährige Vorsitzende des DDR-Komitees für Menschenrechte, Friedel Malter (1902-2001), die mit ihren Erinnerungen zur Entstehung dieses vielfältig und aufschlussreich dokumentierten Geschichtsbuches beitrug. Der Autor widmete ihrer Biografie - vor allem ihrem antifaschistischen Widerstandskampf und der folgenden sechsjährigen Haft in mehreren Zuchthäusern und KZ-Lagern, ihrer Solidarität mit Leidensgenossinnen und ihrer Flucht vom Todesmarsch der Sachsenhausener KZ-Gefangenen - ein ganzes Kapitel.

Ebenso ausführlich beschrieb der Autor das Schicksal der aus Ungarn deportierten jüdischen Malerin und Bildhauerin Edit Bán Kiss. Ihr hatte Friedel Malter im KZ-Außenlager Daimler-Benz Genshagen das Leben gerettet. Unmittelbar nach der Befreiung, noch unter dem Trauma der erlittenen Qualen stehend, schuf sie für die jüdische Synagoge Budapest-Ujpest vier Relieftafeln zur Erinnerung an den Holocaust sowie 30 Gemälde (Gouachen) über den Leidensweg der ausgehungerten Frauen und Mädchen, die täglich 12 Stunden im Daimler-Rüstungswerk unter unmenschlichen Bedingungen zur Arbeit gezwungen wurden. Fotos dieser tief bewegenden Kunstwerke symbolisieren das Anliegen des Buches.

Nach mehreren ergebnislosen Versuchen gelang es dem Autor, Einblicke in die Daimler-Archivbestände 1933-1945 zu erhalten. Sie blieben für Historiker bis weit in die 1980er Jahre verschlossen, ebenso die anderer Konzerne, die mit dem Naziregime kollaboriert hatten. Zahlreiche Archivalien widerspiegeln die unheilvolle Rolle der Daimler-Benz AG als Rüstungsproduzent und Kriegsprofiteur. Bereits 1923 begann ihre Komplizenschaft mit der Nazipartei. Euphorisch lobte der Vorstand im Geschäftsbericht 1933 die "segensreiche Politik unseres Kanzlers Adolf Hitler".

Systematisch und disziplinierend mobilisierte die Konzernleitung die Arbeiter und Angestellten für die chauvinistischen und rassistischen Ziele des Hitlerfaschismus, besonders für die hohe Gewinne verheißende militärische Aufrüstung.

Ab 1936 erfolgten im Komplott mit Hitlers Rüstungsstrategen Planung und Aufbau des "kriegswichtigsten Motorenwerkes" in Genshagen. Hier mussten im Zweiten Weltkrieg Tausende Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene Flugzeugmotoren für Görings Luftwaffe montieren, die Tod und Verderben über die Heimatländer der im Daimler-Werk Genshagen geschundenen Frauen und Männer brachten. Die detaillierten Ausführungen des Autors belegen, dass Daimler-Stern und Hakenkreuz Zwillingssymbole waren. Während führende Nazigrößen 1946 als Hauptkriegsverbrecher am Galgen endeten, blieben in der BRD Hitlers Steigbügelhalter in Konzernen und Banken, die eigentlichen Kriegsgewinnler, weitgehend unbehelligt, so auch schuldbeladene Daimler-Manager.

Als 1990 die Deutschmark durchs Brandenburger Tor einmarschierte, um der DDR-Wirtschaft den Todesstoß zu versetzen, befand sich in ihrem Gefolge auch die Daimler-Benz AG, die in der BRD unter Missachtung des Potsdamer Abkommens zu neuer Größe und Macht gelangt war. Das auf den Ruinen des enteigneten Daimler-Motorenwerkes Genshagen errichtete Lkw-Werk Ludwigsfelde wurde eine Beute dieses Weltkonzerns, der sich sein im Osten per Volksentscheid verlorenes Privateigentum wieder einverleibte. In seiner damaligen Werbeanzeige hieß es: "Aufschwung unter einem guten Stern". Welch eine bittere Ironie der Geschichte.

Dem aus Ulm stammenden Autor und promovierten Literaturwissenschaftler Helmuth Bauer gebührt hohe Wertschätzung für dieses Buch. Er hatte 1986 seine Arbeit bei Daimler-Benz aus Gewissensgründen aufgegeben, weil der Konzern über seine Verstrickung in die Verbrechen des Hitler-Faschismus schwieg. Noch 1969 hatte die Geschäftsleitung gegenüber einer internationalen Vereinigung von Nazi-Opfern geleugnet, jemals KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter beschäftigt zu haben.

Unmittelbarer Anlass für Bauers langjährige Forschung über die Schattengeschichte des Dreizacksterns war die Weigerung der Konzernleitung, die vom Russen Simon Guljakin geforderte Entschädigung für dreijährige Zwangsarbeit im Daimler-Kriegswerk Genshagen zu zahlen. Dabei erfuhr der Autor auch vom damaligen Frauen KZ-Außenlager. Während vieler Reisen ermittelte er in aufwändiger Recherche mehr als 30 Frauen u. a. aus Polen, Ungarn und Frankreich, die überlebt hatten. Er interviewte sie über ihre Leidenszeit in Daimlers Rüstungsschmiede, zeigte in Ausstellungen die 30 KZ-Bilder von Edit Bán Kiss und organisierte zahlreiche, emotional berührende Begegnungen dieser einstigen Daimler-Arbeitssklavinnen, denen der Konzern ebenfalls individuelle Entschädigung verweigerte. Über sein zutiefst menschliches und solidarisches Bemühen berichtete der Autor in zwei umfangreichen Buchkapiteln sowie in sieben Dokumentarfilmen.

Bauers Buch sollte zur Pflichtliteratur in allen Bildungseinrichtungen der BRD werden. Es demaskiert die heutigen Geschichtsfälscher aller Couleur, ebenso Regierende und Medien, die weiterhin die demagogische Nazivokabel "Nationalsozialismus" zur Irreführung des Volkes nutzen.

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Maria Michel

Den Mond in drei Teile teilen

Christiane Barckhausen: "Tina Modotti. Den Mond in drei Teile teilen", Verlag Wiljo Heinen, 2012, Berlin, 152 S. ISBN 978-3-939828-88-4, 12 €, überarbeitete und aktualisierte Ausgabe der 1996 erschienenen biografischen Skizze "Tina Modotti: Leben - Werk - Schriften"

Sie schenkt uns keinen Blick, die schöne, ernste Frau mit dem madonnenhaften Mittelscheitel. "Tina Modotti - Fotografin" - unter diesem Titel lief in der Ladengalerie der "jungen Welt" eine viel beachtete Fotoausstellung, die am 14. März mit einer beeindruckenden Finissage abgeschlossen wurde. In einem Beiblatt dazu zitiert die Autorin Egon Erwin Kisch: "Zwar ist es der Himmel Mexikos, der Tina Modottis Fotografien Licht verlieh, doch kann man es nicht diesem Licht zuschreiben, dass ihrer Kamera vollkommene Gemälde entsprangen. Das Geheimnis ihrer Werke lag darin, dass sie, mit dem Blick der Güte, die Welt sichtbarer machte.... Dieser Blick wollte, dass die Augen eines armen Kindes schöner waren als die künstlich zum Glänzen gebrachten Augen einer Ballkönigin; dass die Landschaften der Arbeit, die Produkte der Arbeit und die Produktionsmittel, die Zuckerrohrplantagen, die mexikanische Sichel, die Tonkrüge, die Hände, die eine Schaufel umklammern, die Gitarren und die Sombreros, der Maiskolben und das Gerüst an einem Haus anmutiger waren als die grünen Hänge der Schweiz. Nur empfinden die Menschen dieser Welt kein Glück. Warum? Diese Frage ist in ihren Fotografien enthalten."

Seit 1982 recherchiert Christiane Barckhausen, Dolmetscherin für Spanisch und Französisch, zur Biografie der Tina Modotti. 1987 erschien in der BRD ihr Band "Auf den Spuren von Tina Modotti", 1989 in der DDR ein weiteres Buch: "Wahrheit und Legende einer umstrittenen Frau".

