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ICARUS/020: Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur 3/2011


ICARUS Heft 3/2011 - 17. Jahrgang

Zeitschrift für soziale Theorie, Menschenrechte und Kultur



INHALT
Autor
Titel

Kolumne
Wolfgang Richter
Forderung nach Zensur und Überwachungsstaat

Fakten und Meinungen
UNO-Wirtschafts- und
Sozialrat
Wolfgang Konschel
Norbert Rogalski
Horst Schneider

Brigitte Queck
Heidrun Hegewald
Klaus Georg
Abschließende Bemerkungen des Ausschusses für
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
Ist die Bundesrepublik ein Rechtsstaat?
Sportwissenschaftlicher Fundus auf das Abstellgleis
Strasbourg verordnet "europäisches" Geschichtsbild
auf antikommunistischer Grundlage
Kosovo - ein Mafia-Staat?
Zwanzig Jahre GBM
Wieder Historikerstreit in N.

Personalia
Peter Michel
Kurt Fürst
Stunde der Heuchler
Gedenken an einen Berliner Arzt

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"
Peter H. Feist
Helga Kolodziej
Ereignisse und Farben
Die Stunde der Mahner

Rezensionen
Hanka Görlich
Werner Krecek
Maria Michel
Bernd Heimberger
Georg Grasnick
Peter Michel
Peter Michel
Zeitzeugen gesucht
Feuchtwangers Oppenheimer und ein Film
Eine Band von Format
Unruhe der Unbequemen
Fluchbeladene Vergangenheit gegenwärtig
An Fakten halten
Huldigung für Rolf Kuhrt

Marginalien


Ralf-Alex Fichtner

Echo
Aphorismen
Karikatur
Ronald Paris - Ausstellung in der GBM-Galerie

Raute

Kolumne

Wolfgang Richter

Forderung nach Zensur und Überwachungsstaat

Nach dem Erfolg der NGOs vor der UN

"Zwischen Schande und Schönreden. Die UN üben scharfe Kritik an der deutschen Sozialpolitik - die Regierung will aber nichts falsch gemacht haben" titelte der TAGESSPIEGEL am 7. Juli 2011 im Stile von Enthüllungsjournalismus, er sei der erste mit dieser Nachricht im deutschen Medienwald. Als Entschuldigung, dass das erst sieben Wochen nach der Verabschiedung der Schlussbemerkungen des UNO-Ausschusses zum Staatenbericht der BRD war, diente, sie lägen erst jetzt auf Deutsch vor. Das hat mich denn doch enttäuscht. Ich dachte, sie könnten beim Tagespiegel auch Englisch. Fast alle Massenmedien griffen das Thema auf. Über siebzig Entdeckungen konnte ich in einer Woche im Internet zum Thema machen. Zur Ehrenrettung der jW und des ND muss man sagen, dass sie bereits berichtet hatten und auf der Webseite der jW stand es seit 30. Mai in wesentlichen Auszügen (deutsch). Der Bundestagspräsident hatte von der GBM indes einen Brief erhalten und nach fünf Wochen noch nicht beantwortet.

Manche Zeitungen dieser Tage betonten das Kritische, so die Magdeburger Volksstimme: "Gefahr der Unterernährung - Miese Noten für Deutschland". Andere - wie der "Berliner Kurier" - mahnten: "Die Kirche bitte im Dorf lassen!". Und alle machten sich plötzlich Sorgen, die Bundesrepublik könne mit Bangladesh oder Afghanistan verwechselt werden. Und in Afghanistan kennt man sich ja aus. Warum diese Furcht? Dass die Vermögensverhältnisse in Deutschland ohnehin an Zustände in einem Entwicklungsland erinnern, ist seit dem Armuts- und Reichtumsbericht von 2008 bekannt. Und die Leute - u. a. vom DIW - die damals dieses desaströse Bild zeichneten, wissen nun auf einmal gar nicht mehr, wo die Wurzeln der Zahlen liegen sollten, die die NGOs und die GBM in ihren Berichten an die UNO verwendeten. Wir erinnern: das reichste eine Prozent der Bevölkerung vereinigt 23 Prozent alles Vermögens auf sich. 27 Prozent haben gar nichts auf der hohen Kante oder Schulden.

Der SPIEGEL leitete seinen Artikel über die UNO-Stellungnahme mit einem Foto ein.Auf der Ostseite des Brandenburger Tores steht eine Menge Leute, die auf den Pariser Platz mit großen Lettern ARMUT geschrieben hatten. Die provokante Unterschrift lautete: "Demonstranten im Juni 2010 in Berlin: Ohne Frühstück aus dem Haus?" Primitiver geht's nimmer. Wer will denn hier der Regierung ein gutes Gewissen machen? Die Unterschrift bezieht sich auf die von der UNO geübte Kritik der Kinderarmut in Deutschland. Die erbärmliche moralische Ausstattung von Journalisten, die mit ihrem Zynismus suggerieren wollen, es gehe den Armen und ihren Kindern in Deutschland gar nicht schlecht, schreiben selten, wie gut es aber erst den 65 Reichen geht, von denen jeder 50 Millionen € jährlich erhält. "Gleiche Menschenrechte für alle Menschen?" Das ist keine Neidlosung, sondern das Motto der Menschenrechtsweltkonferenz der UNO 1993.

Der Regierung waren die Kritikpunkte der UNO unangenehm, aber nicht zu sehr. Sich weniger den Armen als den Machteliten verpflichtet zu fühlen, muss einem doch nicht peinlich sein. Sie rüstete zum Angriff auf die inneren Gegner. Der SPIEGEL sekundierte. Er kam ohne Umschweife auf die GBM zu sprechen (in ICARUS 4/2011).

Doch lassen wir die DDR einmal weg, die uns als Herkunft vom SPIEGEL vorgeworfen wird. Sie unterscheidet uns jedenfalls nicht von der Kritik anderer deutscher NGOs. Nehmen wir doch einmal amnesty international. Sie fragen die Bundesregierung: "Warum brechen so viele Kinder aus armen Familien die Schule ab? Wie reagiert die Regierung darauf, dass immer mehr Menschen nicht mehr von ihrem Vollzeitjob leben können? Was unternimmt sie dagegen, dass Frauen ein Viertel weniger verdienen als Männer? Wer bestimmt, welche Arbeit für Empfänger von Hartz IV zumutbar ist?" Weitgehend die gleichen Fragen stellten auch wir.

Und was stellt ai zu der Kinderproblematik fest? "Dass rund 2,5 Millionen Kinder und nach Regierungsangaben 13 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsschwelle leben, ist für die UNO ein Alarmsignal ­..." (Amnesty Journal, Dorothee Hasskamp). Das DIW, offenbar ein regierungshöriges Institut mit guten Gehältern, das etwas dafür tut, dass das auch so bleibt, will gleich die ganze UNO ändern, bloß damit die Bundesrepublik besser wegkommt. Der Chef, Gert Wagner, sieht in der deutlichen Benennung der Interessen der Armen und Diskriminierten "ein generelles Qualitätsproblem bei den Berichten internationaler Organisationen". Er fordert eine "Beurteilung durch unabhängige Wissenschaftler". Die sollten die Bundesministerien bei ihren Zuarbeiten zum Regierungsbericht doch wohl schon einbezogen haben. Offenbar hat eben die Qualität dieser Berichte - inklusive Expertengutachten - der UNO nicht gereicht. Sie ist das Eigenlob der Staaten wohl bis zum Überdruss gewöhnt. Doch ansonsten, ein netter Gedanke, noch einmal gut bezahlte Gutachten an Land zu ziehen.

Man will nur Qualitätskontrolle üben. Früher nannte man das Zensur. Und der soll ein Maulkorberlass folgen, denn es macht alles nur Sinn, wenn man das Kritisierte gar nicht mehr an die UNO schicken darf. Ist das nicht auch ein brillanter Beitrag zum Überwachungsstaat? Gut, dass der Größenwahn des DIW keine Grenzen kennt. Dessen Chef Gert Wagner macht auch nicht vor der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Halt. Sie hatte sich 2008 ebenfalls mit Armutsproblemen ihrer Mitgliedstaaten befasst und ist mit der PISA-Studie auch nicht gerade als Anhänger des deutschen Bildungswesens und seinen ungleichen Chancen hervorgetreten. Wenn das, was die Regierung erwartet, aber fehlt, dann stimmen eben die Zahlen der NGOs nicht. Vielleicht gibt die OECD künftig Gutachten an das DIW, um sich dann sagen zu lassen, dass die Bundesrepublik dank anderer Zahlen eben besser ist, als die OECD denkt. Herr Wagner wundert sich nämlich sehr, dass auch die OECD, die ohne NGO-Expertisen arbeite, oft verkehrte Zahlen hat. Da könnte es also nicht bloß an den Zahlen liegen, sondern eben an der Sicht der NGOs, welche Probleme sie für menschenrechtlich besonders drängend hält. Und das unterscheidet sie oft doch sehr von der Bundesregierung.

Raute

Fakten und Meinungen

UNO-Wirtschafts- und Sozialrat

Abschließende Bemerkungen des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Sechsundvierzigste Tagung des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Genf 02.-20.05.2011
Befassung mit Staatenberichten nach den Artikeln 16 und 17 des Pakts


Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:

Die im Icarus abgedruckte unredigierte Vorabfassung der deutschen Übersetzung ist im Internet zu finden unter:
http://www.tagesspiegel.de/downloads/4365526/1/UN-Bericht

Eine weitere deutsche Übersetzung sowie das englische Original des UN-Staatenreports finden Sie zum Download auf der folgenden Webseite des Kreisverbands Westsachsen der Partei Die Linke.:
http://www.dielinke-westsachsen.de/politik/detail/article/un-staatenreport-deutschland-was-steht-eigentlich-drin.html

Raute

Fakten und Meinungen

Wolfgang Konschel

Ist die Bundesrepublik ein Rechtsstaat?

Fortsetzung aus ICARUS 2/2011

Im ersten Teil habe ich mich neben der sachlichen Information über den Inhalt des Urteils und seine Bedeutung auf innerstaatliches und Verfassungsrecht beschränkt. Nunmehr möchte ich mehr über die Verletzung der Bürger- und Menschenrechte aus der Sicht der von der Bundesrepublik unterzeichneten, vom Bundestag bestätigten und durch den Bundespräsidenten ratifizierten Verträge und Konventionen darlegen. Ich beziehe mich dabei auf das Gutachten zur Zulässigkeit einer Individualbeschwerde beim Europäischen Menschenrechtsgerichts (EMRG). Die Zustimmung der Verfasserin, Frau Prof. Dr. Rosemarie Will, Humbold-Universität zu Berlin, Verfassungsrichterin a. D. (beim Brandenburger Verfassungsgericht) liegt vor. Außerdem werden auch weitere Informationen über die nächsten Schritte zur Begegnung des Unrechts geben.

Folgende Konventionen und Pakte, die meiner Meinung nach durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juli 2010 verletzt wurden, sind in diesem Zusammenhang zu nennen:

- Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948
- Internationaler Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte vom 19.12.1966
- Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 9.12.1966
- Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950
- Europäische Sozialcharta vom 18.10.1961
- Schlussakte von Helsinki vom 1.8.1975
- Erklärung über Grundrechte und Grundfreiheiten (Europäisches Parlament, 12.4.1989)
- Charta von Paris vom 21.11.1990
- Charta der Grundrechte in der Europäischen Union 13.10.2000.

Weitgehend übereinstimmend sind in diesen internationalen Verträgen folgende Bürger- und Menschenrechte kodifiziert:

- Verbot der Diskriminierung eines Bürgers oder einer Gruppe von Menschen.
- Der Anspruch auf politische Überzeugung für Jedermann ist ohne jede Einschränkung zu gewährleisten.
- Ebenso gleiche Rechte ohne Unterschied der Person, der Herkunft usw.
- Wirksamer Rechtsschutz.
- Quivis censetur innocent; nulla poena sine lege = Jeder Mensch ist als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren nachgewiesen ist (gegen keinen der Betroffen läuft ein gerichtliches Strafverfahren).
- Rückwirkungsverbot (m. E. betrifft das auch die in der DDR verbrachte und damit zurückliegende, Zeit, denn nur sie wird mit Rentenkürzungen belegt).
- Niemand darf seines Eigentums beraubt werden (auch Rentenansprüche sind Eigentum).
- Jedem muss das Recht auf Zulassung zu öffentlichen Ämtern gewährt werden.
- Gleiche Arbeit - gleicher Lohn bedeutet auch gleiche Rente (nicht weniger als andere).
- Gleicher Anspruch auf Lebenshaltung, Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und soziale Sicherheit.

Zur Begegnung des Unrechts durch das AAÜG und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juli 2010 sind insbesondere folgende §§ in der Europäischen Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 (EMRK) sowie in anderen entsprechenden Pakten und Verträgen zu nennen:

- Das Recht auf Beschwerde beim EGMR ist nach Art. 71 der EMRK nach Ausschöpfung der innerstaatlichen Rechtsmittel gegeben. Die Voraussetzungen für eine Beschwerde beim EGMR in Straßburg ist erfüllt. Das Verbot der Diskriminierung und das Recht auf Individualbeschwerde sind ebenfalls in der genannten Konvention von 1950 enthalten.
- Das Verbot der Diskriminierung aus Art. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948.
- Eine Einschränkung des Rechts auf politische Überzeugung nach Artikel 2 des Paktes über bürgerliche und politische Rechte von 1966 und das Recht auf Freizügigkeit ist eine Diskriminierung und verletzt das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz und über die Freiheit der Weltanschauung, nach Artikel 18 der EMRK.
- Artikel 15 verbietet die rückwirkende Verurteilung für Tatbestände, die zum Zeitpunkt welche die Strafe benennt, nicht strafwürdig waren. Im Artikel 4 des Zusatzprotokolls zur Europäischen Sozialcharta vom 8.5.1988 werden ausdrücklich die Rechte der älteren Menschen auf sozialen Schutz hervorgehoben. Eine Enteignung, wie im vorliegenden Fall, ist deshalb und mit dieser Begründung erst recht nicht möglich;
- Auch in der Schlussakte von Helsinki der KSZE vom 1975 wird unter VII die Achtung der Menschenrechte, Grundfreiheiten und die Überzeugungsfreiheit als besonders schützenswert hervorgehoben. Dies ist nur eine kleine Auswahl aus zitierenswerten internationalen Verträgen, die Rechte beschreiben, welche mit der Entscheidung des BVerfG vom 6.7.2010 verletzt werden.

Im Gutachten von Frau Prof. Dr. Will sind zahlreiche sehr wertvolle Ausführungen enthalten, die sich auf die Artikel der EMRK beziehen. Die m. E. wichtigsten will ich im Nachfolgenden zusammenfassend und referierend wiedergeben:

- Gemeinwohl ist kein vernünftiger Grund für eine Rentenkürzung, sie ist politisch bestimmt und deshalb nach der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), insbesondere nach dem 1. Zusatzprotokoll nicht gestattet;
- Die Verhältnismäßigkeit der Kürzung, von 1 Entgeltpunkt zu 1,8 EP, d. h. auf fast 45 Prozent, ist weit überzogen und durch keine sachgemäßen Gründe belegt;
- Die Diskriminierung nach Art. 14 EMRK besteht in der Ungleichheit zwischen gekürzten und ungekürzten Ansprüchen;
- nur ein Teil der Kadernomenklatur unterliegt dieser Rentenkürzung;
- Gleichsetzung mit der Kürzung mit dem nach § 7 AAÜG gekürzten Ansprüchen;
- Der Gesetzgeber hat den Unterschied zwischen der Kürzung nach 1 EP und 1,8 EP nicht belegt;
- Indirekt gesteht BVerfG, dass keine sachliche Grundlage für Ungleichbehandlung besteht;
- Ungleichgewicht zwischen angewandten Mittel und Zweck;
- Auch im demokratischen Rechtsstaat besitzen Minister generell eine Besserstellung, auch deshalb ist die Herabstufung auf ein Durchschnittsentgelt im vorliegenden Fall kein Grund eine Privilegierung vorzuwerfen;
- Die Rente der beiden Betroffenen wurden doppelt gekürzt, durch den Entzug der Ansprüche aus der Zusatzversorgung und zusätzlich die Herabstufung auf die Beitragsbemessungsgrenze;
- Die Auslegung des Rentenangleichungsgesetzes vom 28.6.1990 ist nicht korrekt. Nach diesem Gesetz gab es keine Kürzung auf die Beitragsbemessungsgrenze.

Mit der Beschwerde werden gerügt:

- Die Verletzung der Eigentumsrechte des Beschwerdeführers; - Der Gleichheitssatz nach Art. 14;
- Das Rückwirkungsverbot nach Art. 6 Abs. 2 EMRK, in Verbindung mit Art. 7 Absatz 1;
- Der Gesetzgeber hat nicht an Bestimmung des RAnglG angeknüpft, sondern mit dem AAÜG neue Regelungen getroffen, die dauernde Rentenkürzung bewirken;
  Mit der Ausdehnung der Regelungen auf Witwenrenten wird Sippenhaft und Kollektivstrafe vorgenommen;
  Die Regelungen werden nicht nach dem System der Rentengesetzgebung, sondern nach sachfremden, machtpolitischen Gesichtspunkten festgelegt;
- § 6,2 AAÜG ist wie eine typische Vergeltungsnorm abgefasst, aber darüber hinaus auch nachhaltig (lebenslang) und überhöht;
- Vergleich zwischen individuellen Einkommen und Rentenanspruch nach AAÜG erfolgt losgelöst voneinander und wird durch sachfremde Norm ersetzt. Das gibt es nur im Strafrecht. Deshalb wirkt quasipenale Sanktion wie eine in Raten abzuzahlende Geldstrafe. Auch deshalb ist die Bezeichnung Rentenstrafrecht richtig;
- Keine Vorhersehbarkeit der Kürzungsbestimmung durch den Betroffenen (Art. 6 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 1 EMRK). Es wurde nicht geprüft, ob die Tätigkeit legal war, gegen Bestimmungen der DDR verstoßen hat oder Anspruch unrechtsmäßig war.

Weiter wird darauf hingewiesen:

- Dass nach dem RAnglG fast das Doppelte der Durchschnittsrente möglich war (1,0 zu 1,8). Mit den Entscheidungen des BVerfG von 1999 und 2004 wurde diese Möglichkeit auch für einen großen Teil der zuerst Gekürzten wieder eingeräumt. Nur der vom so genannten 1. Änderungsgesetz betroffene Personenkreis wird - ohne sachliche Begründung - weiter auf den Durchschnitt gekürzt.
- Der im Einigungsvertrag vorgesehene Abbau ungerechtfertigter, überhöhter Leistungen, die nicht auf Arbeit beruhen, wird von BVerfG (mit anderer Bezeichnung) als Grund für die Heruntersetzung auf das Durchschnittseinkommen genannt. Dazu fehlt jeder Nachweis, jede Beweisführung. Sie kann nicht durch die Behauptung der Selbstprivilegierung ersetzt werden.
- Nach Art. 7 EMRK überlässt eine Strafe bewusst nicht der Beurteilung durch den Staat, der die Anwendung festgelegt hat, sondern der Beurteilung durch das EMRG, das mit dem Urteil vom 8.6.1976 dazu eigene Kriterien festgelegt hat.
- Selbst schwere Straftaten, im Rahmen einer erlaubten Tätigkeit, führen nicht zur Rentenkürzung, da sie die Wertneutralität des Rentenrechts verletzen würden.

Der Kampf gegen das Rentenstrafrecht wird natürlich fortgesetzt. Zu den nächsten vorgesehenen Aktionen zählen:

1. Die Beschwerde beim EMRG zum Urteil des Verfassungsgerichtes vom 6. Juli 2010 wird von den Rechtsanwälten Dr. Christoff, die sie auch bisher vertreten haben, gegenwärtig vorbereitet. Er sagte zu, sich dabei auf das oben wiedergegebene Gutachten von Frau Prof. Dr. Will zu stützen.

Die Rechtsgrundlagen für die Einreichung einer Individualbeschwerde beim EGMR sind vorhanden Der innerstaatliche Rechtsweg ist erfolglos abgeschlossen und damit der Rechtsverletzung auf nationaler Ebene nicht abgeholfen, die Voraussetzungen für eine Beschwerde nach Art. 71 EMRK sind erfüllt.

Wie die Entscheidung des EMRG ausfallen wird, ist natürlich nicht voraussagbar. Bereits die Einreichung der Beschwerde hat meiner Meinung nach die positive Wirkung, dass auf internationaler Ebene das Unrecht der Bundesrepublik angeprangert wird. Wenn man frühere Entscheidungen des EMRG zu Rentenfragen berücksichtigt, dürfen allerdings die Erwartungen auf eine Revision der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht zu hoch angesetzt werden. Hinsichtlich der Durchsetzung von Entscheidungen des Menschenrechtsgerichts, wird in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 3 vom 14. Dezember 1990 in Ziffer 1 festgestellt:

"Obgleich der Pakt insbesondere eine schrittweise Umsetzung vorsieht und wirtschaftliche Zwangslagen anerkennt, enthält er jedoch auch Verpflichtungen mit sofortiger Wirkung ... Eine dieser Verpflichtungen ­... besteht darin, zu garantieren, dass die jeweiligen Rechte ohne Diskriminierung ausgeübt werden ...".

Eine weitere Bemerkung zur Rolle der Gerichte bei der Erfüllung der Paktverpflichtungen besagt: "In den Grenzen angemessener richterlicher Überprüfung sollten Gerichte Vorschriften des Pakts berücksichtigen, um zu gewährleisten, dass das Verhalten des Staates mit seinen Paktverpflichtungen in Übereinstimmung steht. Die Vernachlässigung dieser Pflicht der Gerichte ist mit dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, das stets die Achtung der Verpflichtungen aus internationalen Menschenrechtsverträgen beinhaltet, unvereinbar."

2. Die GBM hat zum 5. Staatenbericht, der im UNO-Ausschuss zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in diesem Jahr behandelt wurde, eine Stellungnahme eingebracht, in der u. a. das Urteil des Bundesverfassungsgerichts als Beispiel ausgewertet und gleichzeitig auf die Nichteinhaltung der Verpflichtung aus dem Protokoll von 4. Dezember 1998 eingegangen wird. Die GBM hatte auch zum 3. Staatenbericht der Bundesrepublik eine Stellungnahme eingereicht. Dazu stellte der Wirtschafts-, Sozial- und Kulturrat, nach freundlichen Worten fest:

- dass die volle Integration von Ost- und Westdeutschland teilweise unerfüllt blieb;
- darin ein Hindernis für die volle Umsetzung des UNO-Menschenrechtspaktes durch die Bundesrepublik gesehen wird;
- mit Bestürzung bemerkte er, dass nur 12 Prozent der öffentlich Beschäftigten auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technik der ehemaligen DDR, einschließlich der Lehrer, Wissenschaftler und anderer Fachleute weiter beschäftigt wurden und die übrigen Erwerbstätigen ohne Beschäftigung oder adäquate Entschädigung bzw. befriedigende Rentenregelung bleiben,
- der Ausschuss befürchtete, dass die Mehrheit der Betroffenen in Verletzung von Artikel 2(2) des Paktes eher aus politischen, denn aus berufsmäßigen oder wirtschaftlichen Gründen aus ihren Positionen entlassen wurden.

Gemäß Pkt. 36 forderte er die Bundesrepublik auf:

- als einen Akt der nationalen Versöhnung zu sichern, dass den ehemaligen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, Fachleuten und Wissenschaftlern, die mit dem alten Regime in der ehemaligen DDR verbunden waren, Entschädigung zu gewähren. Eine solche Entschädigung sollte sowohl adäquat, als auch fair sein, um so Vielen wie möglich in den Hauptstrom des Lebens in Deutschland einzubeziehen und/oder ihnen eine faire Entschädigung bzw. angemessene Rentenregelung anzubieten. In diesem Jahr hat der Ausschuss die Bundesregierung erneut gemahnt.

3. Die GBM wird ihre internationalen Kontakte nutzen, um den Inhalt der Rechtsverletzungen der Bundesrepublik bekanntzumachen und die Partner bitten, dagegen Stellung zu nehmen.

Auch das Memorandum der Bundesregierung vom 2. September 1956, das offiziell als Vorschlag zur Wiederherstellung der Deutschen Einheit an die vier Siegermächte und die UNO Mitgliedsstaates übergeben und im Bulletin des Presse- und Informationsamtes vom 8. September 1956 veröffentlicht wurde, kann dabei herangezogen werden. Im Memorandum konnte man nachlesen:

"Die Bundesregierung ist der Überzeugung, dass freie Wahlen wie sie auch immer ausfallen mögen, nur den Sinn haben dürfen, das deutsche Volk zu einen und nicht zu entzweien. Die Errichtung eines neuen Regierungssystems darf daher in keinem Teil Deutschlands zu einer politischen Verfolgung der Anhänger des alten Systems führen. Aus diesem Grunde sollte nach Auffassung der Bundesregierung dafür Sorge getragen werden, dass nach der Wiedervereinigung Deutschlands niemand wegen seiner politischen Gesinnung oder nur weil er in den Behörden oder politischen Organisationen eines Teiles Deutschlands tätig gewesen ist, verfolgt wird."

4. Es wird ebenso geprüft, ob für den Personenkreis, der mit dem Gesetz vom 21.6.2005 erstmalig in das Rentenstrafrecht eingegliedert wurde (1. und 2. Bezirkssekretäre der SED, Mitglieder der kommunalen Einsatzleitungen, Richter und Staatsanwälte der 1A Senate usw.) eine neue Verfassungsbeschwerde eingelegt werden kann. Das kann jedoch erst erfolgen, wenn die Sozialgerichtsverfahren bis zum BSG abgeschlossen sind oder ein Gericht einen neuen Aussetzungsbeschluss fasst. Beides ist gegenwärtig noch nicht absehbar.

