Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

GRUNDRISSE/040: zeitschrift für linke theorie & debatte, winter 2013


grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 48, winter 2013


INHALT

Redaktion:
Editorial / Call for Papers

Schwerpunkt: Antonio Negri, Staatskritik, Materialismus & Politik

Philipp Metzger:
Kampf für das Gemeinsame

Katharina Poeter:
Zum Begriff der immateriellen Arbeit von Michael Hardt und Antonio Negri

Martin Birkner:
"Das Kapital wird identisch mit dem Staat"

Thomas Seibert:
Physik des Begehrens, Phänomenologie der Freiheit

Jakob Graf:
Edukationismus - ein Problem linker Kritik

Dieter Sauer:
Arbeit im Übergang - Gesellschaftliche Produktivkraft zwischen Entfaltung und Zerstörung

Slave Cubela:
Klasse gemacht!

Daniel Andersen:
Die Ökonomie als "letztes Bollwerk des Essentialismus"?

Karl Reitter:
Buchbesprechung: Ronald Blaschke, Werner Rätz (Hg.):
Teil der Lösung. Plädoyer für ein bedingungsloses Grundeinkommen

Stefan Junker:
Buchbesprechung: Jonathan Sperber: Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert.

*

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

Diese Ausgabe ist Antonio Negri gewidmet, der im August dieses Jahres seinen 80. Geburtstag feierte. Die Strömung des italienischen Operaismus und Postoperaismus ist untrennbar mit seinem Werk verbunden - genug Anlass also, einige Aspekte seines Denkens zu thematisieren.

Philipp Metzger zeigt in seinem Beitrag auf, dass der Postoperaismus stets in Verbindung mit radikalen Bewegungen stand und eine wichtige theoretische Intervention in revolutionäre Praxis war und ist. Die Rolle des Staates im Kapitalismus war Toni Negri schon seit Beginn seiner revolutionären Aktivität ein Anliegen. Martin Birkner beschäftigt sich in seinem Betrag mit seinen Ausführungen zum Staat in dessen frühen Schriften. Thomas Seibert informiert in einem Interview mit Karl Reitter über sein Buchprojekt, in dem ausgehend von der Spinoza Rezeption Negris mit Bezug auf Heidegger ein zureichender Materialismusbegriff entwickelt werden soll. Und schließlich kritisiert Katharina Poeter das Konzept der immateriellen Arbeit an Hand von empirischen Untersuchungen.

Außerhalb des Schwerpunkts kritisiert Friedrich Hasse den "Post-Marxismus" von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe und Jakob Graf die Tendenz der Linken zum so genannten Edukationismus, das heißt der pädagogischen "besserwisserischen" Herangehensweise, in denen die Massen bloß zum passiven Objekt der Aufklärung avancieren. Last but not least wollen wir euch den Artikel von Slave Cubela zum 50. Jahrestag des Erscheinens E.P. Thompsons einflussreicher Analyse "The Making of the English Working Class" ans Herz legen, noch immer ein Text von erstaunlicher Aktualität. Ebenso freuen wir uns über die Erlaubnis, das Referat von Dieter Sauer zu Arbeit im Übergang, gehalten am MASCH Kongress zu "Aufhebung des Kapitalismus" der vom 15. bis 17. November in Hamburg stattfand, abdrucken zu dürfen. Ergänzt wird diese Nummer durch Buchbesprechungen zum Grundeinkommen und eine Marx-Biographie.

Das nächste Heft erscheint im März 2014. Wir haben noch keinen expliziten Scherpunkt ausgearbeitet, daher gibt es derzeit noch keinen Call for Papers. Drei Themenbereiche wurden jedoch in der Redaktion andiskutiert: Erstens der Themenbereich Landwirtschaft, Lebensmittel und Ernährung, zweitens das Thema Krieg und damit im Zusammengang stehend die Informations- und Desinformationspolitik, und drittes das Thema Alter und Altersversorgung. Offensichtlich soll europaweit das Rentenalter angehoben und die Transferleistungen gekürzt werden, wenn nicht gar die Phase des gesicherten Ruhestandes aus dem gesellschaftlichen Grundkonsens gestrichen werden soll. Artikel bis zu 35.000 Zeichen zu diesen (aber auch zu von euch gewählten) Themen sind jedenfalls herzlich willkommen. Einfach den Text an redaktion@grundrisse.net senden. Der Redaktionsschluss ist der 15. Februar. Bei der Abfassung von Artikel an ersuchen wir euch folgende einfache Formatierungsregeln zu beachten:

Grundsätzlich gilt: So wenig Formatierungen wie möglich! Also keine automatischen Nummerierungen, keine Einrückungen, keine definierten unterschiedlichen Zeilenabstände, keine festen Binde- und Trennungsstriche, keine Textkästen, keine Wortabteilungen, keine definierten Seitenumbrüche usw. Bitte Texte einzeilig und im Flattersatz verfassen. Absätze sind bitte mit Leerzeilen zu trennen. Graphiken sind in beliebigen Formaten extra beizufügen, Bilder veröffentlichen wir nicht. Texte bitte im word-doc oder open office Format senden. Keine PDFs, keine Appleformate, kein rtf. Ihr erspart uns damit einiges an Arbeit.

Viel Vergnügen beim Lesen,
Eure grundrisse Redaktion

*

Philipp Metzger:

Kampf für das Gemeinsame

Der (Post-)Operaismus als Interventionsstrategie für die radikale Linke

Prolog

Seit der Veröffentlichung der Empire-Trilogie von Antonio Negri und Michael Hardt, die weltweit die Bestsellerlisten erklommen und beide weltberühmt machte, ist der (Post)Operaismus die einflussreichste postmarxistische Bewegungstheorie. Der Philosoph Slavoj Zizek sah in dieser gar das "Kommunistische Manifest des 21. Jahrhunderts." Von vielen Autor_innen wurde dem (Post-)Operaismus reflexartig vorgeworfen, unstringent und in Teilen sogar widersprüchlich zu sein. Auch wenn dies mitunter zutreffen mag wird bei diesem Urteil von den Kritikern_innen meist der verhandelte Analysegegenstand des (Post-)Operaismus ignoriert. Denn im Zentrum des Erkenntnisinteresses stehen die antagonistischen Bewegungen gegen den Neoliberalismus. Diese sind mitunter in sich sehr plural bis gegensätzlich. Eine Theorie der Kämpfe kann aber in sich nur soweit stimmig sein wie es die Kämpfe selber sind. Deshalb ist der (Post-)Operaismus bei der Beantwortung der Frage Was Tun? auch vielen seiner Kritiker_innen überlegen, weil er die aktuellen Veränderungen der sozialen Auseinandersetzungen seismographisch erfasst und diese für eine emanzipative Theorie nutzbar macht. In dieser kann die radikale Linke Antworten und Werkzeuge für ihre gegenwärtige Praxis in der Krise finden. Wer dagegen eine in sich harmonische Revolutionsanleitung lesen möchte, kann im Anschluss immer noch zu Lenin greifen.

Interventionsstrategie des Operaismus

Wie der (Post-)Operaismus seine Strategie entwickelte lässt sich am besten in einer Darstellung der ihm vorangegangen Strategie des Operaismus nachvollziehen. Jede Interventionstheorie über Strategie und Taktik lässt sich nur ableiten aus einer Analyse des Gegenstandes, der verändert werden soll. Im ursprünglichen Operaismus stand der Klassenkampf im Zentrum der strategischen Überlegungen, dies erklärt sich aus der Einschätzung über die Dynamik des Kapitalismus, die der theoretische Begründer des Operaismus Mario Tronti in seinem Klassiker Arbeiter und Kapital auf den Punkt brachte: "Auch wir haben erst die kapitalistische Entwicklung gesehen und dann die Arbeiterkämpfe. Das ist ein Irrtum. Man muß das Problem umdrehen, das Vorzeichen ändern, wieder vom Prinzip ausgehen: und das Prinzip ist der proletarische Klassenkampf."[1] Diese zentrale Kernaussage des Operaismus - dass die Dynamik des Kapitals sich nur aus den Kämpfen gegen ihn erklärt - entstand aufgrund von Analysen zur spezifischen Klassenlage in Italien nach dem Zweiten Weltkrieg. Seit den 1950er Jahren setzte in Norditalien eine massive Industrialisierung ein, in deren Mittelpunkt die Automobilfabriken des FIAT-Konzerns standen, die viele junge Bauern aus Süditalien anlockte. Diese neue Arbeiterklasse, die nicht bereits in vorherigen Generationen durch das Kapital diszipliniert wurde und sich der Kommandogewalt der stumpfen, langweiligen und anstrengenden Massenproduktion unterordnen musste, rebellierte. Die Kommunistische Partei Italiens, sowie Gewerkschaften, die sich in ihrer Agitation an eine domestizierte Arbeiterklasse richteten, konnten mit den spontanen Widerstandsformen von Verweigerung wenig anfangen, die an die syndikalistischen IWW-Methoden erinnerten: Blaumachen, Sabotage, langsames Arbeiten usw. Aus dem Zusammentreffen von autonomen Marxisten (wie z.Bsp. Mario Tronti, Romano Alquati, Raniero Panzieri und Antonio Negri), Studierenden und dem Massenarbeiter entwickelte sich die Operaistischen Bewegung, welche den Kampf gegen die Arbeit propagierte; sowie gegen die Herrschaftsförmigkeit kapitalistischer Massenproduktion, die einerseits dazu dient, die Produzenten zu unterdrücken und anderseits das Potenzial für den Kommunismus bereit hält - indem durch zunehmende Automation sich die Lohnabhängigen aus dem Produktionsprozess befreien können und zum blossen Dirigenten werden.[2] In dieser Phase ist die operaistische Strategie in drei Punkte zu kategorisieren:

1. Wichtiges Element der Strategie waren die Militanten Untersuchungen, diese Untersuchungen waren inspiriert von Marx' Fragebogen an die Arbeiter. Diese hatten zum einen die Aufgabe die Klassenzusammensetzung zu analysieren, um somit die Klassenkämpfe wirkungsvoller zu machen (z.Bsp. indem sie Forderungen, Probleme, Widerstandsformen etc. untersuchten, deren Ergebnisse wiederum bei der Agitation halfen) und zum anderen hatten die Militanten Untersuchungen die Absicht während der Untersuchung bereits eine kritische Reflexion bei den Befragten auszulösen.

2. Der Versuch den Kapitalismus zu überfordern: Zentral war bei dieser Strategie der Lohn. Mit dem extrem hohen Lohnforderungen sollte der Kapitalismus in die Krise getrieben werden.

3. Das Experimentieren mit neuen Organisationsformen, die weniger starr waren als traditionelle linke Organisationen wie Parteien oder Gewerkschaften. Das inspirierte auch in Deutschland Gruppen wie die Spontis oder den Revolutionären Kampf in Frankfurt. Auch die in den 1970er Jahren aktive, sehr lose vernetzte, Autonomia kann als der Vorläufer der deutschen Autonomen gesehen werden.

Anfangs war dieses Vorgehen sehr erfolgreich; die Bewegung bekam massenhaft Zulauf, die Löhne stiegen, die politische Lage in Italien spitzte sich immer weiter zu.

Zwei Faktoren veränderten den Operaismus, die auch die Übergänge zum (Post-) Operaismus markieren:

1. Der Wendepunkt entwickelte sich im Zuge der weltweiten Krise Anfang der 1970er Jahre, die die Operaisten als Angriff auf ihre erfolgreichen Klassenkämpfe interpretierten. Die Strategie des Operaismus, das Kapitalverhältnis über den Lohn anzugreifen hat leider den Haken, dass eine Krise des Verwertungsprozesses eben auch zu einer Verwertungskrise der Ware Arbeitskraft führt. Das bedroht wiederum in einem zunehmenden Maße die Lebensbedingungen der Lohnabhängigen. Weshalb ein Kampf auf einem solch hohen Niveau an eine Schranke stößt. Da die Kämpfe innerhalb der Fabrik in der Defensive waren - wurden in Italien die hohen Löhne für die steigende Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht. Auch die damalige Strategie, die Arbeitszeitverkürzung ins Zentrum des Kampfes zu stellen (die sich in dem allgemeinen Slogan: "Weniger Arbeit, mehr Lohn" ausdrückte) konnte daran nichts ändern.

2. Trotz der Krise kam es 1974 in ganz Italien zu heftigen Kämpfen. Nicht nur in Fabriken wurde gestreikt. Sondern neue Konflikte und widerständige Subjekte z.B. Umwelt-, Frauen-, Jugendbewegungen tauchten auf. Diese neuen sozialen Auseinandersetzungen verteilten sich über die gesamte Gesellschaft.[3]

Einerseits war die ökonomische Krise auch eine Krise des Massenarbeiters, anderseits tauchten die sozialen Bewegungen auf. Negri wollte in dieser Situation die unterschiedlichen neuen Subjekte einigen, indem er sich vom Konzept des Massenarbeiters verabschiedet und die neuen Bewegungen in seine These vom gesellschaftlichen Arbeiter integrierte. Er behauptete, weil Wissen tendenziell die wichtigste Produktivkraft geworden ist und dieses in der gesamten Gesellschaft produziert wird, dass sich die Fabrik über die ganze Gesellschaft ausgedehnt hat. Wenn die Fabrik die gesamte Gesellschaft ist, dann ist jeder Konflikt in derselben ein Klassenkampf. Der (Post-)Operaismus stellt eine Radikalisierung dieser Thesen dar: Aus dem gesellschaftlichen Arbeiter wird die Multitude und aus der Wichtigkeit des Wissens wird die Theorie der immateriellen Arbeit.[4] Negris Theorie hat den Haken, dass sie einerseits jede Handlung für wertproduktiv hält und deshalb so ziemlich jede marxsche Kategorie revidiert und anderseits überhaupt keine Differenzierungen sozialer Beziehungen zulässt und in letzter Instanz doch wieder klassenreduktionistisch ist.[5]

Letztlich wurde die Revolte durch die Regierung des "historischen Kompromisses" (einer Regierung aus kommunistischer und konservativer Partei) brutal niedergeschlagen - Zehntausende wurden eingesperrt, was sehr anschaulich in den Romanen von Nanni Balestrini verarbeitet wurde. Negri konnte aus dem Gefängnis fliehen, in Paris untertauchen und beschäftige sich dort verstärkt mit dem Poststrukturalismus. Die Verbindung dieser Theorie mit seiner eigenen Analyse, bildete das Fundament des (Post-)Operaismus.

Wer oder was ist die Multitude?

Die Multitude selbst ist eine Neuinterpretation des ursprünglich vom Philosophen Baruch de Spinoza stammenden Begriffs während die Kategorie im (Post-)Operaismus eine Weiterentwicklung des gesellschaftlichen Arbeiters unter der Zuhilfenahme der poststrukturalistischen Philosophie ist. Großen Einfluss auf Negri und Michael Hart, mit dem er zusammen die Empire-Reihe verfasste, hatten insbesondere die Poststrukturalisten Michael Foucault, Gilles Deleuze und Félix Guattari. Ohne näher auf die philosophische Herleitung einzugehen, sei zumindest kurz erwähnt, dass Hardt/Negri den Poststrukturalismus theoretisch zwar aufgreifen, ihn aber auch kritisieren, indem sie ihre Kategorie der Multitude als Klassenbegriff im Gegensatz zum neutralen poststrukturalistischen Begriff der Bevölkerung definieren.[6] Inspiriert durch den Poststrukturalismus erweitert Negri zusammen mit Hardt seine ältere Analyse der gesellschaftlichen Fabrik. Nicht mehr nur die Fabrik als Institution der Disziplinargesellschaft, sondern alle ihre Institutionen wie z.Bsp. Fabrik, Gefängnis, Klinik, Familie usw. haben sich über die gesamte Gesellschaft ausgedehnt.[7] Dies interpretieren Hardt/Negri klassisch operaistisch und genauso einseitig nur als Reaktion auf die erfolgreichen Kämpfe der Arbeiter-, Umwelt-, Frauen-, Jugendbewegungen etc. der 1970er Jahre. Demnach sind in dieser Situation völlig neue Subjektivitäten entstanden, da sich die Machttechniken der Disziplinargesellschaft in alle Winkel des Lebens netzwerkartig verteilt bzw. demokratisiert haben. Sie markieren damit den Übergang zur Kontrollgesellschaft. Dies hat zwei Auswirkungen: Eine Negative und eine Positive, anhand derer man recht anschaulich die Machttechniken der Kontrollgesellschaft erklären kann.

1. Die Verinnerlichung von Herrschaft und Selbstregulierung: Internalisierung neoliberaler Anforderungen der Einzelnen auf allen gesellschaftlichen Ebenen - bei Strafe des eigenen Untergangs - egal, ob im Beruf, im Studium, in der Erziehung, in der Beziehung oder im alltäglichen Konsum. Alle werden in zunehmenden Maße zum "Unternehmer ihrer selbst". Der "Terror des Fließbandes" wurde ersetzt durch den "Terror seiner selbst" in Form der Selbstoptimierung: Schneller. Schöner. Gesünder. Kompetenter. Und natürlich sollten die Einzelnen immer die "Work life balance" im Auge behalten. "Du bist allein für dein Glück verantwortlich" lautet der Schlachtruf der neoliberalen Kontrollgesellschaft. Deshalb boomt die Industrie der Ratgeberliteratur und der Trainer, Berater und Coachs für "Schlüsselkompetenzen": "Zeitmanagement", "Team- und Konfliktfähigkeit", "Bauch-Beine-Rücken-Po-Training". Retalin, wenn sie nicht mehr lernen - Koks, wenn sie nicht mehr feiern können. Burnout. Bulimie. Betrübt. Selber Schuld!

2. Die positive Seite der netzwerkartigen Verteilung von Machttechniken innerhalb der Kontrollgesellschaft ist das höhere Potential der Kämpfe, da durch die Demokratisierung von Herrschaft entstehende Konflikte immer weniger von den alten Institutionen der Disziplinargesellschaft vermittelt und eingegrenzt werden können. Dadurch können politische Konflikte schneller zu spontanen Ereignissen werden, die nicht mehr durch die üblichen Scharniere des Staates, wie z.Bsp. Parteien, Gewerkschaften, Familie, Kirche usw. eingefangen werden können. Um es anschaulicher auszudrücken: Wir sind in einer Situation, in der der ehemalige fordistische Wohlfahrtsstaat immer weniger zu verteilen hat, es zunehmend kaum noch Festanstellungen gibt und stattdessen prekäre Beschäftigung normal wird, sofern die Einzelnen überhaupt noch Arbeit finden, der Einfluss der Gewerkschaften stetig sinkt, usw. Gleichzeitig ist die Multitude hochflexibel und vernetzt (auch mit Hilfe von neuen Kommunikationsmöglichkeiten [immaterielle Arbeit]). In einer solchen Situation können soziale Konflikte, die jenseits alter Institutionen verlaufen, schnell eskalieren. Diese reichen von den riots in Pariser Vorstädten, dem brennenden London, der Autonomie der Migration, dem arabischen Frühling bis hin zu der globalen Occupy Bewegung etc. Diesen Aspekt heben Hardt/Negri besonders hervor. Man könnte auch zu dem Schluss kommen, dass sie der Meinung sind, dass die Kontrollgesellschaft als Antwort auf die Kämpfe der 1970er Jahre letztlich ein Eigentor des Kapitalverhältnisses war. Denn die Machttechniken sind schon in der Hand der Multitude und können sich sehr schnell gegen die Kontrollgesellschaft wenden. Indem Macht individuell durch jeden Einzelnen vermittelt wird, kann genau diese Pluralität zurückschlagen. Die sich daraus entwickelnde Theorie der Multitude betont gerade diesen Gedanken: deren Kriterium nicht "das Gleiche" ist (wie z.Bsp. in den alten Arbeiterkämpfen), sondern das, was zwischen ihnen ist. Die Pluralität findet sich in den Kämpfen zusammen. Die Multitude ist also kein einheitliches Subjekt, sondern sie meint das, was zwischen den Subjektivitäten das Verbindende ist. Sie ist die Pluralität der Singularitäten. "Widerstände sind nicht länger marginal, sondern werden aktiv inmitten einer Gesellschaft, die sich Netzwerken öffnet; aus individuellen Orten werden Singularitäten auf Tausend Plateaus."[8]

Hier wird die Weiterentwicklung der Multitude gegenüber dem Massenarbeiter und dem gesellschaftlichen Arbeiter erkennbar. War der Massenarbeiter noch ein einheitliches Subjekt, der gesellschaftlicher Arbeiter noch eine Sammlung von Subjekten, ist die Multitude das gemeinsame Handeln der Singularitäten. Dies kann beispielhaft an der Globalisierungsbewegung veranschaulicht werden. Die Globalisierungsbewegung war kein einheitliches Subjekt. Sie bestand vielmehr aus den unterschiedlichen Subjekten: Kleinbauern des Südens über Gewerkschafter des Nordens, von feministischen bis zu religiösen Gruppen, von Parteien bis zu Anarchisten, von Militanten bis zu friedlichen Aktivisten usw. Die Pluralität der Singularitäten drückt sich schon in dem vereinfachten Slogan: "Die Bewegung der Bewegungen" aus. Noch in den 1970er Jahren hätte man nicht erwartet, dass sich die unterschiedlichen Akteure, die traditionell sogar gegeneinander standen (z.Bsp. die Gewerkschaftsbewegung und die Umweltbewegung), in einer Bewegung temporär vereinigen. Auch wenn sich Hardt/Negri früher ambivalent ausgedrückt haben und es eher so schien, als ob "die alten" Subjekte tendenziell verschwinden und es stattdessen nur noch Subjektivitäten geben würde, präzisierten sich Hardt/Negri in diesem Punkt. Sie betonten beispielsweise die Rolle der Arbeiterbewegung z.Bsp. innerhalb der ägyptischen Revolution.[9] An dem Konzept der Multitude wurde ebenfalls kritisiert, dass es auch reaktionäre Gruppen wie z.B. islamistische Gruppen wie Al Qaida (oder eben auch die Muslimbrüder) einschließt. Auch hier gibt es eine Erweiterung. Es wird anerkannt, dass es eine dunkle Seite der Multitude gibt, die es natürlich zu bekämpfen gilt. Das Konzept der Multitude wird permanent theoretisch erweitert und ist fast schon bei Multitude an sich und für sich angekommen. Die Frage, ob die Kategorie der Multitude Verwendung findet, scheint nicht allein eine rein theoretische, sondern auch eine politisch-strategische zu sein. Das Konzept der Multitude als philosophisches Konzept ist - wie auch die soziologische Figur des Massenarbeiters - eben nicht nur eine wissenschaftliche Theorie, sondern auch eine politische Intervention. Bereits bei Tronti findet sich eine Kritik gegen Theorien, die auf das Politische verzichten: "Die Theorie hält so jene Kräfte getrennt, obwohl sie selbst mehr zu ihrer Vereinigung und Vereinheitlichung beitragen könnte."[10] Dieser Punkt wird in Hardt/Negris Ansatz des Militanten Intellektuellen besonders deutlich. Dieser unterscheide sich vom gramscianischen organischen Intellektuellen dadurch, dass er nicht die Kämpfe "begleitend" analysiert, sondern aktiv an Kämpfen teilnimmt. "Sie [die Militanten Intellektuellen, An. P. M.] engagieren sich als Singularitäten unter anderen, sie beteiligen sich an Projekten militanter Untersuchung, in denen die Multitude sich zeigen soll."[11] Diese Strategie hat den Vorteil, dass sie die Wissenschaft repolitisiert. Sie stellt sich damit gegen die Neutralisierung ihres kritischen Gehalts, in Form einer zunehmenden positivistischen und vermeintlich objektiven Position, die nur noch aus "neutralen" Erhebungen von empirischen Daten und "Fakten" besteht. Anderseits hat das theorie-strategische Handeln des (Post-)Operaismus den Nachteil einer möglichen analytischen Verflachung, indem es Tendenz und Aktualität in eins setzt. Nur weil es die Möglichkeit von spontanen sozialen Konflikten gibt, müssen diese noch lange nicht eintreten. Somit läuft die Theorie Gefahr passend zu machen was vielleicht nicht passt. Indem sie sich in abstrakten Höhenflügen von den real gesellschaftlichen Prozessen entfernt, läuft sie in die strategische Falle, Niederlagen nicht rechtzeitig zu erkennen. Noch in den 1990er Jahren, dem Anfang der theoretischen Figur der Multitude, schien es, als ob sich Hardt/Negri in einer allzu optimistischen Hypothese verrannt haben. Aus heutiger Sicht - vor dem Hintergrund der Krise - scheint ihr Ansatz jedoch theoretisch und praktisch immer plausibler zu werden und erinnert an eine Aussage Trontis: "Vielleicht zeigt sich erst heute die ganze Wahrheit der Leninschen These, dass es keine revolutionäre Bewegung ohne revolutionäre Theorie gibt [...] heute wie nie zuvor gilt auch das Gegenteil: dass die revolutionäre Theorie nicht ohne revolutionäre Bewegung möglich ist."[12]

Jenseits Linker Strategien des 20. Jahrhunderts - Die Multitude in Aktion

Die Theorie der Multitude ist auch verbunden mit einer Kritik an einer Linken, die auch heute noch an den Strategien des 20. Jahrhunderts festhält, ohne zu realisieren, dass die politischen Koordinaten des 21. Jahrhunderts deren Erfolg verunmöglichen. Die linken Strategien des letzten Jahrhunderts sind nicht plural sondern singular, weil sie von einem einzigen revolutionären Subjekt ausgehen. Anfang des 20. Jahrhunderts war die Strategie der revolutionären Linken idealtypisch; die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt, das in der Partei organisiert werden musste und den Staat übernehmen sollte. Das Gleiche gilt im Prinzip für die reformistisch orientierte Linke; der Facharbeiter als reformistisches Subjekts in einem Bündnis aus starker sozialdemokratischer Partei und Gewerkschaft, der einen Klassenkompromiss erkämpfen soll, der aus einem Wohlfahrtsstaat und sozialpartnerschaftlichen Betrieben besteht. Beides ist aus Sicht von Hardt/Negri weder möglich noch wünschenswert. Die Strategien des 20. Jahrhunderts hatten seinerzeit eine Berechtigung - die Wahrheit der richtigen Strategie hat aber einen Zeitkern. Das heisst nicht, dass Teile davon heute unwichtig sind, wie wenn z.Bsp. Gewerkschaften für einen höheren Lohn kämpfen. Es bedeutet nur, dass kein Subjekt alleine die Hegemonie erringen kann und neue Subjektivitäten neue Strategien jenseits alter politischer Koordinaten ermöglichen. Klassisch operaistisch kann ebenfalls der (Post-)Operaismus seine Strategie nur aus den konkreten Kämpfen entwickeln. Deshalb ist es erforderlich die Kämpfen der Multitude genauer zu analysieren. Ein herausragendes Beispiel ist u.a. der Metropolenstreik. Es wurde bereist erläutert, dass der (Post-)Operaismus davon ausgeht, dass sich die Fabrik über die gesamte Gesellschaft ausgedehnt hat. Was früher die Fabrik war, ist heute die Metropole. Dies wird auch in den neoliberalen Konzepten - von der "unternehmerischen Stadt" bis zur "Global City" - erkennbar, mit denen sich gerne auch die Stadt Frankfurt a. Main im Zentrum der Metropolregion Rhein-Main schmückt. Hier treffen unterschiedliche Subjektivitäten und Auseinandersetzungen zusammen. Konflikte z. Bsp. von prekär Beschäftigten, Arbeitslosen, Studierenden, Wohnungslosen, Illegalisierten, Festangestellten, Alleinerziehenden usw., die sich durch alle Felder ziehen: Wohnen, Arbeiten, Leben...

Im Winter 1995/96 kam in es Paris zum großen Metropolenstreik. Dieser thematisierte Deregulierung und Privatisierung (der öffentlichen Verkehrssysteme) und stieß auf breite Sympathie in der Bevölkerung. Negri bemerkte dazu: "Der große Übergang, die Verschiebung der Konfrontationslinie von der Fabrik in die Metropole, von der Klasse zur Multitude, wurde in zahlreichen Gruppen erlebt und organisiert, theoretisch wie praktisch. »Wir nehmen uns die Stadt«."[13] Die zahlreichen "Wem gehört die Stadt" - Bündnisse, aber auch Blockupy, ließen sich als Teil einer (post)operaistischen Strategie erklären: Sie sind die Chance unterschiedliche Subjektivitäten zusammenzuführen und gleichzeitig der Versuch aus den Erfahrungen des Metropolenstreiks in Paris anzuknüpfen, dies allerdings unter dem veränderten Vorzeichen der aktuellen Krise. Grade in der Krise ist die Metropole das Zentrum von Konflikten der Multitude. Der Kampf gegen Zwangsräumungen von Häusern und Wohnungen über die "Demokratie der Plätze" von Occupy New York bis zur Besetzung des Tahrir-Platz in Kairo. Wie weiter oben in dem Zitat schon deutlich wurde, kann eine Theorie der Kämpfe nur so gut sein wie die Kämpfe selbst. Kein Wunder also, dass das aktuelle Buch von Hardt/Negri ihr bestes ist: Demokratie - Wofür wir Kämpfen. In diesem präzisieren sie die Multitude in vier Metasubjektivitäten: Die Verschuldeten, die Vernetzten, die Verwahrten, die Vertretenen. Diese sind jene, welche in den zentralen Auseinandersetzungen, die im Kampf der Multitude um Demokratie und das Gemeinsame, auftauchen. Dies ist nicht zu verwechseln mit dem Kampf für eine repräsentative Demokratie. Bezogen wird sich auf die Demokratie wie sie in Ansätzen bereits in den Kämpfen entwickelt wurde und die über das gemeinsam Produzierte entscheiden soll. Bildung, Wasser und Banken sollen Gemeingut jenseits des Staatsbesitzes werden (so wie alle Staatsbetriebe Gemeingut werden sollen). Um es etwas anschaulicher zu erklären: z.B. Soll Wasser kein Privatbesitz sein und es soll auch nicht von einer staatlichen Verwaltung kontrolliert werden, sondern die Versammlungen der Multitude sollen entscheiden. Bildung sollte selbstverwaltet stattfinden - hier wäre das Institut für vergleichende Irrelevanz (IVI) aus Frankfurt ein Beispiel. Die besetze Fabrik Vio.Me, sowie das Verteilen von Essen durch Aktive oder die Kollektivierungen eines Krankenhauses in Griechenland wären auch Beispiele für das Gemeinsame der Multitude. Gerade vor dem Hintergrund, dass die Strategien der reformorientierten Linken angesichts von Staatsverschuldung und Austeritätspolitik als wenig realistisch erscheinen, könnte eine demokratische Organisierung des Gemeinsamen jenseits des Staates eine erfolgreichere Strategie sein. Sie entwerfen eine symbolische Verfassung des Gemeinsamen. Das ist noch nicht die Revolution und erinnert eher an das, was Hardt/Negri mal als "revolutionären Realismus" bezeichnet haben.[14] Dieser umfasst sowohl den Kampf für das Gemeinsame, aber auch ganz operaistisch Strategien der Verweigerung wie z. Bsp. "Verweigert die Schulden!".[15] Der "revolutionäre Realismus" lässt sich nicht auf einen rein abstrakten, antistaatlichen Habitus beschränken, sondern beinhaltet ein strategisches Verhältnis zum Staat. Hardt/Negri führen dies beispielhaft am taktischen Bezug der Sozialen Bewegungen zu den "progressiven Regierungen" (Hardt/Negri) Lateinamerikas aus.[16] Einerseits kämpfen die sozialen Bewegungen und Regierung zusammen "gegen nationale Oligarchien, internationale Konzerne oder rassistische Eliten, doch selbst dann behalten sie [die sozialen Bewegungen, An. P. M.] ihre Autonomie."[17] Andererseits kämpfen die sozialen Bewegungen gegen die Regierung z.Bsp. wenn es sich um einen Mindestlohn dreht oder wenn Landlose Land besetzen, Lohnabhängige die Selbstverwaltung der Produktion fordern. Dass es sich bei den aktuellen Kämpfen noch nicht um das revolutionäre Ereignis handelt, geben sie zu und betonen, wie wichtig es momentan noch ist die Kämpfe zu verbinden: "Wir können nicht wissen, wann ein solches Ereignis eintritt. Aber das bedeutet nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen und warten sollten, bis es soweit ist... Die sozialen Bewegungen bereiten den Boden für das Ereignis, das sie noch gar nicht absehen können."[18]

Was Tun?