Der Untertitel "Den Mond in drei Teile teilen" ihres nun erschienenen Bändchens bezieht sich auf ein Gedicht der Modotti, 1923 geschrieben. Der Herausgeber Wiljo Heinen verzichtete auf Fotos, die das Buch sehr teuer gemacht hätten. Die Fotos kann man im Internet bewundern. Über die Fotografin Tina Modotti gibt es zahlreiche Veröffentlichungen; deshalb hat sich Christiane Barckhausen der Antifaschistin, der Kommunistin und Revolutionärin zugewandt und stellt deren selbstlosen, mutigen Einsatz für eine bessere Gesellschaftsordnung dar. In einem Brief schrieb Tina: "... das Äußerste wird von uns verlangt, und wir dürfen nicht zaudern und auf halbem Weg innehalten. Ruhe ist unmöglich - weder unser Gewissen noch die Erinnerung an die toten Opfer würden uns dies erlauben. ..." (S. 54)

Aufgewachsen in einer antifaschistischen Familie mit sozialistischen Ideen lernte sie als 13-jährige Fabrikarbeiterin Ungerechtigkeiten kennen. Sie war wissensdurstig, aufgeschlossen und vielseitig interessiert, besonders für Kunst, Kultur und Philosophie. Als Schauspielerin versuchte sie sich erfolgreich. Das revolutionäre Mexiko, die Wahlheimat vieler politischer Emigranten, zog Tina an. Sie lernte bedeutende Persönlichkeiten kennen, so Egon Erwin Kisch, Diego Rivera, Frida Kahlo, Anna Seghers, auch Pablo Neruda. Als "gefährliche Ausländerin" musste sie ihren Namen ändern und war als "Maria von der Roten Hilfe" ihren Freunden bekannt. Hier entstanden auch ihre weltberühmten Fotos "Frau mit Fahne", "Ein stolzer kleiner Agrarista", "Sombrero mit Hammer und Sichel" und andere. Für die Internationale Rote Hilfe (IRH) arbeitete Tina Modotti von Moskau aus. Sie lernte Wladimir Majakowski kennen, der in seinem Poem "Wage den Streit" klarstellte: "Dem einen die Brezeln, dem anderen die Löcher von den Brezeln". Begeistert begrüßte sie die Macht der Arbeiter und Bauern in Russland. Es trieb die kleine, zierliche Frau mit dem schwachen Herzen als Kontaktperson der Kommunistischen Internationale und Mitglied der Kommunistischen Partei unermüdlich, auch mit ihrer Kamera an gefährlichen Brennpunkten des revolutionären Kampfes wichtige Ereignisse zu dokumentieren. Ihre kleine Wohnung wurde zum Treffpunkt international bekannter Persönlichkeiten. In seinen Erinnerungen schrieb ihr Lebensgefährte Vittorio Vidali: "Sie betrachtete die politische Tätigkeit mit großem Ernst; sie tat den Schritt in die Partei in vollem Bewusstsein der Verantwortung, die damit verbunden war. Wenn sie eine Verpflichtung übernahm, dann wollte sie auch hundertprozentig dahinter stehen, wollte sicher sein, dass sie alles geben, alles opfern würde, was man von ihr verlangte." (S.40) In einem Brief an Edward Weston zweifelte sie: Frauen seien "unbedeutend", ihnen fehle "die Konzentrationskraft und die Fähigkeit, sich ganz von einer Sache absorbieren zu lassen". Sie wollte "das Problem des Lebens lösen" und gestand, das nicht zu können, weil sie sich "im Problem der Kunst verliere". Ihr "zweites Leben" begann, als ihr Kampfgefährte Mella einem politischen Attentat zum Opfer fiel. Ihr wurde Beihilfe an diesem Mord angelastet. Sie aber beschloss, sich ganz dem politischen Kampf zu widmen, um das Vermächtnis des Toten zu erfüllen.

Christiane Barckhausen verfolgt den Weg der Revolutionärin, die rastlos auf Reisen war mit gefährlichen illegalen Aufträgen und verschiedenen Pässen, die ihr politisches Wissen vervollkommnen und in Moskau die russische Sprache erlernen musste, ein Arbeitspensum, das sie fast niederdrückte. Wegen ihrer Solidarität und Menschlichkeit - besonders den politischen Emigranten gegenüber - wurde sie als "Schutzengel" bezeichnet. Als es 1934 in der Welt gärte, war sie an den Brennpunkten und half, eine Einheitsfront der Solidarität zu schaffen, auch für Thälmann und Dimitroff. Das Rote Spanien brauchte Hilfe. Santiago Alvarez, Kriegskommissar des 5. Regiments der Internationalen Brigaden, schreibt nach ihrem Tod: "Maria war die Mutter, die Schwester der verwundeten Soldaten, der verwaisten Kinder, der Mütter oder Ehefrauen, denen unser heldenhafter Krieg für immer die Liebsten genommen hatte. ... Diese Frau ging völlig in ihrer Arbeit auf, ohne jemals viel über sich zu sprechen, ... sie war nicht nur die Gehilfin, ­... ihre Bescheidenheit trug dazu bei, dass man sie leicht übersah oder ihre Rolle unterschätzte. ..." (S. 112) Im "Lob der illegalen Arbeit" formulierte Brecht: "Reden, aber / zu verbergen den Redner, / Siegen, aber / zu verbergen den Sieger, / Sterben, aber / zu verstecken den Tod. / Wer täte nicht viel für den Ruhm, aber / wer tut's für das Schweigen?"

Ihr unbeschreiblicher Mut und ihre Entschlossenheit, ihr Einsatz an gefährlichen Orten sind beispielhaft. "Von ihr kann man sagen", heißt es in einer Broschüre der IRH, "dass sie die Verkörperung des humanistischen Gefühls und des Internationalismus ist". (S. 120)

Das weltweite Interesse an Tina Modotti steht im Mittelpunkt scharfer Kontroversen Man tut sich oft schwer, ihr die gebührende Anerkennung zu zollen. Das gelang Anna Seghers nach Tinas Tod 1942: "Unsere Freunde sagen, Tina sei tot. Habe ich nicht mit eigenen Augen die Erde gesehen, die in ihr Grab geworfen wurde? Habe ich nicht zum letzten Mal im Sarg - in diesem schrecklichen und unvermeidbaren Gefährt - ihr kleines, schweigendes und ruhiges Gesicht gesehen? Aber Tina war stets ruhig. So scheint mir, als sei ihr Schweigen jetzt nur ein wenig beständiger. Gewiss wird sie eines Tages, still und blass, in einem Winkel des Schiffes sitzen, das uns in unsere jeweiligen Heimatländer zurückbringen wird. Ja, wenn die Stummen sprechen, ja, wenn die Blinden sehen, ja, wenn die Letzten die Ersten sind, ja, wenn unsere Toten auferstehen, wird Tinas kleiner, schweigsamer Schatten begeistert von ihrem Volk begrüßt werden." (Beiblatt der Modotti-Ausstellung in der Ladengalerie der "jungen Welt")

Für mich besonders interessant ist der letzte Teil des Buches: "Leben oder Kunst? Die Aktualität von Tina Modotti". Große Bewunderung bringt die Autorin Tina Modotti entgegen, die ganz selbstverständlich ihre Kunst dem Leben opferte, weil sie das als das Wichtigere ansah. Gleichzeitig stellt Christiane Barckhausen die brisante Geschlechterfrage. Warum wurde diese faszinierende Frau als gute Genossin, nicht als Frau anerkannt? Warum war Tina in der DDR, obwohl sie vielen deutschen Emigranten in Mexiko geholfen hatte, unbekannt? Galten wir Frauen nur, wenn wir "ruhig, fleißig, einsatzbereit und diszipliniert" waren? Gab es in der DDR eine wirkliche Gleichberechtigung? "Für mich und viele Frauen", resümiert Christiane Barckhausen, "bedeutet die Beschäftigung mit Tina Modotti eine Hilfestellung, wenn es darum geht, unseren Platz in einer so veränderten Welt wie der heutigen zu finden, im Bewusstsein dessen, dass das Scheitern des auch von Tina erträumten Gesellschaftsmodells in Osteuropa, das Scheitern EINES Modells, noch nicht bedeutet, dass alle Alternativen und jegliche Hoffnung verloren sind." (S. 152)

Ich finde Tina Modotti nicht in Meyers Lexikon, das 1969 in der DDR erschien, und nicht im dreißigbändigen Brockhaus, der 1986 bis 2001 in Mannheim herausgegeben wurde; dort gibt es nur eine kleine Notiz im Personenregister und unter dem Namen des amerikanischen Fotografen Weston, der mit Tina Modotti in Mexiko ein Fotoatelier betrieb.