5. Schlussfolgernd aus dem Dargelegten muss die Auseinandersetzung stärker auch auf politisch-parlamentarisches Gebiet verlegt und intensiviert werden. Die Fraktion der LINKEN im Bundestag hat dies mit einem neuen Gesetzesantrag zur ersatzlosen Streichung des § 6,2 und 6,3 AAÜG vom 23.11.2010 (BTDr.: 17/3888) bereits in die Wege geleitet. Die Auseinandersetzungen dazu haben erst begonnen. Bei der bekannten politischen Zusammensetzung des Bundestages kann man nicht erwarten, dass dies bereits zum Erfolg führt. Aber ein weiterer richtiger Schritt im Bundestag ist es auf jeden Fall. Es zeigt auch, dass die Solidarität mit den weiter vom Rentenstrafrecht Betroffenen im Bundestag erneut eine Stimme erhält.

6. Die Arbeit mit den großen Sozialverbänden Volkssolidarität, BRH muss fortgesetzt und dem Sozialverband, VdK und anderen Sozial- und Menschenrechts-Organisationen noch aufgenommen werden.

7. Wir haben auch die ehemaligen Minister und Stellvertretenden Minister in einer Beratung mit ihnen am 9. November 2010 aufgefordert, ihren persönlichen wohlbegründeten Protest gegen diese Diskriminierung an die Richter und Regierungsmitglieder, sowie die Abgeordneten ihres Wahlbezirks zu richten.

8. Jede Aktion gegen den angeblichen "Unrechts-Staat DDR", jede Mediendarstellung des wirklichen Lebens in der DDR und insbesondere jede Zurückweisung der Verleumdung der DDR sind ein Beitrag in dieser vor uns allen stehenden sehr langwierigen Auseinandersetzung. Regierung und bürgerliche Opposition dürfen nicht glauben, dass sie in Ruhe gelassen werden. Jeder geeignete Anlass sollte genutzt werden, um die Verletzung der Bürger- und Menschenrechte in der Bundesrepublik nachzuweisen. Immer wieder, auch mehrmals, sollen Benachteiligung oder andere Ungerechtigkeiten an konkreten Beispielen deutlich gemacht werden. Das ist leichter gesagt als getan, bedeutet er doch nicht weniger als mittelfristig einen Umschwung in der Meinung der Mehrheit der Bevölkerung ganz Deutschlands zur DDR zu erreichen. Das soll und darf nicht bedeuten, dass die zahllosen Schwächen, falsches politisches Verhalten, insbesondere das Defizit an Demokratie, besonders in den letzten Jahren der DDR, verschwiegen oder entschuldigt werden soll. Wir stehen zu unserer Verantwortung. Jedoch die DDR war unsere Hoffnung auf eine Alternative zum Kapitalismus, es gab keinen uns bekannten besseren Staat! Dabei soll auch darauf eingegangen werden, dass Rentengerechtigkeit nicht auf Kosten der Bürger in den Altbundesländern erfolgen darf. Notwendige Kosten sind natürlich aus dem Staatshaushalt zu finanzieren. Es gibt dazu kein akzeptables Gegenargument, wenn immer wieder Milliardenbeträge für militärische Aktionen in Afghanistan, zur Rettung der Banken oder des EURO zur Verfügung gestellt werden können.

9. Wir müssen noch besser sein bei der Begegnung der Argumente der Gegenseite. Wir erkennen an, auch sie hat im Disput das Recht, ihre Haltung zu vertreten, aber unser Recht muss gleichwertig sein! Heidrun Hegewald hat auf einer Versammlung der GBM meiner Meinung nach treffend erklärt: Das Revolutionärste, was wir jetzt tun können und tun müssen, ist, auf die negativen Ergebnisse der Politik, auf den menschenfeindlichen Charakter der jetzigen Gesellschaft ständig hinzuweisen; es darf nicht sein, dass die Herrschenden glauben, wir haben uns mit ihrer Politik abgefunden und werden nun Ruhe geben!

Die Ältesten der vom weiteren Rentenstrafrecht Betroffenen, haben aktiv am Befreiungskampf des deutschen Volkes vom Faschismus teilgenommen. Sie kamen nach 1945 aus der damaligen Sowjetunion, aus den USA, England, Frankreich, Mexiko und China zurück und nahmen sofort teil am demokratischen Wiederaufbau im Osten Deutschlands. Eine große Anzahl der Betroffenen hat bei der Durchsetzung der Festlegungen des Potsdamer Abkommens der Alliierten geholfen, in der DDR einen neuen demokratischen Staat zu errichten. Sie haben sich mit großem Fleiß die notwendigen Kenntnisse angeeignet, um in leitenden Funktionen erfolgreich arbeiten zu können. Oft hatten sie persönlich einen hohen Anteil an der Entwicklung des Staates und der Volkswirtschaft. Unter oft widrigen Umständen, besonders in den letzten Jahren der DDR, haben sie getan, was ihnen möglich war, um das Leben der Menschen zu verbessern. Die meisten haben Vernunft walten lassen, wo unreale Direktiven der Führung ihr Leben und das der gesamten Bevölkerung erschwerten. Ihrer Disziplin und ihrem Verantwortungsbewusstsein war es zu danken, dass die Wahlen zur Volkskammer im März 1989 und der Anschluss an die Bundesrepublik friedlich erfolgt ist. Das wird nun mit der Kürzung der Renten bestraft. Und das soll Recht sein?

Zum Schluss noch diese Feststellung: Natürlich berücksichtige ich, dass Recht immer das Recht der Machthabenden ist. Aber trotzdem: Ein Staat, in dem ein Gesetz entgegen den eigenen verfassungsmäßigen und menschenrechtlichen Bestimmungen geschaffen und vom höchsten Gericht bekräftigt und verteidigt wird, kann kein Rechtsstaat sein, sondern muss als Unrechtsstaat bezeichnet werden.

Um der Verletzung dieser elementaren Menschenrechte zu entgegnen, hat die GBM in diesem Jahr zum 5. periodischen Staatenbericht der BRD an den UNO-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Fragen des Wirtschafts- und Sozialrates eine Stellungnahme übermittelt. Sie wurde, wie die anderen Stellungnahmen in zwei Sitzungen erörtert. Die beiden GBM-Abgesandten Harald Nestler und Dr. Jürgen Zenker waren zugegen. Harald Nestler kam zu Wort und konnte diesem Gremium die Haltung der GBM vortragen. Am 20.5. hat der Ausschuss dazu abschließende Bemerkungen (Concluding Observations), die wir in vollem Wortlaut nach einer französischen Fassung übersetzt in diesem Heft ab Seite 3 wiedergeben, festgelegt. Auf 9 Seiten werden zum Staatenbericht der Bundesrepublik kritische Feststellungen getroffen.

Hinsichtlich des Themas dieses Artikels wird in Punkt 22 die Diskriminierung der Rentner in den östlichen Bundesländern, wie sie auch durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10.7.2010 zu den Renten der Minister und stellvertretenden Minister zum Ausdruck kommt, verurteilt und die Bundesrepublik aufgefordert, diese Fälle der Diskriminierung zu beseitigen. Solche in ihrer Eindeutigkeit seltene Kritik an der Rechtsprechung des obersten Gerichts der Bundesrepublik und die klare Aufforderung zur Beseitigung der Ungerechtigkeit ist eine erfreuliche Unterstützung unserer Forderung. Damit ist erstmalig auf internationaler Ebene nicht nur diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verurteilt worden, sondern zugleich die gesamte Ungleichbehandlung der Bürger im Osten Deutschlands.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Wenn das Bürgertum das Recht in die Hand nimmt, in welche Hände gerät da die Gerechtigkeit? Fotomontage "Ich kenne nur Paragrafen" 1929 von John Heartfield

Raute

Fakten und Meinungen

Norbert Rogalski

Sportwissenschaftlicher Fundus auf das Abstellgleis

Unter der Überschrift "Bibliotheksverlagerung - Sportstudenten auf Protestkurs" veröffentlichte die Leipziger Volkszeitung (LVZ) am 9.6.2011 auf Seite 20 folgende Mitteilung (Auszug):

"Im Zentrum der Kritik steht die Fakultätsleitung, die nach Mitteilung des Fachschaftsrates (FR) die Mitbestimmungsrechte der Studenten ignorierte und eine Verlegung der sportwissenschaftlichen Bibliothek von der Jahnalle in die Liebigstraße faktisch als beschlossene Sache präsentiert habe. Die Planungen sehen vor, dass die Zweigstelle der Universitätsbibliothek (UB) in der Jahnalle aufgegeben wird und die Bestände auf den Medizincampus in die Liebigstraße wechseln ... Der Fakultätsrat ist vom Dekan mit dem Vorhaben förmlich überrumpelt worden."

In dem gesamten Text findet man keinen Hinweis, vielleicht wird bewusst darauf verzichtet, dass es sich hierbei um die ehemalige "Zentralbibliothek für Körperkultur und Sport der DDR" handelt, die in den Räumen der abgewickelten Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig, jetzt Sportwissenschaftliche Fakultät der Uni Leipzig, untergebracht ist und sich seit Gründung der DHfK im Jahre 1950 schrittweise durch quantitative Erweiterungen, wesentliche räumliche Verbesserungen und qualitative Vervollständigungen der Bibliotheksbestände zu dieser fachspezifischen Zentralbibliothek entwickelte. Diesen Status erhielt sie vom Minister für Kultur der DDR im Jahre 1973 aufgrund ihrer anerkannten hohen Leistungsfähigkeit und der wachsenden nationalen und internationalen Ausstrahlungs- und Anziehungskraft verliehen. Der Werdegang der Bibliothek der DHfK von 1950 bis 1990 ist untrennbar mit der Entwicklung dieser Hochschule im gleichen Zeitraum verbunden gewesen. Mit der Abwicklung der DHfK 1990 wurde aus der Zentralbibliothek eine Zweigstelle der Universitätsbibliothek der Uni Leipzig. Damit gingen ihre Selbständigkeit und ein Teil der Funktionen verloren, was bereits eine Abwertung ihres Leistungsvermögens bedeutete. Die Nachfolgeeinrichtung der DHfK, die Fakultät für Sportwissenschaft, konnte aber den Bibliotheksbestand bis in die Gegenwart nutzen. Zum Zeitpunkt der Eingliederung in die Universitätsbibliothek hatte die Zentralbibliothek einen Bestand von 126.500 Bänden und 400 Zeitschriften (nach Fiedler, G. Die Entwicklung der Hochschulbibliothek; In: Lehmann/Kalb/Rogalski/Schröter/Wonneberger (Hrsg.). DHfK Leipzig 1950-1990. Meyer & Meyer Verlag, Aachen 2007).

Darin war und ist ein unschätzbarer Fundus sporthistorischer, sportpolitischer, sportphilosophischer, sportpädagogischer und trainingsmethodischer Erkenntnisse, von Quellen und Sachverhalten enthalten. Allgemein ausgedrückt wurde durch eine zielstrebige, fachgerechte Tätigkeit der Mitarbeiter der Bibliothek über 40 Jahre hinweg sportwissenschaftlicher Erkenntnisbestand aus Vergangenheit und Gegenwart an der DHfK konzentriert, nicht nur aus dem deutschsprachigen Raum, auch aus anderen bedeutenden Ländern auf dem Gebiet des Sports und der Sportwissenschaft. Finanziert wurde die Zentralbibliothek vom Staatssekretariat für Körperkultur und Sport der DDR über den Haushaltsplan der DHfK. Für Lehrkräfte und Studierende der Hochschule aller Generationen, für Trainer und Funktionäre der Sportverbände des DTSB, für Teilnehmer an Weiterbildungen ist die Hochschulbibliothek, wie sie allgemein genannt wurde, eine bedeutende Basis der Ausbildung, Lehre, Forschung, Wissenschaftsentwicklung und Weiterbildung gewesen. Mitarbeiter und Studierende der anderen sportwissenschaftlichen Institutionen der DDR nutzten den Bibliotheksbestand in vielfältiger Art und Weise. Ausländische Studierende aller Studienformen fanden die benötigte Literatur auch in verschiedenen Fremdsprachen. Allen Bürgern der DDR stand die Bibliothek unentgeltlich zur Verfügung.

Mit ca. 150 Verlagen anderer Länder bestanden Vereinbarungen, um Literatur zu tauschen oder neue, bedeutende Publikationen für die Bibliothek zu kaufen. 1959 wurde ein Dokumentations- und Informationszentrum mit internationaler Wirksamkeit als Bestandteil der Bibliothek eingerichtet. Das war eine weitere Voraussetzung für die Tätigkeit von Mitarbeitern der Bibliothek in internationalen Gremien. Die große Wertschätzung der Arbeit der Bibliothek der DHfK führte 1961 dazu, dass Dr. Walter Arnold, ihr Direktor zu jener Zeit, zum ersten Präsidenten des "Internationalen Büros für Dokumentation und Information", ein Organ des "Weltrates für Sport und Körpererziehung" (CIEPS), gewählt worden ist. Durch die Herausgabe von spezifischen bibliografischen Verzeichnissen und Katalogen konnte der nationale und internationale Leihverkehr ausgeweitet und beschleunigt werden. Aus der Fülle von Aktionsfeldern der "Zentralbibliothek für Körperkultur und Sport der DDR", nur ein Teil kann in diesem Beitrag angeführt werden, sei noch eine Vereinbarung mit dem Bundesvorstand des DTSB genannt. Damit wurde gesichert, dass die Bibliothek ein Exemplar aller Druckschriften des DTSB erhielt und damit gleichzeitig die Funktion eines Archivs für DTSB-Publikationen übernahm. Nutzer der Bestände der Bibliothek der DHfK konnten sich somit unmittelbar mit den Orientierungen, Festlegungen und Beschlüssen der Sportleitung der DDR vertraut machen und sie in ihre Tätigkeit, in Aus- und Weiterbildung einbeziehen. Ein wesentlicher Grundsatz der Wissenschaftspolitik der DDR, "Einheit von Theorie und Praxis", konnte damit noch besser verwirklicht werden.

Welche Funktionen die Zweigstelle (sportwissenschaftliche Bibliothek) in den Räumen der ehemaligen DHfK in der Jahnallee der Leipziger Uni von 1990 bis zur Gegenwart im Einzelnen noch ausfüllen konnte, kann vom Autor nicht korrekt benannt werden. Auf jeden Fall wurde sie von Studierenden und dem wissenschaftlichen Personal der Fakultät regelmäßig genutzt, wie ich nach mehrmaligen Besuchen der Bibliothek in den letzten Jahren bestätigen kann. Ein bedeutender Vorteil dieser Bibliothek, abgesehen von der inhaltlichen Ausrichtung und Qualität, bestand und besteht darin, dass das Magazin der genannten Bestände, Lesesaal, Handbibliothek, Service der Ausleihe im Gebäude der Fakultät, der ehemaligen DHfK, konzentriert untergebracht waren und zur Zeit noch sind. Die Institutsräume der Hochschullehrer und wissenschaftlichen Mitarbeiter befinden sich praktisch in unmittelbarer Nachbarschaft, laden zur Nutzung geradezu ein. Die Studierenden und Weiterbildungsteilnehmer können unmittelbar, ohne großen Zeitaufwand, vor oder nach Lehrveranstaltungen die Bibliothek erreichen. Der vorgesehene Standort in der Liebigstraße ist ca. 5 km entfernt, ist sowohl mit Pkw als auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur mit großen Umständen zu erreichen, zeitlich außerordentlich uneffektiv.

Der räumliche Abstand des vorgesehenen Stand-Ortes in der Liebigstraße von dem Gebäudekomplex der Sportwissenschaftlichen Fakultät in der Jahnallee wird mit hoher Wahrscheinlichkeit die potenziellen Nutzer, vor allem die Studierenden, davon abhalten, die Bibliothek mehrfach aufzusuchen und intensiv zu nutzen. Auf jeden Fall tritt eine beachtliche Verschlechterung der Studienbedingungen für die Studierenden ein. Abgesehen von diesem Nachteil für die Aufgaben der Fakultät für Lehre und Forschung ist die faktisch beschlossene Verlagerung der Bibliothek als ein weiterer Schritt mit politischem Hintergrund anzusehen, eine sportwissenschaftliche Institution in Form der ehemaligen Zentralbibliothek für Körperkultur und Sport der DDR, die ein fester Bestandteil der DHfK gewesen ist, auf ein Abstellgleis abzuschieben. Man sah die Abwicklung der DHfK im Jahre 1990 wahrscheinlich noch nicht als abgeschlossen an, sie wird nun mit der Bibliothek praktisch vollendet, wenn die Verlagerung Realität werden sollte. Die Zusammenlegung der "Literatur der Sportwissenschaften" mit den "Lebenswissenschaften" in der Liebigstraße, wie es in der LVZ vom 9.6.2011 heißt, verschiebt den noch vorhandenen Bibliotheksbestand an der Sportfakultät in die Bedeutungslosigkeit. Das ist als Geringschätzung sportwissenschaftlicher Leistungen in Vergangenheit und Gegenwart anzusehen. Es handelt sich in dem konkreten Fall eben um besondere Bibliotheksbestände der ehemaligen DHfK, der DDR, einer leistungsfähigen, international geschätzten Sportnation. Das Sparprogramm, das den Universitäten von der Landesregierung auferlegt wurde, schlägt auch auf die Bibliotheken durch. Die erst 2011 ins Amt als neue Rektorin der Universität Leipzig eingeführte Prof. Dr. Beate Schücking reagierte im Interview (LVZ v. 11./12.6.2011) auf die Frage: "Was kommt auf Sie mit dem Hochschulentwicklungsgesetz zu?" Antwort: "Sparen, sparen, unter anderem mit 70 Stellen, die an der Universität Leipzig bis 2015 abzubauen sind."

In Bibliotheken wird schriftliches Kulturgut gesammelt, erhalten, stets weiter vervollständigt, für Interessenten und die Wissenschaft aufbereitet und zugänglich gemacht. Um dieser Funktion noch Nachdruck zu verleihen, wurde 2001 die "Allianz Schriftliches Kulturgut erhalten" in Deutschland gegründet, als nationale Aufgabe erklärt und vom Bundestag bestätigt. Der Dekan der Fakultät drückt dagegen selbstherrlich die Verlagerung der Bibliothek durch. Prof. Dr. Martin Busse, ist Sportmediziner, kommt aus den alten Bundesländern und bekleidet die Funktion des Dekans erst seit 2010, er erweist sich damit nicht als Verteidiger der Sportwissenschaft und seiner Institution. Die DHfK hat sich immer auch als Teil der Sportorganisation der DDR verstanden, weil sich der DDR-Sport stets auf sportwissenschaftliche Erkenntnisse stützte und stützen konnte. Somit reiht sich die beabsichtigte Verlagerung der sportwissenschaftlichen Bibliothek aus der ehemaligen DHfK in die Reihe von Verunglimpfungen des DDR-Sports nach 1990 durch bestimmte Kräfte und Gremien ein. Wohl kaum werden die Studierenden mit ihren Protestaktionen Erfolg haben und die Verlagerung rückgängig gemacht wird. Als Student der DHfK in den 50er Jahren und durch die Tätigkeit als Hochschullehrer in den 70er und 80er Jahren an dieser Hochschule verbindet mich auch eine enge Beziehung zu dieser Bibliothek. Eine Verlagerung an einen anderen Standort ist für mich unfassbar. Ich werde weitere Entwicklungen aufmerksam verfolgen.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Die DHfK in der Jahnallee in Leipzig in den 70er Jahren

Raute

Fakten und Meinungen

Horst Schneider

Strasbourg verordnet "europäisches" Geschichtsbild auf antikommunistischer Grundlage

W.I. Lenin schrieb "Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa" 1915, am Beginn des Ersten Weltkrieges.(1)

Er wies nach, dass die "Vereinigten Staaten von Europa" unter kapitalistischen Bedingungen entweder unmöglich oder reaktionär sind. Dass das heutige "Europa" ein Zusammenschluss imperialistischer Staaten, also reaktionär ist, werden nur wenige übersehen. Damit werden auch die menschenfeindlichen Folgen, die Lenin voraussah, Realität. Die imperialistischen Staaten Europas streben eine gemeinsame Außen- und Militärpolitik an, der Deutschland weitgehend den aggressiven Stempel aufdrückt.

Aber es reicht den Mächtigen nicht, die imperialistischen Eigentums- und Machtverhältnisse auszubauen, sie halten auch einen "Europäischen" Überbau für unabdingbar. Die Forderung nach Überwindung "nationaler" Geschichtsbilder und die Installierung eines "europäischen" Geschichtsbildes sind zentrale Themen der Politik geworden.(2)

Am 2. April 2009 verabschiedete das europäische Parlament den Beschluss "Europas Gewissen und der Totalitarismus". Das Abstimmungsergebnis lautete: 553 Abgeordnete stimmten mit ja, 44 mit nein, 33 enthielten sich der Stimme.

Der Beschluss fordert von allen "europäischen" Staaten, den 23. August, an dem 1939 der Nichtangriffspakt zwischen der Sowjetunion und Hitlerdeutschland abgeschlossen worden war, als gemeinsamen Gedenktag zu begehen.

Ein solch ungewöhnlicher Schritt verlangt, die Ursachen, Absichten und Folgen eines derartigen Beschlusses genauer zu prüfen. Zunächst fallt auf, dass der Wortlaut des Dokuments 2009/01213 kaum in den Medien analysiert wurde, die "Blätter für deutsche und internationale Politik" ausgenommen.(3)

Dabei reizt schon der merkwürdige Aufbau des Beschlusses zur genaueren Prüfung. Der Text ist in drei Teile zerlegt: Am Anfang erfolgen zehn "Hinweise" auf UNO-Dokumente und frühere Strasbourger Beschlüsse. Darunter befindet sich sogar ein Hinweis auf die Erklärung "vom 4. Juli 2006 - 70 Jahre nach dem Staatsstreich von General Franco in Spanien". Auf einen "Hinweis" verzichtete das Strasbourger Parlament 2009: Im Februar 1993 hatte dasselbe Parlament eine Entschließung angenommen, in der "jegliche willkürliche Verquickung zwischen der Realität der nationalsozialistischen Lager und ihre Nutzung nach dem Krieg" (wie z.B. in Buchenwald) streng verurteilt wurde.(4)

Das war auch eine Absage an die Totalitarismus-Doktrin gewesen. Sechzehn Jahre später beschloss das Parlament das Gegenteil. Wann haben die Abgeordneten im Kopfstand abgestimmt? Wie erklärt sich der Sinneswandel? Mit dem veränderten Personal, den Esten, Litauern, Tschechen usw.? Mit dem allgemeinen Rechtstrend in den meisten europäischen Staaten?

Den zehn "Hinweisen" folgen vierzehn "Erwägungen". Ich zitiere die erste und die vierzehnte Erwägung:

"A. In der Erwägung, dass Historiker darin übereinstimmen, dass völlig objektive Auslegungen historischer Tatsachen nicht möglich sind und es keine objektive Geschichtsschreibung gibt ..."

Folgt aus dieser "Erwägung", dass das EU-Parlament per Dekret diese einheitliche Geschichtsschreibung vorzunehmen hat? Mit welcher Legitimation? ...

"N. in der Erwägung, dass es vom Blickwinkel der Opfer aus unwesentlich ist, welches Regime sie aus welchem Grund auch immer ihrer Freiheit beraubte oder sie foltern oder ermorden ließ ... "

Sind die "Opfer" und die Ursachen für die Repressionen wirklich gleichzusetzen? Sind die jungen polnischen Katholiken, die für die Befreiung ihrer Heimat kämpften und in Dresden unter dem Fallbeil der faschistischen Justiz endeten, tatsächlich mit denen auf eine Stufe zu stellen, die als Kriegsverbrecher mit dem gleichen Tod sühnten? (In Buchenwald, Torgau, Landsberg und anderswo tauchen die gleichen Fragen auf.)

Die "Gleichheit" im Sterben hebt die Ungleichheit der Biographien nicht auf. Das kann auch ein Beschluss honorierter Abgeordneter nicht. Wohin würde die von ihnen dekretierte Geschichtsschreibung führen?