Die Strategie des (Post-)Operaismus ist in den Kontext einer aktuell geführten Theoriedebatte über neue linke Strategien zu stellen, deren Ausgangspunkt die Erkenntnis ist, dass die Gewissheiten des 20. Jahrhunderts nicht die des 21. Jahrhunderts sein können. In diese Diskussion gehört neben dem (Post-)Operaismus auch der neogramscianische Entwurf einer Mosaiklinken - Ansätze die sich produktiv ergänzen.

Vom (Post-)Operaismus können wir lernen, dass sich die aktuellen Kämpfe aus der Position eines einheitlichen Subjekts nur unzureichend verstehen lassen. In der Linken gibt es beispielsweise diejenigen, die davon ausgehen, dass die Revolution und Revolten in Ägypten im Wesentlichen ein Klassenkonflikt sei. Andere dagegen behaupten die Geschlechterdifferenz sei entscheidend. Weitere stellen den Generationskonflikt ins Zentrum. Alternativ gibt es noch diejenigen, die im Wesentlichen von einer laizistischen Auseinandersetzung ausgehen. Alle Ansätze erscheinen auf den ersten Blick plausibel, weil diese Kämpfe tatsächlich zum Sturz von Muhammad Husni Mubarak beigetragen haben. Auf den zweiten Blick wird erkennbar, dass keiner dieser Kämpfe für sich allein genommen mächtig genug gewesen wäre den Sturz Mubaraks zu provozieren. Der Umsturz war erst in dem Moment möglich, als die unterschiedlichen Singularitäten - ohne ihre Unterschiede aufzugeben - sich in der Multitude vereinten. Es ist dabei völlig egal, ob sich der Gewerkschafter, die Frauenrechtlerin, der jugendliche HipHopper, die Autonome des Black Blocks auf dem Tahrir-Platz als Teil der Multitude gefühlt hat oder nicht - sie waren die Multitude. Es ist auch unerheblich für die Antwort auf die Frage - Was Tun? -, ob man den Begriff der Multitude aus philosophie-theoretischen Gründen für stringent oder inkonsistent hält. Wichtig für die strategische Lektion ist nur, dass erkannt wird, dass jede Revolte nur in dem Zusammentreffen der unterschiedlichen Singularitäten gelingen kann. Das können wir von der Strategie des (Post-)Operaismus lernen. Ebenso, dass Blockupy vor diesem Hintergrund ein Versuch ist, die unterschiedlichen Singularitäten (Akteure) in der Pluralität gegen das hegemoniale deutsch-europäische Krisenprojekt zu sammeln. Das kann und soll nicht den kleinteiligen Aufbau von nachhaltigen Strukturen und Kämpfen ersetzen - ganz im Gegenteil - sie sind ein Teil davon. Auch dabei können wir von der (Post-)Operaistischen Strategie lernen, indem wir uns ihrer Werkzeuge bedienen: Militante Untersuchungen sind ein solches. Wenn das Bündnis "Wem gehört die Stadt" in Frankfurt/Main auf dieses Werkzeug mit dem Ziel, die unterschiedlichen Konflikte innerhalb der Metropole zu untersuchen, zu verbinden und sie zuzuspitzen, zurückgreift, ist das ein gutes Beispiel für die Reintegration von Hilfsmitteln aus (post)operaistischer Taktik in Alltagskämpfen.

Dass eine erfolgsversprechende Strategie nicht hinter die Pluralität der Singularitäten zurückfallen kann, impliziert auch, dass wir uns von Slogans der radikalen Linken aus dem letzten Jahrhundert wie "Klarheit statt Einheit" verabschieden müssen. Diese Weisheiten sind aus doppelter Hinsicht falsch. Weder "Klarheit" noch die "Einheit(sfront)" sind Perspektiven. Gibt es deshalb keine Wahrheiten? Hardt/Negri drücken sich darum diese Frage zu beantworten. Vielleicht können sie das auch nicht aufgrund ihres poststrukturalistischen Analyseapparats - während sich materialistisch diese Frage beantworten lässt: Es gibt Wahrheit - die Wahrheit der Pluralität der radikalen Kritik.

Gerade die Neue Marx-Lektüre im Allgemeinen, wie die kategoriale Kritik im Speziellen führen uns zu einer undogmatischen Interpretation von Marx jenseits autoritärer Kaderparteien des 20. Jahrhunderts. Diese neuen heterodoxen Zugänge zu Marx analysieren den Kapitalismus als historisch spezifisches und formvermitteltes Herrschaftsverhältnis. Diese legen offen, dass gesellschaftliche Herrschaft über soziale Formen (Warenform, Fetischform, Rechtsform usw.) vermittelt ist, die dialektisch miteinander verbunden sind. Deshalb werden historische Prozesse auch nicht nur aus der Warte von sozialen Kämpfen erklärt, sondern sie werden in Beziehung gesetzt mit den sozialen Formen gesellschaftlicher Herrschaft. Aus dieser Perspektive geht hervor, dass der Kapitalismus keine undynamische Pingpongwand ist, die nur auf die sozialen Kämpfe reagiert - ebenfalls bläst er selbst zum Angriff. Es reicht also nicht aus nur die Kämpfe zu analysieren, es ist auch erforderlich dies mit dem Kapitalismus an sich zutun. Das hat zur Folge, dass es für eine Strategie nicht ausreicht einfach nur die bestehenden Kämpfe zusammenzubringen: Sie muss sie inhaltlich radikalisieren. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich was die Wahrheit der Pluralität der radikalen Kritik strategisch bedeutet: Nicht das agieren einer Avantgarde im Stil einer Kaderpartei, sondern als der Versuch das Verbindende zwischen den unterschiedlichen Subjektivitäten zu radikalisieren.[19] Teil dieser Strategie ist auch der konstruierende Prozess des Gemeinsamen als Vorbereitung auf das Ereignis als radikalen Bruch.



Anmerkungen:

[1] Tronti, 1974, S.87.

[2] Vgl. Panzieri, 1985.

[3] Beispielsweise: Feministische Kämpfe forderten Lohn für Hausarbeit und später ein allgemeines, bedingungsloses Grundeinkommen für alle. Es gab "politische Einkäufe" bzw. "eigenmächtige Herabsetzungen", die eine kollektive Aneignung von Waren ohne dafür zu bezahlen oder nur sehr wenig (z.B. 50%) ermöglichten. Massenhaft wurden Konzerte und Kinos von Jugendlichen gestürmt, die Fahrpreiserhöhung in öffentlichen Verkehrsmitteln wurden nicht bezahlt. Auch gab es Kampagnen gegen Strompreise, so wurden z.Bsp. in Turin 140.000 Stromrechnungen nur zur Hälfte bezahlt. Wenn dann jemandem der Strom abgestellt wurde, stellten die Arbeiter der Bewegung, die in Fabriken arbeiteten, ihn wieder an.

[4] Produktion von Wissen, Ideen, Bildern, Codes, Musik und Informationen.

[5] Es gab und gibt marxistische Theorien, die die neuen sozialen Bewegungen integrieren konnten ohne zentrale Marxsche Kategorien aufzugeben oder klassenreduktionistisch zu sein, was hier nicht weiter ausgeführt werden kann.

[6] Vgl. Hardt/Negri, 2004, 121.

[7] Es handelt sich dabei um eine Analyse von Regierungstechniken mit dem Ziel "die Bevölkerung" zu regulieren z.Bsp. durch die Geburten- und Sterblichkeitsrate, Gesundheitsniveau, Produktion und Zirkulation, Lebensdauer und Langlebigkeit, Strafe und Disziplinierung usw. (vgl. Hardt/Negri, 2002, S.37 ff.

[8] Hardt/Negri, 2002, S.40.

[9] Vgl. Hardt/Negri 2013.

[10] Tronti, 1974, S.15.

[11] Hardt/Negri 2010, 130.

[12] Tronti, 1974, 15.

[13] Negri: Rom, Paris, Sevilla: Entwicklungslinien der gesellschaftlichen Streikbewegungen,
http://jungle-world.com/artikel/2003/23/10805.html

[14] Vgl. Hardt/Negri, 2004, 392-393.

[15] Vgl. Hardt/Negri, 2013, 41-45.

[16] Vgl. ebd. 92-94.

[17] ebd. 93.

[18] ebd. 115.

[19] Ein kleine Veranschaulichung wäre dafür z.Bsp. die inhaltliche Zuspitzung des Blockupy-Aufrufs von diesem zum letzten Jahr:
1. 2013: http://blockupy-frankfurt.org/aufrufe/blockupy-frankfurt/
2. 2012: http://www.avanti-projekt.de/news/blockupy-frankfurt.



Literatur

Hardt, Michael; Negri, Antonio (2002): Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt a. Main/New York.

Hardt, Michael; Negri, Antonio (2004): Multitude. Krieg und Demokratie im Empire. Frankfurt a. Main/New York.

Hardt, Michael; Negri, Antonio (2010): Common Wealth. Das Ende des Eigentums. Frankfurta. Main/New York.

Hardt, Michael; Negri, Antonio (2013): Demokratie! wofür wir kämpfen, Frankfurt am Main/New York

Negri, Antonio (2003): Die Entdeckung der Metropole, in:
http://jungle-world.com/artikel/2003/23/10805.html, rev. 6.08.2013

Panzieri, Raniero (1985): Über die kapitalistische Anwendung der Maschinerie im Spätkapitalismus, in:
http://www.wildcat-www.de/thekla/07/t07panzi.htm, rev. 18.03.2013.

Tronti, Mario (1974): Arbeiter und Kapital. Frankfurt a. Main.

Wright, Steve (2005): Den Himmel Stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus. Berlin/Hamburg.

Blockupy (2013): http://blockupy-frankfurt.org/aufrufe/blockupy-frankfurt, rev. 15.04.2013

Avanti (2013): http://www.avanti-projekt.de/news/blockupy-frankfurt, rev. 15.04.2013

*

Katharina Poeter:

Zum Begriff der immateriellen Arbeit von Michael Hardt und Antonio Negri

Eine Kritik aus entwicklungspolitischer Sicht

Der Begriff der immateriellen Arbeit wird von Antonio Negri und Michael Hardt, in ihrem Buch "Empire" (2000) verwendet, um auf veränderte Arbeitsprozesse aufmerksam zu machen. Diese neue Arbeitsform wird von Robert Foltin (2004) weiterhin wie folgt beschrieben: "Die jetzt dominierende immaterielle Arbeit ist materiell, es werden Körper und Hirne eingesetzt, aber die Produkte sind immateriell wie etwa Wissen und Kommunikation. Die Hegemonie dieses Arbeitstypus ist qualitativ, nicht quantitativ." Darunter lässt sich die weitverbreitete Ansicht verstehen, dass sich die gesellschaftlichen Arbeitsformen verschieben; weg von fordistischen Arbeitsprozessen hin zu einer postfordistischen Arbeitsform. Es ist nicht zu leugnen, dass sich der Arbeitsprozess in einem konstanten Wandel befindet und dass vor allem der technische Fortschritt, zu Veränderungen führt und immer geführt hat. Der Begriff des Postfordismus beschreibt, dass sich die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit vermischen, und die Fließbandarbeit durch eine Arbeitsform ersetzt wurde, welche zumindest oberflächlich betrachtet, mehr Freiheit und Individualität beinhaltet.

Im Folgenden möchte ich überprüfen, ob es sich bei der immateriellen Arbeit um einen etwa kurzfristigen Trend handelt, oder ob von einem globalen flächendeckenden Phänomen gesprochen werden kann. Ich werde zeigen, dass die Annahme, dass Menschen heute vermehrt im Dienstleistungssektor arbeiten, und somit weniger in der industriellen Produktion, wie von Hardt und Negri angenommen, wichtige Aspekte der globalen Produktionskette verschleiert.

Immaterielle Arbeit - der gesellschaftliche Arbeiter

"Since the production of services results in no material and durable good, we might define the labor involved in this production as immaterial labour, that is labor that produces an immaterial good, such as a service, knowledge, or communication." (Hardt 1999: S.99) Der Begriff des gesellschaftlichen Arbeiters beschreibt einen Menschen der höchst kommunikativ, sozial und mobil ist. Doch diese Annahme ist nur oberflächlich, wenn wir den heutigen Dienstleistungssektor analysieren. Neue Technologien, gelockerte Arbeitszeiten und globale Netzwerke, erlauben es dem einen oder anderem am Strand in Hawaii die Buchhaltung eines internationalen Konzerns in London zu machen. Doch dies ist nur ein Einzelfall und nicht zutreffend für die Millionen Menschen, die derzeit, einer von Negri und Hardt beschriebenen immateriellen Arbeit nachgehen. Die kleine Nische, der IT Start Up Branche, in der ich diese Art von Arbeitsform eingliedern würde, macht nur einen minimalen Bestandteil aller Erwerbstätigen aus. Und selbst in der gesamten IT Branche ist es doch vielmehr nur das Image von einem freien selbständigen auf dem Boot mit Laptop sitzenden Fachmanns, welcher dieses realitätsferne Bild, in den Köpfen der Menschen weiterhin existieren lässt. Der Trend des flexiblen Arbeiters der durch das Internet und Netzwerke von überall aus arbeiten kann, muss vorerst auch als Trend analysiert werden. Es kann noch nicht davon ausgegangen werden, dass diese Maxime einer freien Arbeitszeiteinteilung und mobilem Arbeiten von überall, zur Norm wird. So hat vor kurzem die Chefin eines der größten globalen Internetkonzerne Yahoo die Heim-Arbeit, abgeschafft und wieder Anwesenheitspflicht in den Büroräumen gefordert. Das Konzept von flexiblen Arbeitsverhältnissen hat sich nicht bewehrt, und es fehle an Kommunikation und Zusammenhalt, zitiert die Sueddeutsche Zeitung die Yahoo Chefin Marissa Mayer. Doch genau das attestieren Hardt und Negri, wenn sie von dem "gesellschaftlichen Arbeiter" sprechen, der kommunikativer und sozialer sei. Ein Trugschluss, dass Mobilität und technologischer Fortschritt zu mehr Kommunikation und sozialem Austausch führe. Dirk Hauer (2000) schreibt treffend in der Zeitung für linke Debatte und Praxis: "Der Begriff des 'gesellschaftlichen Arbeiters' suggeriert eine ähnliche Homogenität wie der Massenarbeiter der 60er Jahre, eine Homogenität, die heute in Bezug auf Arbeitsverhältnisse, Kompetenzen und Arbeitsorganisation überhaupt nicht existiert." Die Freiheit die durch das Internet geschaffen wurde, immer und überall arbeiten zu können, sei es zuhause oder draußen, ist doch vielmehr eine verfälschte Freiheit und eine Versklavung der eigenen Arbeitskraft.

Europa, als Maßstab?

Ein erster grober Blick auf die sektorale Arbeitsverteilung Europas, würde die These der immateriellen Arbeit unterstützen. So sind laut des Instituts für Arbeit und Berufsforschung weniger Menschen im Industriesektor erwerbstätig als in den Jahren zuvor; eine Absenkung von 36,6% im Jahre 1990 auf 24,7% im Jahr 2012. (IAB: 2013) Diese spezifischen Daten für Deutschland lassen sich auch für die gesamte EU konstatieren; so arbeiten 69,1 % aller Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor. (Statista: 2013) Jedoch darf hier nicht missachtet werden, dass es erhebliche regionale Unterschiede gibt. Östliche EU Länder verzeichnen eine höhere Erwerbstätigkeitsquote im industriellen Sektor, als ihre nördlichen Nachbarländer. Siehe folgende Grafik der WKO 2012:

BESCHÄFTIGTE IM DIENSTLEISTUNGSSECKTOR IM EU-VERGLEICH 
 Beschäftigungsanteile 2012* in Prozent
Luxemburg
Niederlande
Großbritannien
Schweden
Dänemark
Irland
Belgien
Zypern
Malta
Frankreich
Spanien
EU (15)
Finnland
Eurozone (17)
Griechenland
Deutschland
EU (28)
Österreich
Italien
Lettland
Litauen
Ungarn
Estland
Portugal
Bulgarien
Slowenien
Slowakei
Tchechien
Kroatien
Polen
Rumänien
85,0
80,1
79,7
78,3
77,6
77,0
76,9
76,8
76,6
75,3
74,9
73,7
73,0
71,9
70,3
70,2
70,1
68,9
68,5
68,0
65,9
64,9
64,1
63,8
62,2
60,6
59,2
58,8
58,8
57,0
42,4

* oder letztverfügbare Daten


Hier wird deutlich, dass eine pauschalisierte Annahme, die immaterielle Arbeit habe sich durchgesetzt, nicht gelten kann. Alleine in der EU gibt es keine homogene Struktur, sodass ein Blick auf die Länder der Welt schon erahnen lässt, dass die Annahme nicht haltbar sein wird.

Global Welt - globale Produktionsverhältnisse

Mit ihrem Buch Empire erheben die Autoren schließlich den Anspruch ein globales Phänomen beschreiben zu wollen. Dies bedeutet jedoch auch, dass eine Analyse der sektoralen Erwerbstätigkeit in nicht europäischen, nicht westlichen Ländern vorgenommen werden muss. Denn es ist mitnichten anzunehmen, dass der industrielle Sektor weltweit verschwunden sei oder die Menschen aufgehört hätten materielle Güter zu konsumieren. Nein, der Wunsch nach immer neuen Produkten gepaart mit der Kurzlebigkeit heutiger Geräte, fördert das Fortbestehen der industriellen Produktion und somit der fordistischen Produktionsweise. Die Verdrängung der Fließbandarbeit scheint in einigen europäischen Staaten Realität zu sein, jedoch blüht sie dafür in den Entwicklungsländern dieser Welt wieder auf.

Nehmen wir Bangladesch, wo ein positiver Trend, hin zur industriellen Produktion zu verzeichnen ist. Die Daten der International Labour Organisation zeigen, dass im Jahr 1996 ca. 9% in dem industriellen Sektor tätig waren, wobei es im Jahr 2005 schon 14,5,% waren. (ILO: 2013) Produktionen werden zu Hauf ausgelagert in Schwellenländer und dort mit Vorliebe in sogenannten "Maquilas": freien Produktionszonen, die sich durch entschärfte Arbeitsgesetze und zollfreien Handel für ausländische Unternehmen attraktiv machen, ansiedeln. Auch El Salvador, ein Land, wo die Maquila Industrie von großer Bedeutung ist, hält ihren industriellen Sektor konstant bei ca. 20%. (ILO: 2013) In den Fabriken werden importierte Produkte zu Konsumgütern zusammengestellt, welche dann wiederum in die westlichen Länder exportiert werden. Die Maquila Industrie ist in ganz Mittelamerika anzufinden und entwickelte sich zuerst an der US-Mexikanischen Grenze. In den Montagebetrieben kann und wird alles hergestellt, sodass die Bezeichnung Weltmarktfabrik nicht verwunderlich ist. Sowohl Elektroartikel, wie Textilien oder Autozubehör werden in den Fabriken zusammengebaut und für den internationalen Handel verkaufsfertig gemacht. Schlechte Arbeitsbedingungen, Repressionen und ein zu geringer Lohn sind nur wenige Eigenschaften die von Nicht Regierung Organisationen und Menschenrechtlern weltweit beklagt werden. Nach der Arbeit in den Fabriken sind die Frauen und Männer gezwungen weiterer Arbeit nachzugehen. Hier muss gesagt werden, dass ein Großteil der Angestellten in den Maquila Industrie weiblich ist; es wird von einem Frauenanteil von 87% ausgegangen. (Mayer 2004: 14) Primär werden Frauen zwischen 18 und 25 Jahren eingestellt, mit geringer Bildung, aber mit schneller Auffassungsgabe. Regelmäßige Schwangerschaftstests seien Pflicht wenn diese positiv ausfallen würden, drohe eine fristlose Entlassung. Darüberhinaus sind oft die gesundheitlichen Folgen, der zumeist schweren körperlichen Arbeit kritisiert worden. Die kaum vorhandenen medizinischen Versorgungsmöglichkeiten, sowie der psychische Druck, der durch fehlende Gesetze ausgeübt werden kann, sind weitere Kritikpunkte. Durch regelmäßige Kontrollen, werden jegliche Zusammenschlüsse von Gewerkschaften unterbunden. (ebd.: 15) Weltweit gesehen ist daher Negris und Hardts Behauptung von der umfassenden immateriellen Arbeit ein fataler Trugschluss und kann, wenn überhaupt, nur für OECD Länder gelten.

Es lässt sich somit konstatieren, dass aus globaler Sicht, unter Berücksichtigung der Entwicklungs- und Schwellenländer, nicht pauschalisierend von einer immateriellen Beschäftigung und somit von einer neuen Arbeitsform ausgegangen werden kann. Der westliche Blick der Autoren, lässt zu viele Aspekte der heutigen globalen Produktionskette unbeachtet. Darüberhinaus bleibt die Frage, wie eine so heterogene Gesellschaft wie wir sie heute haben; die sich sowohl in ihren Tätigkeitsfeldern, als auch in ihrer ökonomischen Entwicklung so stark differenziert, politisch handlungsfähig werden kann. Ich habe da meine Zweifel. Einzelne oder kollektive kleinst Proteste, sollten nicht über die Trägheit einer gesamten Masse hinwegtäuschen.



Literatur:

Foltin, Robert 2004: Rezension: Michael Hardt, Antonio Negri, "Multitude. War and Democracy in the Age of Empire", In: Grundrisse Nr.11, Wien, S. 58-61.

Hardt, Michael 1999: Affective Labor, In: boundary 2, Nr. 26, Durham 89-100

Hardt, Michael, Negri, Antonio 2000: Empire. Cambridge

Hauer, Dirk 2000: Auch große Würfe gehen mal daneben, In: ak - analyse und kritik 442, Hamburg. Zit. n.:
http://labournet.de/diskussion/arbeit/negri.html (Zugriff 22.10.2013)

Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) 2013: Daten zur kurzfristigen Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt 04/2013
http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61694/erwerbstaetige-nach-wirtschaftszweigen (Zugriff: 22.10.2013)

International Labor Organisation 2013: Bangladesh / El Salvador http://kilm.ilo.org/kilmnet/ (Zugriff: 19.08.2013)

Mayer, Bianca 2004: Maquilas - Weltmarktfabriken. Ein Ausdruck von Sklaverei im 21. Jahrhundert. In: Frauensolidarität Nr. 3, Wien, S. 14-15

Statista 2013: Erwerbstätige in den EU Ländern
http://de.statista.com/statistik/daten/studie/249104/umfrage/erwerbstaetige-in-den-eu-laendern/ (Zugriff: 22.10.2013)

2013: Plädoyer für die Präsenzpflicht. Yahoo schafft Home-Office ab. Sueddeutsche Zeitung, 26.02.12013, München
http://www.sueddeutsche.de/karriere/yahoo-schafft-home-office-ab-plaedoyer-fuer-die-praesenzpflicht-1.1610553 (Zugriff: 21.10.2013)

WKO 2012: Statistik Beschäftigte im Dienstleistungssektor im EU Vergleich
http://wko.at/statistik/eu/europa-beschaeftigungsstruktur.pdf (Zugriff: 21.10.2013)

*

Martin Birkner:

"Das Kapital wird identisch mit dem Staat"[1]

Entstehung und Entwicklung der marxistischen Staatskritik beim frühen Negri[2]

Bereits als Student setzte sich Toni Negri, damals noch stark hegelianisch geprägt, mit staatstheoretischen Fragestellungen auseinander. Seine Doktorarbeit aus dem Jahr 1958 trägt den Titel Stato e diritto nel giovane Hegel, also Staat und Recht beim jungen Hegel. Im Laufe seiner darauffolgenden marxistischen Entwicklung hat Negri einige zum Teil weitgehende Veränderungen an seiner Staatstheorie vorgenommen. Diese Änderungen sind zureichend nur zu begreifen, wenn wir Negri sowohl als Theoretiker als auch als politischen Aktivisten verstehen. Denn trotz all der Transformationen seines theoretischen Zugriffs auf den Gegenstand "kapitalistischer Staat" war und ist das Erkenntnisinteresse von Negris Theorieproduktion stets die Überwindung von kapitalistischen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen und somit eine Überwindung von Staatlichkeit als solcher.

Zunächst wird die Entwicklung von Negris Staatstheorie in Wechselwirkung mit den militanten Klassenkämpfen der 1960er und 70er Jahre in Italien nachgezeichnet. Ausgehend von der relativen Stabilität fordistisch-keynesianischer (Wohlfahrts)Staaten analysiert Negri deren von den Klassenauseinandersetzungen abhängige und getriebene Transformation in den späten 60er und frühen 70er Jahren. In diesen frühen Texten findet sich einerseits ein durch den beschleunigten Gang der Ereignisse oft überhastet erscheinender Wechsel der zentralen Kategorien, mit Hilfe derer Negri den Staat denkt, andererseits wird in den und durch diese Auseinandersetzungen das staatstheoretische Grundverständnis herausgebildet, welches Negris Sicht auf kapitalistische Staatlichkeit deutlich auch von anderen marxistischen Staatstheorien absetzt. Der Übergang vom fordistischen "Planstaat" über den "Krisenstaat" hin zu den neoliberalen Regierungsformen im "Empire" zeichnet dabei sowohl ein Bild der sozialen Auseinandersetzungen einer Epoche als auch den dadurch vorangetriebenen Übergang der kapitalistischen Produktionsweise vom Fordismus zum postfordistischen Kapitalismus. Die Zerschlagung der linksradikalen Opposition in Italien Ende der 1970er Jahre und die damit einhergehende Inhaftierung und Anklage Negris als Terrorist als auch die oben angesprochene kapitalistische Transformation bedeuteten für Negri die Notwendigkeit einer theoretischen Neuausrichtung. Im französischen Exil vertieft er seine Auseinandersetzung mit den philosophischen Theorien des Poststrukturalismus, was für seine Staatstheorie eine adaptierte Übernahme des Gouvernementalitätsdenkens von Foucault bedeutet.

Die Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Michael Hardt führt ab Mitte/Ende der 1990er-Jahre zur so genannten "Empire-Trilogie", in der Negri eine grundlegende Analyse kapitalistischer Staatlichkeit im postfordistisch gewendeten Kapitalismus - eben des "Empire" - gibt. Im vorliegenden Text beschränke ich mich allerdings auf die analytische Darstellung der frühen Entwicklung des Staatsdenkens Negris - bis zum, die Empire-Trilogie vorbereitenden, ersten gemeinsamen Werk mit Michael Hardt, der "Arbeit des Dionysos" (Hardt / Negri 1997).

Die überaus instruktive Negri-Einführung von Timothy S. Murphy stellt - neben seiner philosophischen Fundierung und dem politischen Aktivismus - die Entwicklung der Negrischen Auseinandersetzung mit dem Staat ins Zentrum.[3] Diesen Fokus möchte ich auch in meinem Text beibehalten, wohl wissend, dass dies nur um den Preis einer zumindest teilweisen Verkürzung möglich ist. Gänzlich kann und soll der Bezug auf klassentheoretische Aspekte, die Rolle der Arbeitsteilung sowie der Produktion von Subjektivität nicht gekappt werden: Sie wird, wo es für das Verständnis seiner staatstheoretischen Entwicklung notwendig ist, in die Argumentation miteinbezogen.

Den epistemologischen Hintergrund der Theorie Negris bildet die häretische marxistische Strömung des (Post)Operaismus. (vgl. Birkner/Foltin 2010) Auf eine umfassende Darstellung ihrer Kernelemente muss an dieser Stelle verzichtet werden. Da aber, trotz aller Wendungen und Transformationen, Negri epistemologisch den zentralen Merkmalen der operaistischen Strömung dennoch treu geblieben ist, sollen diese zumindest in ihren groben Umrissen benannt werden:

• Theorie ist kein Selbstzweck sondern dient der Ausrüstung sozialer Bewegungen, um den Kapitalismus effektiv und demokratisch zu überwinden. Dies ist dementsprechend ihr primäres Erkenntnisinteresse.

• Revolutionäre Theoriebildung zeichnet sich durch die Integration von Klassen-, Staats- und Krisentheorie aus. Die diesen Bereichen innewohnende Eigenlogik ist analytisch zu berücksichtigen, gleichzeitig wird jedoch am Begriff des gesellschaftlichen Ganzen und der Möglichkeit seiner Erkenntnis festgehalten.

• Die lebendige Arbeit ist das Kernelement jeder gesellschaftlichen Ordnung und nur aus ihren Bewegungen heraus können sich sowohl die Sprengkraft gegen das Kapitalverhältnis als auch die Potenziale konstituierender Macht entwickeln. Die Analyse der Zusammensetzung der lebendigen Arbeit und ihren Transformationen steht daraus folgend im Zentrum der Theorie.

• Soziale Auseinandersetzungen und Klassenkämpfe sind die Triebkräfte jeder befreienden sozialen Veränderung. Die Krisen herrschaftlicher Systeme sind dementsprechend in ihrem Verhältnis zu und in Abhängigkeit von diesen Bewegungen zu begreifen.

• Der Staat, egal ob in seiner fordistischen Variante als "Planstaat" oder in seiner postfordistischen und postnationalstaatlichen Version des "Empire" kann kein Vehikel oder gar Garant einer Strategie gesellschaftlicher Befreiung sein. Seine zentrale Form der Legitimierung, die (parlamentarische) Repräsentation, ist unwiderruflich in die Krise geraten.