Sind die Kontroversen über Tina Modotti gerechtfertigt? Es ist gut, wenn ein Buch nicht abgeschlossen ist, sondern neue Fragen aufwirft. Das spricht mir aus dem Herzen. Die Autorin hat ein bemerkenswertes Bändchen geschaffen, anspruchsvoll, durchaus lesenswert und gut gestaltet. Anerkennen muss man die vielfältigen Recherchen, ohne die das Buch nicht möglich gewesen wäre; seit 30 Jahren durchforscht Christiane Barckhausen Archive, befragt Weggefährten und Zeitzeugen.

Ein Personenregister wäre hilfreich gewesen, da viele Personen auch unter einem Decknamen auftreten. Für Bewunderer der Tina Modotti ist es eine gute Lektüre - auch, um diese tapfere Frau noch näher kennen zu lernen, weit über ihre hervorragenden Fotos hinaus.


Quellen;

Bertolt Brecht: "Hundert Gedichte 1980-1950", Aufbau-Verlag Berlin 1962
Wladimir Majakowski: "Wage den Streit", Reclam-Verlag Leipzig 1960


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Tina Modotti, Frau aus Tehuantepec. Mexico 1929

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Olga Strauch

Notlandung

Stephan Tanneberger: "Notlandung", Scheunenverlag Kückenshagen 2010, 364 S., ISBN 978-3-938398-95-1

Rot leuchtet das Wehrmachtsgefängnis im grauen Anklam. Zerfallen, morsch ist es heute, nur Erinnerungen an Kerker, Gewalt und Tod leben hier und der Wind, der durch die fensterlosen Gemäuer pfeift. Hier betreibt Professor Tanneberger Friedensforschung Forschung für das Leben. Der angesehene Krebsforscher, der es immer als seine Aufgabe ansah, Leben zu erhalten, setzt sich hier für den Frieden in der Welt ein. Diesem Thema widmet er auch sein Buch "Notlandung". Es ist die Sorge um die Welt, die ihn umtreibt; es ist 5 vor 12 Uhr; die Weltbevölkerung wächst; die Welt wird immer komplexer. Die Probleme nehmen zu. Daraus ergeben sich Fragen; Fragen zum Menschsein, zu Krieg, Liebe, Menschlichkeit, Gesellschaft, Freiheit und Unfreiheit, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Es geht ums Überleben der Menschheit. Lösungen werden angedacht: eine Weltregierung? Demokratie durch Volksabstimmung? Zwei Ärzte denken und diskutieren im Flugzeug und wir werden in den Diskurs einbezogen, vielleicht zu eigenen Erkenntnissen kommen. Der Wege gibt es viele - und das Ziel steht fest: die Rettung unserer zauberhaft schönen Erde, auf der wir alle so gern leben. Es ist die Situation der Notlandung, mit der der Autor den Weg beschreibt, den er sieht.

Ein Buch voller Lebensbejahung, begleitet von eindringlichen Berichten über Krieg und Krankheit. Da ist Bonanza, eine 27 Jahre junge Ärztin, die ihre Heimat liebt und deshalb im Krieg Verwundete versorgt - sie ist die Einzige. Aussichtslosigkeit, Schmerz und sehr viel Menschlichkeit und Liebe spiegelt die Erzählung, die die ganze, wahnsinnige Unsinnigkeit eines Krieges wiedergibt. Als die feindlichen Truppen näher kommen, muss sie 21 Kranke, die mit den abgeschossenen Beinen und die Schwerstverletzten, bei der Flucht zurücklassen. Eine weiße Fahne wird gehisst, aber das Völkerrecht gilt nicht, Menschlichkeit zählt nicht. Sinnlos ist ein Krieg. Eine tief beeindruckende Antikriegsgeschichte. Auch die anderen Schattenseiten unseres Lebens werden nicht ausgespart und in Erzählungen beleuchtet. Und immer tauchen neue Fragen auf. Wir erleben eine Notlandung mit. Anschaulich wird das Verhalten der Passagiere geschildert, wie sie sich der Situation anpassen, wie sie den Anweisungen folgen. Hier weicht der Egoismus der Einsicht in die Notwendigkeit, und das Ganze nennt sich dann Vernunft. Müssen erst lebensbedrohliche Situationen den Menschen zur Einsicht zwingen? Reagiert der Instinkt erst bei vollem Bewusstsein der Gefahr und reagiert er dann richtig in dieser durchorganisierten Welt, gefesselt von wirtschaftlichen Machtverhältnissen, von Politik und Verträgen? Zwei Mediziner versuchen die Antwort zu finden mit ihrem Handwerkszeug: der genauen Beobachtung von Symptomen und der medizinischen Diagnose. Ein nachdenkliches Buch, das einen nachdenklichen Leser hinterlässt.

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Erich Buchholz

Über ehrliches Christentum

Friedrich-Martin Balzer (Hrsg). "Protestantismus und Antifaschismus vor 1933. Der Fall des Pfarrers Erwin Eckert", Pahl Rugenstein; Bonn 2011, 526 Seiten mit 21 Abbildungen, Hardcover, ISBN 978-3-89144-443-6, 24,90 € (Bezug über Pahl-Rugenstein Verlag und www.friedrich-martin-balzer.de)

Die Gegenwart erschließt sich uns nicht, wenn wir die Vergangenheit nicht hinreichend kennen. Diese Lehre gilt ganz besonders für uns Deutsche heute. Deshalb sind ernst zu nehmende Bücher über die jüngere deutsche Geschichte - und zwar nicht nur über die Hitlerzeit selbst, sondern auch die vor 1933 und die nach 1945 - dringlich. Das Buch lebt von seinen zeitgenössischen Dokumenten, von den fast 70 Reden und anderen Äußerungen des Pfarrers Erwin Eckert in den Jahren 1930 und 1931, so dass der Leser sich selbst ein Bild von seiner Gedankenwelt machen kann. Es lebt auch von den offiziellen kirchlichen Verlautbarungen, insbesondere von kirchenrechtlichen Verurteilungen Eckerts in den Jahren 1929 bis 1931 durch kirchliche Dienstgerichte, von Äußerungen Sachkundiger - wie Wolfgang Abendroth, Heinz Kappes, Karl Barth u. a. - sowie von Erklärungen des "Bundes religiöser Sozialisten".

Der protestantische Pfarrer Erwin Eckert trat - nachdem er 1926 den "Bund religiöser Sozialisten Deutschlands" mitbegründet hatte - 1931 der Kommunistischen Partei Deutschlands bei. Wer sich darüber wundert, weiß wenig über das Christentum. Jesus Nazarenus war kein Freund der Reichen und derer, die um das "Goldene Kalb" tanzten und den Mammon anbeteten. Er stand mit seiner ganzen Person bei den Armen, Geknechteten, Ausgebeuteten, Geschundenen und Geschändeten, bei den Kranken.

Alles, was er sagte und tat, war Ausdruck einer tiefen Menschlichkeit. Die urchristlichen Gemeinden, so in Antiochia, lebten diese Menschlichkeit in ihren Gemeinschaften, in ihren Kommunen, auf ihre urchristliche kommunistische Weise. Der "Held des Buches", der protestantische Pfarrer Erwin Eckert, war - im Gegensatz zu manchem kirchlichen Beamten - von Jesus Worten tiefster Menschlichkeit angetan und handelte danach!

Die (offizielle) Kirchengeschichte schweigt sich gewöhnlich hinter der schlichten Mitteilung solcher Vorgänge wie der Christenverfolgung - darüber aus,was unter welchen Umständen aus diesem urchristlichen, urkommunistischen Denken und Tun wurde, aber auch darüber, warum und wie aus diesem mitmenschlichen urkommunistischen Denken und Tun aufgrund eines Edikts des Kaisers Konstantin eine (zunächst nur römische) Staatskirche, ein Herrschaftsinstrument wurde, das die Menschlichkeit des Jesus verriet. In einem Kriminalroman, der dieser Tage erschien, verfasst von Hans Dölzer, einem Nachbarn Eckerts in seinen letzten Jahren, heißt es apodiktisch: "Das Christentum hat nur im Kommunismus eine Zukunft".[1]

Pfarrer Eckert, der seiner Maxime der Menschlichkeit bis zu seinem Lebensende treu blieb, geriet demzufolge in Widerspruch zu "seiner" (?) Kirche, die ursprünglich mit Martin Luther dem Katholizismus mutig die Stirn geboten hatte. Er lebte in seiner Gegenwart mit ihren unmenschlichen gesellschaftlichen Verhältnissen - und dem drohenden Hitlerfaschismus -, wie er es vermochte. Der kluge und redegewandte Pfarrer Eckert war den Nazis in besonderem Maße ein Dorn im Auge, weshalb sie ihn nach ihrer "Machtergreifung" (der Macht-Übertragung seitens des Kapitals und der Reichswehr[2]) unter dem gängigen Tatvorwurf der "Vorbereitung zum Hochverrat" hinter Schloss und Riegel brachten. In einer Zeit, als der Hitlerfaschismus bereits ante portas stand, gab es für die evangelische Kirche kaum etwas Wichtigeres, als einen von der Kirchen-Linie abweichenden "verbeamteten" Pfarrer zu disziplinieren, aus dem Kirchendienst zu entlassen.Auch ohne tiefer in die "Begründungen" dieser Maßregeln einsteigen zu können, liegt, besonders für einen Juristen, auf der Hand, dass man sich auf formale kirchenrechtliche Regelungen, auf formelle Verstöße des Abtrünnigen zurückzog. Schon diese Tatsache lässt den Sachkundigen erkennen, dass es sich um politische Maßregelungen mit dem üblichen "juristischen" Schema bei politischen Prozessen handelt!