Nach den zehn "Hinweisen" und vierzehn "Erwägungen" folgt der eigentliche Beschluss des Strasbourger Parlaments, das in siebzehn Punkten erklärt: "Es

1. bekundet seinen Respekt für sämtliche Opfer totalitärer und undemokratischer Regimes und bezeugt seine Hochachtung denjenigen, die gegen Tyrannei und Unterdrückung gekämpft haben;

2. bekräftigt seinen Einsatz für ein friedvolles und wohlhabendes Europa auf der Grundlage der Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenwürde;

3. betont, wie wichtig es ist, das Gedenken an die Vergangenheit wach zu halten, da es keine Aussöhnung ohne Wahrheit und Erinnerung geben kann, bekräftigt vereinte Ablehnung aller Formen des Totalitarismus jedweden ideologischen Hintergrunds;

4. erinnert daran, dass die jüngsten Verbrechen gegen die Menschheit und Akte von Völkermord in Europa noch im Juli 1995 stattfanden und dass es der ständigen Wachsamkeit bedarf, um undemokratische, fremdenfeindliche, autoritäre und totalitäre Ideologien und Tendenzen zu bekämpfen;

5. unterstreicht, dass Dokumentationen und Augenzeugenberichte zur bewegten Vergangenheit Europas zwecks Stärkung des europäischen Bewusstseins für die Verbrechen totalitärer und undemokratischer Regime Unterstützung verdienen, da es keine Wiederaussöhnung ohne Erinnerung geben kann;

6. bedauert, dass der Zugang zu Dokumenten, die von persönlicher Bedeutung bzw. für die wissenschaftliche Forschung notwendig sind, 20 Jahre nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Staaten in Mittel- und Osteuropa in einigen Mitgliedstaaten noch immer über Gebühr eingeschränkt wird; fordert konkrete Bemühungen in allen Mitgliedstaaten mit Blick auf eine Öffnung der Archive, einschließlich der internen Sicherheitsdienste, der Geheimpolizei und der Nachrichtendienste, wobei jedoch Schritte unternommen werden müssen,um sicherzustellen,dass dieser Prozess nicht zu politischen Zwecken missbraucht wird;

7. verurteilt entschieden und unzweideutig alle Verbrechen gegen die Menschheit und die massiven Menschenrechtsverletzungen, die von sämtlichen totalitären und autoritären Regimen begangen worden sind; bekundet den Opfern dieser Verbrechen und ihren Familienangehörigen sein Mitgefühl, sein Verständnis und seine Anerkennung ihrer Leiden;

8. erklärt, dass die europäische Integration als Modell für Frieden und Aussöhnung auf einer freien Entscheidung der Völker Europas beruht, sich zu einer gemeinsamen Zukunft zu verpflichten und dass der Europäischen Union eine besondere Verantwortung für die Förderung und die Sicherung der Demokratie sowie die Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit sowohl innerhalb als auch außerhalb der Europäischen Union zukommt;

9. fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, weitere Bemühungen zu unternehmen, um den Unterricht über europäische Geschichte zu intensivieren und die historische Errungenschaft der europäischen Integration sowie den augenfälligen Gegensatz zwischen der tragischen Vergangenheit und der friedlichen und demokratischen Gesellschaftsordnung in der heutigen Europäischen Union herzustellen;

10. vertritt die Auffassung, dass eine angemessene Bewahrung der historischen Erinnerung, eine umfassende Neubewertung der europäischen Geschichte und eine europaweite Anerkennung aller historischen Aspekte des modernen Europa die europäische Integration stärken werden;

11. fordert in diesem Zusammenhang den Rat und die Kommission auf, die Tätigkeiten nichtstaatlicher Organisationen wie etwa Memorial in der Russischen Föderation, die aktiv darum bemüht sind, Dokumente im Zusammenhang mit den während der stalinistischen Zeit verübten Verbrechen ausfindig zu machen und zusammenzutragen, zu unterstützen und zu verteidigen;

12. bekräftigt seine anhaltende Unterstützung für ein verstärktes internationales Justizsystem;

13. fordert die Errichtung einer Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas, um Unterstützung für die Vernetzung und die Zusammenarbeit unter nationalen Forschungsinstituten zu bieten, deren Fachgebiet die Geschichte des Totalitarismus ist, sowie die Errichtung eines gesamteuropäischen Dokumentationszentrums bzw. einer gesamteuropäischen Gedenkstätte für die Opfer aller totalitären Regime;

14. fordert eine Verstärkung der bestehenden einschlägigen Finanzinstrumente mit Blick auf die Unterstützung der professionellen historischen Forschung zu den vorstehend genannten Themen;

15. fordert die Erklärung des 23. August zum europaweiten Gedenktag an die Opfer aller totalitären und autoritären Regime, der in Würde und unparteiisch begangen werden soll;

16. ist davon überzeugt, dass das letztliche Ziel der Offenlegung und Bewertung der von totalitären kommunistischen Regimen begangenen Verbrechen in der Wiederaussöhnung besteht, die durch das Eingeständnis der Verantwortung, die Bitte um Vergebung und die Förderung einer moralischen Erneuerung erreicht werden kann;

17. beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung dem Rat, der Kommission, den Parlamenten der Mitgliedstaaten, den Regierungen und Parlamenten der Bewerberländer, den Regierungen und Parlamenten der mit der Europäischen Union assoziierten Länder sowie den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten des Europarates zu übermitteln."

Wer den Text analysiert wird finden: Es handelt sich um Sprechblasen, Phrasen, vieldeutige unbewiesene Behauptungen. Definitionen fehlen völlig.

Was ist unter totalitär und autoritär zu verstehen? Welche Staaten sind damit gemeint? Worin besteht das "europäische Bewusstsein"? Was geschah am 23. August, womit ist gerade dieser Tag geeignet, zum Gedenktag für "Opfer" in ganz Europa zu werden?

Vielleicht sind der Schwulst und die inhaltliche Leere des Dokuments der Grund, weshalb Andreas Kleiner und Katrin Eichel eine Kurzfassung der Entschließung als Pressemitteilung des Europaparlaments herausgegeben haben:

"Um die Vernetzung und die Zusammenarbeit unter nationalen Forschungsinstituten zu unterstützen, deren Fachgebiet die Geschichte des Totalitarismus ist, fordert das EP die Errichtung einer 'Plattform einer für das Gedächtnis und das Gewissen Europas'. Auch für die Errichtung eines gesamteuropäischen Dokumentationszentrums bzw. einer gesamteuropäischen Gedenkstätte für die Opfer aller totalitären Regime spricht sich das EP aus. 'Entschieden und unzweideutig' verurteilen die Abgeordneten des EP alle Verbrechen gegen die Menschheit und die massiven Menschenrechtsverletzungen, die von sämtlichen totalitären und autoritären Regimes begangen worden sind. Zugleich bedauern sie, dass der Zugang zu Dokumenten, die von persönlicher Bedeutung bzw. für die wissenschaftliche Forschung notwendig sind, 20 Jahre nach dem Zusammenbruch der totalitären und autoritären kommunistischen Regime in Mitteleuropa in einigen Mitgliedstaaten noch immer über Gebühr eingeschränkt wird. Die Archive, einschließlich der Archive der ehemaligen internen Sicherheitsdienste, der Geheimpolizei und der Nachrichtendienste müssten geöffnet werden. Es müsse jedoch sichergestellt werden, 'dass dieser Prozess nicht zu politischen Zwecken missbraucht wird'.

EU-Ministerrat und EU-Kommission werden in diesem Zusammenhang aufgefordert, die Tätigkeiten nichtstaatlicher Organisationen, wie etwa Memorial in der Russischen Föderation, die darum bemüht sind, Dokumente im Zusammenhang mit den Opfern während der stalinistischen Zeit ausfindig zu machen und zusammenzutragen, zu unterstützen und zu verteidigen."

In der "Kurzfassung" ist klarer: Totalitäre Staaten sind die "kommunistischen" Staaten, gesucht wird nach den "Opfern des Stalinismus". Die "zwei Diktaturen" schrumpfen auf eine. Die faschistischen Diktaturen verschwinden mit diesem Zaubertrick aus der Geschichte. Das scheint auch eine der Absichten der Verfasser der Entschließung der EU zu sein. Wenn es tatsächlich um ein Gedenken an Opfer totalitärer Gewalt ging, böten sich andere Daten, der 30. Januar 1933 zum Beispiel, oder der 8. Mai 1945. Warum der 23. August 1939? Es handelt sich um den Tag, an dem Hitlerdeutschland und die Sowjetunion den Nichtangriffspakt abschlossen, der in der Literatur häufig zum Hitler-Stalin-Pakt avancierte, obwohl weder der "Führer", noch der Generalissimus unterzeichnet hatten. Dieser Vertrag scheint die Wesensgleichheit zweier totalitärer Diktaturen zu beweisen. Wenn der Pakt jedoch in seiner Zeit auf Ursachen und Folgen analysiert wird, gibt es keinen Grund, die Haltung der Sowjetunion zu verurteilen.

Der Nichtangriffspakt war nicht die Ursache des Zweiten Weltkrieges, für den die Weichen durch Hitlerdeutschland längst gestellt waren. Selbst der Tag des Kriegsbeginns lag im August 1939 längst fest.(5)

Die Regierung der UdSSR hatte der geplanten Aggression Hitlerdeutschlands gen Osten mit einem System der kollektiven Sicherheit begegnen wollen, das die Westmächte und Polen hätte einschließen müssen.(6) Die Politik der Westmächte wurde davon geprägt, dass sie Hitlers Aggression gegen die Sowjetunion lenken wollten.

Stalin erklärte öffentlich, dass die Sowjetunion nicht für andere die Kastanien aus dem Feuer holen werde. Die UdSSR versuchte, die tödliche Gefahr der faschistischen Aggression so lange wie möglich hinauszuzögern. Der Nichtangriffspakt bot eine Möglichkeit. Er schuf nicht nur eine "Atempause", sondern auch Voraussetzungen dafür, dass die UdSSR unter besseren Bedingungen den Aggressoren entgegen treten konnte. Der Nichtangriffspakt ist zu rühmen, nicht zu tadeln, denn er ist ein Glied in der Kette der Ereignisse, in deren Ergebnis der Sieg über die faschistische Barbarei möglich wurde. Die Hauptlast haben die Völker der Sowjetunion getragen.(7)

Wenn hier davon ausgegangen wird, dass der Nichtangriffspakt die weitere historische Entwicklung positiv beeinflusste, werden damit nicht Fehler und verbrecherische Entscheidungen Stalins gerechtfertigt, die nicht mit dem Pakt verbunden sein mussten. Aber es ist unhistorisch, den Pakt als "Teufelswerk zweier Diktatoren" zu verleumden, indem eine moralische Messlatte an das Handeln allein der sowjetischen Führung gelegt wird, die es in der internationalen Politik ansonsten nicht gibt.

Das zeigt sich nicht nur bei den Kriegshandlungen der Westalliierten (Dresden, Hiroshima), sondern auch bei der Politik Deutschlands in der Gegenwart.

Als Horst Köhler Deutschlands Teilnahme am Krieg in Afghanistan nicht mit moralischen Werten begründete, sondern wahrheitsgemäß mit ökonomischen Interessen, erzeugten bestimmte Medien einen solchen Druck, dass er kapitulierte.

Kehren wir zum Thema zurück. Die prinzipielle Frage ist: Wer hat das Europaparlament ermächtigt, einen Beschluss zur Wertung eines historischen Fakts zu fassen?

Wer darf aus heutiger Sicht festlegen, was 1939 für die Stalinsche Führung politisch "zulässig" war? Wie kann eine "europäische" Institution das Geschichtsbild der Russen verordnen? Übernehmen jetzt "Politiker" die Erarbeitung von geschichtlichen Wertungen?

Michail Gorbatschow, der Abgott der Konterrevolutionäre, hat sich am 70. Jahrestag der Oktoberrevolution 1987 auch zum Nichtangriffspakt geäußert: "Man sagt, der Abschluss des Nichtangriffspaktes mit Deutschland sei nicht die beste Entscheidung der Sowjetunion gewesen. Das mag stimmen, wenn man nicht von der heutigen Realität, sondern von gedanklichen Abstraktionen, herausgelöst aus dem zeitlichen Kontext, ausgeht. Auch unter den damaligen Bedingungen stellte sich die Frage etwa so, wie in der Zeit des 'Brester Friedens': Es ging um Sein oder Nichtsein des Sozialismus auf der Erde."(8)

Aus der Wertung Gorbatschows von 1987 ergibt sich die politische Alternative: Wer 1939 die weitere Existenz des Sozialismus wollte, musste für den Nichtangriffspakt sein. Wer ihn ablehnte, wollte das schnelle Ende der Sowjetunion.

Mit Gorbatschows Logik lässt sich die Funktion der Strasbourger Entschließung entschlüsseln. Zu bedenken ist, dass dieses Dokument nur eines der Signale ist, das uns zeigt, dass der Streit um ein der Wahrheit angenähertes Geschichtsbild zu einer Erinnerungsschlacht entartet.

Günter Morsch, der Leiter einer Gedenkstätte mit "doppelter Vergangenheit" ist, äußerte sich zu dem vor sich gehenden Streit: "Viele Autoren und Wissenschaftler beschreiben den Prozess der Herausbildung einer neuen kollektiven Erinnerungskultur mit drastischen Worten. Man spricht von 'Schlachtfeldern', 'Deutungskämpfen', 'Waffen', 'Mobilisierungen', 'Feinden', 'Trennlinien', 'Schutzgräben', oder sogar wie Harald Welzer vom 'Krieg der Erinnerung'. Auch andere Begriffe aus der Militärsprache werden benutzt, um die ausgebrochenen Konflikte um die europäische Erinnerungspolitik zu charakterisieren."(9) Ist das der Weg zur Versöhnung, den das Europaparlament verspricht?

Inzwischen ist die "Europäisierung" der Geschichtsschreibung weit fortgeschritten, wie ein Blick in die Literatur zeigt.(10)

Die "Prager Erklärung" vom Juni 2008, an der Vaclav Havel mitgewirkt hatte, war ein Katalysator auf diesem Weg.(11)

Wenn die Verketzerung des Kommunismus in den Mittelpunkt "europäischer" Politik rückt, darf ein "Handbuch" nicht fehlen, das der Ex-Maoist und Renegat Stephane Courteois prompt lieferte.(12)

Der Antikommunismus soll der ideologische Kitt der "Europa"-Politik werden. Es ist unübersehbar: Der neue "Kreuzzug" gegen den Kommunismus ist intensiv vorbereitet worden und seine Organisatoren verfügen über beträchtliche Mittel und Erfahrungen.

Was die Erfahrungen betrifft, sei hier nur an eine Episode erinnert. Nach seiner Rückkehr aus den USA 1946 begann Hitlers Spionage-Spezialist General Reinhard Gehlen mit dem Aufbau des Adenauer-Geheimdienstes. Gehlen bekundete später: "Die Grundlage ist das gemeinsame Interesse an der Verteidigung gegen den Kommunismus."(13)

Wessen und welches "gemeinsames Interesse" ist heute ausschlaggebend? Im Folgenden werden nur einige aktuelle Beispiele aufgelistet.

Die Überlegungen von Gesine Lötzsch zum Thema "Wege zum Kommunismus"(14) rief eine Armee von Berufs-Antikommunisten auf den Plan.

In Tschechien mutierten Terroristen und Mörder wie die Brüder Masin, die im Herbst 1953 DDR-Bürger ermordeten, zu Helden. Nach der "Wende" wurden sie mit dem Masaryk-Preis ausgezeichnet und von Prager Regierungsmitgliedern geehrt.(15)

2007 war Josef Masin, einer der Mörder, in Berlin. Er wurde nicht verhaftet - Mord verjährt nicht -, sondern trat öffentlich auf. Unter seinen Zuhörern waren u. a. die Pfarrer Markus Meckel und Joachim Gauck, Marianne Birthler, die Geschichtsprofessoren Professor Dr. Manfred Wilke und Dr. Bernd Faulenbach. Wer fühlt sich unter Mördern wohl?

Der polnische Historiker Bogdan Musial, der recht gut von deutschen Sponsorengeldern lebt, erhielt in der FAZ vom 16. Juni 2004 viel Platz, um die Partisanen des Zweiten Weltkrieges als Plünderer, Brandstifter und Mörder zu verteufeln.(16)

Es gäbe haarsträubende Beispiele der Geschichtsklitterung aus Ungarn, Bulgarien, den früheren baltischen Sowjetrepubliken anzuführen.(17)

Es scheint sich abzuzeichnen, dass nunmehr auch das heikle Thema "Vertreibung", auf das deutsche Revanchisten ein Monopol beanspruchten, im Namen des Antikommunismus eine "europäische Dimension" erhält.(18)

Es dürfte hohe Zeit sein, dass die europäischen Linken sich im Interesse ihrer Zukunft über eine langfristige und wirksame Gegenstrategie verständigen.

Oder wollen sie die "Arbeit am europäischen Gedächtnis"(19) den Courtois und Gauck überlassen? Welches Gedächtnis wird "Europa" dann haben?


Anmerkungen:

(1) W.I. Lenin: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. II, Berlin 1970, S. 615 f.

(2) Erich Röper: Europas Einheit als politische Aufgabe, Deutschland Archiv 4/2010, S. 967 f.; Birgit Hofmann: Diktaturüberwindung in Europa; Neue nationale und transnationale Perspektiven, Heidelberg 2010

(3) Günter Morsch: Geschichte als Waffe, Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2010, S. 109 f.

(4) Ebenda, S. 110

(5) Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der UdSSR, Handbuch der Verträge 1971-1964, Berlin 1968, S. 306 f.; Kurt Bachmann: Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt, Unsere Zeit, 28. August 2009

(6) Berndt Jürgen Wendt: Deutschland 1933-1945. Das Dritte Reich, Hannover 1995, S. 447 f.

(7) Fritz Klein: Kriegsgefahren und Friedenschancen im 20. Jahrhundert, Berlin 1985, S. 35 f.

(8) Michail Gorbatschow: Rede zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution, APN-Verlag Moskau 1987, S. 40

(9) Günter Morsch, a.a.O., S. 117

(10) Thomas Flierl/Elfriede Müller (Hrsg.): Osteuropa - Schlachtfeld der Erinnerungen, Berlin 2010; Thomas Großbölting und andere (Hrsg.): Das Ende des Kommunismus. Die Überwindung der Diktaturen in Europa und ihre Folgen, Essen 2010; Stefan Troebst (Hrsg.): Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven, Göttingen 2010

(11) Siehe junge Welt vom 23. Juni 2008

(12) Stephan Courois (Hrsg.): Das Handbuch des Kommunismus. Geschichte - Ideen - Köpfe, München 2010

(13) Reinhard Gehlen: Der Dienst, 1971, S. 149

(14) Text in junge Welt, 3. Januar 2011

(15) Klaus Huhn: Mörder sind unter uns, Berlin 2010

(16) Horst Schneider: Waren Partisanen Brandstifter und Plünderer? FAZ 19. Juli 2004

(17) Valkow Valkanow: Hitler und seine bulgarischen Erben, IGARUS 4/2010, S. 19 f.; Frank Brendle: Geschichte auf Litauisch, junge Welt 16. Dezember 2010

(18) Witolt Sienkiewicz/Grzegorz Hryciuk: Illustrierte Geschichte der Flucht und Vertreibung; Ost- und Mitteleuropa 1939 bis 1959, Augsburg 2009

(19) Hendrik Bindefeld: Arbeit am europäischen Gedächtnis, Deutschland Archiv 6/2010, S. 1094 f.

Raute

Fakten und Meinungen

Brigitte Queck

Kosovo - ein Mafia-Staat?

Nach den Parlamentswahlen im Kosovo mit ca. 48prozentiger Wahlbeteiligung der dortigen Bevölkerung, laut Deutscher Presseagentur vom 13.12.2010, hat Thaci mit 36 Prozent der Stimmen die Wahl gewonnen. Doch es wurden auf der ganzen Welt Stimmen laut, dass Thaci auch in Praktiken des Organhandels weltweit eingebunden ist und daran Unsummen verdient.

W. Pirker hat über die Praktiken des Mafia-Staates in der jungen Welt einen Beitrag geschrieben Mafiastaat. Thaci ein gemeiner Verbrecher? (siehe junge Welt vom 16.12.2010), dem ich ein paar, meines Erachtens zum Teil unbekannte, Fakten zufügen möchte.

Endlich wird es auch international publik, dass der Kosovo ein Verbrecherstaat ist.

Alle NATO-Staaten, die diesen Staat durch Bomben auf ganz Jugoslawien 1999 und die schließliche diplomatische Anerkennung des Kosovo unter völkerrechtswidriger Umgehung der UNO-Resolution 1244 ins Leben riefen, müssten sich abgrundtief schämen.

Die Medien wollten ja 1999 den Menschen weis machen, dass alle Kosovo-Albaner für einen von Jugoslawien abgespaltenen Staat wären.

Dem war aber bei weitem nicht so. Hier nur einige Fakten, die dem widersprechen:

- Ein internationales Söldner-Heer wurde in Albanien und - nach mündlichen Aussagen Betroffener - auch im Süden Deutschlands ausgebildet, das vor 1999 als nationale Befreiungsbewegung im Kosovo zum Einsatz kam;

- Nach den Präsidentschaftswahlen in Jugoslawien im Jahre 2000 war Angelika Beer, damalige verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen, über eine Woche im Kosovo gewesen.

In einer Life-Übertragung im ZDF am 8. Oktober 2000 (diese wurde nur ein Mal im Fernsehen gesendet!) brachte sie ihr Erstaunen zum Ausdruck, dass alle Kosovo-Albaner, die sie befragt hatte, ihr tiefes Bedauern ausgesprochen hatten, dass nicht Milosevic, sondern Kostunica an die Macht gelangt war. Diese Feststellung passte jedoch nicht in das Bild, das in Deutschland und anderen NATO-Staaten über Milosevic gezeichnet worden ist, da ja Milosevic als der Bösewicht schlechthin zu gelten hatte, mit dem man das NATO-Bombardement Jugoslawiens rechtfertigen wollte.

- Aber nicht der so genannte Völkermord an den Kosovo-Albanern (vgl. Einschätzung des deutschen Brigadegenerals und Stellvertretenden des Beraterstabes bei der OSZE in Wien für den Kosovo, Loquai, der in seinem Buch Wege in einen vermeidbaren Krieg, auf Seite 37 von über 264 Toten auf Seiten der Serben und der UCK vor dem NATO-Bombardement auf Jugoslawien berichtete, war der Grund für das NATO-Bombardement gewesen, sondern die unermesslichen Naturreichtümer des Kosovos: 77.302.106 t Steinkohle, Kupfer, Zink, Blei, Nickel, Gold, Silber, Marmor, Mangan, Eisen, Asbest, Kalkstein u. a., um nur einige zu nennen, deren Wert auf über Zehntausend Milliarden Dollar geschätzt wird.

- Die Trepca-Minen, die bis 2000 in den Händen serbischer und albanischer Arbeiter lagen und die bewusst vom NATO-Bombardement ausgespart worden waren,wurden von den Arbeitern bis zum Jahre 2000 bewacht, bis unter Verbreitung faustdicker Lügen in der Weltöffentlichkeit (wie die angebliche Verbrennung von 1500 Kosovo-Albanern in diesem Schacht, Umweltverschmutzungen und gesundheitliches Risiko der Minen) schließlich am 14. August 2000 Helikopter mit 900 bis an die Zähne bewaffneten britischen, französischen, italienischen und pakistanischen KFOR-Soldaten in den Trepca Minen landeten. Arbeiter, die ihr Werk erbittert verteidigten, wurden brutal zusammengeschlagen und z.T. schwer durch Tränengas und Plastikgeschosse verletzt.

Anschließend wurden Betriebsleiter, Manager und widerständische Arbeiter gefangengenommen.

In UNO-Papieren liest sich das bis heute so: Einleitung des Demokratisierungsprozesses im Kosovo.

Aber in Wirklichkeit konnte man nun damit beginnen, die Trepca-Minen an private ausländische Konzerne zu verscherbeln.

Der mehrfach gesuchte Mörder an den Serben in der Kraina, Ceku, der vor 1999 von der amerikanischen Söldnerfirma MPRI in Virginia als Killer ausgebildet und von einem jugoslawischen Gericht für die Ermordung von 669 Serben verantwortlich gemacht wurde, war von 2006 bis Anfang 2008 Regierungschef (Ministerpräsident) des Kosovo und leitete in dieser Zeit sowohl die von der UNMIC geschaffene ICMM, als auch die KTA, beide verantwortlich für Privatisierungen im Kosovo!

Diese Beispiele mögen reichen, um zu beweisen, dass es den meisten Kosovoalbanern 1999 nicht um die Abspaltung von Jugoslawien ging und der NATO bei ihren Bombardements im Kosovo schon gar nicht um Menschenrechte, sondern um Maximalprofite im Interesse der Monopole.

Das Gleiche trifft für die NATO auch in anderen Ländern zu.

Für Maximalprofite der Reichsten werden durch den Think Tank Kriege wie auf dem Schachbrett entworfen, die Meinung der Weltöffentlichkeit manipuliert (siehe gegenwärtig: Iran oder der Sudan), um schließlich in den vom Monopolkapital inszenierten Kriegen mit Tausenden von Menschenopfern in den betroffenen Länder zu enden.

Wie die Beispiele Jugoslawien, Irak oder Afghanistan anschaulich zeigen, spielt dabei keine Rolle, ob die Opfer Serben, Araber oder Menschen anderer Herkunft sind. Das bei unserem Denken zu berücksichtigen und über den nationalen Tellerrand hinauszuschauen, wäre wichtig, um den wirklichen Feind aller Völker auf der Welt zu erkennen und unsere Kräfte endlich zu bündeln.

Raute

Fakten und Meinungen

Heidrun Hegewald

Zwanzig Jahre GBM

Rede zur Festveranstaltung am 31. Mai 2011

Liebe Freundinnen und Freunde,
"Von seinen Feinden lernen ist der beste Weg dazu, sie zu lieben ..." Mit dieser Feststellung macht Nietzsche mich ratlos. Oder ich fasse sie als einen Witz, über den er sagt: "Der Witz ist das Epigramm auf den Tod eines Gefühls."

Nun will ich damit nicht sagen, ich hätte Zeit für ein Gefühl verschwendet. Nicht mal das! Es mangelt mir auch nicht an Lernbereitschaft - aber das deutsche Einigvolk verharrt in Gesinnungsfeindschaft, die so aussieht: Wir können beim besten Willen von unseren Feinden nichts lernen und diese wollen von uns schon gar nichts lernen.

Dem kolonialisierten Ostdeutschland wurden in Tradition der Kolonial-Geschichte die Merkmale der Geistigkeit des historischen Gedächtnisses zerstört und die Denkmale, die Kulturmale vernichtet, verdammt und entwertet verborgen.

Ich will mich an dieser Stelle an eine Hoffnung erinnern. DAS ANTIEISZEITKOMITEE ist - und war einmal in einem bedeutend anderen Umfang - ein Zusammenschluss von Kultur-Berufenen zur Rettung und Bewahrung der Kultur, seit 1990. Dort entwickelte sich die Vorstellung, die PDS in die Verantwortung zu nehmen und kompetente Anleitung zu geben, um ein oppositionspolitisches Instrumentarium in der Kultur und ihren verschiedenen Sparten zu erkennen. Erfolglos angeboten und eingeklagt. Ein Gedanken-Leitpapier wurde erarbeitet in Vorbereitung einer Tagung des Parteivorstandes. Außer massiven Vorhaltungen entwarfen wir praktische Maßnahmen.

Ein Zitat: "Dieses Loslassen, der Verrat aus Inkompetenz, das Freigeben eines so nötigen Vorweises des intellektuellen Werte-Systems begünstigt in Fahrlässigkeit die Vernichtung der Kultur-Identität der Ostdeutschen." Das war ein inhaltlich massives Neunseitenpapier, das nicht verstanden wurde. Am 24. November 1991 besetzte DAS ANTIEISZEITKOMITEE mit Verbündeten aus der Politik das Karl-Liebknecht-Haus. In verschiedenen Etagen und Räumen trugen wir kulturvoll unser Anliegen vor. Es wurde ein tragisches Mißverständnis. Gregor Gysi bedankte sich für die interessante Abwechslung. Die gesellschaftliche Funktion der Kunst wird bis heute nicht verstanden. Hin und wieder haben wir in Berichten dieser Partei das Wort Kultur gezählt, später gesucht. Das war ein intensiver Kampf, in einer Niederlage endend, mit einer Organisation, die kulturlos ist! Aber vielleicht ist das die Besonderheit aller Parteien.

Meine Enttäuschung an diesem Tag war groß. Meine Angst vor dem Vergessen wuchs. Vergessen, das unscharfe Schatten wirft, die nicht mehr definieren lassen, was ausgefülltes Leben war.