• Bereits in der gegenwärtigen Gesellschaft existieren jene Momente, die das Potenzial in sich tragen, den ausbeuterischen und herrschaftlichen Vergesellschaftungsmodus über sich hinauszutreiben und zu überschreiten. Der von Marx entliehene Begriff der "Tendenz" bietet dazu das geeignete Instrument.

• Nur aus den kollektiven Kämpfen der "lebendigen Arbeit" entsteht jene konstituierende Macht, die eine dauerhafte postkapitalistische Ordnung hervorbringen kann.

• Revolutionäre Transformationen zeichnen sich durch die Überschneidung von Prozessen der Befreiung mit dem Ergreifen des kairos im entscheidenden Moment aus. Erst dieses Zusammentreffen von Prozess und Ereignis kann eine neues Zeitalter jenseits von Staat und Kapital konstituieren: den Kommunismus.

Vor dem hier nur angedeuteten Hintergrund des Operaismus werde ich im Folgenden die Etappen der Negrischen Staatskritik nachzeichnen. Die Gliederung entspricht dabei den epistemologischen Brüchen sowohl der Theorie Negris als auch jenen in seiner Biografie. Verbunden sind sie beide über die basale Verwobenheit seiner Theorieentwicklung mit den Zyklen und Konjunkturen von sozialen Bewegungen und Klassenkämpfen.

1968-1973: Die Krise des keynesianischen Planstaats

In "Zyklus und Krise bei Marx" (Negri 1972) setzt sich Negri mit den Theorien von Keynes und Schumpeter im Rahmen der ökonomischen Umbrüche ab dem Krisenjahr 1929 auseinander. Im Zentrum steht dabei die veränderte Rolle des Staates als Garanten und Akteur der kapitalistischen Akkumulation in Zeiten der Krise. Mit dem Kapitalismus als ökonomischem System ist spätestens 1929 auch die Gleichgewichtstheorie der ökonomischen Klassik in die Krise gekommen. Negri deutet dabei die Krise Ende der 1920er Jahre wie auch die Krisenbewältigungsstrategie von Keynes zunächst als politische Anerkennung der politischen Macht des Proletariats, wie sie sich spätestens mit der Russischen Revolution 1917 manifestierte. Jenseits aller Gleichgewichtsphantasien gilt es nun für Keynes, aber auch für Schumpeter, den Klassenwiderspruch nicht nur anzuerkennen, sondern auch für das Akkumulationsregime selbst produktiv zu machen. Die Rolle des Staates ist dabei - vor allem für Keynes - eine zentrale: Er "muß die Gegenwart vor der Zukunft verteidigen." (Negri 1972, 27) Der Staat muss angesichts der Krisenanfälligkeit des Kapitalismus selbst zum unmittelbar ökonomischen Akteur werden. Spätestens mit Ende des 2. Weltkriegs sollte dies zur hegemonialen Form kapitalistischer Vergesellschaftung werden. Jedoch ruhte die wirtschaftspolitische Realisierung des Keynesianismus auf der grundlegenden Umgestaltung der Klassenzusammensetzung des Proletariats. Der "Massenarbeiter" der großen, standardisierten Industrie löste den fachlich kompetenten, spezialisierten Arbeiter der frühen Manufakturen ab. Diese Vermassung der ArbeiterInnenklasse wurde erst durch das tayloristische Fließbandsystem sowie die spezifisch fordistische Form der Einbindung der ArbeiterInnenklasse in die Konsumstruktur des Kapitalismus ermöglicht. Erst das Zusammenspiel dieser drei Elemente: Keynesianische Geld- und Wirtschaftspolitik, tayloristisches Fabriksystem und fordistische Konsumstruktur konnten die Krisenanfälligkeit des kapitalistischen Systems - zumindest temporär - überwinden.

Dabei beschränkte sich dieses Arrangement keineswegs auf westliche bürgerliche Demokratien; auch in faschistischen und "realsozialistischen" Staaten fanden sich die Kernbestandteile der neuen ökonomischen Ordnung. Und wie in letzteren, so wurde auch in den westlichen Staaten der ökonomische Plan zu einem zentralen Steuerungsmechanismus der fordistischen Ordnung. War es in den organisatorischen Zusammenhängen der traditionellen ArbeiterInnenbewegung status quo, Wirtschaftsplanung als Gegenpol zur marktförmigen Vergesellschaftung des Kapitalismus zu begreifen, so zeigten operaistische TheoretikerInnen, allen voran Raniero Panzieri (Panzieri 1972), dass der Plan mitnichten einen Gegensatz zum Markt darstellt, sondern vielmehr der kapitalistische Gebrauch des Planes im Zentrum der fordistisch-keynesianisch gewendeten Ausbeutung der ArbeiterInnen steht.

In "Krise des Planstaats, Kommunismus und revolutionäre Organisation" (Negri 1973), einem knappen Text, der ursprünglich als Vorbereitungsmaterial für eine Konferenz von "Potere Operaio" geschrieben wurde, skizziert Negri zum einen die Funktionsweise des "Planstaats" und seine Krisenhaftigkeit, andererseits enthält das schmale, 1973 auf Deutsch im Merve-Verlag erschienene Bändchen, interessante Hinweise auf die methodologische Herangehensweise Negris. Bezugnehmend auf die Marxschen "Grundrisse" arbeitet er hier den Begriff der "Tendenz" heraus, der als erkenntnisleitendes Prinzip bis heute für seine Theoriebildung paradigmatisch bleibt.

Interessant an dem Text zur Krise des Planstaats ist auch, dass er zwar fast zwei Jahre vor dem Ölpreisschock und dem Ausbruch der großen Krise der 70er Jahre geschrieben wurde, die Krisenhaftigkeit und die damit einhergehende Veränderung der Rolle des Staates aber bereits ziemlich realitätsnahe bestimmt. Zwar geht Negri, wie die meisten italienischen OperaistInnen, in seiner Analyse nur in sehr groben Zügen auf die internationale Entwicklung jenseits der USA ein, dennoch gelingt ihm ein spannender Blick auf die anstehenden Veränderungen in der staatlichen Form kapitalistischen Kommandos. Italien befindet sich zum Zeitpunkt der Abfassung des Textes noch immer im Zyklus der Kämpfe von 1968 und danach; gleichzeitig beginnt aber die Veränderung der Klassenzusammensetzung, die durch die Kämpfe enorm beschleunigt wurde, gesamtgesellschaftlich zu greifen. Der Übergang von der Hegemonie des fordistischen Massenarbeiters zum "operaio sociale" dem "Gesellschaftlichen Arbeiter" ist im vollen Gange. Neue politische Subjekte führen zu einer Ausdifferenzierung und Multiplizierung der Subjekte und Thematiken der Bewegung. Die in Italien enorm starke autonome Frauenbewegung, subkulturelle Gruppierungen und Homosexuelle sind nur die wichtigsten einer Vielzahl von Kollektivsubjekten, die in den frühen 70er Jahren ihre Rechte mit Nachdruck einfordern. Aber auch die Gegenseite schläft nicht. Die "cassa integrazione", eine staatliche Kurzarbeits- bzw. Arbeitslosenkasse, die eigentlich zum Abfedern von Verdienstentgängen von lohnarbeitslos gewordenen ArbeiterInnen gedacht war, wird von UnternehmerInnen planvoll eingesetzt, um sich politischer AktivistInnen zu entledigen und gleichzeitig die Umstrukturierung der Produktion - insbesondere in den großen industriellen Zentren des Nordens - voranzutreiben. Ein weiterer Aspekt der staatlichen Antwort auf die Kämpfe des "Gesellschaftlichen Arbeiters" ist die sogenannte "Strategie der Spannung". In einer Reihe von Attentaten und Bombenanschlägen mit hunderten Todesopfern, geplant und ausgeführt durch ein Netzwerk aus Geheimdiensten, Militärs, Polizeieinheiten, Faschisten und Geheimlogen, sollten sowohl die staatlichen Repressionsbehörden auf die "linke Spur" gesetzt werden, als auch eine gesamtgesellschaftliche autoritäre Antwort von Rechts angeboten werden, um das Land vor dem "Chaos" zu bewahren.

Dem Text über die "Krise des Planstaats" ist noch eine dritte Antwort des Kapitals auf die Strategie der ArbeiterInnen zu entnehmen: Die Inflation. War die Frage des Lohns bzw. der Lohnhöhe im Rahmen der Massenarbeiter-Strategie der 60er Jahre zum zentralen Hebel antikapitalistischer Politik geworden (durch ständiges Erkämpfen von Lohnabschlüssen über der Rate des Produktivitätszuwachses sollte die Mehrwertrate direkt angegriffen werden), so konterte der Krisenstaat, nunmehr nicht mehr nur als ideeller, sondern als reeller Gesamtkapitalist, unter anderem mit dem politischen Einsatz inflationärer Mechanismen, um die so erkämpften Lohnzuwächse wieder zunichte zu machen.

1973 war für den Kapitalismus ein entscheidendes Jahr. In ihm kam der globale Kampfzyklus von 1968 zu einem Ende, und es wurden die Weichen für die postfordistische, neoliberale Spielart des Kapitalismus gestellt. Zur Verdeutlichung möchte ich stichwortartig die wichtigsten Ereignisse dieses Jahres anführen: Das Ende des Bretton-Woods-Systems, Der Pinochet-Putsch in Chile, der Beginn der Ölkrise, das Ende des Vietnamkriegs, eine Welle wilder Streiks in Deutschland und last not least auch ein entscheidender Streik im Fiat-Werk in Turin.

Italien galt vielen politischen Beobachtern als "politisches Laboratorium". Bis in die 1950er Jahre unterdurchschnittlich industrialisiert, führte die immense Geschwindigkeit der Industrialisierung des Landes (zumindest im Norden) zu einer Beschleunigung und gleichzeitig Intensivierung sozialer Prozesse und Auseinandersetzungen, wie sie sich in keinen anderen Land der Welt finden lassen. Die enorme Stärke der Linken und die damit verbundene Tradition des PartisanInnenkampfs gegen den Faschismus waren für diese Sonderrolle ebenso verantwortlich wie die Rolle der Binnenmigration vom Süden des Landes in den Norden, die gewerkschaftlich unorganisierte und nicht der disziplinierenden Wirkung der traditionellen ArbeiterInnenparteien und Gewerkschaften unterworfenen ProletarierInnen in die riesigen Fabriken des industriellen Dreiecks Genua - Mailand - Turin lenkte. All diese Phänomene wirkten zusammen und führten zu der besonderen Rolle, die diese Region und die in ihr entwickelten theoretischen und politischen Formen und Methoden für die radikale Linke innehatte - und zum Teil noch immer hat.

"Wie hat sich also die Krise des von 1929 an aufgebauten keynesianischen Staats in großen Zügen dargestellt? Der Staat der bestimmten Proportionen ist angesichts der Vermassung der Kämpfe, der Ausweitung der Lohnforderungen zerbrochen; ist zerbrochen in dem Zusammenstoß mit der abstrakten Arbeit, die sich in der Forderung nach Erhöhung des Werts der notwendigen Arbeit zur kollektiven Praxis vereinheitlicht hatte. Das hat jene Verzerrung der bestimmten Proportionen zwischen notwendiger Arbeit und Mehrarbeit erzeugt, die - in die Sprache des Tauschwerts übersetzt - Inflation heißt. Mit der Inflation ist die Krise des Systems vor allem Krise des Staats geworden: denn in der Abfolge Unternehmen - Plan - Staat war es der Staat, dem die hegemonische, ausgleichende und fördernde Rolle zugewiesen wurde. Die Fabrik ordnete sich dem Staat unter, der seinerseits die grundlegenden Bedingungen für das Funktionieren des Systems - in erster Linke des Fabriksystems - garantiert. Mittels des Staats fand der Tauschwert eine Garantie für seine Geltung als allgemeines Gesetz der Reproduktion der Produktionsbedingungen. Aber dieser Mechanismus hat nicht funktioniert. Das Gesetz, das der Staat garantieren sollte, ist erst in der Fabrik, dann in der ganzen Gesellschaft zerstört wurden." (Negri 1973, 32)

Bereits sehr früh erkannte Negri die Internationalisierungstendenz des Akkumulationszyklus' und beschreibt prägnant und nahezu prophetisch jene Tendenz, die in den 1990er Jahren als "Globalisierung" in aller Munde war. Damit einher gehe, so Negri, auch ein Wandel im Verhältnis zwischen Staat und (multinationalen) Unternehmen: "Während der Staat bisher seine hegemonische Rolle gespielt hatte, indem er die Äquivalenz in der Bewegung der Faktoren repräsentiert und garantiert hatte, so ordnet jetzt der Niedergang der Äquivalenznorm die Funktion des Staats derjenigen des Unternehmens unter (und zwar in der vorherrschenden Form, die es heute angenommen hat, derjenigen des multinationalen Unternehmens). Auf der Ebene des Weltmarkts stellt sich der Krisen-Staat heute auch dar als Krise des "Nationalstaats" angesichts des kapitalistischen Kommandos in der Form als Unternehmen und zwar als multinationales Unternehmen." (Negri 1973, 33)

Nach Bretton Woods: Autonomia Operaia gegen den Krisenstaat

1973 löste sich die Organisation Potere Operaio auf. Der Mehrheitsflügel, dem auch Toni Negri führend angehörte, plädierte für eine Strategie der Auflösung der zentralistischen Organisation in die metropolitanen Zonen der gesellschaftlichen Arbeit. Die Geburtsstunde der "Autonomia Operaia Organizzata" war gekommen. Die Avantgarden sollten von nun an dezentral und in engster Verbindung mit den Kämpfen vor Ort die Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen "Krisenstaat" vorantreiben, die Fokussierung auf das zentralistische leninsche Parteimodell wurde fallengelassen. Parallel dazu wähnte sich die radikale Linke bereits am Vorabend der Revolution und die Szene militarisierte sich zunehmend. Offensichtlich wurde die Macht des Kapitals unterschätzt, das mittlerweile durch die oben bereits beschriebenen Strategien durchaus effektive Maßnahmen gegen die revolutionären Bewegungen ins Werk setzte. Dem Ende der Stabilität des kapitalistischen Planstaates durch Klassenkämpfe und Ölschock begegnete Negri mit einer neuen Staatsfigur, dem "Krisenstaat". Dieser vereinigte das vollständige Politisch-Werden der Ausbeutung mit einer Tendenz zum permanenten Ausnahmezustand bzw. einer kurzfristig ausgelegten und stärker auf unmittelbare Gewaltanwendung fokussierten Form des Regierens. Das Politisch-Werden der Ausbeutung wird zur politischen Notwendigkeit angesichts des Erlöschens des sogenannten "Wertgesetzes". Als Wertgesetz gilt nach Marx die Tatsache, dass verausgabte menschliche Arbeitskraft zu ihrem Preis bezahlt wird - und dennoch einen Mehrwert kreiert, der unbezahlter Weise vom Kapital angeeignet wird. Die Substanz der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft ist dabei die "abstrakte Arbeit", ihr Maß die Arbeitszeit, genauer die "durchschnittlich notwendige gesellschaftliche Arbeitszeit". Durch die autonomen Klassenkämpfe der 60er Jahre, so Negris These, wurde der Anteil des Mehrwerts an der gesamten Wirtschaftsleistung dermaßen stark reduziert, dass das Kapital zu unmittelbaren politischen Interventionen gezwungen war, um überhaupt noch Profite erwirtschaften zu können. Die Mehrwertproduktion kann dem entsprechend nicht mehr im Rahmen der relativ stabilen Form eines polit-ökonomischen Gesetzes zureichend abgebildet werden, die Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse wird unmittelbar politisch - und sie muss, angesichts des hohen Grades der Vergesellschaftung der Arbeit und der internationalen Verflechtung des Kapitals, vom Staat als "Gesamtkapitalisten" garantiert, wenn nicht gar selbst betrieben werden.

"Der Klassenkampf wird in den Staat hineingetragen. Als Arbeiterkampf erscheint er als Kampf gegen den Staat. Das Kapital wird identisch mit dem Staat: das heißt, der Staat führt den Klassenkampf direkt vom Standpunkt des Kapitals aus." (Negri 1976, 118)

Mit der Politik des Krisenstaats verschwindet endgültig jede Illusion einer "Autonomie des Politischen", die Kämpfe der ArbeiterInnenklassen richten sich direkt gegen den kapitalistischen Staat. Reformismus ist nur noch vom Standpunkt des Staates aus und somit vom Standpunkt des Kapitals aus möglich. In der Figur des historischen Kompromisses zeigt sich, so Negri, die reaktionäre Rolle der eurokommunistischen KPI. Dieser könne bestenfalls dazu dienen, den neu zusammengesetzten "Gesellschaftlichen Arbeiter" zur Arbeit zu zwingen. Von ihm ist keinerlei Beförderung des Befreiungsprozesses der ArbeiterInnen zu erwarten, da er nach wie vor an der Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse mittels des Staats ausgerichtet ist, der allerdings mittlerweile vollends zum Repräsentanten des Gesamtkapitals geworden ist.

"Die gesamte Gesellschaft wird unter dem Unternehmenskommando zusammengefaßt, die Produktionsform des Unternehmens wird zur hegemonischen Form des gesamten gesellschaftlichen Verhältnisses. Die Massifizierung der gesellschaftlichen Produktivkräfte, die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft und ihre Reduktion auf allgemeine Produktionsbasis müssen als Profitverhältnisse unter die Entscheidung des Unternehmers gebracht werden. Der Staat als Repräsentant des Gesamtkapitals steht ganz diesem neuen Verhältnis zur Verfügung, das den Unternehmensprofit, die Fähigkeit, lebendige Arbeit zu verwenden, als Mittel zur Verwertung des ganzen, dahinterstehenden Netzes betrachtet. (Negri 1977, 38, Herv.i.O.)

Kurz vor der Bewegung von 1977 vermischt sich hier im Denken Negris ein klarsichtiger Blick auf die Transformation des Staates und seiner Funktionen mit einem Triumphalismus, der die Veränderung der Klassenzusammensetzung allein aus der Offensive der vergangenen Kämpfe erklärt, ohne die Wirksamkeit der (Gegen-)Strategien des Kapitals (Kurzarbeit, Dezentralisierung der Produktion, Tertiarisierung, Inflation) zureichend anzuerkennen. Zwar hat der Krisenstaat den Kampf gegen die sozialen Bewegungen letztlich auf militärisch-juristischem Terrain für sich entschieden, die mittelfristige Wiederherstellung eines relativen sozialen Friedens zu Lasten der Arbeitenden jedoch verdankte sich auch einer gewissen hegemonialen Wirksamkeit neoliberaler Ideologie und Politik. So überkreuzen sich in Negris Theorie - im übrigen bis heute - zwei Strömungen: eine materialistische, welche die untergründigen Tendenzen gesellschaftlicher Entwicklung in ihrer Umkämpftheit ans Tageslicht bringt und eine voluntaristisch-idealistisch-messianische, welche sich unter keinen Umständen in eine Position der Defensive begibt und somit nicht vor einem gewissen Triumphalismus gefeit ist, der in Zeiten fehlender Bewegungsdynamik wenig Gebrauchswert bietet.

"Allgemein bedeutet Krise des Plan-Staats die Krise des Keynesianischen Staats, als Projekt staatlicher Intervention zugunsten kapitalistischer Entwicklung, die auf einer Politik zur Regulierung des Einkommens im großen Maßstab beruht, auf einem im wesentlichen finanzpolitischen Instrumentarium und auf einer sozialistisch daherkommenden Ideologie." (1997, 61f.)

In Negris Bestimmung des "Staats in der Krise" versucht er entlang der kritischen Rezeption zeitgenössischer Staatstheorien sich seiner Bestimmung vom Standpunkt der ArbeiterInnenklasse aus zu nähern. Er bezieht dabei funktionsanalytische Theoriestränge wie jenen von Claus Offe (vgl. Offe 1975) oder James O'Connor (vgl. O'Connor 1974) ebenso in seine Analyse mit ein wie Aspekte der Staatsableitungstheorie oder auch Johnannes Agnolis Ansatz (vgl. Agnoli 1975). Zentraler Fokus bei Negri ist das Herausschälen der neuen Elemente der Funktionsweise des Staates, im Unterschied zu den genannten Theoretikern bezieht er diese neuen, außerökonomischen Formen staatlicher Machtausübung aber zurück auf die Sphäre der unmittelbaren Produktion:

"Der Widerspruch von Staat und Einzelkapital wird gleichwohl präsent gehaltenen werden müssen, doch ist er als untergeordnet zu betrachten [...]. Statt dessen muß die Analyse sich des Komplexes "Ideeller Gesamtheit" des Kapitals annehmen und den Staat als seine Figuration begreifen; innerhalb dieses Ganzen steht es an, entlang der Klassenlinie eines weiter gefaßten Arbeiterstandpunkts die realen Mechanismen der Ausbeutung, wie sie in der neuen Situation entstehen, zu erkennen. Die Strukturanalyse des Staats wird durch die Krisenanalyse, durch eine Bestimmung des Proletariats ergänzt und erweitert - in diesem Sinn wird also die Marxsche Werttheorie neu gefaßt. (1997, 55)

Hier bereitet sich bereits ein zentraler Einsatz der späteren Theorie Negris vor, nämlich seine Kritik am Marxschen Wertgesetz. Sind es hier noch die unmittelbar politischen Momente der Klassenkämpfe und sozialen Bewegungen, die das Wertgesetz in die Krise stürzen, so wird zwanzig Jahre später auch das Kapital selbst diese Überschreitung versuchen für sich produktiv zu machen. Vor allem die Ebene des Wertmaßes, der berühmten Marxschen "durchschnittlich notwendigen gesellschaftlichen Arbeitszeit" zur Herstellung einer Ware kann ob des proletarischen Angriffs nicht mehr in die Bahnen der "Selbstverwertung des Werts" (Marx) gebracht werden. Die zunehmende Rigidität kapitalistischen Kommandos über den Staat spiegelt sich in der Theorie Negris wieder: Die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Akkumulation wird zur unmittelbar politischen Aufgabe des Staats, dieser wird vom "ideellen" (Engels) zum reellen Gesamtkapitalisten - und versucht darüber hinaus die kapitalistische Krise für eine drastische Rekonfiguration des Klassenverhältnisses - selbstredend zu Lasten der ArbeiterInnen - zu nutzen.

Ist die Funktion der Krise in manch traditionalistischer Sicht lediglich ein "reinigendes Gewitter", um danach einen neuen Zyklus von Kapitalakkumulation in Gang zu setzen (so auch die Sichtweise der "Neuen Marxlektüre" von Michael Heinrich u.a.), beschreibt Negri naturgemäß die Krise aus der Perspektive der Klassenkämpfe. Im Gegensatz zu objektivistischen Lesarten des Kapitals verschränkt die operaistische den Klassenstandpunkt der Analyse mit einer spezifischen Lektüre des "Gesetzes" vom tendenziellen Fall der Profitrate.

Vor diesem Hintergrund ist auch Negris Kritik an dem breit rezipierten eurokommunistischen Staatstheoretiker Nicos Poulantzas zu verorten. Die Kritik Negris an Poulantzas' Staatstheorie bezieht sich auf dessen frühere Texte. Mir ist keine Auseinandersetzung Negris mit Poulantzas' Hauptwerk, der "Staatstheorie" (Poulantzas 2002), bekannt, obwohl diese einige Elemente herrschaftlicher Vergesellschaftung über den Staat enthält, die der Theorie Negris durchaus entgegen gekommen wären. Dennoch würde Negri wohl nie und nimmer mit der berühmt gewordenen Metapher Poulantzas vom Staat als "Verdichtung von Kräfteverhältnissen" übereinstimmen, eher noch legt Negris Theorie eine "Verdünnung" von Kräfteverhältnissen und insbesondere Kampfinhalten und -formen sozialer Kämpfe nahe, wie sie unlängst - obgleich aus einer anderen staatstheoretischen Positionierung heraus - Karl Reitter formuliert hat. (vgl. Reitter 2011) Verdünnung bezieht sich hier auf die Desartikulation und Rekuperation von Kampfinhalten durch die spezifische Macht des kapitalistischen Staats. In Negris Worten - wenngleich auch bezogen auf frühere Arbeiten Poulantzas': "Auch bei Poulantzas wird die 'Autonomie des Politischen' nicht als dialektische Verknüpfung von Produktivkräften und kapitalistischer Organisation der Produktion dargestellt, sondern eine 'dritte Ebene' zwischen beidem eingezogen. Das wiederum führt dazu, daß Poulantzas entsprechend einer spezifischen Verzerrung der marxistischen Staatsauffassung argumentiert, die den Staat nicht, wie bei Marx, im Bereich der Produktionsverhältnisse begründet sieht, sondern vielmehr im Fetisch einer neu zusammengesetzten 'Zivilgesellschaft', das heißt im undeutlichen Abbild wirklicher Klassenverhältnisse im Äther ideologischer Repräsentation." (1997, 40)

Negri folgert daraus: "Der Versuch, den Staat zu begreifen, muß deshalb erneut von der Zirkulationssphäre des Kapitals (und seiner Vergesellschaftung) als Sphäre der erweiterten Reproduktion des Antagonismus zurückkehren zur unmittelbaren Produktionssphäre." (1997, 42)

In den 70er Jahren richtet sich die Theorie wie auch die Praxis der außerparlamentarischen Linken nicht nur gegen die UnternehmerInnen und den Staatsapparat, sondern auch - und in zunehmender Art und Weise - gegen die traditionellen ArbeiterInnenorganisationen. Die Kommunistische Partei Italiens, die bei nationalen Wahlen bereits mehr als ein Drittel aller Stimmen auf sich vereinigen konnte, formulierte in dieser Periode ihre Doktrin des "Historischen Kompromisses": Die Beteiligung an der Regierung (mit der Christdemokratischen Partei) sollte demnach gegen den Verzicht auf das Streben nach Überwindung des Kapitalismus quasi eingetauscht werden.

"Der historische Kompromiß möchte gern eine Form des kapitalistischen Kommandos über die gesellschaftliche Organisation der lebendigen Arbeit sein: möchte dessen 'sozialistische Form' sein, was aber ökonomische Krise und Restrukturierung schon verhindern. Gut, dann befindet er sich selber also schon in einer Krise: daran sehen wir, daß da, wo Sozialismus unmöglich ist, das Gespenst des Kommunismus wieder anfängt, in der Welt umzugehen." (Negri 1976 133) Der außerparlamentarischen Linken galt die KPI spätestens zu diesem Zeitpunkt als konterrevolutionäre politische Kraft. Negri sah hinter einer derartigen neoreformistischen Politik auch ein vollkommen falsches Staatsverständnis am Werk:

"Was den Brennpunkt des Problems betrifft, stehen wir vor einer neuerlichen Mystifikation: der des Staates nämlich, eines unabhängigen und souveränen Staates, einer neutralen Maschine, auf die man bloß die Hände zu legen braucht, um sie zu kommandieren ("nachdem man die drei, vier bösen Monopolisten verjagt hat, die ihn instrumentalisiert hatten"). Tatsächlich, ein derartiges Projekt von Staatsreform [...] läßt außer Acht, das mindestens zwei seiner Voraussetzungen heute fehlen: einerseits ist der Staat das Organ (und nicht der Deckel oder das Gefäß) für die kapitalistische Entwicklung und für seine bestimmten Aufgliederungen [...]; andererseits geschieht dies gegenseitige Durchdringen von Staat und Kapital nicht auf der Ebene der Nation, sondern in den neuen Dimensionen der Organisation des Weltmarkts. [...] Sie schlägt dasselbe Modell eines Planstaats, einer Arbeiterbeteiligung an der Arbeiter-Ausbeutung vor, [...]" dasselbe Modell, so sagten wir, welches durch den Arbeiter-Kampf in allen Ländern des fortschrittlichen Kapitals in den letzten 40 Jahren umgeworfen worden ist. (Negri 1976, 112f., Herv.i.O.)

Dagegen setzt Negri die Untrennbarkeit von Staat und Kapital in der Ära des Krisenstaats. An diesem Punkt einmal angekommen, ist jegliche Dialektik zwischen Reform und Revolution blockiert und der direkte Kampf gegen den Staat unvermeidlich. Die Bewegung von 1977 wird sich in diese Linie einschreiben, allerdings auf eine andere Art als die zur selben Zeit aus dem Boden sprießenden Organisationen der bewaffneten "Guerilla Diffusa". Beiden gemeinsam ist jedoch, dass keinerlei Vermittlung in die Apparate und Organisationen der repräsentativen Demokratie mehr möglich war. Staat und Kapital konnten sie beide nicht überwinden, die Antwort des Staats war der oben beschriebenen Blockade entsprechend eine militärische. Zwar war die "Strategie der Spannung" gescheitert, diesmal aber nahmen die willfährigen Kader der KPI das Heft in die Hand. Am 7. April 1979 wurde Toni Negri nebst über 70 anderen AktivistInnen der radikalen Linken in einer generalstabsmäßig geplanten Aktion verhaftet und inhaftiert. Negri wurde sogar angelastet, der Kopf der Entführung und Ermordung des christdemokratischen Politikers Aldo Moro gewesen zu sein.

Die staatliche Repression gegen die radikalen sozialen Bewegungen der 70er Jahre brachte über 6000 AktivistInnen hinter Gitter und zwang tausende, das Land zu verlassen. Viele der ExilantInnen ließen sich in Frankreich nieder, da die französische Regierung politische Flüchtlinge zu dieser Zeit nicht an Italien auslieferte. Toni Negri wurde zwischenzeitlich aus der Untersuchungshaft heraus auf einer Liste der Radikalen Partei ins Parlament gewählt. Nach Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität entzog er sich der neuerlichen Inhaftierung ebenfalls durch seine Flucht nach Frankreich (vgl. Negri 2010). Dort sollte er von 1983 bis 1997 leben und unterrichten.

Noch in Italien war Negri mit den Theorien poststrukturalistischer Philosophen in Berührung gekommen. "Marx oltre Marx", seine bahnbrechende Arbeit über die Marxschen "Grundrisse", ging aus Vorlesungen an der Ecole Normale Supérieure in Paris hervor, zu denen er von Louis Althusser eingeladen wurde. Gilles Deleuze und Felix Guattari setzten sich für die Freilassung des inhaftierten Negri ein und in Paris wohnte er schließlich in der Wohnung des Bruders von Guattari. Die intensive Auseinandersetzung mit poststrukturalistischen Theorien, aber auch mit der Philosophie Spinozas - Negri verfasste bereits während seiner Inhaftierung eine instruktive Studie zu Spinoza (Negri 1982), führte zu einer weiteren wichtigen Wendung im Staatsdenken Negris. Die Rolle der Dialektik und der Negation des Kapitalverhältnisses durch die ArbeiterInnenklasse wurde nun eingetauscht gegen einer Perspektive des konstitutiven Vermögens der ArbeiterInnen, neue gesellschaftliche Verhältnisse produzieren zu können.