Gustav Radbruch, der große Verfassungsrechtler der Weimarer Republik, schrieb im Zusammenhang mit den kirchlichen Verfolgungen antifaschistischer Pfarrer bereits 1931, dass Redeverbote und Dienstentlassung wegen des Eintritts in eine legale Partei - bei aller Selbstbestimmung der Kirche im einzelnen - im Widerspruch zu Art. 1 der Reichsverfassung stünden, der lautet: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. ... Zur staatlichen Willensbildung gehört deshalb nicht nur die Stimmabgabe [...], sondern auch das, was der politischen Überlegung des Einzelnen im Ganzen des Volkes entspricht, der Überzeugungs- und Machtkampf zwischen den politischen Gruppen, der Wahlkampf, das politische Leben überhaupt. Die Mitglieder irgendeiner Körperschaft im Volke von der Teilnahme am Wahlkampf und dem politischen Leben ausschalten, heißt deshalb die Basis, auf der nach der Reichsverfassung die Staatsgewalt ruhen soll, willkürlich schmälern." Man darf gespannt sein, wie ein noch zu erstellendes kirchen-rechtliches Gutachten zum "Fall Eckert" diese Interpretation der damals geltenden Reichsverfassung berücksichtigt. Übrigens gab es dergleichen auch nach 1990 im Beitrittsgebiet, indem Pfarrer aus politischen Gründen gemaßregelt und entfernt wurden. Die evangelische Kirche - von der katholischen jener Zeit will ich hier nicht sprechen - gerierte sich als "Staatskirche", auch wegen der dadurch vom Staat erlangbaren Apanage, also wegen des Geldes?! Augenscheinlich war für die Kirche das politische Wirken linker Kräfte unter den Christen in der SPD wie auch der KPD gefährlicher als das, was Deutschland bevorstand, was Hitler in "Mein Kampf" ganz offen zur Kenntnis gebracht hatte!

Dieses Bild entspricht meiner persönlichen Erinnerung: Weder Pfarrer noch Religionslehrer geschweige denn die Kirchen hatten auch nur in Ansätzen oder Andeutungen eine kritische Distanz zum Hitlerfaschismus gezeigt! Sie haben ihn zumindest toleriert, also mittelbar unterstützt! Nicht einmal als der Völkermord an den Juden, der Holocaust, unübersehbar wurde, stellten sich die Kirchen als solche zu derart beispiellosen Verbrechen kritisch oder bedenklich. Im Gegenteil: Ich habe noch die Worte im Ohr: "Ihr Juden habt unseren Jesus ans Kreuz geschlagen!" Spätere Bekundungen von kirchlichen Gremien, so auch die zur Rehabilitierung Erwin Eckerts vom 22.4.1999, müssen beschämend wirken.

Dass der aufrechte antifaschistische protestantische Erwin Eckert auch nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus für die Worte Jesu eintrat, aktiv in der KPD und vielen politischen Ämtern wirkte, dass er sich besonders in der Friedensbewegung, so auch im Kampf gegen Atomwaffen, engagierte, beweist, dass er seiner Überzeugung treu blieb. Ausgerechnet im Zuge der von Adenauer inszenierten Kommunisten-Verfolgung wurde ihm wie von den Nazis - der Prozess gemacht, so im Düsseldorfer Prozess 1959 bis 1960.[3] Wir mussten damals eine erschreckende Kontinuität der beiden bedeutsamen Zeitabschnitte deutscher Geschichte, vor und nach 1945, miterleben!

Das von Balzer herausgegebene Buch mit seinen zeitgenössischen Dokumenten gehört zu den wertvollen Dokumentationen, die besser verstehen lassen, was nach 1945 in der Bundesrepublik geschah und auch heute immer wieder neu zu erleben ist: eine Wiederbelebung und demzufolge ein Fortleben faschistischen Gedankenguts und dem gemäßer mörderischer Aktivitäten. Es macht - wieder einmal deutlich: Ohne Aufklärung und Debatten über die Vorgänge in den maßgeblichen Zeitabschnitten der jüngeren deutschen Geschichte und über deren Ursachen und Hintergründe ist zu befürchten, dass sich die maßgebliche Politik gegenüber Neonazis und den von ihnen begangenen Verbrechen, auch Kapitalverbrechen, auf administrative und sicherheitspolitische Praktiken beschränkt, weil die gebotenen Lehren aus der deutschen Geschichte nach 1945 nicht gezogen wurden und auch heute nicht gezogen werden. Selbstverständlich ist auch mir gut bekannt, wie viele aufrechte Christen frühzeitig die Verbrechen des Hitlerfaschismus ahnten und erkannten und sich dagegen stemmten, mit schlimmen Konsequenzen bis zur physischen Liquidierung bis ins Jahr 1945.

Bedeutsam ist das Buch auch wegen der Tatsache, dass es nahezu 30 Äußerungen sachkundiger Zeitgenossen zur Drangsalierung und Amtsenthebung des Pfarrers Erwin Eckert vom 3.2.1931, zum Urteil des Verwaltungsgerichts vom 18.3.1931 und später zum Kirchengericht vom 14.6.1931 enthält. Darunter befindet sich auch eine Erklärung des "Bundes religiöser Sozialisten" in Thüringen, eine Erklärung der "Bruderschaft sozialistischer Theologen Deutschlands" und eine Vertrauenskundgebung der Gemeinde des Genossen Pfarrer Eckert. Äußerungen zur Entwicklung nach dem Kirchengericht vom 14. Juni bis zur dienstlichen Entlassung am 11.12.1931 bieten u. a. die liberalen Theologen Martin Rade und Rudolf Bultmann, Wolfgang Abendroth als Zeitungskorrespondent und Paul Piechowski und Heinz Kappes als religiös-sozialistische Bundesgenossen.

Nach 1945 erfolgten die Mühlheimer Erklärung vom Oktober 1996 und die Erklärung der Badischen Kirchenleitung zur Rehabilitation des Pfarrers Erwin Eckert am 22. April 1999. Wichtig sind auch die Aussagen von Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer auf Seite 11. Auch übersehe ich nicht das Geleitwort des Badischen Landesbischofs Ulrich Fischer und des Mannheimer Oberbürgermeisters Peter Kurz zu diesem Buch und die Äußerungen vieler echter Antifaschisten christlichen Glaubens, die vor und nach 1933 und 1945 ihre Stimme gegen den Ungeist des Faschismus erhoben, was aber das Verhalten der Kirchen zum Hitlerfaschismus nicht weniger erträglich erscheinen lässt.


Anmerkungen:

[1] Vgl. dazu Friedrich-Martin Balzer (Hrsg.): Justizunrecht im Kalten Krieg. Die Kriminalisierung der westdeutschen Friedensbewegung im Düsseldorfer Prozess 1959/60, Papyrossa Verlag 2006

[2] Vgl. dazu Kurt Gossweilers Buch "Kapital, Reichswehr und NSDAP. Zur Frühgeschichte des deutschen Faschismus 1919 bis 1924", Papyrossa Verlag 2012

[3] siehe Fußnote 1

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Peter Michel

Ja, das gab es!