Auch Horst Kolodziej dürstete nach organisierten Strukturen. So kannte ich ihn. Es ist ihm unendlich zu danken für seinen besonderen Anteil am Entstehen des "Sitte-Kreises" und dafür, Kulturbewusstsein in der GBM zu festigen. Wir traten aus der Vereinzelung. Wir kräftigten uns in der Kultur des Erinnerns. In Kultur leben, mit Kultur und durch Kultur oder auch von Kultur leben ist ein Menschenrecht. Der "Freundeskreis Kunst aus der DDR" ist unser Instrument in der GBM. Zeitzeugen schufen, veröffentlicht oder im Vortrag mit Gespräch, ein Erinnerungswerk, um zu hinterlassen, was mit Kultur in einer sozialistischen Zivilisation gemeint war. Denken wir zum Beispiel an die "Weißbücher". So pflegen wir die Kultur des Gedächtnisses - das Gedächtnis der Kultur Wir kultivieren ein humanistisches Gegengewissen. Eine unverzichtbare Hypothek, unser Anspruch, der nicht aufgegeben werden darf, eben auch nicht gegenüber einer Partei, die wir als gesellschaftliche Alternative brauchen und zur Opposition gegen das Kapital verpflichten. Das geht nicht ohne Kulturbewußtsein.

Die Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde hat Kultur Sie kann es nun schon zwanzig Jahre unter Beweis stellen. Sie hat die Kunst als vielfältiges Zeugnis in ihr Programm genommen. Dass es möglich war, bei zumeist finanziell bedrückender Lage, eine so kultiviert gestaltete und beinhaltete Zeitschrift wie den ICARUS intern und welthaltig herzustellen, verdient große Anerkennung. Der uneingeschränkte Dank für diese bewundernswerte Leistung geht an den langjährigen Chefredakteur Peter Michel und auch an Maria Michel. Ohne qualitativen Bruch führt Klaus Georg Przyklenk die verantwortungsvolle redaktionelle Arbeit weiter. Pflegend unser Gedächtnis in kontinuierlicher Beweisführung unseres Handelns und unserer Haltung, ist die GBM der institutionelle Träger, um diese Zeichen zu verdinglichen.

Sie erlauben mir, noch einmal auf das Gedankenleitpapier, mit dem wir 1991 versuchten, die PDS als Verbündete zu gewinnen, zurückzukommen. Denn unsere kritische Wortverzweiflung von damals ist ein ausdrückliches Lob für unsere Gesellschaft, die GBM, heute.

Ich zitiere: "Wechselreigen der Irrtümer: Was bleibt der Geschichte an Wahrhaltigkeit der Kulturüberlieferungen, wenn zusammenstürzende Systeme jedes Denkmal mitzureißen haben und Lexika in Korrektur zu geben sind? Geschichte ist Verhältnismäßigkeit von Tat und Untat, von Recht und Unrecht an einem Ort und nicht im Nacheinander ... Bewältigen wäre Erledigen. Geordnet soll werden. Kenntnis ist der Widerspruch zur Unterstellung. Damit ausnahmsweise ein Irrtum mal einen nächstkleineren produziert; für Gesellschaftsordnung in spe.

Die Stunde Null ist eine Lüge der Geschichte und ihre Dümmste." Im Bemühen um das Verbreiten von Kenntnis ist ein Meilenstein gesetzt. Die GBM nahm das von Dietmar Eisold gesammelte Material in ihre Mitarbeit. Der dicke Tausendseiter, der siebentausenddreihundert Künstlerinnen und Künstler lexikalisch überleben läßt: das Lexikon "Künstler in der DDR" ist entstanden und hat die Potenz, den Irrtümern aus sich selbst herauszuhelfen!

Ob nun vollständig oder nicht, das Lexikon ist da! Eine Hürde, die das Verleugnen erschwert.

Mit der Schmuckgestalterin Renata Ahrens wollen wir hoffen. Sie schrieb anerkennend: "... künftige Generationen werden es dem Autor und den zahlreichen Mitarbeitern danken! Diese Zeit kommt noch ..."

Die Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde hat mir - ich möchte jetzt ein paar ganz persönliche Worte sagen - für mein geistig-künstlerisches Überleben eine Heimat gegeben. Ob mit Bild oder Wort, sie wurde mein Forum und Ihr meine Freunde. Wolfgang Richter und Horst Kolodziej haben nie versäumt, mich würdigend zu erwähnen, Peter Michel - in kunsttheoretischer Treue - unentwegt. Ich konnte mir meiner Würde wieder bewusst werden. In unwürdigen Verhältnissen. Und das betrifft mich nicht allein.

Die Kulturarbeiter, die mit mir hier ihre politische und künstlerische Gemeinschaft finden, werden den Dank mitdenken, den ich spreche.

Es ist die fördernde Haltung, die Aufmerksamkeit, das dialogische Interesse und besonders die vielfältige Einbeziehung unserer Leistungen in thematisch aufreizender Notwendigkeit - veranstaltend - versammelnd - bekundend - eingreifende Kunst. Es kommt zur Sprache, was sprachlos machen könnte.

Ich bin stolz, von Euch den Menschenrechtspreis erhalten zu haben. Stolz, in welch würdiger Reihe - länderübergreifend - Gepriesene beweisen, dass es humanistische, friedfertige Leistungen sind, die im Trotz-Alledem stehen. Verantwortungsvoll von Euch laudabel hervorgehoben. Menschenrechtspreis - nomen est omen - in diese Verpflichtung bin ich gestellt. Ich wollte immer für mich in Anspruch nehmen, Menschenrechte thematisch als eine Mission in mein Werk zu tragen, um sie mit ihm vorzutragen. Menschenrechtswürdig zu arbeiten und zu denken ist fortgeführtes Programm.

Aber, ich bezweifle, dieser Prägung gerecht werden zu können. Wissend, dass die Menschenrechte und die Menschenwürde die ganz großen drängenden Themen einer globalen Verzweiflung sind, die die Erde behausen. Unsere politische Welt lässt sich nicht einfach in links und rechts aufteilen und wenn, dann ist das das Resultat der Teilung in unten und oben. Um sich der Verzweiflung nicht völlig auszuliefern, als einzelner so wenig oder einfach nichts gegen das Unrecht in dieser Welt machen zu können, genügt vielleicht schon, etwas nicht mitzumachen. Es ist nur der Tropfen auf den heißen Stein. Aber dieser Tropfen zischt! Wir versammeln hier heute unseren Mut, wir sammeln ihn.

Der Westen steht unter Anklage. Der Süden marschiert.

Eine Empfehlung: Lesen Sie Jean Zieglers Buch "Der Hass auf den Westen". Damit begriffen wird, wie tief dieser Hass aus einer langen Geschichte kommt und wie wichtig es ist, diese Koordinaten dem Verstehen beizugeben. Jean Ziegler ist ein Kandidat für einen nächsten Menschenrechtspreis!

Das "verwundete Gedächtnis" der indigenen Völker erwacht zum "politischen Bewusstsein", das "Gedächtnis wird revolutionär". Nach Sklaverei, Eroberung und Kolonialismus ist - nach Ziegler - "die gegenwärtige kannibalische Weltordnung des globalisierten Finanzkapitals mit neoliberaler Ideologie aus der Sicht der südlichen Völker bei weitem das mörderischste der Unterdrückungssysteme ..." Gewalt, die durch die vielzitierte "unsichtbare Hand des Marktes" ausgeübt wird, "setzt mit den mächtigen Oligarchien der Herrschaftsklassen des Westens die fünfhundert Jahre Unterdrückung fort". Rassismus, Ausbeutung, sadistisches Töten werden brutal und organisiert fortgeführt unter Mißbrauch des Völkerrechts.

Wenn Max Horkheimer sagt, dass es in der Geschichte hin und wieder zur "Verfinsterung der Vernunft" kommt, muß ich bedauern, dass ich vor oder nach dem "hin und wieder" keine Erhellung der Vernunft mit Auswirkung gegen die Perversion des Ganzen entdecken kann.

Die Entstehung des kollektiven Bewußtseins folgt einer Rhythmik. Erinnerungen werden undeutlich auf Zeit. Oder sie sind - erinnert - zu schmerzlich. Bis dass das Gedächtnis Alarm schlägt.

Zweitausendundsieben unternahm Sarkozy eine offizielle Reise nach Schwarzafrika, nach Dakar. Der kleine Wicht auf seinen erhöhten Absätzen lässt aus einer ekelerregenden Mischung von Dummheit, Arroganz und Zynismus, die Jugend Afrikas begrüßend, hören:

"... Ich bin nicht gekommen, um von Reue zu sprechen." Und weiter: "Das Drama Afrikas liegt darin, dass der afrikanische Mensch noch nicht genügend in die Geschichte eingetreten ist ... Jugend Afrikas, Ihr seid die Erben all dessen, was der Westen in das Herz und die Seele Afrikas abgelegt hat."

Karl Kraus passt hierher: "Manches ist so falsch, dass nicht einmal das Gegenteil wahr ist."

Es geht um "die Blindheit des Westens für die eigenen Massenmorde". Es geht um die Forderungen von 2001 des damaligen UN-Generalsekretärs, Kofi Annan, und von Mary Robinson, Hochkommissarin für Menschenrechte, anlässlich der Weltkonferenz gegen Rassismus. Die Forderung eines Teilnehmers war "Wir verlangen, dass die Sklaverei und der Kolonialismus als doppelter Holocaust benannt werden. Wir verlangen Reparationen vom Westen ..."

Kofi Annan: "Vertreten durch ihre Nachkommen verlangen die Toten, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt ... Der Schmerz und die Wut sind noch vorhanden ..."

Sarkozy - obwohl heutiger Handlanger der damals reich gewordenen Profiteure - fürchtet sich nicht. Und er fühlt nicht, wie behutsam und gerecht mit dem Hass, der aus tiefster Berechtigung auf "den Westen" zielt, umgegangen werden muss. Denn nur die Methoden der Sklaverei haben sich verändert. Der pathologische Hass wütet in der Wahnwelt des Terrorismus.

Eine dunkle vulkanische Wand zieht herauf: Das erwachte Gedächtnis indigener Völker. Der Süden. Der "arabische Frühling". Die gewaltigen Unruhen und Aufstände in der heutigen Welt, die in Geografie und Klassenstruktur der Geschichte präzise folgen, sollten also im Zusammenhang mit dieser fünfhundertjährigen leiblichen und geistigen Misshandlung verstanden werden.

Ich habe uns schuldhaft mit unter "dieses Europa" der im Interesse ihres Profits unterdrückenden Monopole in Industrie und Banken gestellt, obwohl gerade auch wir in denen unsere Feinde haben. Aber: Danach wird nicht gefragt werden!

Wir die GBM, haben uns der Menschwürde und den Menschenrechten verpflichtet. Wir können nur die blutigen Spuren der gedemütigten Menschheit verfolgen und dort, wo die Menschenrechte verraten und immer noch verletzt werden, die Schuldigen benennen. Und unsere Hände reichen, wohin sie langen. Der Hass erwächst aus folgenschwerer Verleugnung von Realität und Schuld. Fanatismus, kranker Hass und das Recht auf Zorn wollen nur ihre historischen unaufhörlichen Ursachen endlich verlieren.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Jean Ziegler sagt es, warum die bürgerliche Ordnung hassenswert ist. Josep Renau zeigt es in der Fotomontage "Wir sind stolz darauf, Amerikaner zu sein" aus dem Zyklus "Fata morgana USA" von 1963.
- Frans Masereel schnitt den "Aufruhr" schon 1919 in Holz. Ein Blatt aus "mein Stundenbuch".

Raute

Fakten und Meinungen

Klaus Georg

Wieder Historikerstreit in N.

Das ist keine wahre Geschichte, aber passiert ist sie mir schon. Ich saß ja am Nebentisch, über mir den großen grünen Schirm mit der Bierreklame und auf der Straße der lärmende Mittelaltermarkt "Siebenhundertfünfzig Jahre Neu-Terpentinchen". Drei von meinen aus diesem Anlass kostümierten Zeitgenossen hatten sich nebenan niedergelassen: hinter einem Bier, einem weißen Moselwein und einer großen Cola. Sie waren schon etwas aufgekratzt und der mit dem Bier sagte gerade: "Gut, aber jeder nur eine und die darf er sich nicht ausdenken. Die muss er schon irgendwo her haben." Dann war erst mal Pause, bis er sich wieder meldete: "Ludwig, fang du an. Du bist Professor. Dein Beispiel wird uns beflügeln."

Der Ludwig Genannte, der wohl am wenigsten so aussah, als ob er in einem Kostüm steckte - wenn seine körperliche Fülle nicht etwa auch ein Teil der Maskerade war - legte seine Zigarre auf den Rand des Aschenbechers und begann ohne sich zu zieren: "Also ein Gleichnis? Gut. Es steht fürs Ganze und wartet darauf, dass ein Theologe kommen möchte, es dem einfachen Volke zu deuten. Aber das Ausdeuten werde ich euch nicht abnehmen. Mein Gleichnis: Wie ihr euch denken könnt, handelt es von den Menschen draußen im Land. Sie laufen hier hin und dort hin. Immerfort suchen sie das schöne Leben. Sie könnten es aus den Schulbüchern herauslesen. Aber sie wollen es sehen, anfassen, kosten. Und dabei ist es alles so einfach. Sie brauchten nur in die Stadt N. zu schauen. Da fänden sie es. N. ist so gut, wie andere Städte auch. Das gute Leben ist dort auf dem Markt. Alle gehen hin. Alle kaufen etwas. Alle verkaufen etwas. Und der Bürgermeister steht im Ratssaal am großen Fenster und schaut hinunter. Unten auf dem Platz hat das Leben die lebenswerte Form gefunden, die Marktwirtschaft." Pause.

Der hinterm Bier, übrigens mit Barett auf dem Kopf, schon besser auf den Mittelaltermarkt passend: "Und das ist alles? Gibt es da nicht auch Leute, die nichts zu verkaufen haben oder welche, die nichts kaufen können, weil sie nichts im Beute! haben? Das ist doch nicht das Ganze?"

"Doch, ist es. Deswegen ist es ja ein Gleichnis, und ihr müsst schon selbst drauf kommen, was man eben doch noch verkaufen kann, wenn man nichts hat. Und dann hat natürlich jeder Geld."

"Ach", wieder der sich nun doch als renitent offenbarende Graubart hinterm Bierglas, "man braucht also keine Ware mitbringen als Verkäufer?"

"Nein, es genügt, dass man selbst da ist auf dem Markt. In jedem Menschen steckt ja etwas, was ein anderer kaufen mag, ein Können, eine Bereitschaft etwas zu tun und manchmal eben auch ganz wörtlich ein Körperteil, den ein anderer nutzen mag."

"Na, Ludwig, was gäbst du denn im Handel von dir hin? Zwei Liter Blut? Oder verkaufst du dein Gleichnis von der Marktwirtschaft? Oder wie soll sie denn heißen, deine Wirtschaft?"

"Ich hab euch doch gesagt, ausdeuten müsst ihr das Gleichnis schon selbst. Der Bürgermeister am Fenster, der runterschaut auf den Markt, habt ihr den schon vergessen? Der gehört mit dazu. Der passt auf, dass nichts Schlimmes passiert. Der steht dafür, dass alles sozial verträglich bleibt. Und dazu gehören natürlich auch die Marktschreier, die ich noch gar nicht erwähnt habe. Aber die lenken alles in geordnete Bahnen, so dass kein Aufruhr entstehen mag."

Nun meldete sich der dritte Mann zu Wort. Er saß neben den Blumenkästen, die die Grenze zum Mittelaltermarkt bildeten. Und durch die Oleander schaute ein Esel in die Szenerie. Der gehörte zu ihm, war wohl Teil seiner Rolle, wie auch sein roter Fez, den er über seinem schwarzbärtigem Gesicht vorzeigte. Er sagte: "Gut, Ludwig, das reicht. Das war recht und einleuchtend. Nun soll der Hans sein Gleichnis vortragen."

Hans, der hinterm Bier, war jetzt dran. Bevor er zu sprechen begann, stand er auf und ich sah, dass er nicht am Kostüm gespart hatte. Sein Obergewand glänzte samten. Da hatte wohl eine Kostümbildnerin alle Detailkenntnis auf einen betuchten Städter des ausgehenden Mittelalters verwendet, sogar ein Stück Pelz, obwohl es doch heißer Sommer war. "Ich habe von einem Gelehrten gehört, den ein ganzes Leben lang die Frage umtrieb, was des Menschen Bestimmung ist. Er hat keine Bestimmung finden können, entdeckte aber, dass der Mensch dann mit sich ins Reine kommt und Glück empfindet, wenn er mit seinesgleichen arbeitet, um sein Leben zu sichern. Die Leute, die er beschreibt, leben am Meer. Das Meer ist für ihr Stück gemeinsames Land eine ständige Drohung. Felder, Weiden und Heimstätten wird es vernichten, wenn sie nicht gemeinsam den Damm gegen die Flut errichten, bewahren und immer wieder bessern.

Da steht er dann schließlich am Meer und sagt: ... Und wie es nascht, gewaltsam einzuschießen, Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen. ­... Solch ein Gewimmel möchte ich sehn, auf freiem Grund mit freiem Volke stehn."

"Genug, genug," fiel ihm der Schwarzbärtige ins Wort. "Das reicht. Du wirst jetzt literarisch. Und wie mir scheint, willst du gerade deinen Dichter ausschweifend deklamieren.

Wenn ich euch beide verstehe, sind in euren Gleichnissen die rechten Wegweisungen zum menschlichen Glücke. Beide mögt ihr also handeln, dass sich eure Vorstellung in Wirklichkeit wandelt. Beide seid ihr des festen Glaubens, im Besitz der Wahrheit zu sein. Beide habt ihr recht."

"Entschuldigung, wenn ich mich einmische. Ich sitze hier schon geraume Zeit und hab mir ihren Disput angehört. Also, entweder ist alles käuflich und verkäuflich, oder der Mensch ist ein soziales, in und für die Gemeinschaft lebendes, tätiges Wesen. Da muss es doch ein Ja oder ein Nein geben."

"Ja, du hast auch recht", sagte da der Herr des Esels zu mir.

"Halt, außerdem fehlt da doch noch das dritte Gleichnis, ihr Gleichnis!"

"Nein", war noch die Antwort des Letzteren, "du hast mein Gleichnis doch gerade gehört".

Dann waren alle drei unterm Schirm aufgestanden und wieder im Trubel des Mittelaltermarkts vergangen. Zu Haus am Computer habe ich gegoogelt. Den ganzen Satz habe ich eingegeben und fand:

Hoca Nasreddin, Schalk, der als Dorfrichter im Streit um ein Eselsfüllen dieses dem Dieb, aber auch dem wahren Besitzer zusprach. Einem Zuschauer, der sich darüber empörte, dass es nun zwei rechtmäßige Besitzer geben sollte, sagte er: "Ja, du hast auch recht."

Wer in dem Kostüm steckte? Ein Realo vermutlich.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Ergötzlicher Streit dreier Historiker nach einem zeitgenössischen Holzschnitt des Petrarca-Meisters von 1519

Raute

Personalia

Peter Michel

Stunde der Heuchler

Erinnerungen an Bernhard Heisig

In der "Berliner Zeitung", im "Tagesspiegel", in der "Ostseezeitung" und in diversen anderen Printmedien, auch auf den Rundfunksendern und Fernsehkanälen überschlugen sich die Kommentatoren. "Heisig ist das Kunststück gelungen, in erschütternder Weise sein Innerstes zu öffnen und zugleich allgemeingültige Parabeln von der Welt vorzuführen", schrieb Sebastian Preuss.(1) Der Kulturstaatsminister Bernd Neumann erklärte: "Bernhard Heisig war einer der bedeutendsten zeitgenössischen Maler und Grafiker."(2) "Bernhard Heisig ist der deutsche Künstler des 20. Jahrhunderts, unabhängig von Ost und West und Nazi und Nachwende-Bitterkeit", steht im "Tagesspiegel".(3)

Warum diese Lobgesänge jetzt, wobei man den Eindruck nicht los wird, dass einer vom anderen abgeschrieben ist? Man hätte doch schon in den "Wende"-Zeiten begreifen können, wer da in die deutsche "Einheit" geraten war, ob er wollte oder nicht. Und man hätte sich die Verletzungen sparen können, die ihn nach 1990 aus Leipzig trieben. Wie reden heute jene, die verhindern wollten, dass sich Bernhard Heisig an der künstlerischen Ausgestaltung des Reichstages beteiligte, also Lutz Rathenow, Christoph Tannert, Freya Klier und andere? Originalton Lutz Rathenow: "Natürlich hatte Heisig auch immer mal Streit mit seinen Genossen. Doch er lieferte Beispiele für kreative Anbiederung und flexibles Weiterkriechen in den Schleimspuren der Macht. [...] Bei Heisig kann eben nicht nur über Werke allein gesprochen werden. Genau genommen möchte ich über Heisig gar nicht sprechen. Ich kenne niemand, den sein Werk interessiert."(4)

Bernhard Heisig und sein Werk fielen in die umfassende, politisch gewollte Abwertung all dessen, was in der DDR an Kunst und Kultur hervorgebracht worden war. "Staatskunst in totalitären Systemen" war das. Es wurde alles über einen Leisten geschoren. Stimmen der Vernunft waren selten und wurden kaum gehört. Zweifel daran seien erlaubt, dass solche Vorkämpfer der Demokratie wie Lutz Rathenow von den vernünftigen Argumenten eines Thomas Krüger, damals Kunstbeauftragter der SPD-Fraktion des Bundestages, des Malers und Graphikers Hartwig Ebersbach, des Politikers Lothar de Maizìere, des Schriftstellers Günter Grass, des großartigen Bildhauers Werner Stötzer und anderer in ihrer Haltung korrigiert werden konnten. Die Vernunft setzte sich damals durch, so dass heute Kunst von Bernhard Heisig im Reichstag zu sehen ist. Hass ist ein schlechter Ratgeber. Und plötzliche Elogen im Angesicht eines Toten machen misstrauisch.

Es war dieses geliebte und verdammte Deutschland, das Heisig prägte; geliebt für das Beste seiner Kultur, auch für das, was bildende Künstler in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in seinem Osten hervorbrachten; verdammt für seine chauvinistische Verblendung, für seine Menschheitsverbrechen, für seine Unfähigkeit, aus der Geschichte zu lernen - bis heute. Wo war in diesem Deutschland Platz für einen solchen Menschen? Er konnte sich zur Wehr setzen gegen seine eigenen, verhängnisvollen Irrtümer der verblendeten Jugend, gegen besserwisserisches Einmischen in seine Arbeit in der DDR, gegen die dümmliche Abwertung seines Werks in der "Wende"-Zeit. Zu alledem hatte er das Selbstbewusstsein, das aus der schonungslosen Analyse der eigenen Entwicklung kommt. Doch war ihm dieses neue, alte Deutschland eine Heimat? Seine Irrtümer verhalfen ihm zu Weisheit. Wenn ihn jene, die ihn beschimpften, beargwöhnten, verleumdeten heute als "deutschen" Künstler feiern, so klingt selbst diese Wahrheit aus ihren Mündern wie eine Lüge. Er steht haushoch über ihnen.

Seinem Wesen entsprach es, dass er Widersprüche ganz im Sinne von Hegel und Marx als Triebkräfte erkannte, dass er sie im Großen und Kleinen mit eindeutiger Schärfe fand und dass er auch die Mittel beherrschte, sie bildhaft zu machen. Zu den Hauptwerken der X. Kunstausstellung der DDR in Dresden gehörte das 1986 gemalte Bild "Christus verweigert den Gehorsam". Hier transponierte Bernhard Heisig eines der häufigsten Motive der europäischen Kunstgeschichte, die Darstellung des Kreuzestodes Christi, in die aktuellen Gegensätze. Er zeigte seinen Christus nicht als Leidenden, sondern als Rebellen, der sich nicht in sein gottgewolltes Schicksal ergibt. Aus dem Demütigen wurde ein Rasender; er reißt sich die Dornenkrone vom Kopf. In dieser turbulenten, zugleich in sich stimmigen Komposition, die die Hauptgestalt geradezu aus dem Bild heraustreibt, stieß Heisig die Betrachter auf die Erkenntnis, dass die gegenwärtigen Menschheitsprobleme mit Demut nicht zu lösen sind. Auch an Christen wird die Frage gestellt, ob das Christentum nach mehr als 2000 Jahren Leidensbereitschaft heute nicht auch zu entschiedenem Widerstand gegen Unmenschlichkeit verpflichtet ist. Und bei allem gedanklichen Spiel mit den Inhalten faszinieren die kraftvolle Komposition, der Klang der Farben, die Dramatik der Hell-Dunkel-Kontraste, die Verschiedenartigkeit der Oberflächen und die brillante Lichtführung. Inhalt und Form sind meisterhaft verwoben. Diese Einheit bestimmte sein Lebenswerk. Die großen, dynamischen Gesten seiner Bilder wichen mit zunehmendem Alter einer fast pointillistischen Arbeitsweise, deren Grundkompositionen die malerischen Kräfte behielten, deren Details aber kleinteiliger wurden.

Das Malen im Rollstuhl stand eigentlich seinem Arbeitsstil entgegen. Er zwang sich dazu. Bei unserem letzten Besuch in Strodehne begegneten wir ihm als äußerlich verändertem Menschen, der unter der Last seiner Krankheit litt, aber noch immer seinen Sarkasmus mit Humor mischte. Trotz alledem war er der Alte geblieben, dem das Malen Lebenselixier war. Er bat uns, ein langgestrecktes Gemälde, ein Geschichtspanorama, an dem er gerade arbeitete,von den Podesten, an denen es lehnte, herunterzuheben und auf den Fußboden zu stellen, damit er in den oberen Partien vom Rollstuhl aus daran weiterarbeiten konnte. Im Atelier standen mehr Landschaften als früher. Seine havelländische Umgebung hatte er auf die Leinwände geholt. Aber auch dort teilte sich bei aller Freundlichkeit der Sujets, bei aller Freude an der Schönheit der Natur eine Erregung mit, wie sie ihm eigen war. Er könne keine stillen Bilder malen, hatte er einmal gesagt.