"Operaio Sociale" meets Spinoza & Deleuze: Vom Operaismus zum Postoperaismus

Wie einleitend bereits erwähnt, kann die postoperaistische Theorie nur aus dem Kontext ihrer historischen und methodologischen Entwicklung adäquat beurteilt werden. Als Erbin der besonders durch Toni Negri repräsentierten Strömung, des sogenannten "Bewegungsoperaismus", sind wichtige postoperaistische Begriffe wie Multitude, Autonomie oder eben Empire wenngleich auch nicht direkt, so zumindest indirekt konzeptionell mit der spezifischen Ausprägung der Theorie Negris in den 70er-Jahren verbunden. Zum Verständnis der Genealogie des postoperaistischen Denkens sollen nun Eckpunkte seiner theoretischen Entwicklung in den 1970er Jahren kurz dargestellt werden. Folgende Aspekte sind dabei hinsichtlich des Übergangs zum Postoperaismus besonders zu berücksichtigen:

  • Die Theorie des gesellschaftlichen Arbeiters und der Selbstverwertung[4] als Weiterentwicklung der theoretischen Ansätze des Operaismo
  • Die (Neu)Lektüre der Marxschen Grundrisse durch Negri Ende der 70er-Jahre
  • Die Beschäftigung mit der Philosophie Spinozas
  • Die Rezeption des französischen (Post)Strukturalismus (v.a. Deleuze/Guattari und Foucault)

Die Texte aus den bewegten Jahren 1971-1977 verweisen auf den Versuch, inmitten der zugespitzten Kämpfe dieser drastischen Veränderung der Klassenzusammensetzung in Richtung der Vervielfältigung von Subjektpositionen gerecht zu werden und gleichzeitig die Vereinheitlichung des Kampfes analog zur konstatierten Vereinheitlichung des kapitalistischen Kommandos durch den Staat zu fordern. Dementsprechend sind diese Texte relativ kurz gehalten und zeugen von einer nach wie vor vom leninistischen Paradigma der Notwendigkeit einer Partei geprägten Spannung.[5] Das eng mit jenem des "Gesellschaftlichen Arbeiters" verbundene Konzept der Selbstverwertung/Selbstinwertsetzung (autovalorizzazione) versucht einen dialektischen Ausweg zu weisen. Der Kampf gegen die Arbeit, die Verweigerung der Arbeit wird nicht mehr rein negativ, sondern ebenso und gleichzeitig als Konstitutionsbedingung kommunistischer Subjektivität, verstanden.

Auch der im Operaismus wichtige Terminus der Arbeiterautonomie wandelte sich parallel mit jenem der Klassenzusammensetzung: zwar wurde die grundlegende Prämisse beibehalten, wonach im Gegensatz zum orthodoxen Marxismus nicht Gesetzmäßigkeiten des Kapitals die kapitalistische Entwicklung bestimmten sondern die Kämpfe der Klasse; die Neuzusammensetzung eben dieser verlangte allerdings auch nach einem Ausdruck dessen, was unter den veränderten Bedingungen Autonomie bedeuten konnte. In der Ära des Massenarbeiters war dies eine - vermeintlich - einfache Sache: in der aus den unmittelbaren Bedürfnissen des Proletariats entsprungenen Forderung nach mehr Lohn wurde der Schlüssel zur Aushebelung des Kapitalismus als Ganzem gesehen. Nicht analog zu den gesellschaftlichen Produktionszuwächsen sollten die Löhne steigen (dies war die klassische Gewerkschaftsforderung), sondern die Forderung nach immer mehr Lohn sollte zur Sprengung des kapitalistischen Gesamtzusammenhangs führen, zur absoluten Unerfüllbarkeit der Forderungen im kapitalistischen Rahmen. Da den Gewerkschaftsapparaten wie auch den traditionellen Parteien eine herrschaftsstabilisierende Rolle zugeschrieben wurde, konnte sich Autonomie nur als Ausbrechen aus der Verfügungsgewalt durch Kapital und traditionelle Organisationen realisieren, als irrationales Element der vorgeblichen kapitalistischen Rationalität.

Der/Die gesellschaftliche ArbeiterIn hingegen kennt keine Zentralität der Fabrik mehr, im Gegenteil: die Flucht aus den disziplinierenden Fabrikshallen wurde als Teil des Klassenkampfs gesehen, der zu einer Auflösung der Fabrik in die Gesellschaft führt. Die so genannte (in die Gesellschaft) aufgelöste Fabrik ("fabbrica diffusa") zeigt sowohl den Verlust eines zentralen Orts als auch den eines relativ stabilen Subjekts des Klassenkampfes an und weist der Tendenz nach bereits auf das unmittelbare Produktivwerden der gesamten Gesellschaft hin, die später zu einem zentralen Element der Bestimmung des Empire werden wird. Produktive, reproduktive und "nicht-produktive" Tätigkeiten verschmelzen zur unmittelbaren Produktion des Kapitalverhältnisses. Negri wird später diesen Prozess auch als "reelle Subsumption der Gesellschaft unter das Kapital"[6] bezeichnen. Subjekttheoretisch bezog sich Negri einerseits auf die Effekte der Umstrukturierung, d.h. Zersplitterung der großen Industrien Norditaliens wie den Eintritt junger, gut ausgebildeter ArbeiterInnen in die dementsprechenden Arbeitsverhältnisse. Die Ablösung des Massenarbeiters durch den operaio sociale wurde von der Auflösung der Fabrik in die Gesellschaft begleitet. Dieser Prozess ordnet schließlich eben die ganze Gesellschaft dem politischen Kommando des Staates unter.

Mit der gewagten Wendung vom unmittelbaren Produktionsprozess zum Angriff auf die Reproduktion des Kapitalismus in seiner Gesamtheit kann Negri zwar an die neuen Formen der Kämpfe anschließen, seine Verabsolutierung der neuen Formen führt aber zu erheblichen Meinungsunterschieden zwischen linken TheoretikerInnen, vor allem mit jenen, die nach wie vor eine genaue Analyse der Verhältnisse einer zunehmend abstrakter werdenden Übertheoretisierung samt ultramilitanter Rhetorik vorziehen (Battaggia 1981, Bologna 1980). Die Theorie vom "operaio sociale" und von der Produktivität der gesamten Gesellschaft, die Negri über seine Auseinandersetzung mit den Marxschen Grundrissen (Negri 1991) entwirft, stellt einen wichtigen, wenn nicht den zentralen Strang seiner theoretischen Entwicklung dar, die rund 25 Jahre später in die Theorie des Empire münden wird. Das Konzept der Selbstverwertung (autovalorizzazione) wiederum wird uns in der - wenngleich modifizierten - Gestalt der konstituierenden Macht der Multitude wieder begegnen.

Negri leitet bereits seinen Artikel "Repubblica Costituente, Umrisse einer konstituierenden Macht" (Negri 1998) mit dem Zitat Condorcets aus der französischen Revolution ein: "Einer jeden Generation ihre Konstitution". In der amerikanischen und der französischen Revolution wurde Konstitution als etwas dynamisches gesehen, durch Revolten veränderbar. In den entsprechenden Revolutionen erstarrte dann der Prozess immer wieder in Gesetzmäßigkeit. Die Prozesshaftigkeit wird "konstituierend" im Gegensatz zu "konstituiert" ausgedrückt. Da die Unterbrechung in Zeit und Raum immer wieder in Souveränität verwandelt wurde, kann sie nur in Phasen des Umsturzes analysiert werden, als Selbstorganisation in der Revolte.

In seinem Buch Insurgencies (Negri 1999) wird die Geschichte der konstituierenden Macht an Hand der Geschichte der europäischen Revolutionen nachvollzogen. Es beginnt mit den Reflexionen Niccolo Macchiavellis zur Zeit der Umwälzungen der Renaissance, beschreibt die englische Revolution in Mitte des 17. Jahrhunderts und die amerikanische in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Immer wieder wird die Umwandlung des "konstituierenden Prozesses" in konstituierte Macht beschrieben. Ab der französischen Revolution stellt sich für die Herrschenden die Frage, wie die Revolution zu beenden ist, die in ihrer Dynamik potentiell jeden Augenblick, als Unterbrechung der Zeit auftauchen kann. Die konstituierende Macht ist die Macht der radikalen Neuformulierung der sozialen Organisation; als sich ausdehnende Macht, das bedeutet, als Macht, die eine unaufhaltsame Bewegung ist, die zu den synchronen (gleichzeitigen) Effekten der Unterbrechung die diachronen (in der Zeit, hintereinander stattfindenden) Effekte der Kontinuität hinzufügt, eine ununterbrochene Formierung; als permanente Revolution und damit als Prozess der Freiheit und Gleichheit (Negri 1999, S. 228).

Das Neue am 19. Jahrhundert war aber nicht nur, dass die konstituierende Macht als Prozess verwirklicht wurde, sondern dass seit den Kämpfen der französischen Revolution, von den Aufständen 1830 und 1848 bis zur Pariser Kommune die lebendige Arbeit und die Organisation der Arbeit Teil des Konstitutionsprozesses wurden. Der Aufstand der Oktoberrevolution musste dann aber scheitern, weil er national beschränkt blieb und einen internationalen Krieg gegen die Revolution auslöste (und keine Weltrevolution). Die Pariser Kommune wurde niedergeschlagen, weil sie sich nicht militarisierte, die russische Revolution scheiterte, weil sie sich militarisierte und sich in einen bürokratischen Staat verwandelte (vgl. Hardt / Negri 2002, Foltin 2002, S. 17).

Unterwegs zum Empire: Die Arbeit des Dionysos

Die in den 90er Jahren verfassten Teile von "Die Arbeit des Dionysos" (Hardt / Negri 1997) bilden die ersten Gemeinschaftsarbeit von Toni Negri und dem US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Micheal Hardt. In diesem Buch werden bereits einige der zentralen Motive von "Empire" vorbereitet. Während gouvernementalitätstheoretische Ausführungen in Anlehnung an Michel Foucault oder die Theoretisierung der Biomacht noch fehlen, fokussiert "Die Arbeit des Dionysos" auf staats- bzw. rechtstheoretische Aspekte des postfordistischen Kapitalismus. Insbesondere die - auch in Empire zentrale - reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital dient als Ausgangspunkt einer kritischen Lektüre damals, also in den 90er Jahren wichtiger staats- und demokratietheoretischer Texte wie zum Beispiel John Rawls' "Eine Theorie der Gerechtigkeit". Hardt und Negri weisen nach, dass im Gefolge der kapitalistischen "Konterrevolution" der 80er Jahre gegen die Klassenkämpfe und autonomen Bewegungen die Hegemonie des Kapitals sich zentral an der Negation der lebendigen Arbeit zeigen lässt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die konstituierende Rolle der lebendigen Arbeit damit hinfällig wäre, ganz im Gegenteil. Andererseits ließen sich aus diesem analytischen Zugang weitreichende Beobachtungen über die Konjunkturen des Rassismus und Rechtspopulismus im Europa der 1990er Jahre anschließen. In ihrem auf progressive soziale Kämpfe fokussierten Zugriff auf gesellschaftliche Phänomene wird diese Möglichkeit allerdings leider nicht wahrgenommen. So nimmt es dann auch wenig Wunder, dass die Rezeption von Hardt und Negri erst mit der wachsenden Stärke der globalen Protestbewegung wieder zunimmt. Der blinde Fleck einer kritischen Ideologietheorie wird vor allem in jenen Gegenden bzw. Perioden besonders augenfällig, in denen es an linken (Massen)Bewegungen mangelt. Und so richtig es auch sein mag, dass eine Strategie der Defensive kein probates Mittel sozialer Kämpfe sein kann, so problematisch erscheint doch die zum Triumphalismus neigende Theorie Negris in Zeiten unangefochtener neoliberal-rassistischer Konterrevolutionen. Am Beispiel Italiens lässt sich diese "negative Dialektik" besonders gut beobachten, wo parallel zu den größten und vielfältigsten sozialen Bewegungen seit 1968 drastische Verschlechterungen von Arbeits- und Lebensbedingungen und rassistische Konjunkturen in Staat und Gesellschaft konstatiert werden müssen. Von Berlusconi und dem Verschwinden der Linken aus dem repräsentativ-demokratischen Raum einmal ganz zu schweigen ...

Ein wichtiges Element der "Arbeit des Dionysos" ist die Analyse der reellen Subsumtion der Gesellschaft unter den Staat. Analog zur reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital zeichnen sie das Verschwinden zivilgesellschaftlicher Vermittlungen, allen voran der Macht der Gewerkschaften, nach. Anhand der in den USA zentralen Debatte zwischen Kommunitarismus und Liberalismus wird das Verschwinden-Lassen der Kategorie der lebendigen Arbeit in beiden Strömungen aufgezeigt: "Bei genauerem Hinsehen stellen wir jedoch fest, daß die beiden Positionen nur zwei Strategien innerhalb ein und desselben Projekts darstellen: der Subsumtion der Gesellschaft unter den Staat." (1997, 115). KommunitaristInnen wie Liberale finden die Notwendigkeit der Gemeinschaft letztlich ausnahmslos in der Doublette Staat/Patriotismus wieder, Klasseninteressen und soziale Auseinandersetzungen werden aus dem politischen Raum getilgt. Dem entspricht, so Hardt und Negri, der Bedeutungsverlust der "zivilen Gesellschaft". Die reelle Subsumtion der Gesellschaft unter dem Staat lässt keinen Spielraum mehr für die Vermittlung von Interessen(sgegensätzen) durch die Institutionen der Zivilgesellschaft, das Zeitalter des Reformismus ist vorbei. Das Subjekt der Politik ist - aller neoliberalen Propaganda des "schwachen Staates" zum Trotz - der Staat. An Militärausgaben und dem immer umfassenderen staatlichen Zugriff auf das Leben der BürgerInnen kann dies empirisch nachgewiesen werden. (vgl. 1997, 115ff.)

Die Art und Weise, wie die Macht des Staates nun unmittelbar in der Gesellschaft präsent ist, ist jene der Kontrollgesellschaft. Dieser von Gilles Deleuze geprägte Begriff bezeichnet eine gegenüber der fordistischen Disziplinargesellschaft veränderte Form der Herrschaftstechnik. Nach dem Zusammenbruch der streng getrennten gesellschaftlichen Institutionen des Fordismus (Fabrik, Schule, Gefängnis, ...) folgt nicht eine Zunahme gesellschaftlicher Freiheit sondern die Verallgemeinerung der diese Institutionen bestimmenden Machtmechanismen in die gesamte Gesellschaft - und letztlich auch ins Innere der Subjekte. Diese Allgegenwart kapitalistisch-staatlicher Herrschaft macht diese aber auch von jedem Punkt aus angreifbar.

Die Verbindung dieser Angreifbarkeit mit der Möglichkeit eines neuen kommunistischen Projekts nehmen die Autoren dann auch im abschließenden Kapitel "Potentiale konstituierender Macht" in Angriff. Zunächst jedoch zeichnen sie die Geschichte des sogenannten "Realen Sozialismus" als einer nachholenden Entwicklung kapitalistischer Vergesellschaftung im Schnelldurchgang nach. Die Unmöglichkeit, nach dem schnellen Nachholen des Fordismus die notwendige gesellschaftliche Entwicklungsdynamik zuzulassen, führte - über Formen blutiger Diktatur und starrem staatlichen Zwang - schließlich zur Implosion dieser Systeme. Die ArbeiterInnen machten schlicht und einfach nicht mehr mit. Dabei betonen Hardt und Negri stärker als andere TheoretikerInnen die Gemeinsamkeiten von kapitalistischen und "realsozialistischen" Regimen.

"Der Zusammenbruch des Sozialismus betrifft nicht allein die Länder des Ostens, sondern gerade auch die Frage der demokratischen Partizipation. Die reformistischen Legitimationsmechanismen sind, von 1917 an, als Antwort auf den Sozialismus entworfen worden, gerade in den Staaten des entwickelten Kapitalismus." (1997, 130)

In der Empire-Trilogie wird der Begriff des Staates jenem des Empires weichen und das Verständnis staatlichen Handelns deutlich stärker in eine von Foucault beeinflusste Perspektive der Gouvernementalität und des "Regierungshandelns" geleitet. Hier zeigt sich auch die Schwierigkeit, nach der "Arbeit des Dionysos" noch von einer "Staatstheorie" bei Negri zu sprechen. Vielmehr handelt es sich um eine Analyse der Verwobenheit von biopolitischem Kapitalismus und imperialer Souveränität. Dabei stellt sich die Frage, ob und inwiefern die Verschiebung weg vom Begriff des Staates und seinem institutionellen Handeln tatsächlich in der objektiven, wenngleich auch tendenziellen, Transformation gesellschaftlicher Sachverhalte und Kämpfe wurzelt, oder ob sie nicht auch einem "Davongaloppieren" der Theorie Negris geschuldet ist.



Anmerkungen

[1] Negri 1976, 118.

[2] Der vorliegende Text ist der - leicht veränderte - erste Teil meines Buchbeitrages "Der Staat muss die Gegenwart vor der Zukunft verteidigen" Die Entwicklung der marxistischen Staatskritik Toni Negris, in: Thore Prien (Hg.): Der Staat im Empire. Zum Staatsverständnis des Postoperaismus, Baden-Baden, im Ersch.

[3] Murphy 2012.

[4] Ital. autovalorizzazione, wurde verschieden übersetzt, u.a. als Selbstverwertung, Selbstinwertsetzung oder auch - besonders galant - als Selbstaufwertung. Marxistische Kritiken haben sich besonders am affirmativen Charakter des Begriffs gestoßen. Genau dies ist aber von Negri intendiert, da über die kritischen, antagonistischen und das Kapitalverhältnis negierenden Aspekte des Klassenkampfes hinaus das Vermögen des Gesellschaftlichen Arbeiters bezeichnet werden soll, konstituierende Macht zu sein. Besonders deutlich wird dies in der späteren Hinwendung Negris zum Spinozismus.

[5] "The other aspect of this period of Negri's work that we must take into account is its political immediacy. The horizon of the political movements seemed in a continuous state of flux and each event added a new urgency. The texts are dated not only with the year but also the month in which they were drafted." (Hardt 2005, 8f.)

[6] Bei Marx (1969) bedeutet "reelle Subsumption der Arbeit unter das Kapital", dass die Organisation der Arbeit durch das Kapital erfolgt, nicht einfach vorkapitalistische Produktionsweisen der Verwertung unterliegen. "Reelle Subsumption der Gesellschaft" bedeutet, dass alle gesellschaftlichen Verhältnisse durch das Kapital organisiert werden.



Literatur

Agnoli, Johannes (1975): Überlegungen zum bürgerlichen Staat, Berlin

Atzert, Thomas (Hg.) (1998): Umherschweifende Produzenten. Immaterialle Arbeit und Subversion, Berlin

Battaggia, Roberto (1981): Massenarbeiter und gesellschaftlicher Arbeiter - einige Bemerkungen zur neuen Klassenzusammensetzung, online unter:
http://www.wildcat-www.de/zirkular/36/z36batta.htm

Benjamin, Walter (1965): Geschichtsphilosophische Thesen, in: Kritik der Gewalt ..., Frankfurt a.M.

Birkner, Martin / Foltin, Robert (2010): (Post)Operaismus. Von der Arbeiterautonomie zur Multitude. Eine Einführung, 2., erweiterte Auflage, Stuttgart

Bologna, Sergio (1980): Der Stamm der Maulwürfe, in: Mai-Gruppe/Theoriefraktion (Hg.): Wissenschaft kaputt, Münster, S. 251-301

Foltin, Robert (2002): Immaterielle Arbeit, Empire, Multitude, neue Begrifflichkeiten in der linken Diskussion. Zu Hardt / Negris "Empire", in: grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte, Nr. 2, 6-20

Hardt, Michael / Negri, Antonio (1997): Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne, Berlin

Hardt, Michael / Negri, Antonio (2003): Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M. / New York

Murphy, Timothy S.: (2012): Antonio Negri. Modernity and the Multitude, Cambridge / Malden

Negri, Antonio (2000): Paschukanis lesen. Notizen anläßlich der erneuten Lektüre von Eugen Paschukanis' Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, in: Bruhn, Joachim, Dahlman, Manfred und Nachtmann, Clemens (Hg.): Kritik der Politik. Johannes Agnoli zum 75. Geburtstag, Freiburg i.B., 201-258

Negri, Toni (1972): Zyklus und Krise bei Marx, Berlin

Negri, Toni (1973): Krise des Plan-Staats, Kommunismus und revolutionäre Organisation, Berlin

Negri, Toni (1977): Massenautonomie gegen Historischen Kompromiß, München

Negri, Antonio (1982): Spinoza. Versuch über die Anstößigkeit seines Denkens, Berlin

Negri, Toni (1997): Staat in der Krise. Anmerkung MB: Der ursprünglich 1974 verfasste Text aus wurde 1997 wiederabgedruckt als Teil von "Die Arbeit des Dionysos (Hardt / Negri 1997). Aufgrund der besseren Übersetzung zitiere ich daraus und nicht aus der 1977 im Merve-Verlag erschienenen, ersten deutschen Ausgabe.

Negri, Toni (1998): Repubblica Costituente. Umrisse einer konstituierenden Macht, in: Atzert (Hg.) (1998), 67-82

Negri, Antonio (1991): Marx Beyond Marx. Lessons on the Grundrisse, New York

Negri, Antonio (1999): Insurgencies. Constituent Power and the Modern State, Minneapolis / London

Negri, Antonio (2010): Diary of an Escape. Translated by Ed Emery, Cambridge / Malden

O'Connor, James (1974): Die Finanzkrise des Staates, Frankfurt a.M.

Offe, Claus (1975): Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, Frankfurt a.M.

Panzieri, Raniero (1972): Mehrwert und Planung, in: Pozzoli, Claudio (Hg.): Spätkapitalismus und Klassenkampf. Eine Auswahl aus den 'Quaderni Rossi', Frankfurt a.M., 56-86

Potere Operaio (1972): Was ist Arbeitermacht? Materialien zur Kaderbildung, Berlin

Poulantzas, Nicos (2002): Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, autoritärer Etatismus, Hamburg

Reitter, Karl (2011): Prozesse der Befreiung. Marx, Spinoza und die Bedingungen eines freien Gemeinwesens, Münster

*

Karl Reitter stellt Fragen an Thomas Seibert

Physik des Begehrens, Phänomenologie der Freiheit

1. Lieber Thomas, du arbeitest an einem "ungeschriebenen, aber immer wieder eingeforderten Buch".[1] Wenn ich dich richtig verstehe, willst Du im Anschluss an Antonio Negri einen neuen Materialismus entwerfen, in dem Marx, Spinoza und Heidegger zusammen gedacht werden. Du unterstellst offenbar dem bisherigen Materialismus ganz im Sinne der ersten Feuerbachthese einen strukturellen Mangel. Worin besteht der "Hauptmangel allen bisherigen Materialismus" und warum benötigen wir gerade Heidegger, um diesen zu überwinden?

Lass' mich zum Einstieg eine Geschichte erzählen, um deutlich zu machen, wie alt und zugleich aktuell dieses Projekt ist. In der ersten seiner Thesen über Feuerbach nimmt Marx eine entscheidende Verschiebung der Diskussion vor, die seine Generation umtreibt.[2] Ihm geht es nicht mehr um die Grenzziehung zwischen Idealismus und Materialismus, sondern um die zwischen dem "bisherigen" und einem neuen Materialismus. Dem bisherigen wirft er vor, trotz des Wechsels (grob gesagt) von den Ideen zur "Wirklichkeit" und vom Geist zum leiblich-gesellschaftlichen "Leben" einem Vorurteil zugunsten des "theoretischen Verhaltens" erlegen zu sein. Der eigenen Absicht zuwider habe sich Feuerbach, so sagt Marx, der Wirklichkeit und dem Leben "nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung" genähert: in einer vorgeblich objektiven Perspektive, die vorgeblich objektive "Wesenheiten" fassen will. Dabei hat er das "subjektive" Moment dieser Wirklichkeit übersprungen, das Marx allgemein "Praxis" und im radikalen Sinn die "revolutionäre", weil "praktisch-kritische Tätigkeit" nennt. Diese Verfehlung ist theoretisch, ethisch und politisch von entscheidender Bedeutung: Belegt sie doch, dass dem Materialismus die Kritik des auf die Objektform fixierten "abstrakten Denkens" gar nicht gelungen ist. Damit bleibt der "bisherige Materialismus" in das jahrtausende alte Herrschaftsverhältnis zwischen Geist und Leben eingeschlossen, dem die Trennung von "Kopf-" und "Handarbeit" entspricht.

Marx belässt es aber nicht bei der Benennung des Mangels, sondern gibt zugleich einen überraschenden Hinweis zu seiner Behebung. Er sagt nämlich, dass die übersprungene subjektive oder "tätige Seite" der Wirklichkeit wie der Erkenntnis "im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus (...) entwickelt" worden sei: unter Materialist_innen eigentlich ein unerhörter Satz! Natürlich habe der Idealismus - gemeint sind Kant, Fichte, Schelling und Hegel - die "tätige Seite" selbst auch nur "abstrakt" gefasst, als Vermögen eines idealen Subjekts, also doch wieder nur als Geist. Doch weil er sie wenigstens zum Thema gemacht hat, muss ein wirklicher Materialismus im Idealismus ansetzen und konkretisieren, was dort eben nur in abstrakter Weise "entwickelt" wurde. Dieser Rück- und Umweg erst führe zur Praxis und besonders zur revolutionären Praxis.

Schon in der letzten These aber überdreht Marx diese Strategie, indem er die "Interpretation" und die "Veränderung" der Welt vorschnell voneinander trennt, das eine einer vorgeblich praxisfernen Philosophie, das andere einer Praxis zuschlagend, die der Philosophie unbedürftig sei. Verfehlt wurde so das Versprechen, das sich durch die Thesen zieht: die Praxis theoretisch und praktisch ihren eigenen Begriff finden zu lassen. Dieser Überdrehung entsprang das zentrale Problem aller folgenden Marxismen, ihr Schwanken zwischen dem Anspruch nach objektiven Analysen objektiver und deshalb geschlossener Verhältnisse und einem Subjektivismus, der die objektiven Verhältnisse voluntaristisch sprengt und so in seiner Weise abstrakt wird.

Wer diesem Entweder-Oder entkommen wollte, sah sich immer wieder an die Feuerbachthesen - und an die verabschiedete Philosophie zurückverwiesen, zunächst nicht zufällig an Kant, Fichte, Schelling und Hegel: denken wir an Korsch und Lukács, im Austromarxismus an Max Adler, später an Adorno, Benjamin und Bloch. Für sie alle gilt, dass sie ihren Materialismus immer auch im Schritt zurück in den Idealismus und die weitere Geschichte der Philosophie entwickelt haben. Dazu gehörte dann, den notwendig atheistischen Charakter des Materialismus nicht aus blanker Verwerfung, sondern aus einer Übersetzung der Theologie zu entwickeln: das Wort "entwickeln" wörtlich genommen, als heraus-wickeln-aus.

Meine These ist, dass das Erscheinen von Heideggers Sein und Zeit (1927) hier den bis heute maßgeblichen Durchbruch markiert, obwohl das gar nicht oder zumindest nicht unmittelbar die Absicht des Autors war. Möglich war das, weil das Buch die in der ersten Feuerbachthese formulierte Kritik an einem "theoretischen Verhalten", das Wirklichkeit und Leben unter die "Form des Objekts oder der Anschauung" zwingt, auf das im Grundbegriff des "Sinns von Sein" aufgerufene Ganze aller Erfahrung ausweitete. Zugleich wird der Schritt zurück in den Idealismus unter die Forderung einer Durcharbeitung der Gesamtgeschichte des Denkens gestellt, die dann zum Medium einer Fundamentalkritik aller Geschichte erhoben wird.

Heidegger kommt philosophisch von Husserl und von den Neukantianern her, d.h. aus deren gerade erst gescheiterten Versuch, den Idealismus durch eine Phänomenologie abzulösen und fortzuschreiben, die (hegelisch gesprochen) Wissenschaft von der Erfahrung des wirklichen Lebens sein sollte. Genauer: er übernimmt die Phänomenologie als geweihter Nachfolger ihres Gründers und spricht aus, dass mit ihr noch gar nicht wirklich begonnen wurde: im Anspruch nicht anders als Marx, der gegen Feuerbach festhält, dass der Materialismus noch gar nicht vorliegt. Die dazu nötige Position jenseits von Objektivismus und Subjektivismus besetzt er als gerade erst vom Glauben abgefallener Theologe, der sich als erster der seither immer wieder neu angegangenen Aufgabe stellt, Paulus, Kierkegaard und Nietzsche zusammenzudenken.[3] Dazu muss auch er die "abstrakt" gebliebenen Entdeckungen Kants, Fichtes, Schellings und Hegels konkretisieren und wird so zum Fünften in deren Bund.

Lass mich festhalten, was das heißt: Es geht hier ja nicht bloß um die zufälligen Dispositionen eines Freiburger Philosophieprofessors. Es geht um den Zusammenfall einer ebenso komplizierten wie historisch zwingenden Problemkonstellation in ihrem noch heute radikalsten Lösungsversuch - und um das, was diesem Versuch fehlt. Dies ist nichts anderes als die marxistische Problematik, die Heidegger nie zureichend verstanden hat.

Es ist kein Zufall, dass Lukács, Adorno, Benjamin, Brecht und Marcuse die epochale Bedeutung von Sein und Zeit sofort registrieren: Lukács und Adorno in Polemiken, die weit unter ihrem und Heideggers Niveau bleiben, Benjamin und Brecht in dem leider nicht realisierten Projekt, sich mehrere Wochen in Klausur zurückzuziehen, um das Buch gemeinsam durchzuarbeiten und es Heidegger gleichsam aus der Hand zu nehmen. Marcuse setzt dann den Punkt aufs "i" und veröffentlicht schon 1928 die Programmschrift einer Marx und Heidegger zusammenführenden "Phänomenologie des Historischen Materialismus."[4]

Nach dem Zweiten Weltkrieg und trotz des Desasters der Heideggerschen Politik wird Marcuses Programm einerseits in Frankreich, andererseits - bezeichnenderweise! - in der marxistischen Dissidenz Osteuropas aufgegriffen, nicht zufällig vor allem in Jugoslawien, wo die "Praxisphilosophie" zum kollektiv organisierten Projekt wird, die Frankfurter Schule zu radikalisieren.[5] In Frankreich wird Sein und Zeit zuerst für Kojève und Bataille zum Ausgangspunkt eines radikalisierten Materialismus, der sich strategisch ebenso des Idealismus wie der Religion bedient. Die marxistische Heidegger-Lektüre wird dann zum letzten gemeinsamen Nenner der ansonsten verfeindeten Strömungen einerseits um Sartre, andererseits um Althusser, zwischen denen Merleau-Ponty, Lacan, Lefebvre, Castoriadis und Axelos ihre eigenen, ebenfalls durch Heidegger hindurchführenden Wege gehen. Im Mai 68 eröffnet die poststrukturalistische Generation eine dritte Front, in der Foucault, Deleuze, Derrida neue Marx-Nietzsche-und-Heidegger-Variationen ausarbeiten. Der Feminismus nimmt daran seinen ganz eigenen Anteil, nachzuverfolgen, zugleich und gegeneinander, bei de Beauvoir, Butler, Irigaray und Haraway. Und heute setzen Hardt/Negri, Nancy, Badiou und Zizek diese Auseinandersetzung fort, unter noch einmal veränderten historischen Bedingungen.