Georg Wenzel: "Gab es das überhaupt? - Thomas Mann in der Kultur der DDR", Edition Schwarzdruck Gransee 2011, 178 S., brosch., ISBN 978-3-935194-38-9, 20,00 €

Kürzlich las ich Hans Reichelts autobiografische Erinnerungen, die 2007 in der edition ost unter dem Titel "Die deutschen Kriegsheimkehrer" erschienen. Darin räumt er gründlich mit der ständig wiederholten Legende auf, Konrad Adenauer habe den "Sowjets" die Heimkehr der deutschen Kriegsgefangenen abgetrotzt. Solcherart Geschichtslügen sind ja gegenwärtig Legion. Und es bedarf leider immer wieder der Eindeutigkeit der Dokumente, um an historische Fakten zu erinnern und die Verleumder mit der Nase in die Wahrheit zu stoßen. Wenn sie diese dennoch nicht zur Kenntnis nehmen wollen, so hat das System, weil es seit mehr als zwanzig Jahren darum geht, die DDR zu "delegitimieren". Keiner von uns will die DDR gesund reden, keiner will ihre Fehlentwicklungen gut heißen, aber Wahrheit bleibt Wahrheit. Und im Bereich der Literatur ist das genauso. Dort lautet eine der vielen Legenden, Thomas Mann und seine Werke seien in der DDR unerwünscht, verpönt gewesen.

1952-1956 besuchte ich die Kant-Oberschule in Berlin-Rummelsburg, um dort das Abitur zu machen. Wir hatten einen guten Deutschlehrer, der mit uns Thomas Mann und seinen Roman "Doktor Faustus" behandelte. Er begeisterte uns für diese Art Literatur, und ich beschäftigte mich nicht nur mit diesem Werk, sondern auch mit dem "Zauberberg". Damals war ich 17 Jahre alt und habe sicher nicht alles verstanden. Was mich aber beeindruckte, waren Thomas Manns Denkweise und Sprache. Mit mehr als 70 Jahren las ich diese Romane noch einmal, diesmal mit ganz anderen Lebenserfahrungen, den "Zauberberg" während einer Kur in Davos, - und vielleicht habe ich sie nun erst richtig verinnerlicht.

Als ich 1959 Lehrer geworden war, gab es eine Menge Literatur über Thomas Mann, die es mir erleichterte, mit meinen Schülern über "Mario und der Zauberer" und andere Novellen und Romane zu sprechen. Sie waren Teil des Lehrplans; man musste sie nicht - wie das heute suggeriert wird - wie Konterbande behandeln. In der Reihe "Schriftsteller der Gegenwart" erschien 1957 im Verlag Volk und Wissen in erster Auflage ein Band über Thomas Mann als Hilfsmaterial für den Literaturunterricht an den Ober- und Fachschulen. Bis dahin waren vom Aufbau-Verlag 1952/53 bereits die "Buddenbrooks", "Ausgewählte Erzählungen", "Lotte in Weimar" und der "Doktor Faustus" herausgegeben worden. Thomas Manns Ansprache im Goethejahr 1949 veröffentlichte der Thüringer Volksverlag, kurz nachdem der große Romancier sie in Weimar gehalten hatte. Der Kulturbund gab eine Broschürenreihe heraus,mit deren Hilfe Feierstunden zu Ehren großer Schriftsteller vorbereitet werden konnten, auch für Thomas Mann. 1968 erschien in Berlin und Weimar der Band "Briefe 1948-1953 und Nachlese". Die Volkshochschulen der DDR organisierten sehr gut besuchte Kurse über Thomas Mann.

Immer wieder griffen wir zu seinen Werken, auch wenn sich das Berufsfeld verändert hatte. Noch 1988 gab der Aufbau-Verlag Klaus Manns Briefe heraus, und schließlich konnten wir bis 1995 zehn Bände der Tagebücher Thomas Manns aus dem S. Fischer Verlag und bei Rowohlt den Band "Frau Thomas Mann. Das Leben der Katharina Pringsheim" von Inge und Walter Jens erwerben. Vor und nach der "Wende" lebte die Verehrung Thomas Manns ohne Unterbrechung.

Die Grundlagen dafür wurden in der DDR gelegt, von der wir heute wissen, dass sie in der Zeit des Kalten Krieges und der McCarthy-Ära in den USA weit mehr zu Thomas Manns Haltung stand als die Adenauer-BRD, in der zahlreiche Alt-Nazis sehr zur Enttäuschung Thomas und Klaus Manns wieder das Sagen hatten. Im letzten Band seiner Tagebücher (1953-55) erregte er sich über kritische Schändungen seines Lebens und bedauerte seine furchtbare Empfindlichkeit, sein "Grauen vor Feindseligkeit".[1] Und im Blick auf die "zu erhoffende deutsche Einheit" sagte er, "er glaube, dass eine Synthese auf der Grundlage eines freien Sozialismus zustande kommen werde. Die Bundesrepublik müsse sich die sozialen Ansichten der Sowjetzone unter Vermeidung der für die menschliche Freiheit nachteiligen Seiten zu eigen machen".[2] Wie gilt doch heute seine Mahnung in einem Brief vom 15.7.1953 an Lothar Tews, wenn man sie aus dem damaligen historischen Zusammenhang löst und sich für heute aneignet!: "Bei alldem meine ich, dass es in dieser Zeit gefährlichster Krise nicht Sache des geistigen Menschen ist, den Hass zu predigen und die Leidenschaften aufzupeitschen, sondern in seiner ganzen Haltung nach Ausgleich und Verstehen zu trachten, um sein Gewissen frei zu halten von der Mitverantwortung für unausdenkbare Katastrophen, die ohne solchen Ausgleich und solches Verständnis drohen."[3] Die Lektüre der Tagebücher enthielt viele Offenbarungen und Details, die mir so nicht bekannt waren.

Als ich nun Georg Wenzels Buch "Gab es das überhaupt? - Thomas Mann in der Kultur der DDR" in die Hand nahm, wurden meine Erfahrungen erneut bestätigt und belegt. Dieser Literaturwissenschaftler arbeitete in der DDR in zahlreichen Gremien mit, die sich mit dem Leben und der Haltung Thomas Manns und der Verbreitung seines Werkes in der DDR beschäftigten. Er gehört zu den profundesten Kennern, und dieses Buch bildet gleichsam eine wissenschaftliche Lebensbilanz. Wenzel listet u. a. hunderte von wissenschaftlichen, in der DDR erschienenen Publikationen über Thomas Mann aus den Jahren 1948 bis 1986 auf. Im Jahr 1975 erschienen z. B. Th. Manns Romane und Erzählungen in zehn Bänden mit Nachworten zur Text- und Entstehungsgeschichte; Viktor Mann veröffentlichte sein Buch "Wir waren fünf. Bildnis der Familie Mann"; "Thomas Mann. Episches Werk -Weltanschauung - Leben" hieß ein Band von Inge Diersen; Georg Wenzel selbst stellte unter dem Titel "Thomas Mann 1875-1955 ..." ein Arbeitsmaterial zur Thomas-Mann-Ehrung der DDR 1975 zur Verfügung; Gerhard Steiner fungierte als Herausgeber eines Bandes "Thomas Mann. Über deutsche Literatur. Ausgewählte Essays, Reden und Briefe" und Fritz Hofmann schrieb das Vorwort und die biografische Übersicht zu "Thomas Mann 1975-1955. Auszüge aus Briefen und Aufsätzen. Schriftsteller der DDR über Thomas Mann". Im "kritischen Bericht" über die "Thomas-Mann-Forschung 1969/76" hatte Hermann Kurzke bereits ca. 400 Titel der im Buchhandel erhältlichen Schriften berücksichtigt. (vgl. S. 122/23) Wer sich weniger als Literaturwissenschaftler, sondern mehr als begeisterter Leser oder als Student mit Thomas Mann beschäftigte, fand 1974 im "Romanführer" des Verlages Volk und Wissen gute Einführungen in Entstehungsgeschichte, Inhalte und Formen nicht nur in elf seiner Romane, darunter der Joseph-Romane und der "Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull", sondern z. B. auch in den "Mephisto" und den Roman "Der Vulkan" von Klaus Mann.