Die Kriegstraumata verließen ihn nicht bis ins hohe Alter; er malte und lithographierte sie immer wieder. Über Kriegsfilme, in deren Kampfszenen bei Explosionen lediglich Erdklumpen durch die Gegend flogen, machte er sich lustig. Er wandte sich gegen Verfälschungen der Geschichte, ganz gleich aus welchen Gründen. Ein Wahrheitssucher wie er konnte Beschönigungen ebenso wenig ertragen wie das Verschweigen faschistischer Wurzeln für Geschehnisse in der Gegenwart.

Wie tief auch die Verletzungen aus der Zeit der Formalismus-"Diskussion" nachwirkten, wurde in der Generation Heisig, Sitte, Mattheuer ... mit zunehmendem Alter immer deutlicher Anlässlich eines Gründungsjubiläums des Verbandes Bildender Künstler zu Beginn der Achtzigerjahre hatten einige Malerkollegen in der Zeitschrift "Bildende Kunst" in ihren Erinnerungen nur die positiven Seiten betont: die Aufbruchsstimmung nach den Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahren, das neue Gemeinschaftsgefühl. Doch in einer Sitzung des Verbandspräsidiums kritisierte Bernhard Heisig voller Zorn solche Schönfärberei, schrieb selbst für die folgende Ausgabe der Zeitschrift eine Gegendarstellung und zog sich und dem Chefredakteur damit zum wiederholten Male eine Ermahnung durch die Kulturabteilung des ZK der SED zu, "endlich mit dem unproduktiven Aufkochen der Fünfzigerjahre" aufzuhören. Wie wichtig dieses "Aufkochen" war, blieb bis zum Ende der DDR evident. Es bleibt eine Lehre für die Zukunft, ernsthaft denkende und arbeitende Künstler ebenso ernst zu nehmen, sie nicht zu gängeln, sondern vielmehr als Bundesgenossen zu betrachten, auch wenn sie unbequem sind.

Ich sehe ihn noch in der Druckerei der Leipziger Kunsthochschule mit Lust einen Solnhofener Schiefer bearbeiten und bei allen Handgriffen nahezu tänzerisch mit dem ganzen Körper agieren, den Stein beinahe liebevoll in seiner ganzen Fläche "streicheln", Papier und Filz auflegen, alles kraftvoll unter die Presse schieben, das bedruckte Blatt gefühlvoll und gleichmäßig abziehen und begutachten. Er hatte zwar einen hochbegabten Drucker, doch diese Lithographie druckte er selbst. Es war ein Marx-Porträt, stimmig, klug, unheroisch, das Bild eines Menschen voller geistiger Energie - bestimmt für den Titel der Zeitschrift "Bildende Kunst".

Den Begriff "Leipziger Schule" mochte er nicht; er hielt ihn für unsinnig. Die Persönlichkeits- und Werkstruktur der Leipziger Künstler war viel zu differenziert, als dass man sie in eine gemeinsame Schublade pressen konnte. Die "Neue Leipziger Schule" lebt vom Wissen und Können der "alten"; als Marktbegriff lässt sie sich heute gut gebrauchen. Die Rückgabe der Nationalpreise der DDR hatte nichts zu tun mit einer voreiligen Anpassung an neue Machtverhältnisse, wie das bei manchem durchaus der Fall war. Bei Heisig war das ein Ausdruck des Zorns über das klägliche Versagen seiner Partei, die vorgab, alles besser zu wissen und immer Recht zu haben.

Mir und anderen war er ein kritischer Freund. Er bedauerte oft, trotz unserer mehrfachen Einladungen nicht in der Galerie der GBM in der Lichtenberger Weitlingstraße ausstellen zu können,wie das seine Frau Gudrun Brüne 2004 bereits getan hatte, weil man ihm seine Bilder zu schnell von der Staffelei "wegnahm". Was andere Künstler als existenzsicherndes Glück empfinden würden, war ihm ein Grauen, denn er fühlte sich in seiner Arbeit nie "fertig". Für manchen Galeristen war das ein Schrecknis.

Ein Großer ist von uns gegangen. Von der "Viererbande" (Sitte, Heisig, Mattheuer, Tübke), die auf der Kasseler "documenta" - unter dem Motto "Die können ja noch malen!" - von sich reden machte, lebt noch Willi Sitte. Einer der sehnlichsten Wünsche Bernhard Heisigs ist bis heute unerfüllt: eine umfassende gesamtdeutsche Ausstellung, an der Künstler aus allen Teilen Deutschlands, auch aus dem Osten, gleichberechtigt und frei von politischen Vorbehalten, teilnehmen.


Anmerkungen:

(1) Sebastian Preuss: Der endlose Albtraum der Geschichte, in: Berliner Zeitung vom 11.-13. Juni 2011, S. 27
(2) Ohne Autorenangabe: Die Wut der Bilder, in: Ostseezeitung vom 11./12. Juni 2011, S. 18
(3) Christina Tilmann: Die Wut des Ikarus, in: Tagesspiegel vom 11. Juni 2011, S. 21
(4) Kunst-Streit: Darf Bernhard Heisig den Reichstag gestalten? In: Berliner Morgenpost vorn 11. Februar 1998, S. 30


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Bernhard Heisig "Selbstbildnis als Puppenspieler", 1982, Öl/Lw., 100 x 80 cm, Städt. Museum Chemnitz

Raute

Personalia

Kurt Fürst

Gedenken an einen Berliner Arzt

Ich bin 1927 in der Zehdenicker Straße am Weinbergsweg in Berlin geboren. In unserer Nachbarschaft lebten viele jüdische Mitbürger. Einer von ihnen war unser Hausarzt, mein Geburtshelfer Dr. Ludwig Tuch in seiner Praxis Weinbergsweg 7. Er widmete seine ganze Zeit den Patienten. Nichts hielt ihn davon zurück, im Krankheitsfall sofort einen Besuch zu machen. Als sich mein Vater bei einer Hausarbeit die Pulsader verletzte, nähte unser Doktor den Riss sofort zusammen. Als Kind erkrankte ich lebensgefährlich an Diphtherie. Dr. Tuch erkannte die Krankheit und brachte mich ins Reinickendorfer Kinderkrankenhaus.

Von meinen Eltern weiß ich, dass Dr. Tuch die braune Gefahr rechtzeitig sah. Er hätte Deutschland verlassen können, um sich in Sicherheit zu bringen. Doch er wollte seine Patienten nicht im Stich lassen und blieb in Berlin. Bis 1937 war er (seit 1926) im "Reichsmedizinalkalender" in Berlin N 54 aufgeführt. Dann verliert sich in den Archiven seine Spur, hat Dr. Udo Schlagen vom Institut für Geschichte der Medizin der FU Berlin recherchiert. Ab 1938 hat er sich ohnehin nicht mehr Arzt nennen dürfen. Da waren alle jüdischen Ärzte nur noch "Heilbehandler" für ihre jüdischen Leidensgefährten.

Wahrscheinlich ist Dr. Tuch Anfang der vierziger Jahre von der Sammelstelle in der Großen Hamburger Straße, die ganz in der Nähe war, deportiert worden und in einem KZ umgekommen.

Nach 1945 stellte ich mir oft die Frage, ob er so gewürdigt wurde, wie er es eigentlich verdient hätte. Es gab keine Ehrentafel für diesen Arzt und großartigen Menschen Dr. Tuch.

Er war ein Mann, der auch in der heutigen Zeit ein Vorbild für junge Menschen sein könnte.

Ich wollte an ihn erinnern.

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Peter H. Feist

Ereignisse und Farben

Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Ronald Paris: Neue Arbeiten" am 5. August 2011 in der GBM-Galerie Berlin

Sie haben das Privileg, die erste Ausstellung eines neuen Hauptwerks von Prof. Ronald Paris zu sehen, des großen Porträts von Inge Keller. In diesem Gemälde begegnen einander zwei unserer bedeutenden Zeitgenossen, zwei meisterhafte Menschendarsteller, die Schauspielerin und der Maler. Dazu später mehr.

Wer in der DDR gelebt hat und Aufmerksamkeit für bildende Kunst besaß, dem waren seit fünfzig Jahren Gemälde, Zeichnungen und Druckgraphik von Ronald Paris wichtig. Der Thüringer und gelernte Glasmaler, der ab 1953 in Berlin-Weißensee studierte, dann dort und zehn Jahre lang in Rostock lebte, seit 1985 in Rangsdorf wohnt, ein Jahrzehnt lang Professor an der Hochschule Burg Giebichenstein in Halle war, wird nicht müde, Menschen, Natur und Licht in vielen Ländern für seine Malerei zu studieren.

Paris, der in der nächsten Woche 78 Jahre alt wird, zeigt hier neue Arbeiten; deshalb brauche ich nicht über ältere reden. Ich möchte aber hervorheben, dass es in seinem Schaffen bestimmende Konstanten gibt, durchgehende, ihm wichtige Anliegen: die Darstellung von aktiven, handelnden Menschen in ihrer Umwelt, von daher eine enge Beziehung zur Theaterkunst, und gleichzeitig das beharrliche Ergründen der Aussagekraft, die den selbstständig werdenden Formen und vor allem den immer heftiger glühenden Farben innewohnt.

Bildende Kunst entsteht - auch innerhalb derselben Gesellschaft und zur gleichen Zeit - aus verschiedenen Gründen und mit verschiedenen Zielstellungen. Für Paris besteht ein wesentlicher Sinn von bildender Kunst darin, etwas über existierende Realität zu erfahren und zu erfassen und mit einer eigenen Beurteilung anderen mitzuteilen. Man mag das für selbstverständlich halten; das ist es aber vor allem in neuerer Zeit keineswegs. Es ist vielmehr eine persönliche programmatische Entscheidung des Künstlers, für die ich und zum Glück viele andere ihn hoch schätzen. Man kann das Wahrheits-Suche und Aufklären-Wollen nennen. Voraussetzungen dafür sind ein genaues Studium des Sichtbaren und das Begreifen von Zusammenhängen - und zwar auch von weltweiten und die Zeiten übergreifenden Zusammenhängen. Paris zeigt uns hier eindrucksvolle Beispiele davon.

Eine der vielen Reisen, die Paris schon von der DDR aus und nun noch häufiger und in weitere Fernen unternehmen konnte, führte ihn 1997 nach Jordanien und Israel, anhaltend beunruhigenden Brennpunkten des Weltgeschehens. In raschen zeichnerischen Skizzen hält er treffsicher seine Beobachtungen von Menschen - z. B. an der Klagemauer in Jerusalem - fest. Daraus wurde später ein Gemälde, das eine Bar Mizwa wiedergibt, die einer Jugendweihe vergleichbare Feier des Erwachsenwerdens und der Aufnahme in die Religionsgemeinschaft. Paris stellte dem dann eine Tafel gegenüber, die Gestalten aus dem Warschauer Ghetto vor dessen Vernichtung durch die Nazibarbaren zeigt. Dazu stützte er sich auf Fotos, die ein deutscher Soldat 1941 anfertigte und 1983 veröffentlichte. Die Ähnlichkeit der Figuren auf beiden Tafeln suggeriert den doppelten historischen Zusammenhang: Die Auflösung misslang. Es gibt weiterhin Juden, die nun ihren eigenen Staat haben, aber dessen Wurzeln in dem Vernichtungsversuch nie vergessen werden. Mit seinem Diptychon veranlasst uns Paris, selbst darüber nachzudenken.

Eine andere Bildergruppe entführt unsere Vorstellungskraft nach Indien. In Kerala ist ein Sohn von Paris verheiratet. Der Maler ließ sich von dem starken Licht und den glühenden Farben hinreißen und fixierte einiges von dem mühevollen Dasein ausgemergelter Bootsstaker. Jüngst fanden auch Bootsflüchtlinge aus Afrika vor Lampedusa seine Aufmerksamkeit.

Und nun zu Inge Keller, in der Ausstellung begleitet von Porträts des Schauspielers Dieter Mann. Paris hat immer wieder bewiesen, dass er ein ausgezeichneter Porträtist ist, der uns den Charakter einer Persönlichkeit überzeugend vermittelt. Feinfühlig lässt er die weißhaarig gewordene, vornehme "Große Dame" des Deutschen Theaters in einer strengen Form auftreten, die an ein barockes "Staatsporträt" erinnert. Die ins Auge fallende Geste ihrer linken Hand scheint uns Betrachter auf Abstand zu halten und gleichzeitig den feierlich dunkelroten Vorhang noch daran zu hindern, sich endgültig über ein wirkungsreiches Leben zu schließen. Die Lesung an dem Tischchen im Hintergrund ist beendet. Der Bühnenboden scheint abschüssig. Das Porträt hilft die Erinnerung zu bewahren.

Auch ich beende meine Rede. In unser aller Namen danke ich Ronald Paris und dem Kurator der Ausstellung, Peter Michel, für das Erlebnis dieser Exposition und für die Anregungen zum Nachdenken, die wir von ihr bekommen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- "Inge Keller", 2011 Öl/Lw.
- "Fischerfamilie am Strand von Odajam", 2006 Öl
- Diptychon "Warschauer Ghetto 1941" und "Vor der Klagemauer in Jerusalem", 2005 Öl/Lw.

Raute

Freundeskreis "Kunst aus der DDR"

Helga Kolodziej

Die Stunde der Mahner

"Es setzt sich nur so viel Wahrheit durch, wie wir durchsetzen", schrieb Bertolt Brecht. Diese Weisheit gilt gerade heute, da die Delegitimierungs-Diskussionen auch zur Kunst der DDR noch längst nicht abgeschlossen sind. Die internationalen Aktivitäten auf diesem Gebiet spielten bisher kaum eine Rolle. Doch wer erinnert sich nicht an die INTERGRAFIK Berlin, die im Lauf der Jahrzehnte eine immer stärkere Bedeutung gewann, an die Biennalen des Kunsthandwerks in Erfurt, an die Rostocker Ostseebiennalen - oder auch an die Quadriennalen des Bühnenbildes in Prag, an die BIB in Bratislava, die periodisch internationale Gebrauchgrafik zusammenführte, an die regelmäßigen Schmuckwettbewerbs-Ausstellungen in Jablonec, an die Graphikbiennalen in Ljubljana uns Kraków u.v.a.m., an denen stets Künstler aus der DDR beteiligt waren?

Alles das darf nicht in Vergessenheit geraten, und es bleibt eine Aufgabe seriöser historischer Forschung, den Stellenwert solcher Ereignisse nicht nur für die Entwicklung der bildenden Künste im Blick zu behalten.

Kunstkommunikation einer "geschlossenen Gesellschaft" mit der Welt?

In der DDR fehlte ein offener politischer Diskurs. Deshalb bot gerade die INTERGRAFIK die Chance zu mehr Weltoffenheit. Mit den Mitteln der Kunst wurde spezifische Kenntnis über das Leben und Denken in anderen Völkern verbreitet und ein wichtiger Beitrag zur internationalen Verständigung geleistet. Angesichts gesellschaftlicher Umbrüche erweist es sich als notwendig, nach sozialen und kulturellen Diskontinuitäten in der Geschichte der DDR zu fragen und danach, warum nach ihrem Ende künstlerische Präsentationen mit langjähriger Tradition abgewickelt wurden, die mit ihrem Anliegen Zeitgeschichte widerspiegelten und Wertvorstellungen beeinflussten.

"Alles redet über Werte, die, deren Werte untergegangen sind, und die, die diese Werte nunmehr zu wahren haben. Welches aber ist der Wert der INTERGRAFIK?", fragte vor neunzehn Jahren ihr langjähriger Präsident, der Maler und Grafiker Ronald Paris in seinem Atelier in Rangsdorf. Was gelassen klang, birgt in sich das große Engagement eines Künstlers für eine internationale Ausstellung, die in den Jahren 1965 bis 1990 Tausenden Künstlern aus vielen Ländern einen Beweis ihres Könnens abverlangte und ihnen die Möglichkeit gab, ihre Kunst zu präsentieren und sich politisch zu artikulieren.

Das Bekenntnis der Käthe Kollwitz, das sie 1922 in die Worte kleidete: "Ich bin einverstanden damit, dass meine Kunst Zwecke hat. Ich will wirken in dieser Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind", war das Leitmotiv der INTERGRAFIK. Damit wurde das künstlerische Credo der Kollwitz als politische Zielstellung festgeschrieben. Der Veranstalter der INTERGRAFIK, der Verband Bildender Künstler Deutschlands (ab 1973 VBK-DDR) bot in fünfundzwanzig Jahren den Besuchern Begegnungen mit Grafiken namhafter Künstler an.

Für die Bürger der DDR war das ein Fenster zur Kunst der Welt und für die Künstler ein öffentlicher Raum, in dem sie über die Grenzen ihres Landes hinauswirken konnten. Klangvolle Namen ausstellender Künstler - wie Otto Dix, Fritz Cremer, Frans Masereel, Pablo Picasso, André Masson, Jean Picart le Deux, Alfred Hrdlicka, Charles White, HAP Grieshaber, Klaus Staeck (der 1976 den erstmals vergebenen Förderpreis der INTERGRAFIK bekam) und viele andere - gaben dieser Graphik-Schau internationale Bedeutung.

Die während der INTERGRAFIK durchgeführten Symposien zu künstlerischen und theoretischen Fragen und Problemen der Gegenwartskunst mit international bekannten Kunsttheoretikern, Malern und Grafikern waren Foren, in denen über weltanschauliche Positionen gestritten und über künstlerische Formauffassungen diskutiert wurde. Künstlertreffen und Solidaritätsaktionen vermittelten den Akteuren das Gefühl der internationalen Zusammengehörigkeit. Die belgische Künstlerin Anne-Marie Wittek aus Brüssel wertete das in einem persönlichen Brief mit folgenden Worten: "Von allen Grafikbiennalen bleibt sie eine von den schönsten. In einer vollkommen egoistischen Hinsicht bin ich sehr glücklich, dass ich der Schau von 1990 beigewohnt habe, und für die Einladung nach Berlin muss ich mich noch bedanken. Das war für mich eine sehr positive Erfahrung auf künstlerischem und auch auf menschlichem Gebiet. Ich habe eine Solidarität zwischen den Künstlern gefühlt, die es in Belgien meist nicht gibt."

Die INTERGRAFIK verfolgte zunächst keine marktwirtschaftlichen Interessen. Durch ihre wachsende internationale Präsenz konnte sie sich dieser Entwicklung in den folgenden Jahren jedoch nicht verschließen. Gebunden an ihr politisches Konzept - der Verknüpfung von Kunst und Politik - und ihren moralischen Anspruch, sicherte sie den Malern und Grafikern aus allen Teilnehmerländern einen gleichberechtigten Platz. Eine enge Beschränkung auf nur realistische Kunst oder einseitig marktbestimmende modische Tendenzen, Stilrichtungen und Techniken war nicht vordergründig beabsichtigt. Die INTERGRAFIK hatte jedoch in den späten Siebziger- und Achtzigerjahren den Wünschen von Rezipienten und Kunstsammlern Rechnung zu tragen, die sich oft nur unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten realisieren ließen.

Die Anfänge der INTERGRAFIK

Die Entstehungsgeschichte der INTERGRAFIK ist eng mit dem Namen und Wirken der Malerin, Hochschulprofessorin und Präsidentin des Verbandes Bildender Künstler, Lea Grundig, verbunden. Sie hatte auf dem V. Kongress des Verbandes Bildender Künstler im März 1964 in einem bemerkenswerten Referat beide deutsche Staaten eindringlich gemahnt, alles zu tun, um einen Verzicht auf Atomwaffen durchzusetzen. Sie tat es mit Worten, die Betroffenheit auslösten und nicht nur den Delegierten unter die Haut gingen: "Die bereits jetzt vorhandenen Atombomben genügen, um unsere Erde hundertfach vollkommen zu zerstören und sie in einen toten Stern, erfüllt von weißen radioaktiven Staubwolken, zu verwandeln." Sie forderte: "Wir halten es für unsere Pflicht, die brennenden Fragen über Krieg oder Frieden, über Sein oder Nichtsein mit unseren Werken zu beantworten. Und wir fordern die westdeutschen Künstler auf, durch gemeinsame Ausstellungen mit uns gegen die Atomaufrüstung, ... für die friedliche Entwicklung, für das große deutsche Gespräch zu wirken." Danach verabschiedete dieser V. Kongress eine Erklärung mit dem Titel "Das deutsche Gespräch und die nationale Verantwortung der bildenden Künstler", in der Maler, Bildhauer und Grafiker beider deutscher Staaten und Westberlins aufgerufen wurden, anlässlich des 20. Jahrestages der Zerschlagung des Hitlerfaschismus eine gemeinsame Ausstellung zu gestalten. Im Zuge der Vorbereitung dieses Höhepunktes wurde im Verband der Gedanke geboren, eine internationale Grafikausstellung - besonders mit Künstlern aus den sozialistischen Ländern - durchzuführen. Im Januar 1965 rief dann der Verband zur ersten INTERGRAFIK auf. Was Lea Grundig zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen konnte, war die Tatsache, dass ihr Anliegen zu einer weltweiten Bewegung wurde.

Bereits seit Anfang der Sechzigerjahre hatte es im Verband Überlegungen zur Durchführung internationaler künstlerischer Aktionen gegeben, in denen nicht "l'art pour l'art" den Inhalt bestimmte, sondern das Bekenntnis von Künstlern zu Frieden und Humanismus dominierte. Eine Präsentation wurde angestrebt, in der sich die Akteure trotz unterschiedlicher politischer, sozialer und ästhetischer Anschauungen einig waren in der Verurteilung des Krieges als Mittel zur Lösung gesellschaftlicher Widersprüche. So bot die Vorbereitung des zwanzigsten Jahrestages der Kapitulation Hitlerdeutschlands 1965 der kompromisslosen Antifaschistin Grundig den aktuellen Anlass und den Rahmen, die gegen Krieg, Militarismus, Rassismus kämpfenden künstlerischen Kräfte zu sammeln. Eine Antikriegsausstellung namhafter bildender Künstler - zwanzig Jahre nach Beendigung des zweiten Weltkrieges in Berlin, der Stadt, von der der Krieg ausging und in der er sein Ende fand - durchzuführen, war ein Angebot, das in den spannungsgeladenen Sechzigerjahren von Künstlern weltweit angenommen wurde. Die atomare Bedrohung in Deutschland und Europa, der Krieg in Vietnam, die Zuspitzung sozialer Konflikte in der Dritten Welt ließen humanistisch engagierte Künstler nicht unberührt.

Aus dem eindeutig politisch motivierten Anspruch machte der Veranstalter, der Verband, keinen Hehl. Seine Konzeption "Gegen Krieg und atomare Aufrüstung - für Humanismus und Frieden" wurde öffentlich vertreten. Wenn auch vorerst nur Künstler aus den sozialistischen Ländern vorgesehen waren, so wurden auch an Künstlerpersönlichkeiten und -gruppen u. a. in Belgien, Frankreich, Finnland, Norwegen und Italien Einladungen verschickt, um die internationale Attraktivität dieser Aktion für den Frieden zu erhöhen und die Teilnahme als Geste der Versöhnung auch westeuropäischen Ländern anzubieten, die unter dem Faschismus gelitten hatten oder auf tragische Weise mit ihm verknüpft waren. Die erste INTERGRAFIK wurde am 23.5.1965 - nach einer kurzen Vorbereitungszeit - eröffnet. Ihr Anliegen war mit den Zielen und den Vorstellungen von der Funktion der Grafik, "von Maß und Vermögen der Kunst", wie sie andere große Grafikausstellungen in der Welt vertraten - z. B. die Biennalen in Kraków und Ljubljana, in Lugano, Genf oder Tokio -, nicht identisch. Es ging nicht um die Beschränkung auf eine ausdrücklich künstlerisch-fachliche Präsentation, um ein möglichst reichhaltiges, handwerklich attraktives Angebot, in dem ein "bravouröser dernier cri" graphischer Technik die Sensation bildete. Die INTERGRAFIK wurde eingebunden in die Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der Zerschlagung des Hitlerfaschismus und der Beendigung des Zweiten Weltkrieges. Mit der großen Resonanz der ersten INTERGRAFIK 1965 war der Durchbruch zu einer fünfundzwanzigjährigen Erfolgsgeschichte gelungen.

Warum ausgerechnet eine Grafikausstellung?

Die Entscheidung für eine Grafikausstellung ist künstlerisch und politisch zeitgeschichtlich einzuordnen. Lea Grundig hatte daran einen persönlich hohen Anteil. Sie und ihr Ehemann Hans Grundig hatten in der Nachfolge der ASSO besonders die Grafik als ihr künstlerisches Bekenntnis- und agitatorisches Aussagemittel angesehen. Für sie und für viele andere Künstler war es besonders die deutsche Grafik, in der sich die humanistische Tradition der bildenden Kunst wieder fand. Diese Tradition wurde als eine Linie gesehen und verstanden, die von Dürer bis zum Pathos expressionistischer Brüderlichkeit reichte. In ihr wirkte sowohl jene Solidarität fort, die bürgerliche wie proletarische Künstler im Kampf gegen den Faschismus entwickelt hatten, als auch die geistige Auseinandersetzung der Generation von Künstlern, die das Grauen des zweiten Weltkrieges unmittelbar erlebten, überlebten und sich zu diesem Grunderlebnis mit der Unmittelbarkeit ihrer Kunst äußerten. Die gegenwartsbezogene Grafik der Sechzigerjahre in der DDR bekannte sich in historischer Kontinuität zu dieser humanistischen Tradition und sprach mit ihren bildlichen Darstellungen die dringlichen politischen Fragen der Zeit an.

Dem Beginn der INTERGRAFIK lagen damit historische Ziele zugrunde, eine Rückbesinnung auf Wirkungen, die Grafik in der Kultur- und Geistesgeschichte in Deutschland einmal hatte. Dieser Beginn bezog sich auf das humanistische. Engagement von Künstlern aller Stilrichtungen in Vergangenheit und Gegenwart, aber auch auf politischpragmatische Überlegungen, die im Spannungsfeld von Kunst und Kultur angesiedelt waren. Es gehörte zum komplexen Charakter der Gesellschaftsordnung in der DDR, die Künstler ideologisch zu motivieren, ihre Kunst und deren Präsentation für ihre politischen Ziele einzusetzen. Im jahrelangen Bemühen der DDR um völkerrechtliche Anerkennung als souveräner deutscher Staat bot das Anliegen der INTERGRAFIK vielfältige Möglichkeiten, auf lange Sicht das Wirken von Künstlern und die gesellschaftlichen Interessen des Staates miteinander zu verbinden.