Eines aber bleibt sich gleich: Spinoza taucht in diesem Geflecht immer als derjenige auf, der die ganze Problemkonstellation - noch einmal: die materialistische Aneignung einer zunächst idealistisch "entwickelten" Entdeckung - historisch eröffnet hat, weil er als erster das Herrschaftsverhältnis von Geist und Leben infragestellt, ohne es einfach umzukehren. Das erlaubt es, sie philosophiegeschichtlich als "spinozistische" Konstellation zu bezeichnen.

Warum ich Deine Frage mit dieser Geschichte und so vielen Namen beantworte? Um endlich meinen eigenen Punkt machen zu können. Was in all' diesen Anläufen entweder fehlt oder nicht zu Ende gebracht wurde, ist der synthetisierende Akt, der Versuch, das alles nicht mehr nur in mehr oder minder brüchigen Kombinationen, sondern in einem einzigen Vokabular systematisch zu verweben. Keine Angst: natürlich glaube ich nicht, dass das "ein für alle Mal" zwischen zwei Buchdeckeln Platz hat! Doch bin ich weder der erste noch der einzige, für den das Ende der philosophischen Systeme die Forderung nach Systematisierung der Philosophie nicht entkräftet, sondern verschärft hat. 1990, direkt nach dem politischen Bruch, der heute auch in der Philosophie durchzuarbeiten ist, hat Jean-Luc Nancy diese Forderung in der methodischen Direktive gefasst: "Heideggers Sein und Zeit 'spinozistisch' zu lesen oder neu zu schreiben." Hardt/Negri haben das im Vorwort zu Common Wealth (2010) ausdrücklich aufgegriffen und im Blick auf ihren eigenen Weg festgehalten: "Wir hoffen, unsere Arbeit weist in diese Richtung."[6]

Negri verfolgt das übrigens schon seit den frühen 1980er Jahren, meist in kleinen, ausdrücklich philosophischen Texten, zuletzt in Kairòs, Alma Venus, Multitudo, das er zeitgleich mit Empire geschrieben hat. Dort werden die Armut, die Liebe, das Glück und das Ereignis einer Praxis zugeschrieben, die als solche des Daseins in Heideggers Sinn gefasst wird. Von dort konkretisiert Negri die anstehende Aufgabe: Der Materialismus beginnt mit Spinoza als "Physik des Begehrens", die Phänomenologie wird gebraucht, um dieser Physik und diesem Begehren die "Form der Freiheit" zu verleihen.[7]

2. Du meinst, der Begriff des conatus bei Spinoza verharre noch in der "Physik des Begehrens", sozusagen im Naturalismus. Nun, dieses Verständnis des conatus-Begriffes findet sich unter anderem bei Deleuze, der den conatus auf den langen 13. Lehrsatz im II. Teil der Ethik zurückführt. Der conatus erscheint in dieser Perspektive sozusagen nur als neue Formulierung des Beharrungsprinzips der Bewegung der Körper. Spinoza beruft sich bei der Herleitung des conatus aber keineswegs auf seine Körperlehre des II. Buches. Ich meine also, dass Spinoza keinesfalls auf Materialismus oder Naturalismus reduziert werden kann, da es keinen Vorrang des Körpers vor dem Geist, wie auch umgekehrt bei Spinoza gibt.

Ich halte es für einen Grundfehler nicht nur philosophischer Auseinandersetzungen, Mitstreiter_innen auf eine bestimmte Position zu reduzieren. Das ist auch der Grund, warum Polemiken fast immer unproduktiv bleiben. Ich versuche umgekehrt, Texte stets von ihrem stärksten Punkt her zu lesen. Dass Spinoza das Herrschaftsverhältnis zwischen Geist und Leben aufheben will, ohne es einfach umzukehren, ist ja der Grund, warum unsere heutige Problemkonstellation "spinozistisch" ist: ein Punkt, den schon Hegel, Marx und Nietzsche gemacht haben, zugleich der Punkt, warum die zeitgenössische Philosophie so viele Spinoza-Deutungen hervorgebracht hat. Dabei herrscht weitgehend Übereinstimmung, Geist und Leben gleichermaßen von dem Seinsbegehren aus zu denken, das Spinoza vom conatus her entfaltet: das "Streben, mit dem jedes Ding in seinem Sein zu beharren strebt" und das als solches, darauf kommt hier alles an, "weiter nichts als die wirkliche Wesenheit des Dinges selbst ist."[8]

Dem Seinsbegehren diesen Rang zuzusprechen - "wirkliche Wesenheit" alles Seienden und gleichermaßen des Geistes wie der Körper zu sein -, wirft für Spinoza wie für uns dann aber das Problem auf, wer wir als die Begehrenden dieses Begehrens sind: sind wir diesem Begehren ausgeliefert, oder können wir uns zu ihm in ein freies Verhältnis setzen? Kann gezeigt werden, dass dieses Verhältnis mehr als eines des Bewusstseins ist? Übereinstimmung besteht weiter darin, dass die Freiheit zum eigenen Begehren selbst wieder nur von einer Begehrensposition aus möglich ist: von einem Begehren her, das eben nicht mehr nur Beharrungs-, sondern wesentlich Freiheitsbegehren wäre. Du selbst bestehst deshalb darauf, Spinoza nur insoweit als Denker des Begehrens zu verstehen, als er Denker der Freiheit ist, und Du verweist dazu auf das letzte Kapitel seiner Ethik, das zwingend den Titel Von der Macht des Verstandes oder von der menschlichen Freiheit trägt.

Ich stimme Dir ausdrücklich zu, auch gegen Deleuze - wobei Deleuze seine Position später verändert hat, Leibniz und der letzten Wendung Foucaults folgend. Aber ich glaube, dass man nicht darum herumkommt, die Freiheit ausgehend von einer Abstandnahme zu sich und zum eigenen Begehren zu denken, also von einer Bewegung her, die Du gerade abweist. Oder genauer: Du weist Theorien der Freiheit zurück, die das freie Wesen von sich selbst trennen, indem sie es auf eine Spaltung in sich, eine letzte Nichtidentität beziehen. Du hältst an dieser Stelle ausdrücklich fest, dass der Tod - verstanden als die radikalste Trennung von sich selbst - deshalb mit Spinoza als etwas gedacht werden muss, das dem Leben eben nicht "innewohnt", sondern "stets einer von außen kommenden Zerstörung geschuldet" ist.[9] Ich denke, dass das stimmt und nicht stimmt, je nachdem, wie man den Tod fasst. Es stimmt, wenn wir vom physischen Ableben sprechen, das zweifellos Resultat einer Zerstörung ist und uns deshalb verpflichtet, uns diesem Tod zu widersetzen. Es stimmt nicht, wenn wir den Tod oder besser das Sterben als ein Verhältnis denken, das das Leben zu sich, also wir zu uns selbst einnehmen: eben als die radikalste Form der Abstandnahme von uns selbst, dem Leben und der Welt, mit der wir überhaupt erst ein freies Verhältnis zu uns, zum Leben, zur Welt - und zu unserem Begehren gewinnen. Diesen Punkt haben vier Denker zum zentralen Punkt gemacht: Hegel, Freud, Bataille und Heidegger. Für sie sind der als gelebtes Todesverhältnis und nicht bloß als physisches Ableben verstandene Tod und von ihm her der Todestrieb oder das Todesbegehren konstitutiv für die Freiheit. Nach berühmten Formulierungen Heideggers sind wir als die "Sterblichen" eben nicht einfach Wesen, die einer letzten Zerstörung preisgegeben sind, sondern Wesen, die in die "Freiheit zum Tode" gesetzt sind und deshalb "den Tod als Tod vermögen" - womit übrigens nicht oder nicht in erster Linie gemeint ist, das eigene Ableben oder das anderer willentlich herbeiführen zu können.[10] Deshalb haben Hegel, Freud, Bataille und Heidegger die Verbindung zur Religion nie gekappt, der sie die Einsicht entnehmen, dass wir in-der-Welt-doch-nicht-von-der-Welt sind: eine Einsicht, ohne die gar nicht verstanden ist, worum es in der Geist-und-Leben-Problematik im Letzten geht.[11] Deshalb darf Heideggers Endlichkeitsbegriff auch nicht mit dem postmodern-liberalen Endlichkeitsgequassel verwechselt werden, das immer auf eine Lehre des Sichabfindens und Sichbescheidens hinausläuft - politisch immer auf einen Verzicht auf revolutionäre Politik.

Weil Spinoza den Zusammenhang von Seins-, Todes- und Freiheitsbegehren nicht eigens vollzieht, bleibt sein Denken zumindest in einer wesentlichen Hinsicht doch "Physik des Begehrens", dem eine - das meine ich wortwörtlich! - zu Ende gebrachte "Phänomenologie der Freiheit" fehlt. Negri nimmt hier eine dritte Position ein. Er teilt Deine Abweisung eines Todesbegehrens, sieht aber andererseits die Notwendigkeit, die "Physik des Begehrens" eigens in eine "Phänomenologie der Freiheit" zu überführen. Das erreicht er, in dem er das Seinsbegehren auf seinen höchsten Ausdruck - die Liebe - zuspitzt und diese Liebe dann via Marx mit der Armut verbindet. So kann er zeigen, dass das Begehren in der von Spinoza freigelegten Aufstufung vom natürlichen conatus zur menschlichen cupiditas und zum heiligen amor eine zweite Möglichkeit radikalen Abstandnehmens von sich gewinnt: man muss mehr als nur sich und das eigene Beharren begehren, um wirklich lieben zu können.[12] Übrigens hat auch Heidegger diese Möglichkeit gesehen, und das unmittelbar nach einer hochdramatischen Beschreibung der seins- und freiheitseröffnenden Todesangst. Er nennt dort zunächst und als seinen zweiten Zugang zur Freiheit die Langeweile, und zwar eine Langeweile, die nicht diesem Vergnügen oder jener Arbeit, sondern der Welt im Ganzen gilt. Dann fährt er fort: "Eine andere Möglichkeit einer solchen Offenbarung birgt die Freude an der Gegenwart des Daseins - nicht der bloßen Person - eines geliebten Menschen."[13]

In einer historischen Kritik, die von der antiken virtu über die christliche Nächstenliebe (caritas) und die bürgerliche Askese bis zur kommunistischen Militanz reicht, haben Hardt/Negri dann gezeigt, wie die Liebe mit der Freiheit zusammenhängt, sich zugleich aber auch in die Unfreiheit verstrickt.[14] Das ist der Grund, warum sie den Begriff der Liebe in Bezug zum wesentlich über Marx gewonnenen Begriff der Armut setzen. Darunter verstehen sie nicht einfach einen objektiv zu registrierenden Mangelzustand in der Ausstattung mit Ressourcen der Reproduktion, und nicht einfach das empirische Vorkommen von Armen. Im kalten Herzen der Entfremdung situiert, ist Armut die Erfahrung der herrschaftlich-ausbeuterischen Trennung von der Praxis des Begehrens und von den Mitteln und Produkten dieser Praxis: der Subsumtion der lebendigen unter die tote Arbeit.

Mehr als ein bloßes Faktum objektiver Bedingtheit ist die Armut insoweit, als auch sie ein freies Verhältnis zu sich einschließt: zur Armut gehört, dass sie notwendig und deshalb immer schon um die Wiederaneignung des ihr geraubten Reichtums kämpft. Deshalb gibt die Armut der Geschichte ein "materialistisches telos" (Ziel) und stellt dem Denken der Geschichte die Aufgabe, dieses telos in einer "materialistischen Teleologie" zu konkretisieren. Dem entspricht, dass das im letzten Satz von Empire beschworene "Glück, Kommunist zu sein" kein privates, sondern ein öffentliches Glück ist. Mit diesem Schritt gehen Hardt/Negri über die poststrukturalistische Generation hinaus, deren Antihegelianismus jede Teleologie abweist und damit das Kind mit dem Bad ausschüttet.[15]

Mich führt das wieder vor die Notwendigkeit, "Heideggers Sein und Zeit 'spinozistisch' zu lesen oder neu zu schreiben". Wir haben eben Spinoza (Begehren und Liebe), Heidegger (Sein zum Tode) und Marx (Armut) zusammengebracht, und uns dabei auf Hegel, Freud, Bataille wie auf Deleuze, Leibniz, Foucault und Hardt/Negri bezogen, wir hätten noch andere Autor_innen nennen müssen, voran die Feminist_innen, die das Sein zum Tod in Spannung zu einem Sein zur Geburt setzen. Ich glaube, dass Sein und Zeit die Möglichkeit birgt, dies alles in einem einzigen Vokabular zusammenzuführen, das zugleich kein geschlossenes System wäre. Man kann, das will ich zeigen, die herrschaftliche Trennung von Geist und Leben in Heideggers Begriffen von Dasein und Existenz radikal auflösen und damit den säkularen Begriff eines zugleich "transzendentalen" und "empirischen", weil "praktischen" und zuletzt "revolutionären" Subjekts gewinnen: des Subjekts, das praktisch in-der-Welt-nicht-von-der-Welt ist. Man wird dann das Zusammengehören von Begehren und Freiheit in Heideggers Begriff der "Sorge um das Sein" als des lebendigen Seins zu Geburt und Tod finden. Man wird Liebe, Glück und Armut als "Grundbefindlichkeiten des Daseins" denken können: als Weisen des In-der-Welt-seins, die in sich ebenso "geistig" wie "leiblich-lebendig" und "gesellschaftlich" sind. Man wird endlich eine Ontologie der Welt und das "materialistische telos" ihrer permanenten Überschreitung, d.h. eine Geschichte formulieren können, die wieder "Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit" (Hegel) wäre: wenn auch nicht unaufhaltsam und unumkehrbar. Man wird dabei je die stärksten Punkte der idealistischen wie der materialistischen Philosophien ineinander übersetzen: die als solche "abstrakt" gebliebene idealistische Freiheitsspekulation und die materialistisch konkretisierten "Prozesse der Befreiung". Selbstverständlich schließt das immer wieder ein, um Benjamin zu zitieren, "den Heidegger zu zertrümmern."[16]

3. Um noch bei Spinoza zu bleiben: Dein Ansatz ist explizit ontologisch. Es geht dir, mit Heidegger, Negri und Badiou um eine Ontologie, die die Möglichkeit der Freiheit eröffnet. Dein Begriff des Ereignisses ist explizit ontologisch. Es gibt Ereignisse, weil die Verfasstheit des Seins sie ermöglicht. Aber ist Spinozas Philosophie wirklich eine Ontologie? Ist sein Gegenstand nicht das gegebene Universum? Sozusagen eine Kosmologie? Kann die Substanz, von der Spinoza ausgeht, mit dem Begriff des Seins, in dem das "ist" substanzialisiert wird (das ist ein wenig Adornische Kritik an der Ontologie), identifiziert werden?

Hier muss ich etwas Luft holen. Du führst ja selbst Adorno an und forderst damit, philosophisch zu klären, warum Heidegger in Deutschland als Philosoph der Rechten und in Frankreich als Philosoph der Linken gelesen wird. Ich sage philosophisch, weil unstrittig ist, dass Heidegger politisch, wenn auch nur für begrenzte Zeit und auf besondere Weise, Nazi war. Philosophisch läuft das auf die Frage hinaus, in welchem Sinn Heidegger Ontologe war. In Deutschland blieben Lukács' und Adornos Polemiken maßgebend, Heidegger sei es um eine Restauration der klassischen Ontologie gegangen. Nach deren Zersetzung sei ihm dazu nichts anderes geblieben als die nackte Substanzialisierung des Verbs "sein" bzw. "ist". Das ist, es tut mir leid, himmelschreiender Unsinn, und was ich besonders elend finde: Lukács wie Adorno müssen das gewusst haben.

Dabei hat Heidegger tatsächlich am Verb "sein" angesetzt: weil und sofern seine berühmt-berüchtigte "Seinsfrage" immer und überall nach dem fragt, was wir mit diesem Verb eigentlich meinen - man lese dazu doch wenigstens die Seite 1 von Sein und Zeit. Er macht das, weil seine "Fundamentalontologie" die Fundamente der klassischen Ontologie nicht neu verlegen, sondern abtragen, de(kon)struieren will, eben auf das hin, was wir eigentlich gemeint haben, als wir diese Fundamente mit den Namen Gott, Idee, Substanz, Materie, Geist belegt haben, d.h. mit dem Namen eines höchsten und allgemeinen Seienden als des Grundes allen Seins. Es ist dies, wie umstandslos einzusehen ist, ein Verfahren der Kritik: Du sagst dieses oder jenes, ich sage Dir, dass Du getäuscht wurdest bzw. Dich getäuscht hast, und ich sage Dir, was Du eigentlich gemeint hast.

Nirgendwo geht es bei Heidegger um ein endlich gefundenes "Sein an sich", sondern immer nur um ein "Sein für uns" - an einer der wichtigsten Stellen von Sein und Zeit heißt es deshalb definitorisch: "Soll für die Seinsfrage selbst die Durchsichtigkeit ihrer eigenen Geschichte gewonnen werden, dann bedarf es der Auflockerung der verhärteten Tradition und der Ablösung der durch sie gezeitigten Verdeckungen. Diese Aufgabe verstehen wir als die am Leitfaden der Seinsfrage sich vollziehende Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie auf die ursprünglichen Erfahrungen, in denen die ersten und fortan leitenden Bestimmungen des Seins gewonnen wurden."[17] Zum Mitschreiben: Es geht, wie in einer Phänomenologie als Wissenschaft von der Erfahrung des wirklichen Lebens nicht anders zu erwarten, um Erfahrungen, und zwar um solche, die verdeckt, verdrängt, verstellt werden - das ist die ebenfalls berühmt-berüchtigte "Seinsvergessenheit" und "Seinsverlassenheit".

Heidegger entfaltet diese "ursprünglichen Erfahrungen" auf zwei Ebenen. Auf der ersten und eigentlich phänomenologischen Ebene geht es wie schon gesagt um die Todesangst, ausgedeutet in Sein und Zeit (1927) und Was ist Metaphysik? (1929), dann um die Langweile, auf fast 200 von über 500 Seiten ergreifend ausgedeutet in der Vorlesung Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit - Einsamkeit (1929/30), und schließlich um die Liebe, angeführt in Was ist Metaphysik?, doch - bezeichnenderweise? - nicht ausgeführt. Man versteht unmittelbar, dass wir solche Erfahrungen schnell vergessen wollen, und dass wir den plötzlich erfahrenen Abgrund schnell durch etwas "Positives" verdecken: Gott, Idee, Substanz, Materie, Geist, in punkto Liebe durch Ehe, Familie, Nation und wieder Gott. Die Phänomenologie lehrt uns dann noch ein Zweites, Beunruhigenderes: das nicht nur wir diese Erfahrungen vergessen, sondern dass diese Erfahrungen sich selbst, auch ohne unser Zutun, vergessen machen. Dass wir nicht einmal die Herr_innen dieser Vergesslichkeit sind, fasst Heidegger im Begriff der "Seinsverlassenheit", in dem das Sein als "etwas" zu denken bleibt, das nur im Entzug, im Abwesen anwest.

Die zweite Ebene ist die historisch-kritische, die berühmt-berüchtigte "Seinsgeschichte". In ihr nimmt Heidegger, auch hier Hegel folgend und über ihn hinausgehend, die Philosophiegeschichte zum Medium einer Entschlüsselung der Realgeschichte: womit er nicht sagen will, dass die Realgeschichte von der Philosophie "gemacht" werde. Der erste Satz der Seinsgeschichte lautet: "Die Seinsgeschichte ist das Sein selbst und nur dieses. Weil jedoch das Sein zur Gründung seiner Wahrheit im Seienden das Menschenwesen in den Anspruch nimmt, bleibt der Mensch in die Geschichte des Seins einbezogen."[18] Auch hier geht es also um Erfahrungen: um In-Anspruch-nahmen des (verbal verstandenen) Menschenwesens durch das Sein. Deren letzten "Sinn" fasst Heidegger wieder und wiederholt in Hegels Satz: "Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe." Bei Heidegger verweist dieser Satz auf die berühmt-berüchtigte "ontisch-ontologische Differenz". Sie ist ontologisch, weil sie besagt, dass das Sein kein Seiendes ist, keine Substanz, kein Subjekt, kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun. Sie ist ontisch, weil es diese Differenz nicht "an sich", sondern nur "für uns" gibt: auch wenn wir diese Differenz nur "entwerfen", weil wir in sie "geworfen" sind. Deutet die Phänomenologie diese Erfahrung in Todesangst und Langeweile, so zeigt die Seinsgeschichte, dass und wie sich Todesangst und Langeweile im nihilistischen "Gestell der Technik" epochal politisiert haben und zur Welt geworden sind - um jetzt weit zu springen: zu dem, was Negri "Empire" nennt. Und was kommt jetzt? Das hast Du in Deiner Frage schon genannt: Das Ereignis, von dem Du insofern zu Recht sagst, dass es durch die "Verfasstheit des Seins ermöglicht" wird: durch die Erfahrung des Seins als des Nichts. Und was bringt uns das Ereignis? Heidegger sagt: die "Kehre" und meint damit die deutsche Übersetzung des spätlateinischen revolutio, Zurückwälzen, Zurückdrehen, entwickelt aus dem Verb revolvere, zurückrollen, zurückdrehen, französisch als révolution gefasst, Umdrehung, Umwälzung.

Das hat die französische Heidegger-Lektüre zum Ausgangspunkt genommen, darum ist seine Philosophie für sie eine Philosophie der Linken. Das war ihr zum Teil sicherlich deshalb möglich, weil ihr Heideggers politische Selbstdeutung der Jahre 1933/34 ferner lag als dies für Lukács und Adorno der Fall war. Worin übrigens schon eine Antwort auf die Frage liegt, wie diese Selbstdeutung möglich war. Das prägende Ereignis des 20. Jahrhunderts war die Oktoberrevolution, und die italienischen Faschist_innen und deutschen Nationalsozialist_innen haben dieses Ereignis absichtsvoll in ein Simulakrum, ein Trugbild verkehrt. Badiou, einer der wichtigsten Denker des Ereignisses nach Heidegger, nennt drei Weisen, das Ereignis zu verfehlen und derart dem "Bösen" zu verfallen: den Verrat (es gab gar kein Ereignis: das Böse vieler 68er), die Hybris (die Erzwingung des Ereignisses durch Gewalt: das Böse Stalins) und eben das Simulakrum (die Verwechslung des Ereignisses mit seinem Trugbild: das Böse Heideggers).[19] Das ist noch nicht alles, trifft aber einiges.

Ich will Deine Frage nach Spinoza und der Ontologie nicht vergessen. Wenn Spinoza, wie Du sagst, nicht Ontologe, sondern Kosmologe gewesen ist, der das gegebene Universum denken wollte, würde Heidegger zurückfragen: Was heißt "Gegebensein" des Universums? Wann geschieht das, in welcher Grundbefindlichkeit erfahren wir das Universum einerseits als ein solches, d.h. im Ganzen und andererseits als uns gegeben? Wie muss das Universum, wie müssen wir sein, damit das möglich wird? Über Spinozas und Heideggers Ontologie zu reden, heißt dann, die Liebe, die Todesangst und die Freiheit auf unsere Situation zu konkretisieren.

4. Meine letzte Frage verknüpft den Begriff der Freiheit mit deiner These, eine bloß sozialwissenschaftliche Herangehensweise könne nie und nimmer den Begriff des Kommunismus rehabilitieren und den Begriff der Freiheit begründen. Dass bloße Empirie ihre Grenzen hat und die Daten nicht zu uns sprechen, können wir wohl außer Streit stellen. Die entscheidende Frage ist für mich folgende: Konstruiert oder konstituiert das Denken seinen Gegenstand, oder reflektiert und analysiert das Denken den ihm vorgegebenen Gegenstand? Althusser versuchte offenbar ersteren Weg zu gehen, Marx nach meiner Auffassung den zweiten. Der hat im Kapital das Kapitalverhältnis nicht begrifflich, logisch oder dialektisch konstruiert, sondern soziale Gegebenheiten als historisch entstandene analysiert. Um es also ganz platt auszudrücken: Philosophie darf sich nicht neben die gegebene Wirklichkeit stellen, sondern muss diese sachhaltig denkend erfassen. Im ersten Falle verliert das Denken letztlich den Realbezug. Auch bei Negri, gerade in seinen späteren Schriften, sehe ich die Gefahr, dass seine Begriffe und Thesen sich nicht mehr mit unseren Erfahrungen vermitteln lassen. Wie entkommt dein Buchprojekt dieser Gefahr, so du diese überhaupt als solche akzeptierst?

Natürlich akzeptiere ich diese Gefahr: schließlich geht es mir um eine Wissenschaft der Erfahrungen wirklichen Lebens, und ich habe ja gerade ausgeführt, dass wir diese Erfahrung vergessen und dass sich uns diese Erfahrung, was noch gefährlicher ist, entzieht. Das aktuell erdrückendste Beispiel solcher Seins-, also Erfahrungsverlassenheit ist der weltweit herrschende Glaube an das Ende der Geschichte, der zwar täglich löchriger wird, doch noch lange nicht gebrochen ist. Der Neoliberalismus ist nicht bloß eine politökonomische Ideologie, sondern die ethisch-alltägliche und politisch-institutionelle Artikulation der aktuellen Seinsverlassenheit. Als solche untergräbt er unser Begehren, zwingt es, nur noch Begehren der bloßen Selbsterhaltung zu sein und allein das zu begehren, was die gegebene Welt ihm bietet - fressen, ficken, fernsehen, und ums Verrecken einen Arbeitsplatz. Das meine ich, bittschön, nicht als moralischen Vorwurf, sondern einerseits phänomenologisch und andererseits wortwörtlich: Ohne Arbeitsplatz geht's für Millionen unmittelbar aufs Verrecken zu.

Deshalb ist kommunistische Politik heute Politik zur Befreiung des Begehrens und Politik, in der das Begehren sich befreit. Dazu muss es seine neoliberale Reduktion durcharbeiten, und die liegt darin, das jetzt Gegebene für das Ganze des Gegebenen zu halten und sich ums Verrecken an dies Gegebene zu halten, sich ums Verrecken in diesem Gegebenen zu erhalten. Dieses Gegebene ist nicht vom Denken konstituiert, so wenig wie das Denken vom Gegebenen konstituiert wird. Die Frage nach der Konstitution kommt immer zu spät, weil es kein Denken ohne sein Gegebenes und kein Gegebenes ohne sein Denken gibt: das war Husserls Punkt, den Heidegger radikalisiert, indem er zeigt, dass sich uns das, was dem Denken und seinem Gegebenen vorausging, immer schon entzogen hat.

Will Wissenschaft da intervenieren, muss sie sich gegen das neoliberale Gerede Gehör verschaffen. Negri hat erfolgreich gezeigt, wie das gelingen kann, indem er den aus dem öffentlichen Diskurs verbannten Kommunismus mit der Armut, dem Glück, der Liebe und dem Ereignis zusammengebracht hat und damit gehört worden ist. Badiou und Zizek sind gehört worden, indem sie den Kommunismus mit der Treue und dem Ereignis bzw. mit dem Todesbegehren und dem Ereignis zusammengebracht haben. Das meine ich nicht diskursputschistisch: Sie haben, wovon wir hier nicht gesprochen haben, den Kommunismus als "Wahrheit der Existenz" - einer der wichtigsten Begriffe Heideggers - verständlich gemacht und deshalb wissenschaftliche, ethische und politische Wahrheitseffekte erzielt. Die Sozialwissenschaft kommt später, was ich nicht im zeitlichen Sinn des Wortes meine. Sie wird gebraucht, um uns im praktischen Wahrheitszeugnis zu helfen, uns zum Beispiel empirischen Anhalt zu geben, wo sich gerade welche Multituden bilden und wie diese Multituden ihr Begehren besser politisieren, d.h. organisieren können, als sie dies bis jetzt tun.[20] Da hilft uns Phänomenologie nur bedingt. Heidegger zum Beispiel, um damit zu enden, hätte ums Verrecken Sozialwissenschaft gebraucht. Stärker kann ich deren Notwendigkeit kaum unterstreichen.



Anmerkungen

[1] Im Vorgriff vgl. Thomas Seibert, Krise und Ereignis. 27 Thesen zum Kommunismus, Hamburg 2009.

[2] Karl Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3, Ostberlin 1969: 5ff. Zur Einführung vgl.
http://dhcm.inkrit.org/wp-content/data/hkwm-feuerbach-thesen.pdf.

[3] Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens. Vorlesung 1919. Frankfurt 1995. Für einen Überblick über die jüngeren Paulus-Deutungen Agambens, Badious, Santners und Zizeks vgl. Dominik Finkelde, Politische Eschatologie nach Paulus, Wien 2007. Wer hier Negri vermisst, sei auf seine Deutung des Buches Hiob verwiesen: The Labor of Job, Duke 2009.

[4] Herbert Marcuse, Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus. In: Herbert Marcuse/Alfred Schmidt: Existentialistische Marx-Interpretation, Frankfurt 1973: 41ff.

[5] Sehr pointiert in der Unterscheidung: Gajo Petrovi, Die Bedeutung der Frankfurter Schule heute,
http://www.praxisphilosophie.de/petrovor.pdf.

[6] Michael Hardt/Antonio Negri, Common Wealth, Frankfurt 2010: 15f. Vgl. auch: Jean-Luc Nancy, La decision d'existence. In: Une pensée finie, Paris 1990: 143.

[7] Antonio Negri, Kairos, Alma Venus, Multitudo. In: Time for Revolution, New York/London, 2003: 186f und 253.

[8] Baruch de Spinoza, Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, Hamburg 1976: 118.

[9] Karl Reitter, Prozesse der Befreiung. Marx, Spinoza und die Bedingungen eines freien Gemeinwesens, Münster 2011: 296.

[10] Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1986: 266 bzw. Bauen Wohnen Denken, in: Vorträge und Aufsätze, Tübingen 2009: 145.

[11] Vgl. Offenbarung des Johannes, 17:14.

[12] Vgl. die Verweise im Register der Ethik: conatus, Streben, 332, cupiditas, Begierde, 317 und amor, Liebe, 327. Vgl. in Hardt/Negri 2010: 192-205 u. pass.