Im begleitenden Verlagstext zu Georg Wenzels Buch wird darauf verwiesen, dass die Thomas-Mann-Rezeption in der DDR mit listigen Lektorentaten begann und ihre Höhepunkte in den Besuchen Thomas Manns 1949 und 1955 in Weimar fand. "Um eine historisch-kritische Ausgabe seiner Werke zu ermöglichen", heißt es weiter, "wurden frühzeitig ein Kuratorium und ein Archiv gegründet. Nicht nur der Kalte Krieg erschwerte die Erfüllung so manchen Traums und machte das Arbeiten für Thomas Mann zuweilen schwer, auch bornierte Funktionäre legten Steine in den Weg. Da aber waren Thomas Manns Bücher nicht mehr wegzudenken aus der Kultur des Landes." (Rücktitel) Georg Wenzel, der an allem beteiligt war, der das alles mit Akribie belegt und durch seine bestechende Detailkenntnis zur spannungsvollen Lektüre macht, liefert mit seinem Buch ein Stück Wahrheit über unsere Geschichte.

Und schließlich provozierte er mich, noch einmal in Thomas Manns Tagebüchern zu lesen. Darin bezeichnete der Schriftsteller z. B. westdeutsche Kritiken seiner Bücher als "scheeläugig, tückisch, hämisch und ordinär"[4] In einem Brief an Ida Herz vom 1.12.1949 schrieb er: "Die oft exzessiv gemeine Pressehetze gegen mich in Deutschland, die mit der allgemeinen Regressionsbewegung und Renazifizierung dort zusammenhängt, ist mir ... manchmal auf die Nerven gegangen. Das ist natürlich töricht, aber viel törichter und kurzsichtiger ist eine 'große Politik', die diese Entwicklung begönnert und selbst betreibt."[5] Und er bekannte: "Ich bin nach meiner Erziehung und Überlieferung, nach meiner ganzen geistigen Formung kein Kommunist. Dass ich kein Anti-Kommunist bin, nimmt man mir in meiner Sphäre, der bürgerlichen, bitter übel. Ich bin es aber darum nicht, weil mir der rabiate Anti-Kommunismus eine sehr schlechte Medizin gegen die Mutationsschmerzen der Zeit zu sein scheint, weil er eben nur ein 'Anti' ist und seine Wut zum guten Teil daher rührt, dass er das weiß, und dass er nicht weiß, welchem 'Pro' diese Wut nun eigentlich geweiht ist. Man sagt, der Freiheit. Aber gerade die Freiheit hat unter dem Druck eines geforderten Notstands-Konformismus und der Gedankenkontrolle schon schwer gelitten, sie ist tatsächlich durch den Anti-Kommunismus in vollem Abbau begriffen, und eine bedenklich fließende Linie nur trennt diesen vom Faschismus ... Man unterstützt aber den Faschismus, diese gemeinste Ausgeburt aller politischen Geschichte, nicht in der Außenwelt, ohne auch im Inneren seinem mörderlichen Ungeist zu verfallen."[6] Geschrieben ist das 1951. Parallelen zur Gegenwart sind nicht rein zufällig.

Georg Wenzels Buch ist jedem zu empfehlen, der sich für unverfälschte deutsche Geisteskultur interessiert. Die Edition Schwarzdruck hat eine ganze Reihe hochgradiger Schriften in buchgrafisch hervorragender Ausstattung herausgebracht. Anlässlich der Leipziger Buchmesse 2012 erschienen z. B. postum die Lebenserinnerungen von Hans-Dieter Mäde unter dem Titel "Nachricht aus Troja. Fragmente einer Motivation", in denen Thomas Mann eine wichtige Rolle spielt. Für alles das ist Dank zu sagen, verbunden mit dem Wunsch nach vielen Lesern.


Anmerkungen:

[1] Thomas Mann. Tagebücher 1953-1955, herausgegeben von Inge Jens, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1995, S. 297
[2] ebenda, S. 790
[3] ebenda, S. 830
[4] Thomas Mann. Tagebücher 1951-1952, herausgegeben von Inge Jens, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1993, S. 45
[5] Thomas Mann. Tagebücher 1949-1950, herausgegeben von Inge Jens, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1991, S. 493
[6] Thomas Mann. Tagebücher 1951-1952, a. a. O., S. 462

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Bücherkiste

Michael Frey

Vor sich selbst bestehen

Wolfgang Hütt: "Wo ist Arkadien?", Roman, Projekte-Verlag Cornelius GmbH Halle 2011. 500 Seiten, Pappband mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-86237-271-3, 29,50 €

Schon das erste Buch mit dem Titel "Es gibt kein Arkadien" machte an Einzelschicksalen die komplizierten Entwicklungsbedingungen der bildenden Künste in der DDR lebendig (vgl. ICARUS 4/2009, S. 45). Darin nutzte Wolfgang Hütt das Kompositionsprinzip des Hin- und Herpendelns zwischen Gegenwart und Vergangenheit, um aus der Sicht des Jahres 1986 die Konsequenzen kulturpolitischer Verengungen in den Fünfzigerjahren - vor allem der Formalismusdiskussion - für den Einzelnen darzustellen und gleichzeitig die Probleme der Künstlerexistenz in der Alt-BRD zu verdeutlichen. Das geschah ohne didaktisch erhobenen Zeigefinger, immer eingebunden in die ganz subjektiven Gefühle, Gedanken und Handlungen der Akteure. Es gab in diesem ersten Buch Schlüsselszenen, z. B. die Begegnung eines Malers aus der DDR während eines BRD-Besuches mit einem Obdachlosen am Rheinufer oder das Gespräch eines anderen Künstlers mit einem Parteifunktionär über die Rettung von Wandbildern vor der Vernichtung, die das Anliegen des Autors auf eindringliche, einem Roman gemäße Weise erlebbar machten. Eine ganze Reihe von Charakteren wurde vorgeführt,wie sie die Zeit der Formalismusdiskussion prägte, aber das geschah ohne vordergründige Typisierung. Die Sympathie Wolfgang Hütts galt jenen, die verinnerlicht hatten, dass zur Kunst Können ebenso gehört wie Charakter und die sich damit gegen Widerstände durchsetzten; und er strafte bei aller Differenzierung andere mit Geringschätzung, die zunächst am parteilichsten auftraten, aber schneller im Westen waren als ihre Kollegen, die die gesellschaftlichen, vor allem kulturpolitischen Prozesse kritisch begleiteten.

Nun erschien vor einigen Monaten ein weiteres Werk Wolfgang Hütts mit den fragenden Titel "Wo ist Arkadien?", in dem der 2009 erschienene erste Teil nochmals enthalten ist, aber durch das zweite Buch erweitert wird. Es greift die Personenkonstellationen des ersten auf und führt den Leser abrupt in das Jahr 1992. Die Ereignisse von 1989/90 liegen dazwischen, das gesellschaftliche Umfeld hat sich grundsätzlich gewandelt und in die Schicksale der Romanfiguren meist auf gravierende Weise eingegriffen. Es ist die Zeit, in der unterschiedliche Auffassungen von den Funktionen der Kunst aufeinanderprallen, in der Kunstwerke zur Ware geworden sind und neue, marktwirtschaftlich geprägte, für viele menschenunwürdige Bedingungen das Leben bestimmen, in der zu lernen ist, beim Staat betteln zu gehen und in der rücksichtslos "abgewickelt" wird. Viele Akteure des Romans erleben die undifferenzierte Abwertung ihrer Arbeit als "Hofkunst" und die zunehmende Missachtung des Handwerklichen in der Kunst.

Der Maler Herbert Freiberg, der die DDR 1986 verlassen hatte und mit seiner Geliebten, der westdeutschen Journalistin Rita, nach den Ereignissen der "Wende" in seine Heimatstadt zurückgekehrt ist, "verteidigte seine Vergangenheit, wie die der Hiergebliebenen, nicht um des zusammengebrochenen Herrschaftsgefüges wegen, das er zur Genüge hatte kennen lernen müssen. Aber es beleidigte ihn, wenn so getan wurde, als habe von denen, die sich hier beheimatet fühlten, niemand eine behauptenswerte Lebensgeschichte gehabt ... ." (S. 349). Ein anderer Künstler erinnert an den Gedanken Rolf Hochhuths, "das vereinte Deutschland werde geistig verarmen, wenn es das ignoriere oder um sein Charakteristisches bringe, was in der DDR in Kunst und Kultur an Eigenständigem aufgebaut wurde. Eben das sei eine Mitgift, die beides erhaltenswert mache" (S. 381).