Die INTERGRAFIK und das 11. Plenum

Die erste INTERGRAFIK fand im unmittelbaren Vorfeld des 11. Plenums des ZK der SED statt. Es hatte den Anschein, dass ihre Vorbereitung und Durchführung von den künstlerischen und kulturpolitischen Auseinandersetzungen in den Genres Film- und Theaterkunst sowie in der Literatur unberührt blieb. Auch die wenigen Nebenbemerkungen auf dem 11. Plenum über die bildende Kunst vermittelten den Eindruck, dass mit der Formalismusdiskussion der Fünfzigerjahre, mit den permanenten Auseinandersetzungen um inhaltlich-ideologische Seiten der Werke der bildenden Kunst, mit den Kunstpräsentationen und den Haltungen vieler Künstler bis Mitte der Sechzigerjahre die Einordnung der bildenden Kunst in den "umfassenden Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik" abgeschlossen sei. Dem war durchaus nicht so. Der V. Kongress des Verbandes Bildender Künstler Deutschlands 1964 hatte eine wichtige Rolle im Vorfeld des 11. Plenums gespielt. Die Auseinandersetzungen über eine idealisierte Wirklichkeit im künstlerischen Schaffen, über einen "Realismus ohne Ufer" (ausgehend von der Kafka-Konferenz 1963), über Ausdrucksfreiheit in der Kunst wurden auf diesem Kongress geführt. Der streitbare Diskussionsbeitrag Fritz Cremers mit seinem Plädoyer für die Freiheit in der Kunst und die Verantwortung des Künstlers, gegen Sektierertum, dogmatische Enge, pragmatische Betrachtungsarten, Bevormundungen und politische Diffamierungen war in dieser Direktheit eine geistige und politische Revolte gegen den Dirigismus der SED und des Staates. Im Gegensatz zur Konfrontation auf dem 11. Plenum des ZK der SED wurde diese Polemik nicht von außen aufgesetzt und gesteuert. Auf diesem V. Kongress wurde die Auseinandersetzung durch die Künstler, Kunstwissenschaftler und Kulturarbeiter selbst initiiert und ausgetragen in dem Bemühen, die anstehenden Probleme im offenen Gespräch zu bewältigen. Die Diskussion konnte die aufgebrochenen Konflikte zwischen Machtanspruch und Pluralität, Dogmatismus und Toleranz, Tradition und Modernität in der Kunstentwicklung benennen, sie eingrenzen, aber nicht lösen. Die Kulturpolitik im Bereich der bildenden Kunst wurde zum Spiegelbild geistiger Widersprüche in der Gesellschaft.

Aus dem heutigen Blickwinkel stellt sich die Frage, weshalb die SED und die Staatsführung der DDR im politischen Spannungsfeld am Vorabend des 11. Plenums und angesichts der zu erwartenden Konfrontation eine internationale Präsentation dieser Größenordnung gestattete. Mögliche Erklärungen wären:

1. Das Konzept dieser Ausstellung knüpfte einerseits an die Bemühungen der organisierten Arbeiterbewegung seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts an, Politik und Kunst zu funktionalisieren, also Kunst als Mittel im Klassenkampf einzusetzen. Andererseits zielten die konzeptionellen Überlegungen darauf, die gesellschaftlich-soziale wie künstlerisch-formale frühbürgerlich-aufklärerische Oppositionsrolle von Kunst und Künstlern und deren Eingreifen in politische Auseinandersetzungen als Medium von Politik fortzusetzen. Damit wurde die Funktion der INTERGRAFIK nicht nur nach ihrem künstlerischen, sondern auch nach ihrem agitatorisch-propagandistischen "Gebrauchswert" bestimmt.

2. Diese Präsentation belegte zwar exemplarisch die Auffassung des Künstlerverbandes über die Ausdrucksfreiheit von Kunst in der sozialistischen Gesellschaft, sie machte aber zugleich das Anliegen deutlich, die Kunst nicht vom gesellschaftlichen Leben zu trennen, ihr also keine autonome Existenz zuzusprechen, sondern sichtbar machen, dass eine ihrer Funktionen in ihrer Fähigkeit liegt, in die Wirklichkeit einzugreifen, um sie zu beeinflussen oder gar zu verändern.

3. Die INTERGRAFIK machte nicht auf die inneren Widersprüche in der DDR aufmerksam. Sie thematisierte stattdessen die anstehenden umfassenden Weltprobleme: Krieg oder Frieden. Sie bot für die Parteiführung der SED eine Möglichkeit, die DDR als Kulturnation zu zeigen, die sie natürlich war, ihr internationales Prestige zu stärken, den anwesenden ausländischen Künstlern ein positives Vorstellungsbild der Gesellschaft zu präsentieren und ein Achtungszeichen gegen ihre Isolation und Ignorierung durch die westlichen Länder zu setzen.

4. Der humanistische Anspruch der bildenden Künstler, sich mit gesellschaftlicher Konkretheit zum Thema Frieden künstlerisch öffentlich einzubringen,machte sie weitgehend politisch unantastbar und schränkte Konfrontationen und Auseinandersetzung mit ihnen über Stile, Methoden und Richtungen des künstlerischen Schaffens nahezu vollkommen ein.

Wenn der Angriff des Politbüros des ZK der SED auf dem 11. Plenum besonders den politischen Haltungen von Künstlern galt, denen man dem Sozialismus fremde, schädliche Tendenzen und Auffassungen vorwarf, so wurde durch den inhaltlichen Anspruch der INTERGRAFIK dieser Vorwurf an bildende Künstler entkräftet.

Fritz Cremer sagte über die INTERGRAFIK in einer Zusammenkunft Berliner Künstler mit westdeutschen und Westberliner Gästen am 18.6.1965: "Kunst ist auf ihren Ursprung zurückzuführen. In der INTERGRAFIK stehen sich Moral und Ästhetik gegenüber. Es gibt kein Kunstwerk ohne Engagement und Ästhetik. Aber Moral ist die Totalität."

Die Resonanz der ersten INTERGRAFIK 1965 in der DDR und die internationale Würdigung ihres Anliegens fand Aufmerksamkeit und öffentliche Anerkennung durch die Parteiführung der SED. Auf dem 10. Plenum des ZK der SED wurden die Fortschritte in der bildenden Kunst gewürdigt und die Durchführung der VI. Deutschen Kunstausstellung vorgeschlagen. Diese öffentliche Wertung spielte insofern eine besondere Rolle, weil damit die bildende Kunst in den nun folgenden Auseinandersetzungen vor und während des 11. Plenums weniger angreifbar wurde.

Die Entwicklung der INTERGRAFIK in den Jahren 1965 bis 1990

Der Spagat der Initiatoren zwischen Kunst und Politik ging auf in seinem moralischen Anspruch: Es ging um die künstlerische Gestaltung der Gedanken des Friedens und der Verurteilung des Krieges entsprechend der Erkenntnis: "Gedenke des Krieges, wenn du den Frieden willst." Es ging um die Schaffung eines internationalen Aktionsbündnisses von Künstlern, die sich diesem Anliegen verpflichtet fühlten. Das Einende zwischen den Kulturen der Völker sollte im Mittelpunkt der Präsentationen stehen. Jungen Künstlern mit einem humanistischen Anliegen - besonders in den Industriestaaten und in den Ländern der Dritten Welt - sollte eine Chance gegeben werden, ihre Kunst öffentlich zu machen. Und schließlich stellte die DDR mit der internationalen Präsentation zeitgenössischer Graphik ihren Anschluss die Kunstentwicklung in der Welt her. Dabei konzentrierte sich die INTERGRAFIK stets auf aktuelle politische Entwicklungen. Historisch wichtige Positionen der Sechziger- und Siebzigerjahre wurden durch die Kunst nicht nur benannt, sondern auf spezifische Weise ins Bewusstsein gerückt.

In den Achtzigerjahren ist die Entwicklung der INTERGRAFIK differenzierter zu betrachten. Das politische Klima veränderte sich; die bildende Kunst reagierte seismografisch. Die ökologische Bedrohung rückte zunehmend ins thematische Zentrum und forderte zum verstärkten Dialog. Die Funktionsunterschiede der Künste in den einzelnen Ländern - entsprechend ihrer sozialen Lage wurden stärker sichtbar. Die politische Entwicklung in den osteuropäischen Ländern widerspiegelte sich zunehmend im grafischen Schaffen und machte auf die Defizite der gesellschaftlichen Entwicklung aufmerksam.

Die INTERGRAFIK war geprägt von der Befindlichkeit der Menschen in diesen Zeiträumen, von den politischen Weltläufen, den sozialen Kämpfen und Wirkungen, vor allem aber von Künstlern, die mit ihrer Kunst zum Dialog aufforderten und mit ihrer Haltung in das Weltgeschehen Zeichen setzten. Das politisch Vorgedachte entwickelte im Laufe der Jahre seine Eigendynamik. Äußere restriktive Eingriffe, in denen es um künstlerische Inhalte, Formen und Stile ging, wurden von Künstlern und den Leitungen des Verbandes - besonders Ende der Sechziger- bis Mitte der Siebzigerjahre - zurückgewiesen und in den folgenden Jahren kaum zugelassen. Vorstellungen über die herausragende Rolle der Kunst sozialistischer Länder und ihre Vorbildwirkung gegenüber Kunstauffassungen westeuropäischer Länder erwiesen sich als wenig tragfähig. Bereits auf dem Internationalen Symposium anlässlich der INTERGRAFIK 1967 wurde die Position der DDR zum sozialistischen Realismus von tschechoslowakischen, rumänischen und jugoslawischen Kunstwissenschaftlern und Künstlern als "Kunstdoktrin" angegriffen und als eine "von außen gelenkte Kunst", die "nichts anderes als taube Früchte hervorbringen" könne, charakterisiert. Damit wurde die Erwartung der Partei- und Staatsführung der DDR enttäuscht, die darauf setzte, die Zusammenarbeit mit den Künstlern so zu gestalten, dass sie sich in ihrem Schaffen dem sozialistischen Realismus nähern.

Die Verknüpfung der Ausstellungen mit historischem Gedenken und politischen Ereignissen gab fünfundzwanzig Jahre lang dem humanistischen Anliegen der INTERGRAFIK Größe, Aktualität und Dringlichkeit. Diese Ausstellungen zeitgenössischer Graphik rissen dabei zunehmend unkünstlerische dogmatische Schranken ein. Unangetastet blieb die Übereinstimmung des Kunstbeitrages der DDR mit seinen ideologischen Eckpfeilern.

Die erste INTERGRAFIK wurde 1965 mit Beiträgen von 420 Künstlern aus 21 Ländern durchgeführt. Vom 17. April bis 27. Mai 1990 fand die neunte und letzte Ausstellung mit Beiträgen von 1258 Künstlern aus 68 Ländern mit großer internationaler Resonanz statt. Veranstalter war noch einmal der Verband Bildender Künstler In diesem kurzen historischen Zeitraum war die politische Ordnung der DDR zusammengebrochen; bisher gültige Normen- und Wertesysteme gab es nicht mehr. Die beginnende Transformation in eine andere, bürgerliche Gesellschaft, deren Spielregeln noch nicht beherrscht wurden, führte bei der künstlerischen Intelligenz und in anderen Bevölkerungsschichten zu Verunsicherung und Ratlosigkeit. Ein Kapitel Kulturgeschichte und Kunstentwicklung ging zu Ende. Da die Kunst innerhalb kürzester Zeit zum Wirtschaftsfaktor mutierte und durch Marktmechanismen reguliert wurde, gab es 1990 die ersatzlose Abwicklung der INTERGRAFIK.


Anmerkungen:

1. Für Hinweise und Informationen danke ich den folgenden Personen, die ich in den Jahren 1992/93 zum Thema INTERGRAFIK konsultierte: Dr. Hans-Joachim Hoffmann (ehem. Kulturminister der DDR), Prof. Arno Mohr (Graphiker und Maler, Präsident der INTERGRAFIK 1973-76), Prof. Ronald Paris (Maler und Graphiker, Präsident der INTERGRAFIK 1980-90), Prof. Willi Sitte (Maler und Graphiker, Präsident der VBK-DDR 1974-88), Prof. Walter Womacka (Maler und Graphiker, Vizepräsident des VBK-DDR 1964-88), Prof. Dr. Hermann Raum (Kunstwissenschaftler), Horst Weiß (Gesellschaftswissenschaftler, 1. Sekretär des VBK-DDR 1960-76), Dr. Annelies Tschofen (Kunstwissenschaftlerin, bis 1982 Sekretär für Internationale Beziehungen des VBK-DDR), Dr. habil. Ingrid Beyer (Kunstwissenschaftlerin, Mitglied der Arbeitsgruppe zur Vorbereitung wissenschaftlicher Symposien zur INTERGRAFIK).

2. Die INTERGRAFIK war als Institution eine nachgeordnete Einrichtung des Verbandes Bildender Künstler, der zugleich Veranstalter war. Die Arbeitsweise regelte sich nach einem Statut der INTERGRAFIK, in dem die Aufgaben des Präsidenten der INTERGRAFIK, der Auswahlkommission, des Internationalen Komitees und des Arbeitsstabes detailliert festgelegt waren.

3. Die INTERGRAFIK war als Triennale konzipiert. Ihr Ausstellungsrhythmus wurde nur zweimal unwesentlich verändert. 1967 wurde sie zu Ehren des 100. Geburtstages von Käthe Kollwitz durchgeführt. Im Jahr 1980 ging es bei der Präsentation um die Veränderung der Ausstellungsmöglichkeiten.

4. Zur Vorbereitung dieses Beitrages nutzte ich Dokumente und Unterlagen aus folgenden Archiven: Kunstwissenschaftler- und Kunstkritikerverband e. V., Dokumentation und Diathek Berlin (ehem. Archiv des Verbandes Bildender Künstler der DDR); Verbund Archiv/Bibliothek/Technische Werkstätten beim Parteivorstand der PDS (ehem. Zentrales Parteiarchiv der SED); Stadtbibliothek Berlin (Publikationen, Zeitungen, Zeitschriften aus den Jahren 1964-90); Soziologisches Institut für Kulturforschung (10117 Berlin, Gendarmenmarkt).

5. Anmerkungen zur Chronologie der INTERGRAFIK: Prof. Lea Grundig (Malerin und Grafikerin), war während der ersten beiden Ausstellungen der INTERGRAFIK Präsidentin des Verbandes Bildender Künstler. Der Schriftsteller Arnold Zweig war Ehrenpräsident der Deutschen Akademie der Künste und Präsident des Deutschen PEN-Zentrums Ost und West. Dr. h. c. Paul Wandel war 1967 Präsident der Liga für Völkerfreundschaft der DDR. Der Schriftsteller Nikolai Semjonowitsch Tichonow war Vorsitzender des Sowjetischen Friedenskomitees. Der Maler und Grafiker Prof. Gerhard Bondzin war zum Zeitpunkt der INTERGRAFIK 1970 Präsident des Künstlerverbandes, Prof. Arno Mohr, Grafiker und Maler, war Vorsitzender des Bezirksverbandes Berlin des VBK-DDR und Leiter einer Meisterklasse an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Der Maler und Grafiker Prof. Ronald Paris war Mitglied des Präsidiums und Vizepräsident des VBK-DDR - ebenso wie der Kunstwissenschaftler Prof. Dr. Hermann Raum. Prof. Herbert Sandberg, einer der profiliertesten Grafiker der DDR, war Ehrenmitglied der Akademie der Künste. Prof. Willi Sitte, ebenfalls Maler und Grafiker, war Mitglied der Akademie der Künste und ab 1974 Präsident des VBK-DDR. Die Chronologie ist im Jahr 1973 fragmentarisch, da die Unterlagen dafür unvollständig sind. 1973 wurde die Regel, nur Grafiken auszustellen, nicht eingehalten. Die Weltfestspiele der Jugend und Studenten ließen diese Ausnahme zu. Viele junge Künstler aus den Nationalstaaten und den westeuropäischen Ländern brachten als ihren Beitrag im Offsetdruck hergestellte politische Plakate und Karikaturen mit. Ab 1976 wurden zwar - wie bis dahin - sämtliche eingereichten Arbeiten in den Katalogen aufgeführt, sie konnten aber aus Raumgründen nicht mehr lückenlos ausgestellt werden. Bis 1984 wurde von jedem Künstler mindestens eine Arbeit gezeigt. Auch das war später nicht mehr möglich. Im Sekretariat der INTERGRAFIK bestand jedoch für jeden die Möglichkeit, alle Arbeiten einzusehen. Die in der Tabelle fehlenden Angaben müssen in der weiteren Forschungsarbeit ergänzt werden.

6. Für konzeptionelle Hilfe und redaktionelle Mitarbeit danke ich Dr. Gabi Lindner und Dr. Peter Michel.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Plakat der INTERGRAFIK 1967
- Frans Masereel auf der INTERGRAFIK 1967: Ruhelose Welt, Holzschnitt, 1965
- Pablo Picasso auf der INTERGRAFIK 1967: Der Maler und sein Modell, Lithografie, 1964
- Charles White auf der INTERGRAFIK 1980: Klang der Stille II, Farblithografie, 1978
- Nuria Quevedo auf der INTERGRAFIK 1984: Zu Kassandra von Christa Wolf, Kohlezeichnung
- Symposium zur INTERGRAFIK 1980, v. l.: Lothar Lang, Annelies Tschofen, Peter Michel, Willi Sitte, Horst Kolodziej und ein PLO-Vertreter

Raute

Rezensionen

Hanka Görlich

Zeitzeugen gesucht

Heinz Kessler/Fritz Streletz: "Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben",
edition ost im Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2011, 220 S., ISBN 978-3-360-01825-0, 12,95 €

"Die Zeitzeugenbörse Berlin sucht jetzt Menschen, die über den Bau der Mauer und die Zeit davor und danach berichten wollen", so heißt es am 1. Juni 2011 in der "Berliner Woche". Ähnliche Aufrufe fanden sich in diversen anderen Tageszeitungen.

Der 50. Jahrestag des Mauerbaus warf seine Schatten voraus. Am 21. Mai des Jahres gaben Heinz Kessler und Fritz Streletz anlässlich der Pressekonferenz zum Buch gut aufeinander abgestimmte Statements. Sie antworteten prognostisch auf zu erwartende Fragen. Die kamen vor Ort und in den Medien, stets ohne Kenntnis des Buches. Kessler erläuterte Beweggründe für die Niederschrift, die einzig dem Zweck dienen soll, "der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen", gebräuchlichen Verleumdungen entgegenzutreten. Zwei ranghöchste Militärs der Deutschen Demokratischen Republik geben Auskunft über die militärpolitische und -strategische Voraussetzung für die Entscheidung zum Mauerbau. Kompetente Zeitzeugen melden sich zu Wort. Sie wählen einen apodiktischen Titel für ihr Buch und liefern auf 220 Seiten den Beweis für seine Richtigkeit, verzichten dabei weitgehend auf subjektive Wahrnehmungen und verlassen sich auf Fakten. Wer willens ist, kann nachlesen, kommt historischer Wahrheit auf den Grund, kann bestenfalls Kennedys Aussage verinnerlichen, die Mauer sei "keine sehr schöne Lösung, aber tausendmal besser als Krieg." Diese faktenreiche Analyse der Ereignisse, die zum Mauerbau führten, wird jedem für eigene Recherchen zugänglich gemacht. Ein umfangreicher Anhang gibt zudem Auskunft.

Der Bau der Mauer wird in historischem Zusammenhang gesehen. Exakt setzt die Vorgeschichte am 30. Januar 1933, mit der Machtergreifung der Faschisten in Deutschland, ein. Alle späteren Ereignisse stehen zwangsläufig in Folge. Diesem Gedanken wird in heutiger Betrachtung generell nicht Rechnung getragen.

Die Vielzahl der zitierten und angefügten Dokumente ist eine Offenbarung für den "Nichthistoriker" und liest sich teilweise spannender als jede Kriminalstory. Gesprächsprotokolle von Chruschtschow und Ulbricht oder zwischen sowjetischen Generälen, "geheime Verschlusssachen" sind aufschlussreiche Informationsquellen. Die Autoren setzen sich mit Historikern aller Couleur auseinander. Sie widerlegen durch eigene Kenntnis oder beziehen von anderen bezogene Standpunkte in ihre Analysen ein. Ungeschminkte Fakten belegen die politische, wirtschaftliche und militärische Situation, die zu der bekannten Tatsache des 13. August 1961 führte.

Auch Spannungen zwischen Berlin und Moskau werden nicht verschwiegen, selbst in diesem Zusammenhang "streng vertrauliche" Protokolle zitiert. Die Autoren gehen weit in ihren Postulaten. Auf S. 126 heißt es bezüglich Chruschtschows Wiener Auftritt im Januar 1961 u. a. "... die DDR erschien als eine von der Sowjetunion geführte Figur auf dem Schachbrett der Politik." Richtiggestellt werden durch diesen und andere Sachverhalte die These von "Ulbrichts Mauerbau", ein Titel der US-amerikanischen Historikerin Hope M. Harrison, den die Autoren anlässlich der Pressekonferenz als interessant und verdienstvoll, aber nicht ausreichend gründlich recherchiert einschätzten. In diesem Zusammenhang verwiesen Kessler und Streletz auf Signale aus Moskau.

Vor etwas mehr als 50 Jahren standen nach dem missglückten Gipfeltreffen von Kennedy und Chruschtschow in Wien, nach dem Eklat der vier Siegermächte in Paris, nach verschiedenen brisanten internationalen Ereignissen von Weltbedeutung de Zeichen auf Krieg, sodass in Absprache zwischen Moskau und Washington die Entscheidung für den Mauerbau fiel.

Allen internationalen und nationalen Ereignissen wird Rechnung getragen, so auch dem Streit um den Status von Westberlin zwischen dem NATO-Militärpakt und den Warschauer Vertragspartnern. Nachzulesen ist ferner ein Gespräch zwischen Franz Joseph Strauß und seinem Partner McNamara in Washington, in dem der Bundesverteidigungsminister Quellen zufolge eine ungeheure Drohkulisse aufbaute (S. 135). Strauß zeigte "sowohl Realitätssinn als auch Anflüge von Größenwahn". Er forderte Kriegsfurcht hinter dem "Eisernen Vorhang" zu schüren. "Wir müssen bereit sein zu pokern."

Zwei authentische Zeitzeugen der "geopolitischen und militärischen Ausgangslage" für den 13. August 1961 haben mit ihrem Buch das Wort ergriffen. Näher war wohl keiner der heute noch Lebenden an den Ereignissen und zugleich involviert. Erinnert wird an Walter Ulbrichts Forderung nach einem Friedensvertrag 16 Jahre nach der Beendigung des Krieges, erinnert an die Forderung der DDR nach einem einheitlichen Deutschland. Und das viele Jahre vor der "Einheit". Erinnert wird auch an die sture Haltung Konrad Adenauers betreffs des Friedensvertrages mit beiden deutschen Staaten.

Im auch von Emotionen geprägten Schlusskapitel wird nochmals auf die Grenzsicherung und den Waffengebrauch verwiesen, u. a. mit einem sinngemäß geäußerten Ausspruch (S. 160) Walter Ulbrichts, dass, wer eine Grenze verteidigt auch durchsetzen muss, dass sie respektiert wird mit allen Konsequenzen. Allerdings war sein und seiner Nachfolger Interesse darauf gerichtet, nur im äußersten Fall von der Waffe Gebrauch zu machen. "Jeder Schuss an der Mauer ist zugleich ein Schuss auf mich", war Ulbrichts Meinung. Und da die Anzahl der "Mauertoten" nach Bedarf in den Medien gezählt wird, ist ein Verweis auf den Salzgitterreport entscheidend. Auch von Gorbatschow ist die Rede, der am 16. April 1986 anlässlich seines Besuchs am Brandenburger Tor den Einsatz der DDR in höchsten Tönen lobt und "... ewiges Andenken an die Grenzsoldaten, die ihr Leben für die sozialistische DDR gegeben haben" forderte, der dann am 20.12.2004 Wilmersdorfer Schülern kundtat: "Wenn ich mich an die Mauer in Berlin erinnere, spüre ich heute noch Entsetzen über das Bauwerk" (S. 166) So weit entfernt sich der Russe von der Haltung seines ehemaligen amerikanischen Amtskollegen.

Für Nachgeborene wird der gesamte Vorgang als historisches Ereignis nachvollziehbar. Das vorliegende Buch könnte eine gute Grundlage zum Verständnis sein, wenn man denn wollte. Da aber - laut Aussage auf der Pressekonferenz - Kessler in Schulmaterialien als Terrorist und Verräter dargestellt wird, weil er aus der Hitlerarmee desertierte, wird man ihm und seinem Mitautor aus diesen und andere bekannten Gründen keine Plattform für die Auseinandersetzung bieten, während anderen Zeitzeugen Tür und Tor geöffnet wird.

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Werner Krecek

Feuchtwangers Oppenheimer und ein Film

Eine kleine Nachbetrachtung

Manchmal läuft bei einem Festival ein Film, von dem Sachkundige, darunter auch vermeintliche, sich fragen, warum und auf welche Weise der es wohl verdient haben könnte, dort gezeigt zu werden. Das ist normal und passiert hält ab und zu. Bei der Berlinale 2010 stellten sich solche Fragen nach der Vorführung von "Jud Süß-Film ohne Gewissen", der, wie es hieß, die Gemüter spalte. Ungewöhnlich wurde die Sache nur, weil der Regisseur, Oskar Roehler, die zwiespältige Aufnahme im Nachhinein nutzte, um das ganze Festival zu diffamieren: "Die Berlinale ist eine Schlammschlacht und ein Schlachtfest. Jeder sucht nach einem Grund, sich begeistert oder entsetzt aufzuregen, und nach zehn Tagen Wettbewerb sind die Leute derart hysterisiert, dass sie nur auf ein Ventil warten, um Dampf abzulassen. Da kam mein Film gerade recht." (Interview mit Oskar Roehler in Sächs. Zeitung 25.9.2010)

Nun nimmt sich Oskar Roehler mit seinem Film ein kompliziertes historisches Drama zum Gegenstand und bei voller Berufung darauf, keinen Dokumentarfilm geschaffen zu haben - was er mehrmals beteuert - kann doch wohl verlangt werden, dass eine Geschichte erzählt wird, die der Bedeutsamkeit des Themas gerecht wird. Und da sind Zweifel anzumelden.