[13] Martin Heidegger, Was ist Metaphysik? In: Wegmarken, Frankfurt 1967: 110.

[14] Negri 2003a: 217ff; vgl. auch Hardt/Negri 2010: 194ff.

[15] Michael Hardt/Antonio Negri, Empire, Frankfurt 2000: 420. Da der Begriff der "materialistischen Teleologie" vielleicht der eigentliche Leitbegriff ihres Denkens ist, hier folgende Belegstellen: Hardt/Negri 2000: 61, 65, 76-79, 98, 139, 214, 375f, 403, 412 sowie Hardt/Negri 2010: 73, 385.

[16] Walter Benjamin, Briefe. Hg. von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, Bd. 2, Frankfurt 1966: 514.

[17] Heidegger 1986: 22.

[18] Martin Heidegger, Nietzsche, Pfullingen 1961: Bd. 2, 489.

[19] Alain Badiou, Ethik, Wien 2003: 79-119.

[20] Michael Jäger/Thomas Seibert, alle zusammen. jede für sich. die demokratie der plätze, Hamburg 2012.

*

Jakob Graf

Führung, Masse, wir und die?

Edukationismus - ein Problem linker Politik[1]

Zur Geschichte der Linken gehört auch die schreckliche Entwicklung der russischen Revolution zur stalinistischen Herrschaft und die Stalinisierung der kommunistischen Parteien in vielen anderen Ländern. Theorie wurde zum Dogma, politische Bildung eine Erziehung von oben und eigenständiges Denken bestraft. Das Scheitern der Linken, das in dieser Entwicklung zum Ausdruck kommt, hat seine Vorgeschichte auch innerhalb dieser Linken und ist nicht einfach nur durch die ökonomische Rückständigkeit Russlands und die Angriffe auf die Revolution von außen zu erklären. Das heißt nicht, dass die Arbeiterbewegung aufgrund ihrer Tradition zwingend den Stalinismus hervorbringen musste, jedoch, dass letzterer durch ein bestimmtes Verständnis dessen, wie die sozialdemokratische Bewegung geführt werden sollte, schon begünstigt wurde.

Lenin, Kautsky und die Avantgarde

Exemplarisch können dafür zunächst einige Gedanken Lenins stehen. Die Bedingungen der Konspiration und ständiger Verfolgung, unter denen der Aufbau einer revolutionären Partei im zaristischen Russland stattfand, waren sicherlich ein wichtiges Moment, das zu Lenins Vision einer straff zentralisierten Partei und einer strengen Disziplin aller "[...] Räder und Rädchen der Parteimaschine" (Lenin 1902 a: 241) führte. Wie er selbst in seiner Schrift Was tun? ausführt, ist die Vorstellung einer demokratischen Partei unter den Bedingungen der Geheimorganisation weltfremde Utopie (vgl. Lenin 1902 b: 495). Auch wenn er seine Schrift im Laufe seines Lebens relativiert, bleibt der stark hierarchische und autoritäre Anspruch an eine Organisation auch beim späten Lenin erhalten (vgl. Wallat 2012: 17 - 43)[2]. Von Kautsky übernimmt er dabei die damals weit verbreitete Ansicht, dass dem Proletariat das revolutionäre politische Denken von außen angetragen werden müsse (vgl. Lenin 1902 b: 394,f.). Nach Kautsky kann sozialistisches Bewusstsein nur durch wissenschaftliche Einsicht entstehen, der Träger dieser Wissenschaft sei nun aber die 'bürgerliche Intelligenz' (vgl. Kautsky[3]). Sozialistisches Denken kommt dem Proletariat also durch einen Teil dieser 'bürgerlichen Intelligenz' von außen zu. Im Unterschied zu Kautsky versteht sich Lenin wohl kaum als Teil der bürgerlichen Intelligenz. Kautsky macht damit jedoch die Problematik einer abgesonderten Avantgarde aus Intellektuellen wie deren soziale Herkunft deutlich. Lenin betont zwar die Notwendigkeit eines engen Verhältnisses zwischen ArbeiterInnen und Intellektuellen (vgl. Lenin 1902: 229), gleichzeitig aber auch eine eindimensionale Arbeitsteilung zwischen Führenden und Geführten, denn die "[...] Bewegung leiten muß eine möglichst kleine Anzahl möglichst gleichartiger Gruppen erfahrener und erprobter Berufsrevolutionäre" (ebenda: 240). Sowohl Kautsky als auch Lenin denken das Verhältnis von Führung und Masse im Sinne einer Avantgarde, die die ArbeiterInnen intellektuell formt. Politische Praxis und Bildung wird hier von einem isolierten Zentrum aus gedacht, das die Menschen von außen zu einem politischen Subjekt macht[4]. Die einseitige politisch-pädagogische Beziehung ist, was edukationistische politische Praxis - wie unten näher beschrieben - ausmacht.

Edukationismus und Herrschaft

Konrad Birkmann und Michael Winkler beschreiben Edukationismus im Anschluss an Haug als eine 'permanente Aufklärung von oben' (vgl. HKWM 1997)[5]. Politik wird pädagogisch gedacht, jedoch nicht als Kooperation, sondern als eine einseitige erzieherische Wirkung desjenigen, der sich von der Masse absondernd als Lehrender begreift, auf seine SchülerInnen. Auch die häufige Betonung, dass die Befreiung der Arbeitenden nur das Werk der Arbeitenden selbst sein kann, bedeutete oftmals keine Verabschiedung vom Edukationismus, insofern dahinter die Auffassung stand, dass die Arbeitenden erst durch eine Avantgarde zum politischen Subjekt herangezogen werden. Die Rede vom objektiven Klasseninteresse, wie sie im traditionellen Marxismus üblich war bzw. manchmal auch noch ist, drückt eine solche Sichtweise aus, in der die Avantgarde schon den objektiv richtigen Weg des zu konstituierenden politischen Subjektes vorgezeichnet hat. Implizit wird das politische Subjekt in diesem Denken "[...] auf eine Elite verschoben und [...] deren Herrschaft verfestigt, die nicht mehr politisch zur Disposition steht" (ebenda). Edukationismus ergibt sich folglich aus der eindimensionalen politisch-pädagogisch Praxis, in der eine Gruppe auf eine andere wirkt und erstere das eigentliche Subjekt der gesellschaftlichen Veränderung darstellt. Etabliert sich diese edukationistische Beziehung als gesamtgesellschaftliche Struktur - ähnlich Platons Philosophenstaat - bildet sie ein wesentliches Element von Herrschaft. Die Avantgarde richtet nun die Gesellschaft im Sinne des objektiven Interesses ihrer Mitglieder ein. Der Edukationismus Lenin'scher Prägung ist in dieser Hinsicht auch die Verbindung der bolschewistischen revolutionären Praxis mit der sich - sicherlich auch aus vielen weiteren Gründen - später durchsetzenden Stalinisierung der ganzen Gesellschaft.

Auch Marx setzte sich mit der Problematik des Edukationismus auseinander. In seiner Kritik des Gothaer Programms heißt es gegenüber dem 'Lassalleschen Untertanenglauben': "Ganz verwerflich ist eine 'Volkserziehung durch den Staat'. [...] Im preußisch-deutschen Reich nun gar [...] bedarf umgekehrt der Staat einer sehr rauhen Erziehung durch das Volk" (Marx 1875: 30,f.). In seinen als Thesen über Feuerbach bekannten Notizen kritisiert er, dass die Feuerbach'sche Lehre von der Erziehung "[...] die Gesellschaft in zwei Teile - von denen der eine über ihr erhaben ist - [...]" teilt (Marx 1845: 5, f.). Dagegen betont Marx, dass in der 'revolutionären Praxis' die Veränderung der Umstände mit der Selbstveränderung zusammenfallen müsse (vgl. ebenda). Gleichzeitig sind in einer solchen 'revolutionären Praxis' ganz unterschiedliche Akteure tätig, die ganz verschiedene Rollen einnehmen.

Exkurs: Edukationismus in der heutigen Linken

Innerhalb der heutigen Linken finden sich unterschiedliche Formen des Edukationismus. Dies liegt nicht zuletzt auch an der Art und Weise, wie die bürgerliche Gesellschaft das Politische aus dem Alltag der Menschen ausschließt und es in parlamentarische, repräsentative und juristische Formen packt. Hierin liegt eine wesentliche Problematik von Parteien und Gewerkschaftsapparaten, insofern sie drohen, aus Politik Repräsentation und individualisierte Wahl und aus Arbeitskämpfen Klüngelei zu machen (vgl. Kalmring 2012: 197-202). So entsteht in großen Organisationen notwendigerweise ein bürokratischer Apparat, der hinsichtlich der Gewerkschaften dazu geführt hat, dass Arbeitskämpfe in der Regel nur unter strenger Vorgabe der Gewerkschaftsleitung ablaufen. Masse wird auch hier abgetrennt von einer im Apparat sitzenden Führungsschicht, die letzten Endes die Zügel stets in der Hand behalten will. Wie Luxemburg schon zu ihrer Zeit schrieb, werden die Menschen so "[...] zur urteilsunfähigen Masse degradiert, der hauptsächlich die Tugend der 'Disziplin', d. h. des passiven Gehorsams, zur Pflicht gemacht wird" (Luxemburg 1906: 165). Insofern kann auch hier von einem Edukationismus von oben gesprochen werden.

Neben einigen abgehobenen Theoriezirkeln oder sich als trotzkistisch oder leninistisch verstehenden Kadergruppen, deren edukationistische Praxis relativ offensichtlich ist[6], stehen Obigem Teile der Linken entgegen, die im Sinne der Antiautoritären um 1968 oder den in den 80er Jahren entstehenden Autonomen eine andere Tendenz einschlagen. Gewerkschaften und Parteien werden in linksradikaler Manier oftmals rein als angepasste und systemintegrative Organisationen gesehen. Im Anschluss daran wird versucht, eine strikt außerinstitutionelle Politik zu machen. Als kennzeichnend für ein solches Denken soll folgendes Zitat von Herbert Marcuse stehen:

"So drohen in einer repressiven Gesellschaft selbst fortschrittliche Bewegungen in dem Maße in ihr Gegenteil umzuschlagen, wie sie die Spielregeln hinnehmen. Um einen höchst kontroversen Fall anzuführen: die Ausübung politischer Rechte (wie das der Wahl, das Schreiben von Briefen an die Presse, an Senatoren usw., Protestdemonstrationen, die von vornherein auf Gegengewalt verzichten) in einer Gesellschaft totaler Verwaltung dient dazu, diese Verwaltung zu stärken, indem sie das Vorhandensein demokratischer Freiheiten bezeugt, die in Wirklichkeit jedoch längst ihren Inhalt geändert und ihre Wirksamkeit verloren haben." (Marcuse 1965: 95)

Marcuse wendet diesen Befund einige Zeilen weiter, indem er sagt: "Und doch [...] bleiben das Vorhandensein und die Ausübung dieser Freiheiten eine Vorbedingung für das Wiederherstellen ihrer ursprünglichen oppositionellen Funktion [...]" (ebd.: 95f.). Insofern unterscheidet sich Marcuse sicherlich von Teilen der Linken, die - im Sinne einer spezifischen Auffassung linksradikaler Politik - diese Wendung nicht mitgehen. Für sie gibt es kein zurück zu einem Kampf innerhalb dieser 'Freiheiten' und Spielregeln. Daraus folgt dann entweder eine Szene- und Nischenpolitik, die sich vom Anspruch, die Gesellschaft zu verändern, gänzlich verabschiedet hat, oder aber - wenn dies nicht der Fall ist - Versuche der Intervention von außen.[7] Letztere können vielfältiger Natur sein. Sie können in Anti-AKW-Protesten bestehen, Antifa-Aktionen oder dem Versuch eines Aushöhlen des Systems durch kulturelle Subversion (vgl. FelS 2011: 7).[8] Eine derartige Position schottet sich ab gegenüber den Menschen und deren Alltagskämpfen um verbesserte Lebensumstände, weil sie deren Spielregeln nicht reproduzieren will. Andererseits versucht eine solche linksradikale Praxis, diese Spielregeln - die Verwaltung, staatliche Politik, dominante Kultur etc. - aus ihrer Szene heraus durch die angesprochenen Interventionen von außen zu verändern. Damit gibt sie die inneren Widersprüche und Auseinandersetzungen innerhalb der verschiedenen Bereiche der Gesellschaft auf und betreibt ihre Politik in einem einseitigen pädagogischen Verhältnis, indem sie statt breiten gesellschaftlichen Akteuren isolierte 'revolutionäre Bewusstseinsgruppen' zum politischen Subjekt erklärt (vgl. Kalmring 2012: 204, f.). Damit will ich nicht linksradikale Politik als ganze als edukationisitisch verurteilen. Statt dessen möchte ich zeigen, dass auch antiinstitutionelle Politik - trotz ihres antiautoritären Anspruchs - zu einem eindimensionalen politisch-pädagogischen Verhältnis einer isolierten Gruppe in Bezug auf die 'repressive Gesellschaft' führen kann. Insofern kann man diese Art der Politik als einen Edukationismus von außen bezeichnen. Mit diesem Beispiel einer spezifischen linksradikalen Politik sollte gezeigt werden, dass Edukationismus nicht notwendigerweise ein institutionalisiertes autoritäres Verhältnis von oben bedeuten muss. Vielmehr kann er sich gerade in Abwesenheit von Institutionalisierung aus der Gestalt isolierter politischer Organisierung bei gleichzeitigem Anspruch, immer wieder in die Gesellschaft zu intervenieren, ergeben. Am Ende steht die Frage, wie eine Linke trotz dieser Gefahren noch politische Aktivität entfalten kann, denn Politik bedeutet immer ein pädagogisches Verhältnis.

Rosa Luxemburg und die politische Tat

In ihrem historischen Kontext stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Führung und Basis für Luxemburg als die Frage nach der Art und Weise der Arbeit der sozialdemokratischen Partei in der breiten lohnabhängigen Bevölkerung. Auch wenn Luxemburg oft von Agitation und Aufklärung als Aufgabe der Sozialdemokratie spricht, bildet sich für sie politisches Bewusstsein doch vorwiegend in der politischen Praxis heraus (vgl. Luxemburg 1906: 112, f.). Gegen Ende ihres Lebens betont sie, entgegen dem in der Sozialdemokratie zunehmend verbreiteten bürokratischen Denken, dass die Massen geschult werden, "[...] indem sie zur Tat greifen" (Luxemburg 1918/19: 512). Damit will sie nicht sagen, dass Theoriearbeit und Schulung unnötig wären, doch dass diese im Zusammenhang mit der eigenständigen Initiative der Massen stehen müssen. Sie wehrt sich gegen die "[...] Kautskysche Theorie des starren Gegensatzes zwischen der organisierten Vorhut und der übrigen Masse des Proletariats [...]" (Luxemburg 1912/13: 309). Auch betont sie die kollektiven Lernprozesse, die das Proletariat nur in eigenständiger politischer Aktivität erlangen kann und durch die die Arbeiterklasse aus einer ökonomischen Kategorie erst zum politischen Subjekt wird (vgl. Luxemburg 1904/05: 486). Daher muss sich - für Luxemburg - die Einheitlichkeit und der Zentralismus der sozialdemokratischen Bewegung auch von unten her entwickeln. Letzterer kann insofern auch nichts anderes als die "[...] Zusammenfassung des Willens der aufgeklärten und kämpfenden Vorhut der Arbeiterschaft ihren einzelnen Gruppen und Individuen gegenüber sein, es ist dies sozusagen ein 'Selbstzentralismus' der führenden Schicht des Proletariats [...]" (vgl. Luxemburg 1903/04: 429). Das bedeutet einerseits, dass "[...] die sozialdemokratische Zentralisation nicht auf blindem Gehorsam, nicht auf der mechanischen Unterordnung der Parteikämpfer unter ihre Zentralgewalt basieren kann und daß andererseits zwischen dem bereits in feste Parteikader organisierten Kern des klassenbewußten Proletariats und der vom Klassenkampf bereits ergriffenen, im Prozeß der Klassenaufklärung befindlichen umliegenden Schicht nie eine absolute Scheidewand aufgerichtet werden kann" (ebenda). Nach Luxemburg darf die sozialdemokratische Bewegung daher auch nie als eine Bewegung einer Minderheit, sondern muss immer als Bewegung der Lohnabhängigen selbst gesehen werden. Die Führung entwächst im Prozess der politischen Aktivität der Basis und besteht aus einem Teil der ArbeiterInnen selbst. Daher besteht das Wesen der sozialdemokratischen Bewegung auch darin, dass "die proletarische Masse keine 'Führer' im bürgerlichen Sinne braucht, daß sie sich selbst Führer ist" (Luxemburg 1911: 42). Die freie Initiative der Massen muss daher von der Sozialdemokratie unterstützt und befördert und darf niemals gehemmt oder gemaßregelt werden. Insofern sich Luxemburg für eine Politik einsetzt, in der die Führung nicht isoliert existiert und die Massen lenkt, sondern die Sozialdemokratie aus der freien Initiative der Massen stetig entstehen muss, von dieser nicht getrennt sein darf und sich somit in einem ständigen organischen Verhältnis mit ihrem Umfeld befindet, entwirft sie einen nicht-edukationistische Politikansatz.

Die von Luxemburg so betonte Initiative der Massen mag heute anachronistisch anmuten. Sie bleibt jedoch Voraussetzung für ihre Vorstellung der sozialdemokratischen Politik. Bedingungen, unter denen breite Teile der Bevölkerung als selbstbewusstes politisches Subjekt auf die Bühne der Politik treten und dem Parlament die Definitionsmacht über die enge Form 'des Politischen' und 'des Möglichen' nehmen, stehen - trotz Protesten gegen die neoliberale Sparpolitik - in den meisten europäischen Ländern heute nicht auf der Tagesordnung. Die heutige Situation entbehrt also der Möglichkeit für die Linke, sich - nach dem Vorbild Luxemburgs - aus der eigenständigen Initiative der Massen heraus zu entwickeln. Zu schnell wird die Mehrheit der Bevölkerung als völlig unaufgeschlossen gegenüber emanzipatorischer Politik gedacht, als politisches Subjekt überhaupt verworfen und schließlich wieder zu einer aufklärerischen Manier der Rede über die verblendeten Massen zurückgegangen. Eine Trennung in die systemtragenden Massen einerseits und systemkritische linke Grüppchen andererseits wäre dann die Folge. Im Widerspruch zwischen "[...] Rückfall in die Sekte und dem Umfall in die bürgerliche Reformbewegung [...]" (Luxemburg 1903/04: 442) hätte man sich zugunsten der Sekte entschieden. Dagegen möchte ich im Folgenden mit Antonio Gramsci versuchen, die Menschen in ihrem Alltag, in der Arbeit etc. als politische Akteure, als Intellektuelle und Philosophen zu begreifen.

Antonio Gramsci: Philosophie und Praxis

Für Gramsci ist der Mensch immer "[...] Konformist irgendeines Konformismus, man ist immer Masse-Mensch oder Kollektivmensch" (Gramsci: H11, §12: 1376)[9]. Besser gesagt, wir sind stets KonformistInnen einer Vielzahl von Konformismen und TeilnehmerInnen vieler Kollektive. Philosophien und Ideologien verschiedenster Art durchdringen unser Bewusstsein. Insofern betont Gramsci auch, dass alle Menschen PhilosophInnen sind (vgl. ebenda: 1375). Das Denken der meisten Menschen ist aufgrund gesellschaftlicher Widersprüche in irgendeiner Hinsicht oppositionell. Gleichzeitig bleibt aber auch oppositionelles Denken in sich widersprüchlich. Es kann alten Mythen und wirren Erklärungsmustern folgen. Ziel politischer Akteure muss immer die Arbeit an diesen Widersprüchen im Alltagsverstand sein. Dabei wird versucht, diesen in eine bestimmte Richtung kohärent zu machen, eine bestimmte Philosophie zu vergesellschaften (vgl. ebenda: 1376, f.). Das bedeutet nicht, die Menschen von außen zu belehren, sondern daran teilzuhaben, dass die Menschen ihre eigene Stellung in der Gesellschaft interpretieren, dass sie beginnen, "[...] die eigene Weltauffassung bewußt und kritisch auszuarbeiten und folglich, im Zusammenhang mit dieser Anstrengung des eigenen Gehirns, die eigene Tätigkeitssphäre zu wählen, an der Hervorbringung der Weltgeschichte aktiv teilzunehmen, Führer seiner selbst zu sein [...]" (ebenda: 1375). Das selbständige Denken findet jedoch nie isoliert statt, sondern stets im Kontext. In diesem Kontext zu arbeiten, ist folglich Aufgabe der Linken. Gramsci macht so den Einzelnen zum bewussten Subjekt einer neuen Philosophie. Er macht die Menschen, die in einer edukationistischen Manier als die zu Belehrenden behandelt werden, zu AutorInnen ihrer Weltanschauung, ohne dabei den wichtigen Einfluss des Denkens anderer zu vernachlässigen. Insofern kann er sagen: "Alle Menschen sind Intellektuelle" (H12, §1: 1500). Gleichzeitig darf die Vergesellschaftung einer Philosophie keine eindimensionale Überzeugungsarbeit von einer Weltanschauung sein, vielmehr ist hier von einer politischen Kultur die Rede, in der "[...] jeder Lehrer immer auch Schüler und jeder Schüler Lehrer ist" (H10 II, §44: 1335).

Das bedeutet jedoch weder, dass Politik nur eine Frage der Überzeugung ist, noch, dass es in der Politik keine Arbeitsteilung gibt. Es sind zwar für Gramsci einerseits alle Menschen Intellektuelle, aber nicht alle Menschen nehmen die Funktion von Intellektuellen ein (vgl. ebenda). Diese haben Menschen dann inne, wenn sie organisierend wirken, die Verbreitung einer Weltanschauung befördern, 'dauerhaft Überzeugende' sind (vgl. H12, §3: 1531, f.). Diese Intellektuellen in ihren verschiedensten Abstufungen müssen für Gramsci stets organisch mit der gesellschaftlichen Klasse verbunden sein (vgl. H12, §1: 1497, 1502). Eine Abtrennung einer intellektuellen Elite von der Basis wäre das Ende einer gesellschaftlichen Bewegung. Diese Einheit bildet eine Kultur, die, wie gesagt, keine einseitig erzieherische, sondern eine wechselseitige ist. Diese neue Kultur ist mitnichten eine allein geistige, sondern beinhaltet auch ein 'neues moralisches Leben', neuen Sinn im Leben, eine 'neue kulturelle Welt' in 'menschlicher Leidenschaft und Wärme' (vgl. H23, §6: 2111). Dies darf aber nicht zu einem oberflächlichen äußerlichen Kult und einer Ausgrenzung anderer Lebensstile - als zum Beispiel bürgerlich - verkommen, was eine Bewegung isolieren würde und autoritär werden ließe. Vielmehr darf eine neue Kultur nicht von außen entstehen, "[...] sondern von innen, weil sich der ganze Mensch ändert, insofern sich seine Gefühle, seine Auffassungen und die Verhältnisse ändern, deren notwendiger Ausdruck der Mensch ist" (H21, §1: 2037). So bildet eine politische Bewegung eine 'kulturelle Front' (H10 I, §7: 1239) und in diesen alternativen kulturellen Räumen eine Einheit von Philosophie, Politik und Leben. Diese kulturelle Front wird nicht an die Menschen herangetragen, sondern entwickelt sich aus den vielfältigen politischen Auseinandersetzungen.

Bedingungen für die Auflösung des Widerspruchs zwischen Politik und Pädagogik

Dem Edukationismus zu entgehen, Politik nicht als Aufklärung von außen oder von oben zu begreifen, darf nicht dazu führen, Politik auf die individualistische Arbeit an sich selbst zu beschränken und sich ins Private zurückzuziehen. Andererseits ist Politik und die Auseinandersetzungen um Hegemonie immer auch pädagogisch, da sie auf das Denken der verschiedenen Subjekte wirken. Politik und Pädagogik bleiben stets ineinander verwoben (vgl. HKWM 1997). Um in diesem pädagogischen Verhältnis die beiden Seiten nicht - wie bei Lenin - in Lehrende und zu Belehrende zu trennen, muss die breite Bevölkerung als politisch tätiges Subjekt in eigener Initiative respektiert werden. Jeder Mensch entfaltet - laut Gramsci - "[...] außerhalb seines Berufs irgendeine intellektuelle Tätigkeit, ist also ein 'Philosoph', ein Künstler, ein Mensch mit Geschmack, hat Teil an einer Weltauffassung, hält sich an eine bewußte moralische Richtschnur, trägt folglich dazu bei, eine Weltauffassung zu stützen oder zu verändern, das heißt, neue Denkweisen hervorzurufen" (H12, §2: 1531). Insofern agiert jeder Mensch, da er an der Gesellschaft teilnimmt, politisch. Die Widersprüche vielseitiger Herrschaftsverhältnisse durchziehen dabei unser Denken, wodurch die meisten Menschen in irgendeiner Weise oppositionell sind. Diese Widersprüche sind entscheidend für linke Praxis. Andererseits ist politisches Wissen wesentlich ein Begreifen des eigenen Lebens in den eigenen Lebensverhältnissen. Dieses Begreifen findet im Alltag, in der Kultur, auf der Arbeit etc. immer schon statt, ist also kein Monopol, sondern allgemeine Lebenspraxis. Als dieses Begreifen des eigenen Lebens setzt es keine spezielle Ausbildung voraus, wie zum Beispiel die Fähigkeit einen Softwarefehler zu beheben, sondern beginnt mit dem Leben selbst. Emanzipation ist an diese Lernprozesse gebunden, sollen die Menschen selbst ihre eigenen Lebensverhältnisse verwalten. Dies ist kein absurder Gedanke. Menschen kennen ihr eigenes Lebensumfeld in der Regel am besten und eine emanzipatorische Perspektive muss daran anknüpfend versuchen, diese Bereiche zu demokratisieren. Politisches Bewusstsein kann nicht als Monopol einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe gedacht werden. Eigenständige politische Initiative wird eine notwendig treibende Kraft der Bewegung.

Wenn Luxemburg Recht hat und die Menschen vor allem in eigener gesellschaftlicher Aktivität ein Bewusstsein ihrer Rolle im Ganzen erlangen und sich als politisches Subjekt konstituieren, dann müssen sie sich ihre 'Philosophie der Praxis' (Gramsci) selbst aneignen. Das heißt nicht, dass Theorie auf hohem Niveau verzichtbar wäre. Offene kritische theoretische Arbeit bei gleichzeitig verständlichen und plausiblen Erläuterungen aktueller Probleme, das Ausarbeiten einer 'Philosophie der Praxis', ist unerlässlich. Die politische Organisierung, die obigem Anspruch gerecht werden will, zielt nicht darauf, von einem Zentrum aus eine politische Einheitlichkeit zu erzeugen, sondern ist 'Zentralisation als Tendenz' (vgl. Luxemburg 1903/04: 431). Sie versucht, mit einer Philosophie und Kultur der eigenständigen Praxis kohärentes Bewusstsein und eigenständige Initiative von unten zu fördern. Schließlich würde sie sich an Luxemburgs Diktum orientieren:

Fehltritte, die eine wirklich revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermeßlich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten 'Zentralkomitees'.



Anmerkungen

[1] Mit Dank an Fabian Brettel für die Anregungen und Kritik.

[2] In seiner 1917 ausgearbeiteten Schrift Staat und Revolution heißt es zum Beispiel: "Durch die Erziehung der Arbeiterpartei erzieht der Marxismus die Avantgarde des Proletariats, die fähig ist, die Macht zu ergreifen und das ganze Volk zum Sozialismus zu führen, die neue Ordnung zu leiten und zu organisieren, Lehrer, Leiter, Führer aller Werktätigen und Ausgebeuteten zu sein bei der Gestaltung ihres gesellschaftlichen Lebens ohne die Bourgeoisie und gegen die Bourgeoisie." (Lenin 1917: 416, f. - Hervorh. im Original)

[3] Kautsky hier zitiert nach Lenin 1902 b: 395.

[4] Laut Hendrik Wallat wendet sich selbst der frühe Trotzki gegen die leninistischen, am Jakobinismus orientierten Prinzipien, da sie "[...] das Ziel: die Schaffung eines selbstständigen und selbstbewussten Proletariats als Voraussetzung der Selbstbefreiung konterkarieren" (Wallat 2012: 68).

[5] Hier beziehe ich mich auf den sehr lesenswerten kurzen Artikel zu Edukationismus in Band 3 des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus (HKWM).

[6] Erstere insofern sie in den meisten Menschen verblendete oder im Fetisch befangene, reibungslos funktionierende Subjekte sehen, die über ihre Situation aufzuklären sind. Letztere insofern sie einem klassischen Avantgarde-Ansatz anhängen.

[7] Die Heinz Schenk Debatte, die in Westdeutschland Anfang der 90er Jahre geführt wurde (vgl. FelS 2011), macht den Konflikt zwischen Nischenpolitik und dem Anspruch der Gesellschaftsveränderung besonders gut deutlich.

[8] Selbst wenn die politische Praxis in der Gründung einer Kommune besteht, bleibt oftmals die Hoffnung einer Zurückwirkung auf die Gesellschaft, als sie die Möglichkeit einer für besser gehaltenen Lebensweise aufzeigen und ein prägendes Beispiel geben will.

[9] Im folgenden werden Gramscis Gefängnishefte 1929-1935 stets in der Form Heftnummer, Paragraph: Seitenzahl nach der von Klaus Bochmann et al. im Argumentverlag herausgegebenen kritische Gesamtausgabe der Gefängnishefte zitiert (vgl. Literaturverzeichnis).

[10] Luxemburg 1903/04: 444



Literatur

FelS 2011: Heinz Schenk Debatte.Texte zur Kritik an den Autonomen - Organisationsdebatte - Gründung der Gruppe 'Für eine linke Strömung'. Zu finden unter: http://fels.nadir.org/de/heinz-schenk (Zugriff: 11.09.2013).

Gramsci, Antonio 1929-1935: Gefängnishefte. In: Bochmann, Klaus/Haug, Fritz Wolfgang et al. 1991, ff.: Antonio Gramsci. Gefängnishefte. Kritische Ausgabe. Band 1-10. Argument Verlag. Hamburg.

HKWM 1997: Stichwort: Edukationismus. In: Haug, Wolfgang Fritz: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 3. Argument Verlag. Hamburg.

Kalmring, Stefan 2012: Die Lust zur Kritik. Ein Plädoyer für utopisches Denken. Dietz Verlag Berlin.

Lenin, W.I. 1902 a: Brief an einen Genossen über unsere organisatorischen Aufgaben. In: Lenin Werke. Band 6. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED. 1959. Dietz Verlag. Berlin. 2. Aufl. S. 223-244.

ders. 1902 b: Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung. In: Lenin Werke. Band 5. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED. 1959. Dietz Verlag. Berlin. 2. Aufl. S. 355-580.

ders. 1917: Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution. In: Lenin Werke. Band 25. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED. 1960. Dietz Verlag. Berlin. 1. Aufl. S. 393-507.