Diese Haltung, dieses Selbstbewusstsein durchzieht das ganze Buch. Es verzichtet auf einen Wechsel der Zeitebenen, wie er das erste Buch bestimmte, und es zeichnet u. a. auf fast skurrile, doch immer der Wirklichkeit verpflichtete Art Anpassertypen, intrigante Mitläufer, die heute wieder mit dem Strom schwimmen. Es stellt die Frage, was man mit der Freiheit gegen die "Übermacht der Geldsäcke" ausrichten kann. Es macht auf äußerst realistische Weise das Prozedere der "Evaluationen" nacherlebbar, das Abstürzen in Arbeitslosigkeit und Vereinsamung, die Vergiftung zwischenmenschlicher Beziehungen durch Verdrängungen und Stasi-Hatz, um Platz zu schaffen für solche, denen es in den alten Bundesländern an Chancen fehlte. Und es führt das gereizte Reagieren auf das Gerede vom "Unrechtsstaat" vor.

Wer Einblick in die Hallesche Kunstszene hatte, sieht hinter den fiktiven Namen der Akteure konkrete Gesichter, der bemerkt, wie in manchen Figuren Charakterzüge, Haltungen und künstlerische Eigenheiten unterschiedlicher Künstler zusammenfließen. Das letzte Kapitel endet im solidarischen Miteinander jener, die ihre menschliche Gesinnung bewahrt haben. "Bleiben wir, was wir waren und was wir sind. Man muss am Ende vor sich selber bestehen können", äußert resümierend eine der Malerinnen (S. 488). Eingeschlossen in diesen Kreis ist auch die rheinländische Journalistin, die sich weigerte, an der medialen Hinrichtung eines Hochschulprofessors teilzunehmen und die deshalb die Karriereleiter hinabstieg. So schließt das Buch scheinbar versöhnlich. Doch Fragen bleiben offen; mancher Konflikt ist nicht oder nur halb gelöst; die umgekrempelten Existenzbedingungen sind geblieben und neue Widersprüche rumoren unter der Oberfläche. Alles weist auf eine Fortsetzung des Romans mit einem dritten Buch hin. Das wäre sehr zu wünschen. Erst vor einem guten Jahr, am 26. April 2011, erschien in der "Sächsischen Zeitung" ein Artikel unter Überschrift "Diese DDR-Unkunst besudelt Chemnitz" ...

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Marginalien

Echo

Aktuelle Kostproben

Kürzlich fand ich ein Neujahrsgebet des Pfarrers von St. Lamberti in Münster aus dem Jahr 1883. Daraus hier einige Kostproben, die m. E. heute noch hochaktuell sind: Herr, setze dem Überfluss Grenzen und lasse die Grenzen überflüssig werden. Lasse die Leute kein falsches Geld machen, aber auch das Geld keine falschen Leute. ... Schenke unseren Freunden mehr Wahrheit und der Wahrheit mehr Freunde. Bessere solche Beamten, Geschäfts- und Arbeitsleute, die wohl tätig, aber nicht wohltätig sind. Gib den Regierenden ein besseres Deutsch und den Deutschen eine bessere Regierung usw.

Friederike Scholz, 48161 Münster


Kandidat der Herzen?

Gauck hatte vor allem die Massenmedien hinter sich, die ihn als angeblichen "Kandidaten der Herzen" hochpuschten, wohl wissend, dass er von der - vor allem ostdeutschen - Mehrheit der Bevölkerung und von tatsächlichen Bürgerrechtlern aus den Ostländern abgelehnt wird wegen seiner egozentrischen, auf Selbstglanz ausgerichteten Eigendarstellung. Dabei verschwiegen nicht nur er selbst, sondern auch seine Hochjubler und die Massenmedien absichtsvoll die dunklen Flecken auf seiner angeblich weißen Weste, um ihn nicht zu desavouieren. Dass ihm vor 1989 vom MfS für "seine Initiativen,für seine langfristige, gute Zusammenarbeit ... und für seinen hohen persönlichen Einsatz" gedankt wurde, scheint vergessen zu sein. Dabei gibt es dazu schon seit einiger Zeit Veröffentlichungen. Das alles ist eben "deutsche Leitkultur"!

Siegfried Wunderlich, 08525 Plauen


Es ist geschafft!

Zahlreiche GBM-Mitglieder und Leser unserer Zeitschrift beteiligten sich am Protest gegen die geplante Umbenennung der Pablo-Neruda-Grundschule in Chemnitz. Eine Initiatorin dieses Protestes schrieb uns:

Dank eurer hundertfachen Unterstützung aus der gesamten BRD und dreizehn weiteren Ländern konnten wir die Mehrzahl der Chemnitzer Stadträte davon überzeugen, dass der Name "Pablo Neruda" erhaltenswert ist und die Grundschule weiterhin diesen Namen tragen soll. 37 Stadträte stimmten gegen die Umbenennung, neun dafür und sechs enthielten sich der Stimme. Für euer vielseitiges Engagement danke ich euch sehr herzlich, auch im Namen aller Unterzeichner des offenen Briefes. Nun haben wir eine zweite Aufgabe vor uns: den Kindern der Schule eine Begegnung mit Pablo Neruda zu ermöglichen, mit seiner Literatur, seiner Lebensgeschichte und seiner Heimat. Etliche Chemnitzer Künstler und in Chemnitz lebende Lateinamerikaner haben sich dafür angeboten. Hoffen wir, dass die Lehrer der Schule diese Angebote annehmen! Da ich die meisten von euch nicht kenne und ich vermute, dass es auch umgekehrt so sein wird, möchte ich mich kurz vorstellen: In Karl-Marx-Stadt geboren, lebe ich auch heute noch in der nicht immer einfachen Stadt mit dem Namen Chemnitz - und dort in unmittelbarer Nähe zu der besagten Pablo-Neruda-Schule. Auch wenn ich einen ganz normalen Beruf studiert habe, bin ich seit über zwanzig Jahren als Sängerin im Konzert- und Kleinkunstbereich unterwegs. Mit meinen Kollegen der Gruppe QUIJOTE (www.quijote.de) arbeite ich schon viele Jahre an deutschsprachigen Versionen der Lieder von Mikis Theodorakis, mit denen wir aktuell zwei Programme aufführen, deren Lieder wir jeweils auch auf CD veröffentlicht haben. Vor einigen Jahren wirkten wir als Gesangssolisten und Sprecher bei mehreren Aufführungen des "CANTO GENERAL" in Chemnitz mit. Das hat uns darauf gebracht, auch die von Mikis Theodorakis vertonten Teile des von Neruda geschriebenen Poems "CANTO GENERAL" in eine singbare deutschsprachige Fassung zu bringen. Daran arbeiten wir seit 2006. Für 2013, wenn sich der Todestag von Pablo Neruda zum vierzigsten Mal jährt, planen wir, diese Fassung in unserer "Kleinen Kammerbesetzung" auf die Bühne zu bringen. Wenn also jemand an einer solchen Aufführung Interesse haben sollte, so kann er sich gern bei uns melden. Noch einmal ein großes Dankeschön an alle. Es freut mich sehr, dass wir in so kurzer Zeit ein regelrechtes Neruda-Netzwerk aufbauen konnten.

Sabine Kühnrich, 09112 Chemnitz

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Der Dichtung am ähnlichsten ist ein Laib Brot oder ein Tonteller oder ein ... liebevoll bearbeitetes Stück Holz.
Pablo Neruda


(Die Redaktion behält sich vor, Leserzuschriften sinnwahrend zu kürzen.)

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Ein paar kleine Wahrheiten

Es kommt nur darauf an, das innere Wesen festzuhalten, mit einer Art schonungsloser Kühnheit ins Leben einzugreifen und es auszuleben.
(Wilhelm von Humboldt)

Almosen tun den Gebern gut, nicht den Empfängern.
(Anatol France)

Die Erde wurde dem Menschen nicht nur gegeben, damit er sich den Wanst fülle.
(Panait Istrati)

Solange ein Mensch noch ein Ziel vor Augen hat, das er erreichen muss, noch eine Aufgabe vor sich sieht, die er unter Einsatz all seiner Kräfte lösen muss, so lange wird er nicht wirklich alt.
(Fritz Selbmann)

Wenn die Zufälligkeiten des täglichen Lebens anfangen, den Menschen zu beherrschen, so sieht er die Wahrheit nicht mehr und verliert seine Freiheit.
(Rabindranath Tagore)

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Aphorismen

Das Altern ist etwas Herrliches, ... ich bin neugierig auf jedes kommende Jahr.
(Alfred Döblin: Die Vertreibung der Gespenster. Autobiographische Schriften. Betrachtungen zur Zeit. Aufsätze zu Kunst und Literatur, Berlin 1968)

Mit Lust und Lachen lassen wir die Runzeln kommen.
(Tomas Hardy: Der angekündigte Gast, Leipzig 1949, S. 83)