Es geht um Entstehung und Rolle eines der schlimmsten Machwerke der Nazipropaganda, den Film "Jud Süß" von Veit Harlan, den bis zum Kriegsende etwa 20 Millionen Menschen sahen - im regulären Kinoprogramm, auch in von Deutschen besetzten Gebieten, sogar in Sondervorstellungen vor Wachmannschaften in Vernichtungslagern der Nazis, um die Hemmschwelle der Mörder zu senken. Allein dieser numerische Fakt ist Beweis für die ideologische Bedeutung von "Jud Süß" für den millionenfachen Mord an Juden.

Roehler stellt sich Fragen über die individuelle Verantwortung der Hauptdarsteller: Warum geben sich Künstler für ein solches Machwerk her? - Und findet keine eindeutigen Antworten. Die aber wären zuallererst zu geben, zumal sie Lion Feuchtwanger, der Autor des weltberühmten Romans, in einem "Offenem Brief an sieben Berliner Schauspieler" vom April 1940 aus dem Exil gegeben hat: "Man kann, fürchte ich, nicht sieben Jahre hindurch gesinnungsloses, schlechtes Theater machen, ohne dass man an Talent einbüßt. Sonderbarerweise verlumpt gleichzeitig mit der Seele auch die Kunst. Sonderbarerweise kann ein guter Schauspieler nicht gegen seine Überzeugung spielen, ohne ein weniger guter Schauspieler zu werden.

Sie mögen große Gagen beziehen. Ihr heutiges Publikum mag vielleicht keinen Unterschied merken. Aber wenn wir wieder da sein werden, wenn Sie wieder in unseren Stücken zu spielen haben werden und unter unserer Regie, dann, seltsamerweise, wird sich zeigen, dass Sie nicht die gleichen geblieben sind. Nein, ... so werden Sie zwar in Ihrem Äußeren unverändert erscheinen, doch Ihre Kunst wird, fürchte ich, die Spuren der Mitwirkung an solchen Filmen wie diesem "Jud Süß" zeigen. (junge Welt 9.10.2010 mit Offenem Brief an sieben Berliner Schauspieler vom April 1940) Namentlich genannt werden von Feuchtwanger, u. a. Werner Krauß, der den Oppenheimer spielt, ein "plumper, polternder, schlauer Heinrich George" als Herzog, Eugen Klöpfer, "Sinnbild deutscher Biederkeit", der "versoffene und sich nach allen Seiten windende" Albert Florath und der Regisseur Veit Harlan, "der Sie historische Stoffe eindeutig zu gestalten wissen, bald eindeutig nach dieser, bald eindeutig nach jener Seite". (ebenfalls jW)

Liest man diesen Brief, enthält er genau die Zielpunkte, auf die die heutige Beschäftigung gerichtet sein müsste: den Opportunismus von Künstlern, die mit dem Naziregime kollaborierten - des Ruhmes wegen, sicher, weil sie Drangsalierungen befürchteten, und - das war schon ein Menetekel für einen Schauspieler - weil sie in Vergessenheit geraten könnten. Und schlecht bezahlt wurden sie sicher auch nicht. Feuchtwanger räumt ihnen das alles ein, denn er kannte sie aus Berliner Zeiten persönlich und wusste, dass sie keine fanatischen Nazis waren. Nicht zuletzt daraus erklärt sich auch, dass manches Argument in dem Brief gleichsam als Regieanweisung für die Schauspieler und als Anregung für den Drehbuchautor bei einem heutigen Vorhaben mit dem Stoff gelten könnte.

Roehler geht einen anderen Weg. Er betont in dem zitierten Interview immer wieder - manches Argument unterscheidet sich in seinem Niveau kaum von der allgemeinen Schelte gegen die Berlinale - dass er keinen Dokfilm schaffen wollte, sondern einen Spielfilm, er deshalb auch mit der Historie spielen wolle und könne. Dem wäre im Prinzip nicht zu widersprechen, wenn der Film nicht selber gegen den notwendigen Hauptzielpunkt verstieße.

Zwei Beispiele: Die Titelgestalt spielt der österreichische Schauspieler Ferdinand Marian (Tobias Moretti). Seine Frau (Martina Gedeck) war eine Katholikin. Bei Roehler wird sie zur Vierteljüdin. Das ist ein dramaturgischer Fehlgriff, der auch nicht mit künstlerischer Freiheit zu rechtfertigen ist, denn damit wird der Hauptfigur der Handlungsspielraum eingeengt: Marian kann einen Teil seiner persönlichen Verantwortung für seinen Pakt mit dem Regime mit dem Verweis von sich schieben, er habe seine Frau vor rassisch begründetem Unbill schützen wollen. Die Möglichkeiten freien Entscheidens einzuschränken, verkleinert aber den Spielraum jeder Figur - das wird eigentlich in jedem Hauptseminar für Dramaturgie gelehrt. Das zweite Beispiel ist für den Zuschauer noch evidenter: Dieser Goebbels (Moritz Bleibtreu) ist alles andere als ein gefährlicher Strippenzieher. Er mag als verschlagen daherkommen, aber das ziemlich plump. Seinen Auftritten fehlt die lebensbedrohende Hinterlist. Manchmal wirkt er so überzeichnet, dass er, wie ein Kritiker schrieb, als Kasper wirkt. Damit wird der Konflikt, in dem die Hauptfigur steckt, erneut verkleinert: Es dürfte ihm eigentlich gar nicht so schwer fallen, den Offerten zu widerstehen.

Statt diesen Konflikt schon vom Buch her zu gestalten und dann voll auszuspielen, wird allerlei Ersatz geboten: Saufereien im Hause Marian mit Ehekrach, das Treiben von Goebbels und seiner Kumpane mit allzu plakativ ausgestellten allzu willigen Damen, kurze Einblicke in die Truppenbetreuung, die schablonenhaft wirkende Konfrontation einiger Hauptakteure mit Gräben schaufelnden Gefangenen ... Gut gemeint ist nicht gut. Das ist im besten Falle Kunsthandwerk, was bei dem Gewicht des Stoffes alles andere als ein positives Urteil ist.

Dies wird besonders offenkundig, wenn man die ganze Angelegenheit zum Anlass nimmt, sich an die historische Person des Josef Oppenheimer, Feuchtwangers Roman und die Werkgeschichte zu erinnern.

Josef Ben Issachar Süßkind Oppenheimer (1698(?) - 1738), Sohn eines jüdischen Handelsmannes und Steuereinnehmers in der Pfalz, war Finanzrat des Herzogs Karl Alexander von Württemberg, stieg an dessen Seite zum mächtigsten Mann des Landes auf. Er unterstützte seinen Dienstherrn in dessen absolutistischem Machtstreben gegen die mittelalterlichen Stände, die sich sofort nach Karl Alexanders Tod an ihm rächten, ihn ins Gefängnis warfen, folterten und nach einem widerlichen Schauprozess henkten. Mögen sich die Lesarten von Oppenheimers Wirken unterscheiden, in einem sind sich alle einig - das war ein Justizmord aus Rache, der zusätzlich antisemitisch motiviert war Dabei war das Justizopfer nicht einmal Beamter, also bezahlter Staatsdiener, im Gegenteil, er "lehnte noch immer jedes Amt ab, er hatte nichts als den Titel Geheimer Rat und Oberfinanzdirektor, auch Schatullenverwalter Ihrer Durchlaucht der Herzogin ..."

Bei Feuchtwanger ist dieser Finanzier eine durchaus widersprüchliche Persönlichkeit - intelligent, zielstrebig bis zur Rücksichtslosigkeit, auch brutal in seiner Machtausübung, verliebt in äußeren Reichtum, galant zu den Frauen, der Sexualität alles andere als abgewandt - was seine Feinde zu nutzen wussten und das Beschlafen christlicher ehrbarer Württembergerinnen als Grund für den Mord ausgaben. Um professionellen Erfolg zu haben, musste er wegen seiner jüdischen Abstammung doppelt geschickt wirken. Mit dem Tod seines Gönners und Auftraggebers verliert er seine Macht, aus dem mächtigen Finanzier wird das Justizopfer.

Für Feuchtwanger ist das ein großer historischer Stoff Sein Oppenheimer betreibt das Spiel der Mächtigen. Als der Roman erschien, war der historische "Jud Süß" als "Hofjude" längst zu einer antisemitischen Galionsfigur geworden; in Harlans Nazihetzfilm wird er gar zum blutsaugenden Bankier Der Regisseur benutzte, von Goebbels veranlasst, den Ruf des Erfolgsromans verfälschend für sein Machwerk.

Bei aller Achtung vor künstlerischer Freiheit, vor dem Argument, keine historische Dokumentation geschaffen zu haben, von einer erneuten und heutigen Beschäftigung mit dem Stoff und seinem Titelhelden muss man verlangen, dass sie sich, zumal im Massenmedium Film, zu diesem Hauptkonflikt bekennt und nicht mit allerlei Spielereien in Nebenschauplätze ausweicht. Das aber geschieht in Roehlers Film "Jud Süß - Film ohne Gewissen".

Schließlich ist in dem Zusammenhang auf ein Detail zu verweisen, das den Umgang mit dem Werk Feuchtwangers in der DDR erhellt und auf die Feinfühligkeit verweist, die dem Problem insgesamt zuteil wurde. Darauf verweist Gisela Lüttig in einem Nachwort zur Aufbau-Ausgabe des Romans. Die Romane des weltbekannten Autors wurden nach 1945 vom Aufbau und vom Greifenverlag herausgegeben. Beide Verlage zögerten zunächst, "Jud Süß" in die Edition aufzunehmen. In einem Brief an den Aufbau Verlag bat Lion Feuchtwanger um Aufklärung: Ihm "scheint es doppelt verwunderlich, dass der Roman, den die Hitler-Leute so gräulich entstellt haben, von den Deutschen in seiner wirklichen Form nicht gelesen werden kann ... Aber man schreibt mir aus Westdeutschland, dass dort ein stiller Boykott gegen mich bestehe, da ich mich so oft und so offen für die Deutsche Demokratische Republik eingesetzt habe. Wieweit das wahr ist, kann ich hier in Kalifornien nicht nachprüfen. Aber dass auch im Osten Vorurteile gegen das Werk da sind, scheint mir erwiesen." Der spätere stellvertretende DDR-Kulturminister Erich Wendt antwortet dem Schriftsteller: "Die Nazizeit hat in den Köpfen solch große Verheerungen angerichtet, dass sogar Bücher wie der 'Jud Süß', dem doch wahrhaftig niemand antisemitische Tendenzen zuschrieb und dem auch heute noch kein ernsthafter Mensch solche Tendenzen zuschreiben kann, auf die vergifteten Hirne rückständiger Schichten eine antisemitische Wirkung haben. Deshalb haben wir das Buch nicht in unser Programm aufgenommen ­... Nach der Ermordung von sechs Millionen Juden, nach Strasser und Rosenberg, ist die jüdische Frage noch immer eine offene Wunde, und man kann nicht so zupacken, als wäre das gesundes Fleisch." Feuchtwanger habe, schreibt Lüttig, diese Begründung sofort akzeptiert. Die kaum erfreuliche Wiederbegegnung mit Jud Süß durch den Roehler-Film mag auch ihr Gutes haben: Man greift wieder mal zum Welterfolg Lion Feuchtwangers ...

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Maria Michel

Eine Band von Format

"EMMA rockt Brecht. In der Sünder schamvollem Gewimmel!", Audio-CD mit 20 Titeln,
Verlag Wiljo Heinen Berlin 2010, ca. 60 min., ISBN 978-3-939828-41-9, 14,50 €

Am 20. Mai diesen Jahres gab es in der GBM-Galerie in der Berliner Weitlingstraße eine Lesung aus Manfred Wekwerths zurzeit letztem Buch "Neues vom alten Brecht". Die Schauspielerin Renate Richter las und Prof. Dr. Manfred Wekwerth beantwortete in der anschließenden angeregten Diskussion in der ihm eigenen sympathischen Art Fragen der interessierten Zuhörer. Zu Beginn hatte Renate Richter die "Legende vom toten Soldaten" gesungen, die nun auch auf der CD "EMMA rockt Brecht. In der Sünder schamvollem Gewimmel" zu hören ist.

Auf der Internationalen Brecht-Konferenz im Mai 2006 hatte die Rockband EMMA erstmals das Programm vorgestellt, das nach dieser Premiere auf eine CD aufgenommen wurde. Sogar im Deutschen Bundestag wurde dieses Rockkonzert aufgeführt. Erstaunlich, dass sich eine junge Band intensiv mit Brecht beschäftigt. Erst einmal empfand ich das beim originalen Hören im Konferenzsaal als Krach, eben Rock.

Jetzt liegt seit geraumer Zeit diese CD mit einem lesenswerten Beiheft vor und ich - viele ebenso - bin begeistert. Der Titel "In der Sünder schamvollem Gewimmel" ist mit dem Untertitel versehen "Was Eugen Berthold Friedrich mit seinen Freunden in Augsburg so alles gedichtet und gesungen hat". Es sind Gesänge Brechts, die er im Alter von 14 bis 22 Jahren schrieb, in originaler Fassung und mit Melodien, von ihm selbst komponiert. Dazu kommen gänzlich neue Brecht-Rock-Songs und vertonte Gedichte. Die musikalische Leitung hatte Matthias Müller, aus dessen Feder auch die Neukompositionen stammen. Es singen Matthias (EMMA) Hirschfeld und die bekannten Schauspieler Renate Richter und Hendrik Duryn. Bemerkenswerte Zwischentexte spricht Manfred Wekwerth, der wohl beste Brecht-Kenner, ehemaliger Regisseur und Intendant des Berliner Ensembles. Von ihm erfahren wir viel über Brechts inniges Verhältnis zur Gitarre, auf der er nur E-Moll beherrschte.

Die "Legende vom toten Soldaten" in der packenden Interpretation durch die "Brechtbühnenerfahrene Schauspielerin Renate Richter"(1) begeistert mich immer wieder. Mitreißende Rhythmen und einfühlsamer Vortrag beeindrucken den Hörer. Schauerlich der von "EMMA" vorgetragene Song "Jakob Apfelböck", der bei aller Grausamkeit um Verständnis bittet. Und bemerkenswert ist der Song "Gegen Verführung".

Hier geht es auch um die Auferstehung nach dem Tode und um das ewige Leben. Brecht war von der Bibel, dem "für ihn interessantesten Buch der Weltliteratur"(2), fasziniert. Als "aktiver und bekennender Christ"(3) war der musikalische Leiter der Band und Komponist Matthias Müller nicht einverstanden mit Brechts Textzeile: "Und es kommt nichts danach". Deshalb wurde die ursprüngliche alte Fassung des Textes: "Ihr könnt nur das verlieren, was ihr nie gehabt vorher" gewählt. Prof. Dr. Heinrich Fink nennt die CD eine "Glanzleistung"; auf der Bühne habe sich "generationsübergreifend ein fast zärtliches Zusammenspiel von politisch brisanter Aktualität" entwickelt. Dem ist nichts hinzuzufügen.


Anmerkungen:

(1) Prof. Dr. Heinrich Fink, Beiheft
(2) Prof. Dr. Manfred Wekwerth, Beiheft
(3) Matthias Müller, Beiheft

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Bernd Heimberger

Unruhe der Unbequemen

Heidrun Hegewald: "Ich bin, was mir geschieht",

Berlin 2011, 159 S., ISBN 978-3-355-01787-9, 9,95 €

Heidrun Hegewald war wer in der DDR. Sie war eine beachtete, anerkannte wie abgelehnte Künstlerin. Sie war im Vorstand und Präsidium des Verbandes Bildender Künstler der DDR. Und das nicht nur einer ausgerufenen Frauenquote wegen. Hegewald war eine Gefragte, weil sie eine Fragende war. Eine, die nicht nur hinnahm, eine, die etwas hinzuzugeben hatte. Das Unbequeme machte sie zur Unbequemen.

In der Kunst der Malerin und Grafikerin, die ihr Denken ist, in ihrem Denken, das Geisteskunst ist, artikuliert sie die unterschiedlichsten Dinge, die ihre Unruhe ausmachen. Es ist die Unruhe der Unbequemen. Lebenslang! Im Kunstmachen autonom, äußert die ihre Autonomie auch in der Kunst des Schreibens. "Ich bin, was mir geschieht" ist der Titel einer Sammlung mit Schriftstücken der Schreiberin. Das Buch ist ein breiter und hoher Damm gegen die "Diktatur der Dummheit". Eine Autorin spricht, die keine Anstrengung scheut, die Leser anzustrengen. Sätze stehen da wie Säulen. Auch als Denkmal. Derartiges kennt man im Ost-Deutschen von Bildhauern wie Wieland Förster und Werner Stötzer. Heidrun Hegewald ist die Dritte im Bunde.

Hegewald, 1936 in Meißen geboren, ist ein gebranntes Kind. Sie hat das brennende Dresden des 13. Februar 1945 gesehen, gerochen, gefühlt. Das hat sich eingebrannt in Herz und Hirn der Heidrun Hegewald. Sie kann nicht umhin, in der Helle das Dunkel, im Dunkel das Helle wahrzunehmen und in ihrer Kunst, in ihrem Schreiben Wirklichkeit werden zu lassen. In einigen Schriftstücken formuliert die Autorin Erinnerungen an die Kindheit. Einer der persönlich-privaten Texte, "Dresden" überschrieben, bringt eine der bittersten Lebenserfahrungen auf den Punkt: "Ich habe meine Kindheit an den Krieg verloren." Das war Prägung. Das ist zum Brandmal fürs Leben geworden. Das Leben einer Frau, die von sich sagt: "Ich war und blieb eine fanatische Beobachterin." Und die kann nicht anders: Sie muss auf das Wesentliche, das Eigentliche, also stets auf das Existentielle achten. Jederzeit, überall, in allem.

Es könnten sämtliche Texte biografische Schriftstücke genannt werden. Denn, welcher ist nicht ein Text von und für Heidrun Hegewald? Biografisch ist das Schreiben, indem es ein Schreiben wider bleibende Selbstzweifel ist. Schreiben bedeutet für Hegewald, sich Mut anzuschreiben, sich Gewissheit anzuschreiben, sich Stabilität anzuschreiben. Schreiben bedeutet des weiteren, die Sprache vor Schändung zu schützen. Die Texte trotzen der Verelendung, Verarmung der deutschen Sprache. Wort für Wort. In den persönlichsten Äußerungen ebenso wie in den politischen. Der Wille zum Denken fördert und forciert die polemisch-philosophischen Äußerungen. Die werden am deutlichsten in der assoziativen Sprache. Vor allem, wenn die apodiktische Formulierung begünstigt wird. Ihr ist Hegewald so zugeneigt wie den schön geschmirgelten Sätzen. Jeder gute Gedanke ist der philosophisch, politisch Ambitionierten einen guten Satz wert. Gedanken und Gedankenansatz sollen stimmen. Dicht an Dicht drängen sich die Gedanken. Jeder Gedanke der Leser wird sofort in den Hintergrund geschoben, da der nächstfolgende Gedanken-Satz der Vor- und Nach-Denkerin vorübersaust. Das macht atemlos. Egal, ob die Kunst, die Gesellschaft, die Person Gegenstand der Gedanken sind.

Ihre Gedanken-Linien aufs Papier zu bringen, hat sich Heidrun Hegewald nichts leicht gemacht. Wieso den Lesern das Lesen erleichtern? Zumal, wenn Leben nicht leichtfertig als leichtfertige Angelegenheit gesehen wird. Was viel, was alles über die Verfasserin von "Ich bin, was mir geschieht" sagt. Was auch sagt, dass sie ist, was sie geschehen lässt. Heidrun Hegewald ist wer: Heidrun Hegewald!

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Georg Grasnick

Fluchbeladene Vergangenheit gegenwärtig

Lorenz Knorr: "Generäle vor Gericht", Papy Rossa Verlag,
Köln 2011, 286 S., ISBN 978-3-89438-460-9, 16,- €

Das neue Buch von Lorenz Knorr "Generäle vor Gericht. Oder: Darf man Nazi-Militärs als Massenmörder bezeichnen?" erschien in den Tagen, als Bundesminister de Maizière das Ziel der so genannten Bundeswehr-Reform u. a. so umriss: Bundesdeutsche Streitkräfte sollen in die Lage versetzt werden, künftig zwei Kriege wie in Afghanistan zu führen und sich gleichzeitig an bis zu sechs kleineren militärischen Auslandseinsätzen zu beteiligen! Der Bundeswehrminister denkt beispielsweise an möglich Einsätze in Staaten wie Pakistan, Somalia, Sudan oder dem Jemen.

Lorenz Knorr, ehemaliger antifaschistischer Widerstandskämpfer, hatte Anfang der 1960er Jahre als Mitglied des Direktoriums der Deutschen Friedensunion auf einer Jugendversammlung die an der Spitze der Bundeswehr stehenden ehemaligen Nazi-Generäle als Kriegsverbrecher und Massenmörder bezeichnet. F.J. Strauß erstattete Anklage wegen Beleidigung. Die Ehre der Generäle Heusinger, Speidel, Kammhuber und Foertsch und von Admiral Ruge sei verletzt worden.

Um den Stellenwert des Prozesses zu erfassen, sei an das politische Klima und die innenpolitische Entwicklung der Bundesrepublik in den 1960er Jahren erinnert: Die alten Macht- und Besitzverhältnisse waren in der Bundesrepublik wieder hergestellt. Eine Bundestagsmehrheit hatte die atomare Ausrüstung der Bundeswehr beschlossen. Bundeskanzler Adenauer erklärte entsprechend der antikommunistischen Staatsdoktrin - die Sowjetunion zum "Todfeind" und rief nach "Befreiung der Brüder und Schwestern im Osten". Bundeswehrgeneräle forderten von der NATO die "Vorwärtsstrategie". Ein von der Sowjetunion vorgeschlagenes kollektives Sicherheitssystem in Europa wurde von der Adenauer-Regierung ebenso abgelehnt wie die polnische Initiative für eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa. Die Bundesrepublik übernahm die Rolle eines "Bollwerks gegen den Kommunismus". Die Bundesregierung handelte nach dem Vorbild der faschistischen Gesetzgebung geschaffenen "Blitzgesetzen". Nach dem Verbot der FDJ folgte das der KPD. In Staat, Wirtschaft und Justiz hatten Amtswalter des faschistischen Regimes wieder das Sagen. In "Generäle vor Gericht" wird dargelegt, wie Knorr vor Gericht nachwies, dass mit der Anklage gegen ihn ein Präzedenzfall geschaffen werden soll, "um das Urteil des Internationalen Militärtribunals zu unterlaufen bzw. zu konterkarieren." Um Teile des Völkerrechts auszuhebeln. Um die von den Hitler-Generälen begangenen Kriegsverbrechen nachträglich zu rechtfertigen. Um zu versuchen, den Widerstand gegen das faschistische Regime zu diffamieren "und die Wahrheit hinter Gitter zu bringen".

Anhand authentischer Dokumente wurde die Mitschuld der Generäle am Tod von mehr als 50 Millionen Menschen bewiesen.

Knorr war zum Ankläger geworden. Er setzte die Hitler-Generäle auf die Anklagebank. Er sah sich in der Pflicht, die faschistischen Gewaltverbrechen "dem Vergessen zu entreißen". Die bundesdeutsche Justiz leitete zusätzlich gegen ihn Anklage wegen "Staatsgefährdung" ein. Zwei Prozesse, inszeniert im Zusammenspiel von belasteten Politikern, hohen Militärs und Juristen, die damit "ihr demokratiefremdes bzw. demokratiefeindliches Wesen" unter Beweis stellten.

Der Leser erfährt, dass als Begleitpraktiken zu diesen Prozessen ein übler Psycho-Telefonterror gegen die Ehefrau des Autors verübt wird und anonyme Kräfte Knorr als einen "Exponenten" der "psychologischen Kriegsführung des Kreml" verunglimpfen und - allerdings vergeblich bestrebt waren, die von britischen und französischen Sachverständigen gründlich geprüften Dokumente über die Verbrechen der Nazi-Generäle als "Fälschungen und wahrheitswidrige Behauptungen" abzuwerten.

Der Prozess löste weltweit Protest und zugleich eine Welle der Solidarität mit Knorr aus, und zwar von namhaften Persönlichkeiten wie beispielsweise Nobelpreisträger Bertrand Russell oder Kronanwalt Pritt, von Politikern, Juristen, Wissenschaftlern und Geistlichen sowie von antifaschistischen Widerstands- und von Friedensorganisationen. Geldspenden zur Führung des Prozesses erfolgten. Knorr verwandte einen Teil der Mittel für Telegramme, um einige Minister, die an der NATO-Ratstagung in Ottawa im Herbst 1963 teilnahmen, über die Verbrechen der Nazi-Generäle zu informieren. Heusinger war zu dieser Zeit Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, Speidel Oberkommandierender des NATO-Abschnittes Europa-Mitte. Der dänische Außenminister Häkkerup, der Knorr aus Jugendverbandszeiten kannte, zitierte vor dem Ausschuss aus den Heusinger und Speidel belastenden Dokumenten des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg. Die beiden Kriegsverbrecher verloren ihre Posten.

Die internationale Protestflut gegen den Prozess bewirkte schließlich auch, dass eine Revisionsinstanz die Urteile gegen Knorr wegen Rechtsfehlern aufhob.

Ein umfangreicher Dokumentenanhang vermittelt einen Einblick in wichtige Dokumente über die Kriegsverbrechen der Generäle und internationale Gutachten sowie auch in Kommentare und Gespräche von und mit hochrangigen Politikern und Juristen.