Marcuse, Herbert 1965: Repressive Toleranz. In: Wolff, Robert Paul / Moore, Barrington / Marcuse Herbert 1966: Kritik der reinen Toleranz. Suhrkamp. Frankfurt am Main. S. 91-128.

Marx, Karl 1845: Thesen über Feuerbach. In: Marx Engels Werke. Band 3. 1969. Dietz Verlag Berlin. S. 5-7.

Marx, Karl 1875: Kritik des Gothaer Programms. In: Marx Engels Werke. Band 19. 1969. Dietz Verlag Berlin. S. 11-32.

Luxemburg, Rosa 1903/04: Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie. In: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Dietz, Berlin 1970-1975. Band 1/2. S. 422-444.

dies. 1904/05: Nach dem ersten Akt. In: siehe oben. Band 1/2. S. 485-490.

dies. 1906: Massenstreik, Partei und Gewerkschaft. In: siehe oben. Band 2 S. 91-170.

dies. 1911: Wieder Masse und Führer. In: siehe oben. Band 3. S. 37-42.

dies. 1912/13: Das Offiziösentum der Theorie. In: siehe oben. Band 3. S. 300-321.

dies. 1918/19: Gründungsparteitag der KPD 1918/19. In: siehe oben. Band 4. S. 481-513.

Wallat, Hendrik 2012: Staat oder Revolution. Aspekte und Probleme linker Bolschewismuskritik. Edition Assemblage. Münster.

*

Dieter Sauer

Arbeit im Übergang - Gesellschaftliche Produktivkraft zwischen Entfaltung und Zerstörung[1]

Der Titel meines Vortrags verweist erst mal auf einige begriffliche Klärungen: Übergang, Produktivkraft und die Dialektik von Entfaltung und Zerstörung. Darauf will ich zunächst eingehen und mich dabei auch in der linken Kapitalismuskritik verorten. Danach werde ich was zur Entwicklung von Arbeit in historischen Umbruchprozessen sagen: zum Formwandel von Herrschaft, zur neuen Autonomie in der Arbeit, zur Rolle des Individuums.

Was heißt hier Übergang?

Die These von der Arbeit im Übergang verortet den Formwandel von Arbeit in gesellschaftlichen Umbruchprozessen, die als historische Übergänge zwischen gesellschaftlichen Formationen gefasst werden. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik, wie auch die anderen kapitalistischen Metropolen, seit Mitte der 1970er Jahre in eine neue Entwicklungsphase getreten sind. Seit dem ist - nicht nur in der Arbeitssoziologie - von einer Krise des Fordismus die Rede. Mit dem Fordismusbegriff wird der Begriff der gesellschaftlichen Formation eingeführt, der bestimmte historische Phasen im Verlauf kapitalistischer Entwicklung bezeichnet, in denen jeweils stabile Entsprechungen zwischen ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen, zwischen der Makroebene der gesellschaftlichen Regulierung und der Mikroebene der Arbeitsorganisation bestehen. Wir gehen von der These aus, dass es gegenwärtig keine historische Zäsur zwischen dem fordistischen und einem dessen Krise überwindenden neuen (postfordistischen) Entwicklungsmodell gibt. Es handelt sich immer noch um eine Anpassung an die Krise des Fordismus, nicht um deren Überwindung. In diesem Zusammenhang sprechen wir von einer Phase des Übergangs. Dieser Begriff bringt zum Ausdruck, dass wir es mit einem Prozess gesellschaftlicher Entwicklung zu tun haben, der durch erhöhte Instabilität und neuartige Spannungsverhältnisse gekennzeichnet ist. Deren Folge ist eine reflexive, auf Dauer gestellte Restrukturierung.

Ein kapitalismustheoretischer Versuch, die Übergangsphase begrifflich zu fassen, könnte an der abstrakten, allgemeinen Widerspruchstruktur der kapitalistischer Gesellschaft ansetzen, am Verhältnis schrankenloser Kapitalverwertung und ihren produktiven stofflichen Grundlagen als ihrer Grenze, die es beständig zu überwinden gilt. Dahinter steht die Marxsche Figur einer »Schrankenlosigkeit in Grenzen«. Übergang ist dann als historische Phase zu bestimmen, in der historisch geronnene gesellschaftliche Lösungsformen dieses Widerspruchs, wie sie auch der Fordismus darstellt, in Bewegung geraten, die Widersprüche manifest werden und sich »entwickeln«.

Betrachtet man die historischen Veränderungen von Unternehmensorganisation und Arbeit so geht es offensichtlich um die Überwindung der in der fordistischen Produktionsökonomie gesetzten Grenzen der Verwertung: Vermarktlichung sprengt verkrustete institutionelle Herrschaftsstrukturen in den Unternehmen auf, Arbeitskraft wird aus ihren institutionellen und motivationalen Grenzen gelöst. Die technischen und organisatorischen Grundlagen werden revolutioniert (Stichwort Informatisierung), neue indirekte Steuerungsformen von Arbeit nutzen die Selbständigkeit und die subjektiven Potentiale der individuellen Beschäftigten (Stichwort Subjektivierung). Triebkraft dieser Freisetzung und Entfaltung von produktiven Potentialen ist eine radikalisierte Marktökonomie, die im gleichen Prozess diese neu geschaffenen Verwertungsbedingungen immer wieder in Frage stellt. Verschärfte Konkurrenzbedingungen und von der Produktionseffizienz abgelöste Renditeerwartungen der Finanzinvestoren gefährden die langfristigen innovativen Grundlagen von Unternehmen. Dies wird gegenwärtig auch in den Auseinandersetzungen im Management und dessen Fraktionierung deutlich. Die Tendenz der Schrankenlosigkeit gefährdet auch Arbeitskraft und deren Reproduktion: Existenzielle Unsicherheit und Prekarität von Arbeit und zunehmende Überforderung durch maßlose Ausdehnung der Arbeitszeit und zunehmende Intensivierung in der Arbeit sind auf der einen Seite die sichtbaren Konsequenzen. Auf der anderen Seite sind angesichts flacherer Hierarchien und höherer Eigenverantwortung die Freiheitsgrade in der Arbeit gestiegen. Die Beschäftigten sind nicht nur aufgefordert, sondern auch eingeladen, unternehmerisch zu denken und zu handeln. Sie sollen sich beruflich weiterentwickeln und entfalten. Die Rede ist von einer gewachsenen Wertschätzung, die der lebendigen Arbeit entgegengebracht wird.

Die Veränderungen haben offensichtlich positive und negative Effekte für die betroffenen Menschen, die sich allerdings nicht so einfach auseinandersortieren lassen. Wir stehen vor dem Problem, dass in der gegenwärtigen Übergangsphase Momente des Progressiven und Momente des Destruktiven so zusammen kommen, dass sie sich wechselseitig auszuschließen scheinen. Dialektisch gefasst, folgt daraus die Unhaltbarkeit, also die Unmöglichkeit, dass es sich dabei um bleibende, stabile Zustände handeln könnte. Die Widersprüchlichkeit ist dann nur ein anderer Ausdruck für die in der Situation liegende Dynamik, die über den gegenwärtigen Zustand hinaustreibt.

Zum Verhältnis von progressiven und destruktiven Tendenzen in der kapitalistischen Entwicklung

In der gegenwärtigen linken Kapitalismuskritik spielen das widersprüchliche Verhältnis von progressiven und destruktiven Tendenzen und damit der Kapitalismus als widersprüchliche Einheit, von Zerstörung und Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte keine wesentliche Rolle. Soweit sich die Kritik auf die Marxsche Theorie bezieht greift sie meist nur eine Seite des Marxschen Kapitalbegriffs auf, die die »gegensätzliche Existenzform des Reichtums« die Spaltung in Arm und Reich erklärt, und als solche eine Kritik der Verteilungsverhältnisse fundieren kann. Der im Begriff des Kapitals darüber hinaus angelegte Zusammenhang von Ausbeutung und Entfremdung, die Verkehrung von »toter« und »lebendiger« Arbeit, von Subjekt und Objekt, in der die Naturwüchsigkeit des Gesamtprozesses der Produktion begründet liegt, bleibt meist außen vor.

Hinzu kommt ein verkürzter oder präziser verkehrter Begriff von Produktivkraft: ein Verständnis von "Produktivkraftentwicklung" als "Technischer Fortschritt". Technischer Fortschritt ist zunächst die Weiterentwicklung von Produktionsmitteln zum Zweck der Steigerung der Produktivkräfte menschlicher Arbeit. Sobald aber der Arbeitsprozess als Verwertungsprozess betrachtet wird, wird dieses Verhältnis von "Mitteln" und "Kräften" auf den Kopf gestellt. Die dinglichen Produktionsmittel stellen sich in dieser Perspektive mithin als Kräfte, die produktiven Kräfte der Individuen hingegen als Mittel oder Sachen dar. Diese Verkehrungsstruktur verstellt ein angemessenes Verständnis der Produktivkraftproblematik. Wenn Marx von Kräften spricht, so meint er tatsächlich Kräfte und nicht Dinge. Und mit den Kräften von Individuen meint er Bestimmungen ihrer Individualität.

Arbeit gilt bei ihm zunächst allgemein als bewusste Auseinandersetzung mit der Natur und zwar der äußeren wie der inneren Natur des Menschen. Die Bestimmung des Menschen ist nicht die, sich in schicksalhafte und naturhafte gegebene Bedingungen einzufügen, sondern diese zu überwinden und sich selbst zu verwirklichen, "seinen Sinn aus sich selbst heraus zu finden". Wenn Marx die Arbeit im Kapitalismus charakterisiert, dann hat er dabei vor allem ihre Entfremdungsform vor Augen, das »Außer-sich-sein« in der Arbeit, die Fremdheit des Arbeitenden gegenüber seiner eigenen Lebensäußerung. Dialektiker, der er war, hat Marx allerdings auch die Widersprüchlichkeit der Entwicklung festgehalten. So hat er die Einsicht formuliert, dass es der Entwicklungsgang der »großen Industrie« zu einer Frage von »Leben und Tod« macht, (Zitat) »das Teilindividuum, den bloßen Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion, durch das total entwickelte Individuum [zu ersetzen], für welches verschiedene gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Betätigungsweisen sind.« (MEW 23: 511 f.). Hier hat Marx jenseits jeder konkreter Anschauung in der Industrie des 19. Jahrhunderts die gegenwärtigen Flexibilisierungs- und Subjektivierungstendenzen visionär vorweggenommen. Aber er hat dabei immer darauf verwiesen, dass diese (Zitat) »Entwicklung aller menschlichen Kräfte [...] die Entfaltung des 'totalen' beziehungsreichen gesellschaftlichen Individuums [...] diese völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern [im Kapitalismus nur] als völlige Entleerung, diese universelle Vergegenständlichung als totale Entfremdung« (Marx, Grundrisse, S. 387f) erscheinen kann. Folgt man diesem Grundgedanken von Marx in den Grundrissen dann ist es nicht erstaunlich, dass sich die gegenwärtige, tendenzielle Aufhebung bestimmter Seiten oder Erscheinungen der Entfremdung in Form einer Subjektivierung der Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen wiederum in verkehrter oder entfremdeter Form vollzieht. So verkehrt sich z.B. die tendenzielle Aufhebung der Trennung von Arbeit und Nicht-Arbeit - eigentlich eine positive Tendenz - unter den Bedingungen der neuen Unternehmenssteuerung in den Zugriff des Kapitals auf die gesamte Lebenszeit der Individuen. Die Identifikation mit der Arbeit, die durch die neue Unternehmensorganisation möglich wird, kehrt sich gegen die Individuen, die aus Hochgefühlen in tiefe und dauerhafte Erschöpfungszustände stürzen.

Es stellt sich die Frage, ob die entwickelten Potenzen der Individuen dauerhaft dem Verwertungszweck unterworfen bleiben und sich damit in Kräfte verwandeln, die sich auf zerstörerische Weise gegen die Individuen selbst wenden. Oder ob sie im Gegenteil als die Befähigung zum Tragen kommen sich von der Mittlerrolle für den Verwertungszweck überhaupt zu emanzipieren. Mit Marx gesprochen: es geht darum, ob und wie die Entwicklung der Produktivkräfte, als die individuellen Kräfte der Individuen, zum >Sprengsatz< für ihre »bornierte Grundlage« im Kapitalismus werden können (vgl. Stadlinger/Sauer 2010).

Organisatorische Revolution - der Formwandel von Herrschaft

Um diese Frage überhaupt diskutieren zu können, müssen wir uns den angesprochenen gesellschaftlichen Umbruchprozess, die Veränderungen in der Unternehmensorganisation und in der Entwicklung von Arbeit etwas genauer ansehen. Damit bin bei meinem dritten Punkt, dem Formwandel von Herrschaft: Ich will mich auf den aus meiner Sicht zentralen Punkt konzentrieren: auf den tiefgehenden Bruch in der Organisation von Unternehmen, mit dem sich nicht nur die Form, sondern das Prinzip von Unternehmensorganisation selbst ändert. Das hierarchisch-bürokratische System der Steuerung von Unternehmen hat sich als Schranke für die Produktivitätsentwicklung erwiesen. Der Kapitalismus fand sich vor die Wahl gestellt, entweder an den Schranken des hierarchisch-bürokratischen Systems, das das Individuum auf eine Teilfunktion reduziert zu ersticken oder es zu überwinden und die Produktivität der Unternehmen auf ein neues Organisationsprinzip zu gründen, in dem das totale Individuum produktiv werden soll. Wie geht das, ohne den Kapitalismus aufzuheben?

Die Veränderung finden also gerade dort statt, wo sie der traditionelle wissenschaftliche Blick nicht vermutet: in der als unhinterfragbar geltenden betrieblichen Herrschaftsform und in der individuellen Produktivkraft lebendiger Arbeit, was bis dahin wissenschaftlich wie politisch wenig Beachtung fand. Vor diesem Hintergrund erhalten die Veränderungen im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts tatsächlich den Charakter einer revolutionären Veränderung - wir sprechen von einer organisatorischen Revolution - und zwar nicht in einem emphatischen, sondern in einem theoretischen Sinn. Während Karl Marx im Kommunistischen Manifest und danach immer wieder den revolutionären Charakter des Kapitals hervorgehoben, begrifflich bestimmt und in einem gewissen Sinn sogar zum Ausgangspunkt seiner Theorie gemacht hat, ist dieser Aspekt in der traditionellen linken Kritik inzwischen eigentümlich unterbelichtet. Die herkömmlichen Versuche, die Entwicklung des Kapitalismus zu beschreiben, zu kategorisieren und zu periodisieren, haben zwar die Brüche in dessen Entwicklung im Auge, fragen aber nicht nach deren revolutionärer Qualität.

Es geht um neue Steuerungsformen in den Unternehmen, in denen eine neue Qualität kapitalistischer Herrschaft zwischen Markt und Hierarchie sichtbar wird. Im Gegensatz zum hierarchisch-bürokratischen System der Steuerung von Unternehmen erreicht dieses neue Prinzip organisiertes Handeln nicht mehr durch Unterordnung des eigenen Willens, sondern durch dessen Funktionalisierung für den Organisationszweck. Dieser Formwandel von Herrschaft bleibt zwar eine Form der Fremdbestimmung von Handeln, die sich jetzt jedoch vermittelt über ihr eigenes Gegenteil, nämlich die Selbstbestimmung oder Autonomie der Individuen umsetzt, und zwar so, dass sie dabei nicht nur auf explizite, sondern auch auf implizite Anweisungen, sowie auf die Androhung von Sanktionen verzichten kann. Das Neue an diesen Steuerungsformen besteht darin, dass sich das Management darauf »beschränkt«, den weiteren Rahmen (die technische Ausstattung, strategische Prioritäten etc.) festzulegen und spezifische Ziele vorzugeben (Umsatz, Erträge, Kosten, Termine u.ä.). Die konkrete Bearbeitung wird weitgehend dezentralen Einheiten und in letzter Konsequenz den Beschäftigten selbst überlassen. »Macht was ihr wollt, aber seid profitabel«, so lautet die zugespitzte Parole.

Diese Form indirekter Steuerung kann als dialektischer Grenzfall von Herrschaft gefasst werden. Der Grundgedanke liegt darin, die Form der Abhängigkeit, in der sich der »freie Unternehmer« gegenüber seinen Rahmenbedingungen befindet, zur Steuerung unselbstständig Beschäftigter zu verwenden. Der springende Punkt besteht darin, dass zusammen mit der unternehmerischen Autonomie auch die Form der unternehmerischen Unfreiheit - das Beherrscht-Werden durch verselbständigte Prozesse - in abhängige Beschäftigungsverhältnisse übertragen werden.

Und genau diese Form von Heteronomie wird nun für die Funktionalisierung des eigenen Willens der Beschäftigten genutzt. Die »sachliche Abhängigkeit«, der sie als Verkäufer ihrer Arbeitskraft unterworfen sind, charakterisiert nun auch ihre Situation im unmittelbaren Produktionsprozess. Vereinfacht gesagt: Die Individuen sollen nicht mehr tun, was ihnen gesagt wird. Sie sollen vielmehr selbständig auf Rahmenbedingungen reagieren, die sich einerseits aus den unkontrollierbaren, ständig wechselnden Überlebensbedingungen des Unternehmens am Markt und andererseits aus der unternehmensinternen Definition von Erfolgsmaßstäben und Strukturen (Benchmarks, Kennziffern, Segmentierung von Unternehmen) durch das Management ergeben. Durch die Konfrontation mit unternehmerischen Problemstellungen befinden sich die Individuen in einer Lage, in der sich bei ihnen »von selbst« - spontan - unternehmerische Handlungsmotive herausbilden (vgl. Peters/Sauer 2005).

Die neuen Formen einer indirekten Steuerung nutzen dabei die Eigendynamik unwillkürlich bzw. von selbst ablaufender sozialer Prozesse - z.B. den externen Markt oder auch marktförmige Beziehungen im Inneren des Unternehmens - für die Steuerung von Prozessen. Während es in der Perspektive fordistischer Unternehmen darum ging, die konkreten Produktionsabläufe gegenüber den Unwägbarkeiten des Marktes abzuschotten, setzen neue Konzepte darauf, den Markt zum Motor der permanenten Reorganisation der Binnenstrukturen zu machen. Mit seiner Internalisierung wird der Markt in seiner Kontingenz und Dynamik zum Strukturierungsmoment der betrieblichen Organisation. Die individuelle Arbeitskraft wird nun unmittelbar mit der wachsenden Dynamik von externen und internen Anforderungen konfrontiert. Selbstorganisation, Ergebnisorientierung, flexible Arbeitszeiten u.a. bauen die bisherigen institutionellen Puffer zwischen Individuum und Markt ab.

Organisatorische Revolution - Die neue Autonomie in der Arbeit

Die Rolle von Arbeitskraft im Unternehmen verändert sich radikal: Vermittelt über eine Arbeitsorganisation, die zunehmend auf die Selbstorganisation der Beschäftigten setzt, werden die Beschäftigten in ganz anderer Weise als früher mit der Unbestimmtheit von Marktanforderungen konfrontiert. Zwar war Arbeitskraft schon immer mit der Bewältigung von Unbestimmtheiten im Arbeitsprozess befasst. Aber diese Funktion war zu Zeiten der »wissenschaftlichen Betriebsführung« bestenfalls eine inoffizielle, oft sogar illegale Lückenbüßeraufgabe. Neu ist, dass über das qualifikatorische und physische Arbeitsvermögen hinaus jetzt das Subjekt oder präziser die Person als Träger der Ware Arbeitskraft »In-Betrieb genommen wird«. Das erfolgt in doppelter Weise:

• Zum einen enthält das arbeitsorganisatorische Konzept der Selbstorganisation die Aufforderung zu unternehmerischem Handeln, d.h. die Beschäftigten sollen ihren zeitlichen Einsatz, ihre Leistungsverausgabung und auch die Rationalisierung des Arbeitsprozesses selbst steuern. Sie sind nicht mehr nur Objekte, sondern auch Subjekte der Steuerung. Die Lösung des sog. Transformationsproblems d.h. die Verwandlung des lebendigen Arbeitsvermögens in Leistung - früher zentrale Aufgabe des Unternehmers - muss jetzt von den Arbeitenden selbst geleistet werden.

• Zum anderen erhalten die subjektiven Potenziale und Ressourcen der Beschäftigten, d.h. ihre kreativen, problemlösenden, kommunikativen Fähigkeiten, ihre Motivation, ihr Engagement und Gefühl eine höhere Bedeutung. Bei der Bewältigung von unbestimmten Anforderungen erweisen sich diese Fähigkeiten und Eigenschaften gegenüber den rein formalen beruflichen Kompetenzen als besonders wichtig. Damit werden Potenziale und Ressourcen ins Visier genommen, die traditionellerweise gerade außerhalb des betrieblichen Gestaltungsbereichs liegen und die jetzt einer intensiveren und expliziten ökonomischen Nutzung unterworfen werden sollen. Es kommt mit der Person als ganzer auch das eigene Leben ins betriebliche Spiel.

Die angestrebten Produktivitätsfortschritte und Profitsteigerungen können nur dadurch erreicht werden, dass die Unternehmen klassische Forderungen nach mehr Autonomie und Selbständigkeit tatsächlich erfüllen. Das Unternehmen ist real auf die subjektiven Fähigkeiten und intrinsische Motivation der Arbeitenden angewiesen. An diese motivationale Potenziale kommt das Unternehmen nur heran, in dem es auch reale Selbstständigkeit ermöglicht. Durch eine bloße Scheinselbständigkeit oder durch Implantation von neoliberalem Gedankengut in Arbeitnehmerhirne sind diese Effekte nicht zu erreichen. Bürokratische Anweisungsstrukturen müssen realiter demontiert werden. Dabei ist es wichtig, die neue Autonomie in der Arbeit zu unterscheiden von alten Formen der Autonomie in der Arbeit: Ging es früher um die Gewährung von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen, so geht es heute um die unmittelbare Konfrontation mit den Rahmenbedingungen des eigenen Handelns. Kurz: Ziel der neuen Unternehmenssteuerung ist es, die Individuen dazu zu bringen, dass sie selber ihre entfaltete Individualität für den Verwertungszweck mobilisieren. Dabei geht es zum einen um alle potenziell verwertbaren subjektiven Potenziale und Eigenschaften, die das Vermögen lebendiger Arbeit kennzeichnen, zum anderen um das Potenzial, eben dieses Arbeitsvermögen selbst zu entwickeln und zu entfalten, in Leistung zu transformieren und zu steuern.

Die Entwicklung des Individuums als politischer "Sprengsatz"

Aus bürokratischen Anweisungsstrukturen kommend tritt dem Individuum die unternehmerische Selbständigkeit zunächst als angemessene Form für die Realisierung jener Ansprüche auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung entgegen, die zusammen mit der Entwicklung seiner produktiven Kräfte sich entfalten. Mit der Aufhebung der alten betrieblichen Arbeitsteilung und der entsprechenden individuellen Ausbildung eines vielseitigen Arbeitsvermögens verändert sich zugleich das Verhältnis der Beschäftigten zu ihrer Arbeit: Es zeichnet sich für sie die Möglichkeit ab, in der Arbeit selbst 'bei sich' zu sein, während sie früher in ihr nur 'außer sich' sein konnten. Dem Individuum bietet sich einerseits die Chance, sein Tun als "Spiel seiner eigenen körperlichen und geistigen Kräfte", das ihn "mit sich reißt", genussvoll zu erleben. Andrerseits verkehrt sich unter den Bedingungen der Unbeherrschtheit der eigenen Kraftentfaltung letztere unversehens in eine Form der Selbstverausgabung, das begeisternde 'Mitgerissen-Werden' in die Besinnungslosigkeit der Getriebenen. Eine im Prinzip fortschrittliche Tendenz verkehrt sich in zerstörerischer Weise wiederum in ihr Gegenteil.

Die nun mögliche Identifikation mit der eigenen Tätigkeit - zweifellos die positive Seite der beschriebenen Tendenz - bildet zugleich jedoch die Voraussetzung für das Funktionieren der indirekten Steuerung, die nun auch noch das Gegenteil von Herrschaft für ihre Aufrechterhaltung funktionalisieren will. Die indirekte Steuerung bringt die Individuen in eine Lage, in der sie selber die Perspektive des Kapitals auf sich einnehmen und sich ihre eigenen Kräfte und sozialen Beziehungen in "Ressourcen" des unternehmerischen Erfolgs verwandeln. In der Unternehmerperspektive, die es nun selber einnimmt, ist es für sich selbst das, was es für das Kapital ist. Das Individuum verhält sich dabei zur Entfaltung seiner eigenen Individualität nicht wie zu einem Selbstzweck, sondern wie zu einem Mittel des ihm äußerlichen Verwertungszweck.

Im unternehmerischen Zugriff auf das Leben der Individuen, liegt jedoch die schwache Stelle und Achillesferse der neuen Herrschaftsform. Subjektivität in direkter Konfrontation mit dem Markt als »neue Naturgewalt« wird zur umkämpften Produktivkraftressource. Bei diesem Kampf wird entschieden, wie viel Subjektivität zu Verwertungszwecken in welchen sachlich-, zeitlich-, sozialen Formen genutzt wird und wie sich die Besonderheit des Individuums unter diesen Bedingungen behaupten kann (vgl. Bechtle/Sauer 2003: 57). In seiner Rolle als Entrepreneur im ökonomischen Überlebenskampf hat der Beschäftigte den Gegensatz von Kapital und Arbeit in seinem eigenen Kopf auszutragen. Das Kapitalverhältnis verwandelt sich in ein unmittelbares persönliches, alltäglich erfahrenes Problem. Sein Interesse an der Entfaltung seiner Individualität gerät in Konflikt mit seinem unternehmerischen Interesse am betriebswirtschaftlich definierten Erfolg. In der Verfolgung dessen, was er in der Unternehmerfunktion selber will, tritt es in Gegensatz zu sich selbst, zu seinem Interesse als Individuum bzw. zu dem, was es "wirklich selber will": die freie Entfaltung der eigenen Individualität als Selbstzweck. Es erlebt die kapitalistische Unternehmerfunktion als eine Fessel für die Entfaltung seiner Individualität. Dieses Gegensatzverhältnis kann nicht nur alltäglich erfahren werden, es kann vom Individuum auch zum Gegenstand einer begreifenden Aneignung gemacht werden. Gegen die "Subjektivierung" kann es das aufbieten, was für menschliche Subjektivität wesensbestimmend ist: die Fähigkeit zur Selbstreflexion, hier zu verstehen als die Fähigkeit, die Verkehrung von Zweck und Mittel, von toter und lebendiger Arbeit, die das praktische Selbstverhältnis des Individuums im Kapitalismus charakterisiert, selbst noch einmal zum Gegenstand des Denkens machen.

Nachbemerkung 1: Aufhebung des Kapitalismus?

Was hat das Ganze nun mit der Aufhebung des Kapitalismus zu tun? Geht man von Marx' Charakterisierung der "höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft" in der "Kritik des Gothaer Programms" (MEW 22) aus, dann darf man vermuten, dass er angesichts der gegenwärtigen Entwicklung der kapitalistischen Produktion doch einigermaßen erstaunt wäre. Die Aufhebung der "knechtenden Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit" und des "Gegensatz(es) zwischen geistiger und körperlicher Arbeit" ist jedenfalls innerhalb des Kapitalismus weiter fortgeschritten, als er sich das wohl hätte träumen lassen. Das betrifft auch die Aufhebung des Gegensatzes von Arbeit und Nicht-Arbeit, den Marx in den "Grundrissen" ebenfalls als eine Seite der Entfremdung bestimmt. Erstaunlich wäre für ihn wohl, dass die Arbeit bereits in der kapitalistischen Produktionsweise für viele tendenziell "nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis" wird und dass Unternehmensleitungen ihre Mitarbeiter seit einiger Zeit dazu auffordern, ihren produktiven Prozess doch gefälligst selber zu organisieren - natürlich unter der Maßgabe der Profitabilität.

Aber Marx wäre wohl kaum erstaunt darüber, dass sich die gegenwärtige, tendenzielle Aufhebung bestimmter Seiten oder Erscheinungen der Entfremdung unter kapitalistischen Bedingungen wiederum in verkehrter oder entfremdeter Form vollzieht. Während die Entwicklung der Produktivkräfte auf der einen Seite die Aufhebung des betrieblichen Kommandosystems ermöglicht und erfordert, wird auf der anderen Seite die Unbeherrschtheit sozialer Prozesse und die darin liegende Unfreiheit der Individuen durch die neue Unternehmenssteuerung nunmehr gezielt zur Steigerung der Ausbeutung genutzt. Während die Entwicklung der Produktivkräfte auf ihrem gegenwärtigen Niveau eines solchen "äußern Sporns" (Marx 1857/58: 31) eigentlich nicht mehr bedarf, steigert sich doch auf der einen Seite der Druck auf die lebendige Arbeit permanent. Die Entwicklung der produktiven Kräfte der Individuen - also nicht der Produktionsmittel oder der Technologie - wird gegenwärtig durch Merkmale bestimmt, die, folgt man Marx, eigentlich erst in einer nachkapitalistischen Phase der Geschichte zur Entfaltung kommen können. Dazu gehören auch die tendenzielle Veränderung des Charakters der Arbeit und ihrer Bedeutung für die Individuen. Marx hat in seiner Auseinandersetzung mit A. Smith zu Recht gegen die Identifizierung der Arbeit mit jener historischen Erscheinungsform polemisiert, die sie als "Zwangsarbeit" unter den Bedingungen von Herrschaftsverhältnissen annimmt. In letzteren erscheint die Arbeit tatsächlich als Fluch und Qual und dementsprechend die "Ruhe" als Zustand der Freiheit und des Glücks. Smith verkenne jedoch, dass die Arbeit als Bewältigung von Hindernissen bei der Verwirklichung selbstgesetzter Zwecke an sich (der Möglichkeit nach) eine "Betätigung der Freiheit" ist. Nach der Aufhebung ihres historischen Zwangscharakters könne auch die Arbeit in der materiellen Produktion zu einer "travail attractif", zur "Selbstverwirklichung des Individuums" werden (Marx 1857/58: 505).

Nachbemerkung 2: Der Untergang des Sozialismus und die Frage der Beherrschbarkeit sozialer Prozesse

Es gibt eine Verbindung zwischen den Reorganisationsprozessen in den kapitalistischen Unternehmen und dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten. Die Verbindung liegt im Punkt der Beherrschbarkeit gesellschaftlicher Prozesse. Sie besteht darin, dass die sozialistischen Staaten (Stichwort 'Planwirtschaft') - erklärtermaßen den Versuch gemacht haben -, bis dahin unbeherrschte gesellschaftliche Prozesse zu beherrschen nach dem Modell, das ein traditionelles kapitalistisches Unternehmen für die Beherrschung von Prozessen geliefert hat.