Der Antisemitismus ist das Merkzeichen einer zurückgebliebenen Kultur.
(Friedrich Engels: Marx-Engels-Werke, Band 22. Januar 1890 - August 1895, Berlin 1963, S. 49)

Eine Tat beweist gar nichts. Es ist die Masse der Taten, ihr Gewicht, ihre Summe, die den Wert eines Menschenwesens ausmacht.
(Anatol France: Die Rote Lilie, Leipzig 1951)


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Ralf Alex Fichtner, CDU-Anmerkung zur Pablo-Neruda-Grundschule in Chemnitz, 2012. Lavierte Finelinerzeichnung, 15,3 x 21 cm

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Ein Totentanz

In der Berliner Marienkirche, die 1294 erstmalig urkundlich erwähnt wurde, sieht man in der Eingangshalle die verblassten Figuren eines berühmten Freskos, das wahrscheinlich nach einer Pestepidemie von 1484 entstand. Es stellt einen "Totentanz" dar, wie er im 15. und 16. Jahrhundert verbreitet war: ein Reigen, in dem Menschen von einem Skelett oder dem zum Tanz aufspielenden Tod fortgeführt werden. Der Volksglaube an nächtliche Totentänze und Kritik am mittelalterlichen Ständewesen führten zum Entstehen dieser Darstellungen. Hans Holbein d.J. schuf im 16. Jahrhundert viele Holzschnitte dazu, und später, im 20. Jahrhundert, beschäftigten sich Alfred Rethel, Frans Masereel, HAP Grieshaber und Alfred Hrdlicka mit diesem Thema.

Nun ist es Ronald Paris, der aus aktuellem Anlass wieder einen "Totentanz" zeichnete. Als er, wie viele Tausende, die für eine bessere DDR auf die Straße gegangen waren, auf dem Alexanderplatz stand, bemerkte er, wie am Rand der Demonstration von einem schwarzen Mercedes aus nationalistische Materialien, darunter die Reichskriegs-Flagge, verteilt wurden. Beherzte Demonstranten sammelten diese Symbole schlimmer Vergangenheit ein und schickten die Verteiler weg.

Sofort fühlte sich Ronald Paris an Brechts Worte vom Schoß, der noch fruchtbar ist, erinnert. Und dieses Erleben war der Auslöser für eine spontane Folge von fünf Graphiken, von denen hier vier gezeigt werden. Sie greifen in der Technik der Zinkographie das Motiv des Totentanzes auf und führen es bis zur Groteske weiter. Sie entstanden 1989 und sind heute aktueller denn je. Die Marienkirche steht nur wenige hundert Meter vom Alexanderplatz entfernt.

Peter Michel


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten vier Abbildungen der Originalpublikation:

Ronald Paris, Totentanz, 1989. Zinkographien, je 15 x 21 cm

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Ikarus

fällt vom Himmel; keiner nimmt dieses Unglück wahr. Dädalus ist nicht zu sehen. Der Absturz des Ikarus steht nicht im Mittelpunkt. Er bleibt ein scheinbar nebensächliches Ereignis in einer weiten Küstenlandschaft. Ein pflügender Bauer, ein Hirte und ein Fischer verrichten ruhig ihre Arbeit. Im Gleichmaß ihres Tuns bemerken sie nicht, dass etwas Außergewöhnliches geschieht: sie wenden sich von dem Unheil ab.

Unterhalb des Schiffes versinkt der eigenwillige Himmelsstürmer im Meer; nur seine Beine ragen noch einen Augenblick aus dem grünen Wasser.

Dieses Bild des flämischen Malers Pieter Bruegel d.Ä. (geb. zwischen 1525 und 1530, gest. am 9.9.1569) ist seine einzige Bearbeitung eines Themas der klassischen Antike. Angeregt von Ovid, inspirierte er mit dieser bildnerischen Interpretation mehrere Dichter.

Der verblüffende Kontrast seiner wenig spektakulären Darstellung zu den berühmten Kunstwerken z. B. von Tintoretto, Rodin oder Charles le Brun regten u. a. Wystan Hugh Auden, Gottfried Benn und William Carlos Williams zu Versen an. Bertolt Brecht sah in diesem Bild ein treffendes Beispiel naiver Darstellung als Teil seiner Theorie des epischen Theaters.

Michael Frey

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Unsere Autoren:

Erich Buchholz, Prof. Dr. - Rechtswissenschaftler, Berlin
Siegfried Forberger - Diplomjurist, Berlin
Michael Frey - Publizist, Berlin
Klaus Georg - Autor, Berlin
Georg Grasnick, Prof. Dr. - Politologe, Berlin
Ralph Hartmann - Botschafter a. D., Berlin
Bruno Mahlow - Politologe, Berlin
Maria Michel - Kunsterzieherin, Berlin
Peter Michel, Dr. - Kunstwissenschaftler, Berlin
Kurt Neuenburg - Historiker, Dresden
Wolfgang Richter, Prof. Dr. sc. - Philosoph und Friedensforscher, Vorsitzender der GBM, Berlin
Norbert Rogalski, Dr. - Sportwissenschaftler, Berlin
Horst Schneider, Prof. em. Dr. sc. phil. - Historiker, Dresden
Olga Strauch - Juristin, Rankwitz/Usedom
Luise Weigel - Journalistin, Berlin
Ernst Woit, Prof. Dr. Dr. - Philosoph und Friedensforscher, Dresden

(Die Redaktion dankt Herrn Joachim Hörnig herzlich für seine gestalterische Mitarbeit am Rücktitel dieses Heftes.)

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Titelbild:
Archi Galentz, "Armenien. Ein Requiem", 1994. Acryl auf Leinwand, 45 x 66 cm

2. Umschlagseite:
Ronald Paris, Ikarus, 1995. Federzeichnung

Rückseite des Umschlags:
Pieter Bruegel d. Ä., "Landschaft mit Sturz des Ikarus", um 1560. Öl auf Holz, 73,5 x 112 cm

Abbildungsnachweis:

Archiv Michel: S. 32, 39 (2), Rücktitel
Balkanforum: S. 8
Bildermann: S. 19
Tim Brakemeier: S. 2
Cybernations: S. 5
dapd: S. 16
dpa: S. 24, 25, 27
Edition Schwarzdruck: S. 46
Robert Engelhardt: S. 20
Euromed: S. 3
Klaus Franke: S. 19
Archi Galentz: S. 34, Titelbild
Verlag Wiljo Heinen: S. 41
Katalog: S. 37, 38
Krisennews: S. 11
Metropol-Verlag Berlin: S. 40
Tina Modotti: S. 42
Nowosti: S. 14
Pahl Rugenstein: S. 44
Projekte-Verlag Halle: S. 49
Scheunen-Verlag: S. 43
Gabriele Senft: 33, 34, 35
SportsFeatures: S. 29
Zangen-Verlag: S. 7

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Impressum

Herausgeber: Gesellschaft zum Schutz von
Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.
Weitlingstraße 89, 10317 Berlin
Telefon: 030/5578397
Fax: 030/5556355
Homepage: http://www.gbmev.de
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V.i.S.d.P.: Wolfgang Richter
Begründet von:
Dr. theol. Kuno Füssel,
Prof. Dr. sc. jur. Uwe-Jens Heuer (†),
Prof. Dr. sc. phil. Siegfried Prokop,
Prof. Dr. sc. phil. Wolfgang Richter

Redaktion:
Dr. Klaus Georg Przyklenk
Hohenbinder Steig 11, 12589 Berlin
Tel.: 030/648 91 63
E-Mail: pema11@freenet.de

Layout: Prof. Rudolf Grüttner
Satz: Waltraud Willms
Verlag: GNN Verlag Sachsen/Berlin mbh Schkeuditz

Redaktionsschluss: 10.5.2012

Verlag:
GNN Verlag Sachsen/Berlin mbH Schkeuditz
ISBN 978-3-89819-378-8

Die Zeitschrift ICARUS ist das wissenschaftliche und publizistische Periodikum der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.; sie erscheint viermal jährlich und kann in der Geschäftsstelle der GBM, Weitlingstraße 89, 10317 Berlin abonniert bzw. gekauft werden. Ihr Bezug ist auch unter Angabe der ISBN (siehe weiter oben) über den Buchhandel möglich. Der Preis beträgt inkl. Versandkosten pro Heft 4,90 EUR für das Jahresabonnement 19,60 EUR.

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Quelle:
ICARUS Nr. 2/2011, 18. Jahrgang
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2012