Bemerkenswert auch: Das Buch bietet eine Vielzahl friedens- und menschenrechtspolitischer Argumentationen des Autors und seiner Anwälte. Und zwar zu Fragen des Völkerrechts, zu wirklicher Staatsgefährdung durch Unbelehrbare und ihre Nachahmer, zum Grundrecht auf freie Meinungsäußerung sowie über die Funktion des Antikommunismus, der nicht nur gegen Kommunisten gerichtet ist, sondern gegen alles, "was in der Tradition der Aufklärung und des europäischen Humanismus steht, um das gesellschaftliche Spektrum immer weiter nach rechts zu verschieben und sozialen Fortschritt zu blockieren und zu untergraben".

Seinem umfangreichen Schaffen fügt der GBM-Menschenrechtspreisträger mit "Generäle vor Gericht" der Aufarbeitung der Geschichte der BRD einen weiteren bedeutenden Beitrag hinzu. Hochaktuell seine vor fast fünf Jahrzehnten ausgesprochene Warnung, dass nämlich jene, "die im Besitz von Macht und Reichtum (sind), ihre Privilegien nicht angetastet" und "die Vergangenheit in die Zukunft fortgeschrieben" wissen wollen. Mit der Teilnahme an den völkerrechtswidrigen NATO-Kriegen zur Neuaufteilung der Welt gegen das frühere Jugoslawien und gegen Afghanistan bewegt sich die BRD in der fluchbeladenen Traditionslinie des deutschen Militarismus. Dabei geht Missachtung des Völkerrechts mit Demokratieabbau und fortgesetzter Aushöhlung des Grundgesetzes im Innern einher. Dessen Artikel 87a beschränkt nämlich in Verbindung mit Artikel 115a die Aufgabe der Streitkräfte allein auf die Verteidigung des Landes gegen einen militärischen Angriff.

Das Buch "Generäle vor Gericht" ist nicht nur Rückblick auf einen Jahrzehnte zurückliegenden politischen Prozess. Es ist Kampfansage gegen jene gesellschaftlichen Kräfte, die die Vergangenheit in die Zukunft fortschreiben wollen. "Wie wir mit unserer Geschichte umgehen", sagte Lorenz Knorr seinerzeit, "ob wir uns kritisch von manchen Epochen distanzieren oder das Ererbte kritisch gestaltend annehmen, das wirkt auch auf unsere Zukunftsperspektive." Warnungen und Mahnungen, die für die Gegenwart gewichtiger denn je sind.

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Peter Michel

An Fakten halten

Gisela Schirmer: "Willi Sitte - Lidice. Historienbild und Kunstpolitik in der DDR", Dietrich Reimer Verlag GmbH Berlin 2011,
170 Seiten mit zahlreichen schwarzweißen und farbigen Abbildungen, Hardcover, ISBN 978-3-496-01439-3, 19,95 €

In einer Fußnote bezeichnet Gisela Schirmer, Kunsthistorikerin aus Osnabrück, ihre Publikation als "Studie". Sie untersucht die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Historienbildern Willi Sittes, beginnend mit Arbeiten aus den Jahren 1942/43 und endend in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre. Dabei stützt sie sich u. a. auf bisher nicht veröffentlichte Skizzenbücher, um schöpferische Prozesse zu analysieren und die Arbeitsweise eines Künstlers zu verdeutlichen, "der sich als Lernender begreift und sich die Großen der Kunstgeschichte zu seinen Lehrmeistern wählt, der an die Idee des Kommunismus genauso glaubt wie an ewige Gesetze der Kunst". (S. 11)

Die Skizzenbücher zeigen, so Gisela Schirmer, "mit welcher zeichnerischen Virtuosität bereits der junge Sitte historische Stoffe bewältigte, anfangs vor allem aus Lust am Erzählen, bald mit einer politischen Botschaft versehen. Sie lassen sichtbar werden, wie er sich mit dem Blick des 19. Jahrhunderts an den alten Meistern schulte und durch die Erfahrung mit der Kunst Picassos und der Klassischen Moderne eine eigene künstlerische Sprache fand". (S. 11)

Dieses Buch ist ein Zeugnis ernsthafter kunstwissenschaftlicher Arbeit. Die Autorin leitet aus dem vorhandenen künstlerischen und dokumentarischen Material ihre unvoreingenommenen Folgerungen ab und unterscheidet sich mit diesem induktiven Herangehen grundsätzlich - wie schon während ihrer Arbeit an der Autobiografie Willi Sittes "Farben und Folgen" oder an ihrem Buch "DDR und documenta" - von Autoren, die mit vorgefasster Meinung Urteile fällen, um in die derzeitige politische Landschaft zu passen. Wirklicher Dienst an der Kunst ist heute selten. Wo Kunstjournalismus vom Mainstream dirigiert wird, fällt Qualität auf. Wer Erwartungen an eine seriöse, von kunsthistorischem Wissen und gründlicher Recherche geprägte Herangehensweise hat, wird oft enttäuscht. Kunstkritik verselbstständigt sich mehr und mehr neben dem Werk, verkommt immer öfter zu einer gekünstelten Eloge, die das Werk nur als Anstoß zur Selbstdarstellung des Rezensenten nutzt. Heute, da sich auch künstlerisches Tun oftmals durch Dilettantismus und Clownerien selbst entwertet,wo sein Produkt zum Marktobjekt wird, dort zieht die Kunstkritik nach, verliert ihre Maßstäbe und muss selbst verkäuflich werden. Gediegenheit wird durch Originalitätssucht verdrängt. Auch die kunstwissenschaftliche Einordnung künstlerischer Arbeit in das Spannungsfeld von Kunst und Gesellschaft, in umfassendere gesellschaftliche Entwicklungen, Ereignisse und Widersprüche ist nicht mehr selbstverständlich.

Insofern ist Gisela Schirmers "Studie" ein Lichtblick. Sie untersucht anhand von Sittes Wandbild "Schlacht bei Liegnitz" (1942/43), am Beispiel seiner Bilder zu den Hochwasserkatastrophen an Po und Oder (1954/58) und an seinem großen Gemälde "Untergang der napoleonischen Armee in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813" (1955/56) die Beweggründe, die Suche nach einer dem Thema angemessenen Bildsprache und den komplizierten Prozess von den ersten Skizzen zum vollendeten Werk. Schon damals begriff Sitte Historienmalerei nicht als bloßes Abbild konkreter Ereignisse, sondern als "Anwendung von Geschichte auf die Gegenwart" (Peter H. Feist). In diesen frühen Jahren der DDR gab es beschämende kulturpolitische Auseinandersetzungen, die nicht nur für Sitte, sondern auch für andere Künstler und Kunstwissenschaftler Konflikte brachten und sich mit unterschiedlicher Intensität bis zu ihrem Ende fortsetzten.

Die Bildanalysen Gisela Schirmers sind Schulbeispiele solider kunstwissenschaftlicher Arbeit. So weist sie am Dreitafelbild "Kampf der Thälmannbrigade in Spanien" (1958) detailliert die Anregungen nach, die Sitte aus Picassos "Guernica" aufnahm und eigenständig verarbeitete. Sie dringt auch hier sehr genau in die Entwicklung der Bildideen, in Absichten, Arbeitsweisen und Wirkungen ein, erschließt zahlreiche historische und kunstgeschichtliche Quellen, zieht Querverbindungen und belegt die kulturpolitische Abwertung des Werkes als "artistische Spielerei". Das Bild verschwand zunächst spurlos und befindet sich heute wohl im Armeemuseum Dresden.

Im Zentrum des Buches steht das Schicksal des Dreitafelbildes "Lidice" (1959), das den von den Faschisten Ermordeten dieser tschechischen Gemeinde ein Denkmal setzte und als Geschenk der DDR 1962 an das Kulturhaus des wieder aufgebauten Ortes übergeben werden sollte. Sehr genau verfolgt Gisela Schirmer die Wandlungen, Wege und Umwege von den ersten Entwürfen über verschiedene zeichnerische und graphische Fassungen bis zum endgültigen Bild; sie untersucht auch jeweils eigenständige Arbeiten in Aquarell oder Öl - z. B. "Kauernder Akt" (1956), "Am Boden sich aufrichtende Frau" (1956), "Rufende Frauen" (1957), "Massaker II" (1959) u. a. -, die während dieses Prozesses entstanden. Und sie macht anhand von Dokumenten deutlich, mit welchen Widerständen sich Willi Sitte auch hier auseinanderzusetzen hatte. Ständig musste der Künstler darauf hinweisen, dass die Funktionen bildender Kunst über das Abbild hinausgehen, dass gesellschaftliche Realität und Wirklichkeit des Bildes nicht identisch sind, obwohl sie sich gegenseitig bedingen; das künstlerische Bild müsse den komplizierten, widersprüchlichen Prozess der gesellschaftlichen Wirklichkeit vermitteln. Man kann das Verhalten Alfred Kurellas, der damals Leiter der Kulturkommission beim Politbüro des ZK der SED war und sich fordernd in die Diskussionen um dieses Bild einmischte, bei allem Verständnis für die Umstände des Kalten Krieges nur als schimpflich bezeichnen. Gisela Schirmer ermöglicht mit Zitaten aus Archivmaterialien Einblicke in die "Hinterzimmer" der Verantwortlichen. Die Geschichte um "Lidice" ist voller Spannung. Vor der geplanten Übergabe verschwand das Bild spurlos. Die Annahme, es sei in Prag abhanden gekommen, erwies sich als falsch. Die Autorin vermutet: "Da es zu Willi Sittes monumentalem Dreitafelbild keinerlei Hinweise in Lidice gibt, ist nicht auszuschließen, dass der Geheimdienst das Bild verschwinden ließ, entweder aus eigenem Interesse oder auf Veranlassung von Gegnern der Transaktion aus Ostberlin." (S. 127) Genüsslich griff die BILD-Zeitung im Februar 2011 diese Vermutung auf und machte aus ihr eine Tatsache: "Ein neues Buch über Halles Maler-Genie deckt auf: Geheimdienst klaute dieses Sitte-Gemälde". Gisela Schirmer spekuliert nicht; sie hält sich an Fakten; ihre Mutmaßung ist nicht aus der Luft gegriffen, aber bislang nicht bewiesen. Ivona Kasalická, die Leiterin der Galerie in Lidice, wird nicht aufhören zu suchen, bis sie das Bild gefunden oder erfahren hat, was mit ihm geschehen ist. (S. 129)

Auch andere Historienbilder Willi Sittes werden in diesem Buch untersucht: "Höllensturz in Vietnam" (1967), "Leuna 21" (1965/66) oder das "Warschauer Paar" (1967). Die Entwicklung vom traditionellen Historienbild zur Komplex- und Simultandarstellung, die die Assoziationsfähigkeit des Betrachters herausfordert, wird überzeugend dargestellt. Wertvoll ist das Buch für mich auch durch den Nachweis, dass sich solche Kunstwissenschaftler wie Wolfgang Hütt und Peter H. Feist ständig mühten, zwischen Künstlern und Kulturfunktionären zu vermitteln, Offenheit für neue künstlerische Entwicklungen zu schaffen und Vernunft im Umgang mit Kunst zu praktizieren. Gisela Schirmers Buch kommt gerade recht. In der Merseburger Sitte-Galerie für realistische Kunst läuft eine Ausstellung unter dem Titel "Lidice und die Freiheit der Malerei", die die genannten und weitere Historienbilder, Skizzen und Dokumente zeigt.

Raute

Rezensionen

Peter Michel

Huldigung für Rolf Kuhrt

Rolf Kuhrt: "Malerei, Zeichnungen (Bd. 1), Grafik, Plastik (Bd. 2)"; hrsg. von Günther Rothe mit Texten
von Dieter Gleisberg, Hans-Jürgen Leonhardt, Rainer Behrends, Günter Meißner, Edwin Kratschmer, Dieter Görne, Peter Gosse, Wolfgang Schreiner, Klaus Tiedemann, Jürgen-K. Zabel;
zwei Bände (Pappband) in repräsentativem Schuber; 518 Abb.; Art Management Leipzig GmbH 2010;
Vertrieb: Passage-Verlag, Dessauer Straße 9, 04129 Leipzig; ISBN 978-3-93543-76-4; 105,00 €

Rolf Kuhrt gehört zu den Künstlern, mit denen sich die Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde besonders verbunden fühlt. Als das Relief "Aufbruch" von der Fassade des abgerissenen Hauptgebäudes der Universität Leipzig demontiert worden war, hatte er sich gemeinsam mit Klaus Schwabe und Frank Ruddigkeit öffentlich - auch in einem Redaktionsgespräch in der Zeitschrift ICARUS (1/2007) - mit der gängigen Abwertung dieses Werks auseinandergesetzt. Im selben Heft war u. a. seine aus einem Eichenstamm herausgetriebene Plastik "Daedalus landet" abgebildet (S. 51). Im Heft 3/2007 erschien die Rede Horst Kolodziejs zur Eröffnung der Ausstellung mit Werken aller drei Künstler in der GBM-Galerie am 8. Juni 2007. Illustriert war sie u. a. mit Rolf Kuhrts Holzschnitt "Kopf"; und auf der Titelseite glühte sein Ölgemälde "Kain und Abel". Zu unseren bleibenden Erinnerungen gehören intensive Gespräche in seinem Atelier um die Jahreswende 2007/2008 und die Enthüllung seines aus Reinhardtsdorfer Sandstein geschlagenen "Engels" auf dem Friedhof von Kirch-Rosin.

Alle genannten Arbeiten fanden wir in einer zweibändigen Monographie wieder, die 2010 erschien und uns nicht nur mit ihrer Werkauswahl und ihren Texten, sondern vor allem durch ihre Typographie und ihr Äußeres beeindruckte. Hier vereinen sich Schlichtheit und hoher ästhetischer Anspruch. In jedem Detail ist zu spüren, wie man den Intentionen des Künstlers und der Autoren folgte. Mit Sorgfalt und Einfühlung wurde hier geschrieben, gestaltet und lektoriert. Ein Stück Buchkultur ist entstanden, wie es gerade in der Leipziger Tradition noch immer erwartet wird.

Mehr und mehr wird jedoch gegenwärtig das Buch vom Kulturgut zur gewinnbringenden Massenware. Da sind solche Lichtblicke selten, und es ist nicht alltäglich, dass ein Künstler, der in der DDR seine Wurzeln hat, mit einer solch prachtvollen Werkpräsentation geehrt wird. Nicht umsonst schloss Rolf Kuhrt in seine Danksagung (Bd. 1, S. 7) den Leipziger Gebrauchsgrafiker Gunther Garbe ausdrücklich ein, der ihm bei der Erarbeitung des Layouts zur Seite gestanden hatte.

Dieter Gleisberg beschäftigt sich in seinem Text (Bd. 1, S. 9) vor allem mit der Rolle der Mythologie in Rolf Kuhrts Schaffen. Er beschwört die Aktualität der Mythen, die schon wichtige Teile der DDR-Kunst prägte und im Werk dieses Künstlers Bestand hat. Die Tragfähigkeit mythischer Gestalten für zeitkritische Reflexionen, der ungebundene Umgang mit ihnen - bis hin zur freien, individuellen Korrektur -, auch die Vorliebe für symbolhaft weiterwirkende literarische Figuren sind wichtige Merkmale seiner künstlerischen Arbeit. Gleisberg verweist auch auf die Wurzeln und das kulturelle Umfeld, die Kuhrts Werk prägen, u. a. auf das Vorbild Beckmann, über das Bernhard Heisig schrieb: "Hier war etwas herübergerettet von dem Alten und der Mensch das ausdrucksfähigste, bezugsreichste Medium geblieben. Von da aus gab es noch die Verantwortung zur Form" (Bd. 1, S. 9). Und weiter schreibt Dieter Gleisberg: "Sein Denken ist grüblerisch, sein Auge kritisch, sein Herz aber durchweg auf der Seite der Benachteiligten und Schwachen. ... Was Kuhrt zu sagen und zu fragen hat, geschieht schnörkellos und bohrend. Seine vehemente Bildsprache rüttelt auf, ohne Antworten vorwegzunehmen. Das Spröde, Sperrige, rebellisch Ungestüme dieser suggestiven Handschrift, die das Erbe des Expressionismus in sich trägt, bewahrt seine tiefernsten Bilder vor hohler Phrase und vor leerem Pathos."(Bd. 1, S. 11/12)

Mit ähnlich tiefgehenden, auch freundschaftlich geprägten Aussagen bestechen ebenso die anderen Texte. Sie würdigen ein Lebenswerk und beziehen sich auf mehr als ein halbes Tausend hervorragend fotografierte und gedruckte Zeichnungen in Kohle, Bleistift, Kreide, Feder und Kugelschreiber, auf Arbeiten in Tempera, Aquarell, Gouache, Acryl und Öl, auf Holzschnitte, Radierungen, Lithographien, Holzstiche und Lichtdrucke und auf Plastiken in Holz, Stein und Bronze. Wenn auch seine baugebundenen Arbeiten leider weitgehend fehlen - weil sie zumeist nicht mehr zugänglich sind -, so ist man doch angesichts dieser Vielfalt der künstlerischen Ausdrucksmittel fast versucht, von Universalität zu sprechen.

Das ist ein Buch für die Augen und den Verstand, für Kenner und solche, die es werden wollen. Eine Anschaffung lohnt sich. Dieses Werk ist - im doppelten Wortsinn - ein Wert, der bleibt.

Raute

Marginalien

Echo

Vision

Irgendwann in kommender Zeit, an einem 17. Juli, dem Geburtstag unserer Kanzlerin, wird auf dem Großen Bunkerberg im Berliner Friedrichshain dem deutschen Volke ein Denkmal übereignet werden. Das Denkmal wird 26,57 Meter hoch sein und 42,80 Tonnen wiegen. Damit wird ganz bewusst an das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald angeknüpft, um Kontinuität zu zeigen. In Erinnerung an die alten Gussformen wird das neue Denkmal entstehen. In der Bodenplatte wird zu lesen sein: meine Stärke - Deutschlands Kraft.

Der Countdown läuft. Die letzten Arbeiten haben begonnen.

Peter Felix, Berlin (Text und Collage)


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Zum Rücktitel ICARUS 2/2011

Wie immer lese ich mit Interesse die Ikarus-Interpretationen zu Ikarus-Bildern oder vermeintlichen Ikarus-Bildern im ICARUS, so auch die zu der Fotomontage von Alexander Michailowitsch Rodtschenko. Auf Ihre Deutung möchte ich nicht eingehen, weil jeder ein Recht zu seiner eigenen Sicht hat, ob diese der künstlerischen Intuition gerecht wird oder, wie Brecht spottete, dem Kofferpacken Chaplins gleicht, der alle aus dem Koffer heraushängenden Teile, wie Ärmel und Hosenbeine, einfach abschneidet.

Aber gern möchte ich auf ein paar Bildmotive und Bildhintergründe hinweisen, die mir nicht ganz uninteressant scheinen. Zuerst einmal geht das Hauptmotiv auf die auch von Malewitsch gemalte Legende vom ersten russischen Flieger Nikitka zurück, der sich mit selbstgebastelten Flügeln einen Glockenturm herunterstürzte, und uns Deutsche an den Schneider von Ulm oder Wieland den Schmied erinnert.

Die Menschenmenge blickt sensationsgierig, doch auch erwartungsvoll zum Glockenturm Iwan Welikis aus dem Moskauer Kreml hinauf. Bergähnlich wächst die Menge zum Wolkenkratzer an, der den Turm zu Babel, ein dem Ikarus verwandtes Motiv, assoziieren kann, nicht muss. Die auf der Turmspitze balancierende Figur stellt natürlich den künstlerischen Freund und Mitarbeiter Rodtschenkos, den futuristischen Dichter Majakowski dar. Einer, der sich über die Orthodoxie im Glauben und Denken spottend erhebt, aber mit Kruzifix-Gestus ebenso aufopferungsbereiten Mut personifiziert. Doch die Konsequenz einer solchen Kühnheit, die realisierte Vision des Fliegens, ein Flugzeug, bestimmt groß das Bild und hinterfliegt Turm und Majakowski.

Vielleicht ein Sinnbild des möglichen Erfolges aus der symbiotischen Verbindung von geistig-sozialer Vision und ingenieurtechnischer Fertigkeit, von Mensch und Technik.

Prof. Peter Arlt, Gotha


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Aphorismen

Ich würde ganz gern ein anderes Zeitalter machen, doch es steht fest, dass ich, wenn überhaupt eins, nur dieses machen kann. Seine Zeit ein wenig vorangebracht zu haben, ist die dem Menschen bestimmte Form der Ewigkeit.
Peter Hacks

Doch es ist eine weitblickende Politik, den Balkan durcheinander zu bringen. Dort sind die Reserven zur Herstellung des Chaos.
Karl Kraus

Ich muss, selbst auf die Gefahr hin, komisch zu wirken, sagen, dass ein echter Revolutionär aus Liebe handelt. Ein liebloser Revolutionär ist unvorstellbar.
Che Guevara

Ein Mensch ist nicht weniger als zwei Menschen.
Sergej Obraszow

Das Vaterland ist eine praktische Dekoration, bestehend aus zwei Teilen: dem Vorteil für die einen und dem Nachteil für die anderen.
Karl Kraus

Raute

Ronald Paris

Ausstellung in der GBM-Galerie im August 2011

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

"Fischer Odajam Kerala Indien" Öl/Lw. 2006

Nach vielen Skizzenbuchnotizen gestaltet, von denen einige in den Vitrinen in der Galerie zu sehen sind, "Vor der Klagemauer Jerusalem", Öl/Lw., 2008

Zwei Schauspielerporträts "Inge Keller" und "Dieter Mann" mit den begleitenden, großformatigen Kohlezeichnungen

Schon vor fünfzig Jahren gezeichnet, das "Porträt Creszentia Mühsam", Kreide, 1958


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Tor,
der sich verlor?

Tod
im Aufruhr Rot.

Mär
von Wiederkehr?

Leb
trotzdem und streb,

trotz alledem!

Klaus Georg


Rolf Kuhrt
"Gestürzter Ikarus", 2007 Kohle- und Kreidezeichnung, 100 x 70cm

Raute

Unsere Autoren:

Peter H. Feist, Prof. Dr. - Kunstwissenschaftler, Berlin
Kurt Fürst, Berlin
Klaus Georg - Autor, Berlin
Hanka Görlich - Theaterwissenschaftlerin, Berlin
Georg Grasnick, Prof. Dr. - Politologe, Berlin
Heidrun Hegewald - Malerin und Grafikerin, Berlin
Bernd Heimberger - Publizist, Blankenfelde
Helga Kolodziej - Diplomgesellschaftswissenschaftlerin, Berlin
Wolfgang Konschel - Staatsrechtler, Berlin
Werner Krecek, Dr. - Kulturwissenschaftler, Berlin
Maria Michel - Kunsterzieherin, Berlin
Peter Michel, Dr. - Kunstwissenschaftler, Berlin
Brigitte Queck - Diplomstaatswissenschaftlerin, Potsdam
Wolfgang Richter, Prof. Dr. - Philosoph, Friedensforscher, Wandlitz
Norbert Rogalski, Doz. Dr. - Hochschullehrer, Leipzig
Horst Schneider, Prof. Dr. - Historiker, Dresden


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Titelbild:
Roald Paris, "Warschauer Ghetto 1941", linker Teil des Diptychons, 2005 Öl/Lw.
2. Umschlagseite:
Ronald Paris, Ikarus, 1995. Federzeichnung
Rückseite des Umschlags:
Rolf Kuhrt, "Gestürzter Ikarus", 2007, Kohle- und Kreidezeichnung, 100 x 70 cm

Abbildungsnachweis:
Archiv Hegewald, S. 45
Archiv Kolodziej, S. 35, 36, 37, 39
Archiv Przyldenk, S. 13, 28, 33
Archiv Rogalski, S. 16
Archiv Gisela Schirmer, S. 48
Eulenspiegelverlag Berlin, S. 26
Peter Felix, S. 51
Ralf Alex Fichtner, S. 52
Lorenz Knorr, S. 46
Rolf Kuhrt, Rückseite des Umschlags
Ronald Paris, Titel, S. 32, 33 u. 3. US
Städtisches Museum Chemnitz, S. 30
Verlag der Kunst, S. 27
Verlag edition ost, S. 41
Verlag Wiljo Heinen, S. 45

Raute

Impressum

Herausgeber: Gesellschaft zum Schutz von
Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.
Weitlingstraße 89, 10317 Berlin
Telefon: 030/5578397
Fax: 030/5556355
Homepage: http://www.gbmev.de
E-Mail: gbmev@t-online.de
V.i.S.d.P.: Wolfgang Richter
Begründet von:
Dr. theol. Kuno Füssel,
Prof. Dr. sc. jur. Uwe-Jens Heuer,
Prof. Dr. sc. phil. Siegfried Prokop,
Prof. Dr. sc. phil. Wolfgang Richter

Redaktion:
Dr. Klaus Georg Przyklenk
Puschkinallee 15A, 15569 Woltersdorf
Tel.: 03362/503727
E-Mail: annyundklausp@online.de

Layout: Prof. Rudolf Grüttner
Satz: Waltraud Willms

Verlag:
GNN Verlag Sachsen/Berlin mbH Schkeuditz
ISBN 978-3-89819-373-3

Redaktionsschluss: 25.8.2011

Die Zeitschrift ICARUS ist das wissenschaftliche und publizistische Periodikum der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.; sie erscheint viermal jährlich und kann in der Geschäftsstelle der GBM, Weitlingstraße 89, 10317 Berlin abonniert bzw. gekauft werden. Ihr Bezug ist auch unter Angabe der ISBN (siehe weiter oben) über den Buchhandel möglich. Der Preis beträgt inkl. Versandkosten pro Heft 4,90 EUR für das Jahresabonnement 19,60 EUR.

Herausgeber und Redaktion arbeiten ehrenamtlich. Die Redaktion bittet um Artikel und Dokumente, die dem Charakter der Zeitschrift entsprechen. Manuskripte bitte auf elektronischem Datenträger bzw. per E-Mail und in reformierter Rechtschreibung. Honorare können nicht gezahlt werden. Spenden für die Zeitschrift überweisen Sie bitte auf das Konto 13 192 736, BLZ 10050000 bei der Berliner Sparkasse. Helfen Sie bitte durch Werbung, die Zeitschrift zu verbreiten.


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Quelle:
ICARUS Nr. 3/2011, 17. Jahrgang
Herausgeber:
Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.
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Internet: http://www.gbmev.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Oktober 2011