Gegenwärtig werden wir mit der erstaunlichen Tatsache konfrontiert, dass das Kapital in seiner geschichtlich bewährten revolutionären Rolle dabei ist, an der Lösung des an dieser Stelle aufgeworfenen Problems zu arbeiten, nämlich eine Alternative zu finden - von der Form her natürlich nur - zur kommandoförmigen Beherrschung gesellschaftlicher Prozesse. Wenigstens wird hier Material beigesteuert für eine neue Antwort auf die alte Frage: wie in einer zunehmenden Selbständigkeit und Freiheit der Individuen zugleich die Lösung für das Problem der Beherrschung gesellschaftlicher Entwicklungen liegen können soll. Was das Kapital jetzt ansteuert, ist natürlich nicht die Antwort auf die Frage nach seiner Überwindung, sondern im Gegenteil der Versuch, die Alternative zu sich selbst unter seine eigene Form zu bringen. Es ist der Versuch, die Aufhebung von Entfremdung selbst noch einmal kapitalförmig zu machen. Es stellt sich die Frage, ob dieser Versuch für das Kapital gut gehen kann und die weitergehende Frage, ob damit nicht zentrale Bedingungen für seine Aufhebung geschaffen werden - und diese Fragen zum Ausgangspunkt zu nehmen für die Gewinnung politischer Orientierungen in der Gegenwart. (Klaus Peters 2000)



Anmerkung

[1] Bei diesem Text handelt es sich um einen Vortrag auf der MASCH Konferenz "Aufhebung des Kapitalismus. Die Ökonomie einer Übergangsgesellschaft" der vom 15. bis 17. November in Hamburg stattfand. Wir danken Dieter Sauer und den OrganisatorInnen des Kongresses für die Genehmigung zur Publikation. Copyright: Dieter Sauer



Verwendete eigene Literatur:

Sauer, Dieter (2013): Die organisatorische Revolution. Umbrüche in der Arbeitswelt - Ursachen, Auswirkungen und arbeitspolitische Antworten. Hamburg,VSA.

Nies, Sarah; Sauer, Dieter (2012): Arbeit - mehr als Beschäftigung? Zur arbeitssoziologischen Kapitalismuskritik. In: Klaus Dörre; Dieter Sauer; Volker Wittke (Hrsg.): Kapitalismustheorie und Arbeit. Neue Ansätze soziologischer Kritik, Campus, Frankfurt a.M., S. 34-62.

Sauer, Dieter (2011): Indirekte Steuerung - Zum Formwandel betrieblicher Herrschaft. In: Wolfgang Bonß; Christoph Lau (Hrsg.): Macht und Herrschaft in der reflexiven Moderne, Velbrück Wissenschaft, Weilerswist, S. 358-378.

Stadlinger, Jörg; Sauer, Dieter (2010): Marx & Moderne: Dialektik der Befreiung oder Paradoxien der Individualisierung? In: Prokla: Marx!, Heft 159/Juni 2010.

Peters, Klaus; Sauer, Dieter (2006): Epochenbruch und Herrschaft - Indirekte Steuerung und die Dialektik des Übergangs. In: Dieter Scholz; Heiko Glawe; Helmut Martens; Pia Paust-Lassen; Gerd Peter; Jörg Reitzig; Frieder Otto Wolf (Hrsg.): Turnaround? - Strategien für eine neue Politik der Arbeit, Westfälisches Dampfboot, Münster, S. 98-125.

Sauer, Dieter (2005): Arbeit im Übergang - Zeitdiagnosen, VSA, Hamburg.

Bechtle, Günter; Sauer, Dieter (2003): Postfordismus als Inkubationszeit einer neuen Herrschaftsform. In: K. Dörre; B. Röttger (Hrsg.): Das neue Marktregime - Konturen eines nachfordistischen Produktionsmodells, VSA, Hamburg, S. 35-54.

*

Slave Cubela

Klasse gemacht!

Zum 50. Jahrestag der Erstausgabe von The Making Of The English Working Class

Es gibt Bücher, die kauft man einfach deshalb, weil ihnen ein legendärer Ruf vorauseilt. Zumeist verbringen sie dann eine ganze Zeit lang ungelesen im eigenen Bücherregal, denn - das haben solche Werke häufig an sich - ihre schiere Länge aber auch die hohe Erwartung sorgt dafür, dass man ihre Lektüre immer wieder aufschiebt. Schließlich gibt es meist wichtigeres zu lesen und irgendwo finden sich ja doch kurze Extrakte dieser vermeintlichen Meisterwerke. Allein: wenn man sich dann nach einiger Zeit doch irgendwann an diese Bücher heranmacht, dann kann nur noch zweierlei geschehen: man legt sie nach einer Weile enttäuscht weg, weil sie sich doch als zu schwierig oder überschätzt erweisen. Oder aber man verliebt sich unweigerlich in diese Bücher und versinkt von der ersten Seite so sehr in deren Stoff, dass man sich noch Jahre später an diese Lektüre erinnert.

Genau letzteres widerfuhr mir, als ich vor knapp 10 Jahren das erste Mal Edward P. Thompsons Klassiker "The Making Of The English Working Class" las. Und damit ist vorweg auch bereits eines der wichtigsten Charakteristika dieses vor 50 Jahren zum ersten Mal erschienenen historischen Klassiker mit umrissen: Es ist ein hervorragend geschriebenes Buch, das den Leser von der ersten Seite an einnimmt, da es Thompson tatsächlich gelingt mit viel Leidenschaft, Sensibilität aber auch reichlich Originalmaterial aus der Zeit seinem Gegenstand Leben einzuhauchen. Und, was noch wichtiger ist: diese stilistische Vitalität verdankt sich keineswegs nur dem glücklichen Umstand, dass Thompson ein Historiker ist, "der schreiben kann". Nein, sie dient der Sache selbst. Denn, wie der englische Titel es schon andeutet: Thompsons Hauptziel ist es, die Entstehung der englischen Arbeiterklasse den Objektivismen und Determinismen vieler Historiker und Soziologen zu entreißen und stattdessen die Subjekte, die diesen Prozess gelebt und gemacht haben, in den Mittelpunkt seiner Darstellung zu stellen. Wo also sonst lange Zahlenkolonnen zur Industrialisierung sowie vermeintlich exakte soziologische Definitionen die Darstellung dominieren und ausgehend von den fertigen historischen Resultaten argumentiert wird, da findet sich bei Thompson das Denken und Handeln verschiedener Subjekte und Kollektive in den Mittelpunkt gestellt - mit all seinen zeitbedingten Gedankenhorizonten und Begriffen, seinen Widersprüchen und Zweifeln, seinen Hoffnungen, seinen Chancen, Niederlagen und Erfolgen.

Die zentrale Voraussetzung bei diesem Vorgehen ist der spezifische Klassenbegriff mit dem Thompson arbeitet: "Unter Klasse verstehe ich ein historisches Phänomen, das eine Reihe von Ereignissen vereint, die in der Erfahrung und im Bewusstsein ungleichartig und scheinbar zusammenhanglos existieren. Ich möchte betonen, dass es sich um ein historisches Phänomen handelt. Ich betrachte Klasse nicht als eine "Struktur" oder gar als eine "Kategorie", sondern als etwas, dass sich unter Menschen in ihren Beziehungen abspielt (und das dokumentiert werden kann)."[1] Und an anderer Stelle: "Eine Klasse formiert sich, wenn Menschen aufgrund gemeinsamer Erfahrungen - seien sie von den Vorfahren weiter gegeben oder zusammen erworben - die Identität ihrer Interessen empfinden und artikulieren, und zwar sowohl untereinander als auch gegenüber anderen, deren Interessen von ihren eigenen verschieden (und diesen gewöhnlich entgegengesetzt) sind. Die Klassenerfahrung ist weitgehend durch die Produktionsverhältnisse bestimmt, in die man hineingeboren wird - oder in die man gegen seinen Willen eintritt. Klassenbewusstsein ist die Art und Weise, wie man diese Erfahrungen kulturell interpretiert und vermittelt: verkörpert in Traditionen, Wertsystemen, Ideen und institutionellen Formen. Im Gegensatz zum Klassenbewusstsein ist die Erfahrung allem Anschein nach determiniert. In den Reaktionen vergleichbarer Beschäftigungsgruppen mit ähnlichen Erfahrungen erkennen wir zwar eine Logik, aber ein Gesetz können wir nicht aufstellen. Klassenbewusstsein entsteht zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten auf dieselbe Weise, allerdings niemals auf genau dieselbe Weise."[2]

Mit anderen Worten: soziale Klassen entstehen nach Thompson deshalb, weil sich die weitgehend bestimmten und zunächst zusammenhanglos erscheinenden Klassenerfahrungen der Individuen in den Beziehungen der Menschen untereinander immer auch in einem historisch offenen Prozess der kollektiven Verarbeitung zu einem Klassenbewusstsein verdichten. Diese Neuausrichtung des Klassenbegriffs durch Thompson in "The Making" beinhaltet drei wichtige Akzentsetzungen. Erstens: an die Stelle des hölzernen Gegensatzes von objektiver Klassenlage hier und subjektivem Klassenbewusstsein dort, tritt bei Thompson die subjektiv-objektive Klassenerfahrung auf der einen Seite und die subjektiv-kollektive Reaktion der Verarbeitung dieser Erfahrungen im Klassenbewusstsein auf der anderen Seite. Somit zentriert er seine Klassenanalyse um die Aktivitäten der jeweiligen Subjekte, ohne jedoch deshalb diese Aktivitäten derart zu verabsolutieren, als dass sie durch keine determinierenden Rahmenbedingungen beeinflußt wären. Zweitens: mit dieser Neuausrichtung sucht Thompson dem Umstand Rechnung zu tragen, dass wir mit Marx zwar wissen, dass die Menschen in ihren Aktivitäten durch die sie umgebenden Verhältnisse bestimmt sind, dass wir aber gleichzeitig historisch nie den genauen Grad dieser Determinierung vorhersagen können. Genau deshalb muss nach Thompson auch die Klassenanalyse bei den jeweiligen Verarbeitungen dieser Umstände durch die Menschen, also dem Klassenbewusstsein, ansetzen, denn nur so kann sie zum einen der immensen kreativen Spannbreite der kollektiven Verarbeitungsformen der Klassenerfahrung gerecht werden und andererseits doch die jeweiligen Muster dieser Verarbeitung und damit die Logiken (und eben nicht Gesetzte!) herausarbeiten, die die jeweilige Klassenformation kennzeichnen. Drittens schließlich: durch diese Neuausrichtung der Klassenanalyse verabschiedet Thompson den Maßstab der objektiven Verhältnisse, an dem insbesondere Sozialdemokratie und Leninismus das subjektive Klassenbewusstsein zu messen pflegt. So entsteht neuer Bewertungsspielraum für die Prozesse historischer Klassenbildung, dem es nicht mehr um die Frage nach dem richtigem oder falschem Klassenbewusstsein geht, sondern um ein Verständnis für die zwar oftmals ex post naiv wirkenden und doch in ihrer Zeit erstaunlich wirksamen und folgenreichen Widerstandsstrategien der Arbeiterklasse.[3]

Orientiert man sich nun am Aufbau von "The Making", so lässt sich Thompsons Argumentation in dem auf Deutsch knapp 1000 Seiten langen Buch mit aller Vorsicht grob in drei Schritte unterteilen. Im ersten Schritt der Darstellung stehen ältere Tradition des Volksradikalismus in England sowie der Einfluss der Französischen Revolution auf diese Widerstandstraditionen im Mittelpunkt. Dabei sieht Thompson 1795, als der englische König auf der Fahrt ins Parlament von der Volksmenge beschimpft sowie attackiert wird und die Regierung Pitt mit den Two Acts u.a. die Koalitions- und Versammlungsfreiheit erheblich einschränkt als entscheidende Zäsur. Denn: "In den Jahrzehnten nach 1795 kam es zu einer tiefen Entfremdung zwischen den sozialen Klassen in England; die arbeitende Bevölkerung geriet in einen Zustand der Apartheid, dessen Nachwirkungen - in den diskriminierenden Feinheiten im gesellschaftlichen Leben und Erziehungswesen - noch heute spürbar sind. England unterschied sich von anderen europäischen Ländern insbesondere dadurch, dass der Höhepunkt der konterrevolutionären Einstellungen und Disziplinierungen mit dem Höhepunkt der Industriellen Revolution zusammenfiel; in dem Maße, wie sich neue Techniken und neue Formen industrieller Organisation durchsetzten, wurden die politischen und sozialen Rechte zurückgedrängt. Die "natürliche" Allianz zwischen einer unruhigen und radikal gesinnten industriellen Bourgeoise und einem sich entwickelnden Proletariat wurden im Augenblick ihrer Entstehung bereits wieder zunichte gemacht."[4] (S.191) So waren "aufgrund ihrer Isolation von den anderen Klassen ... die radikalen Handwerker und Arbeiter gehalten, eigene Traditionen zu pflegen und eigenständige Organisationsformen auszubilden. Die Jahre 1791 bis 1795 lieferten die demokratischen Impulse, doch es waren die Jahre der Repression, in denen ein eindeutiges "Arbeiterklassenbewusstsein" heranreifte."[5]

Im zweiten Teil von "The Making" spürt Thompson den Folgen dieser doppelten Repression der englischen Unterschichten durch Industrialisierung und Klassenpolitik der Oberschichten nach. Dabei rücken zwar zunächst mit Handwerkern, Landarbeitern und Webern Bevölkerungsgruppen in den Mittelpunkt, für die die Industrialisierung Großteils den schlussendlichen Niedergang ihrer Arbeits- und Lebensweisen bedeutete. Allein deshalb fällt das Ergebnis dieser Betrachtungen bei Thompson keineswegs einseitig negativ aus. Einerseits sieht er zwar insbesondere im Methodismus ein Beleg für die Ohnmacht und partielle "Kapitulation"[6] der Unterschichten gegenüber dieser doppelten Repression, wenn er schreibt: "Es ist möglich, dass der Methodismus die Revolution verhindert hat; mit Sicherheit lässt sich sagen, dass sein rasches Anwachsen während des Krieges zum psychischen Prozess der Konterrevolution gehörte. In gewisser Weise ist jede Religion, die großes Gewicht auf das Leben nach dem Tode legt, ein Chiliasmus der Besiegten und Hoffnungslosen."[7] Andererseits jedoch führte diese doppelte Unterdrückung der englischen Volksschichten eben auch zur politischen Radikalisierung derselben sowie zur Intensivierung des Gemeinschaftslebens dieser Unterschichten, so dass Thompson für diese Zeit hervorhebt, "dass kollektivistische Wertvorstellungen in vielen industriellen Gemeinden dominieren; es gibt einen genauen moralischen Kodex mit Sanktionen gegen Streikbrecher; "Handlanger" der Unternehmer oder unfreundliche Nachbarn wie auch Unduldsamkeit gegenüber dem Exzentriker oder Individualisten." Und weiter: "Kollektivistische Wertvorstellungen werden bewusst vertreten und in der politischen Theorie, im Zeremoniell der Gewerkschaften und in der moralischen Rhetorik propagiert. Eben dieses kollektive Selbstbewusstsein mit seiner entsprechenden Theorie, seinen Institutionen, seiner Disziplin und seinen Gemeinschaftswerten unterscheidet die Arbeiterklasse des 19.Jahrhunderts vom Mob des 18.Jahrhunderts."[8]

Schließlich im letzten Abschnitt von "The Making" wirft Thompson einen genaueren Blick auf das, was er die "Die Präsenz der Arbeiterklasse" nennt. Dabei spricht er nicht nur dem Luddismus eine neue, positive Bedeutung für die Entstehung der englischen Arbeiterklasse zu.[9] Auch die Aktivitäten der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts in England und die durch sie ab 1830 sich vollends etablierende Arbeiterklasse stellt er in ein neues Licht. Denn: wenn die zwanziger Jahre "wie eine lieblich blühende Alm des sozialen Friedens"[10] erscheinen, so vollziehen sich laut Thompson in diesem Jahrzehnt entscheidende Weichenstellungen: "In diesen ruhigen Jahren kämpfte Richard Carlile für die Pressefreiheit, wuchs die Kraft der Gewerkschaftsbewegung, wurden die Koalitionsgesetze widerrufen, entwickelten sich die Freidenkerei, die Genossenschaftsexperimente und die owenitische Theorie. Individuen und Gruppen versuchten, die zwei von uns beschriebenen und miteinander verbundenen Erfahrungen in eine Theorie zu übertragen: die Erfahrung der Industriellen Revolution mit der Erfahrung des aufständischen und besiegten Volksradikalismus. Am Ende dieses Jahrzehnts, als der Kampf zwischen Old Corruption und der Reformbewegung seinen Höhepunkt erreichte, können wir in einem neuen Sinn vom Bewusstsein der arbeitenden Menschen, von ihren Klasseninteressen und ihrer Klassenlage sprechen."[11]

Welche Bedeutung aber hat Thompsons Meisterwerk 50 Jahre nach seiner Erstausgabe heute noch? Handelt es sich bei "The Making" inzwischen nicht um einen historiographischen Klassiker, dessen Bedeutung sich in der Aufarbeitung eines zwar wichtigen, aber inzwischen in den Hintergrund gerückten Kapitels der englischen Sozialgeschichte erschöpft? Warum könnte sich seine Lektüre auch für die gegenwärtige politische Linke lohnen und nicht nur für interessierte Geschichtsstudenten? Nun, diese und ähnliche Fragen, münden letztlich in das Problem, ob man Klassen im Allgemeinen und Klassenbildungsprozessen im Besonderen heutzutage noch eine politische Funktion zuspricht. Die vorschnelle Zurückweisung einer klassentheoretischen Perspektive kann dabei ein Hinweis Thompsons verzögern helfen, wenn er am Anfang von "The Making" bemerkt: "Im Übrigen hat es der größere Teil der Welt heute mit Problemen der Industrialisierung und der Schaffung demokratischer Institutionen zu tun, die in vielerlei Hinsicht den englischen Erfahrungen während der Industriellen Revolution entsprechen. Kämpfe, die in England verloren wurden, lassen sich in Asien oder Afrika vielleicht noch gewinnen." [12] Doch welche Probleme sind das genau, die einen vergleichenden Brückenschlag vom England des frühen 19.Jahrhunderts in die Welt des 21. Jahrhunderts ermöglichen? Und welche Schlachten könnten hier noch gewonnen werden?

Eine erste Annäherung an mögliche Antworten auf diese Fragen erhalten wir, wenn wir uns den Charakter auch gegenwärtiger Industrialisierungsprozesse anschauen. In den meisten Regionen der Welt wie Asien, Südamerika oder Arabien bedeutet Industrialisierung und Weltmarktorientierung eben auch wie im England des frühen 19. Jahrhunderts politische Repression von oben statt eines demokratischen Bündnisses zwischen Bürgertum und werdender Arbeiterklasse. Und: auch dort durchleben gegenwärtig breite Volksschichten parallel zu dieser politischen Repression jenen schwerwiegenden psychosozialen Schock der kapitalistischen Modernisierung, der sie ähnlich wie die englischen Volksschichten des frühen 19. Jahrunderts dazu zwingt innerhalb kürzester Zeit dem Untergang ihrer althergebrachten Arbeits-, Lebens- und Denkweisen beizuwohnen um gleichzeitig am Rand großer Städte unter erbärmlichen Bedingungen als billige Arbeitskraft dem kapitalistischen Weltmarkt zur Verfügung zu stehen. Mike Davis hat in seinem Buch "Planet der Slums" eine erste Bestandsaufnahme dieses sich immer mehr beschleunigenden Prozesses aus stadtsoziologischer Perspektive geliefert. Aber es täte Not hier noch genauer hinzusehen. Sind es etwa diese psychosozialen Erschütterungen, die wie im englischen Methodismus der frühen 19. Jahrhunderts heute im Islamismus und Evangelikalismus neue "Chiliasmen der Verzweiflung" produzieren? Inwieweit lassen sich hier auch Klassenbildungsprozesse beobachten, etwa durch die Intensivierung des Gemeinschaftslebens oder die Ausbildung kollektivistischer Wertvorstellungen, die auch Hoffnung machen könnten? Oder aber ist den Volksschichten des 21. Jahrhunderts im Verlauf ihrer Anpassung an die kapitalistische Industrie eine neuartige "klassenlose" soziale Randexistenz beschieden? Letzteres wäre ein bedenkliches Signal auch für die Linke in den etablierten Industriegesellschaften. Denn auch dies hat Thompson mit "The Making" gezeigt: Demokratisierungsbemühungen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft verdanken sich zentral gelingenden Klassenbildungsprozessen von unten. Sollten diese Prozesse ins Stocken geraten oder gar ausbleiben, dann fehlen global wie lokal jene vielgestaltigen, lebendigen Parallel- und Widerstands-Kulturen, die Thompson für die englische Entwicklung so anschaulich beschrieben hat und die hier mit dafür gesorgt haben, dass die englische Arbeiterklasse dem Diktat ihrer herrschenden Klassen ab 1830 etwas entgegenzusetzen hatte. Die politische Linke wäre gut beraten heutzutage ein erneutes Gespür für diese historischen Prozesse zu suchen und gerade auch die letzten Jahrzehnte des sog. Neoliberalismus verstärkt aus dieser Perspektive zu diskutieren. Denn der massive Sozialstaatsabbau sowie die viel diskutierte Krise der Gewerkschaften und ehemaligen Arbeiterparteien könnte bei genauerer Betrachtung ihre tiefere Ursache in der abnehmenden Fähigkeit der Arbeiter- und Unterschichten haben, "Klasse zu machen". Und dann würde die Schlacht der Zukunft eben weniger in und um die großen politischen Parteien, Institutionen und Parolen herum geschlagen - als vielmehr in den häufig versteckten, widersprüchlichen und scheinbar beiläufig-alltäglichen Prozessen der sozialen Klassenbildung. Welche dies genau heute sind, wäre wie schon gesagt zu diskutieren - dank Edward P. Thompson haben wir aber zumindest das gedankliche und historisch-exemplarische Rüstzeug um damit zu beginnen.



Anmerkungen

[1] Edward P. Thompson, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Frankfurt am Main 1987, 2. Bde., S.7.

[2] Ebd., S.8.

[3] "Ich versuche den armen Strumpfwirker, den ludditischen Tuchscherer, den "obsoleten" Handweber, den "utopistischen" Handwerker, sogar den verblendeten Anhänger von Joanna Southcott vor der ungeheuren Arroganz der Nachwelt zu retten. Ihre Berufe und Traditionen waren möglicherweise im Absterben, ihre Feindschaft gegen den neuen Industrialismus war vielleicht rückwärtsgerichtet, ihre kommunistischen Ideale waren unter Umständen Phantasiegebilde und ihre rebellischen Verschwörungen tollkühn. Aber sie waren es, die diese Zeit akuter sozialer Unruhen erlebten, und nicht wir. Ihre Bestrebungen waren im Rahmen eigener Erfahrungen berechtigt. (Ebd., S.11)

[4] Ebd., S.191.

[5] Ebd., S.195. vgl. auch Ebd., S.213.

[6] Ebd., S.379.

[7] Ebd., S.411.

[8] Ebd., S.453. vgl. auch die Bemerkungen im Nachwort aus dem Jahr 1968, in dem Thompson sich mit der Kritik an "The Making" auseinandersetzt. Auf diese Kritik gehe ich hier deshalb nicht ein, da das eine wesentlich gründlichere Auseinandersetzung mit Thompsons Buch aber auch der Zeit, in der es geschrieben wurde, verlangen würde. Aber: neben historiographischen Aspekten wie seiner Bewertung des Methodismus sorgte insbesondere der von Thompson benutzte Klassenbegriff dafür, dass er sowohl von der bürgerlichen Soziologie und Geschichtswissenschaft aber auch von der marxistischen Orthodoxie teilweise heftig angegangen wurde. Zugleich aber inspirierte er auch eine Vielzahl von Forschungsarbeiten, die häufig genug mit dem Titel "The Making..." Klassenbildungsprozesse und Klassenkämpfe in vielen anderen Ländern und Regionen aus der Perspektive der agierenden Subjekte und Gruppen zu analysieren begannen.

[9] "Hinter der Maschinenstürmerei müssen wir nach den Motiven der Männer suchen, die die großen Hämmer schwangen. Der Luddismus als "Bewegung des Volkes selbst" verblüfft nicht so sehr durch seine Rückwärtsgewandtheit als durch seine wachsende Reife. Er war alles andere als "primitiv" und demonstrierte in Nottingham wie auch in Yorkshire einen hohen Grad an Disziplin und Selbstbeherrschung. Im Luddismus kann man die Manifestation einer Kultur der Arbeiterklasse sehen, die unabhängiger und komplexer war als je zuvor im 18. Jahrhundert. (...) Er war eine transitorische Phase, in der durch die Koalitionsgesetze aufgestauten Fluten einer selbstbewussten Gewerkschaftsbewegung nach Durchbruch strebten, nach einer sichtbaren und offenen Präsenz." Ebd., S.692 f.

[10] Ebd., S.807.

[11] Ebd. Diese Entwicklung führte ab 1830 auch zu einer Zurückdrängung des Chiliasmus der Verzweiflung innerhalb der englischen Arbeiterschaft: "Um 1830 stieß nicht nur die Staatskirche, sondern auch die methodistische Erweckungsbewegung in den meisten Arbeiterzentren auf den starken Widerstand von Freidenkern, Oweniten und nicht-konfessionellen Christen. (...) Die Methodisten hatte ihre Stellung konsolidiert, aber sie tendierten immer mehr dazu, Kaufleute und privilegierte Arbeitergruppen zu repräsentieren und sich moralisch vom Gemeinschaftsleben der Arbeiterklasse zu isolieren." Ebd., S.457

[12] Ebd., S.12

*

Daniel Andersen

Die Ökonomie als letztes Bollwerk des Essentialismus?

"Ökonomischer Determination in letzter Instanz" - ein Schlüssel zum Verständnis des Übergangs von Revolution zu Reformismus im "Post-Marxismus" von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe

"Seitdem die Gesellschaft auf den Boden der ökonomischen Tatsachen zurückgeholt wurde, ist der kulturalistische Karneval der Differenzen vorbei. Unter dem bunten Überbau der Gesellschaft kommt, in orthodoxer Diktion, ihre eintönige gemeinsame Basis wieder zum Vorschein. Und was um die Verknüpfung von Kämpfen bemühten Aktivisten in Jahrzehnten nicht gelang, hat die globale Krise binnen kürzester Zeit geschafft: Millionen gehen gleichzeitig an allen Orten der Welt mit demselben Anliegen auf die Straße. ... Es geht ums Ganze."
(Kosmoprolet #3, November 2011)[1]

"It's the economy, stupid!" - eine eher diffuse Erkenntnis dieser Art zieht seit dem Ausbruch des aktuellen kapitalistischen Krisenzyklus 2007, der wachsenden Prekarisierung der Mittelschicht und damit auch weiter Teile der eher bürgerlich und akademisch geprägten Linken und dem Abflauen des postmodernen Theorie-Hypes zunehmend weite Kreise. Aus guten Gründen möchte gleichzeitig kaum jemand zurück zu einer Privilegierung des "Hauptwiderspruchs" Kapital-Arbeit, gar zu einer ideologischen Überhöhung des (oft männlichen-weiß gedachten) Proletariats.

Aber hat man nicht doch ein wenig "das Kind mit dem Bade ausgeschüttet", als seit Ende der 1970er Jahre die marxistischen Kategorien der politischen Ökonomiekritik von weiten Teilen der Linken für obsolet erklärt wurden und stattdessen die fröhliche Feier der Differenz, des Diskursiven und der referenzlosen Simulakren sowie die Beschwörung der Pluralität von Herrschaft und der kleinteiligen Veränderungen im Hier und Jetzt begannen...? Aber wie müsste der Status der Ökonomie im Hinblick auf andere gesellschaftliche (Herrschafts-)Bereiche konzipiert werden, wenn diese als "in letzter Instanz" determinierend, aber nicht deterministisch gedacht werden soll?

In den 1970er Jahren bildet die Frage ökonomischer Determination den Dreh- und Angelpunkt der Absetzbewegung vom Marxismus und von einer Bezugnahme auf eine revolutionäre Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Exemplarisch dafür ist die postmoderne, "post-marxistische" politische Theoriebildung bei Ernesto Laclau und Chantale Mouffe. Relativ versteckt, aber argumentationslogisch zentral setzen sie sich in ihrem Hauptwerk Hegemony and Socialist Strategy[2] mit dem von Friedrich Engels eher beiläufig geprägten Konzept der "Determination durch die Ökonomie in letzter Instanz" auseinander. Sie verabsolutieren jedoch dessen starr-ökonomistische Auslegung durch die sozialdemokratische II. Internationale und den Stalinismus und ziehen andere Interpretationen gar nicht erst in Betracht - genau dies soll hier jedoch versucht werden.

Der Begriff ökonomischer Determination verbindet sich mit der Frage von Reform und Revolution in doppelter Weise:

I.) durch seine Bezugnahme auf eine Totalität, ein gesellschaftliches Ganzes - nämlich den Kapitalismus (bzw. die von der kapitalistischen Produktionsweise dominierte Gesellschaftsordnung), der als Ganzes abgeschafft und durch eine qualitativ neue Gesellschaftsordnung ersetzt gehört. Dem steht die postmoderne Abwendung von der Totalität zugunsten mikropolitischer Machtanalysen (Foucault, Deleuze) sowie eine affirmative Bezugnahme auf die rein sektoralen Kämpfe der Neuen Sozialen Bewegungen seit den 1970er Jahren gegenüber. "'Society' is not a valid object of discourse" schreiben Laclau/Mouffe folgerichtig[3] - die akademisch-höfliche Version von Margaret Thatchers ungefähr zeitgleicher Sentenz: "There is no such thing as society."

II.) durch seinen Notwendigkeitscharakter, der das politische Handeln begrenzt oder in bestimmte strategische Formen zwingt. So ist etwa der Klassenkampf eine objektive Realität, die sich schlicht durch den eisernen Zwang zur maximalen Kapitalverwertung reproduziert. Unabhängig davon, ob so etwas wie Klassenbewusstsein existiert oder nicht, muss eine auch nur reformistisch orientierte Bewegung auf den Klassenkampf als strukturierenden Rahmen des Politischen Bezug nehmen, inklusive der daraus resultierenden strategischen Erfordernisse (etwa der Notwendigkeit der Koalitionsbildung unter den lohnabhängig Beschäftigten, der Abwehr von Streikbrecher/inne/n, der Einschätzung des bürgerlichen Staatsapparats als nicht-neutraler Instanz usw.). Aber auch die anderen politischen Kämpfe, egal wie nah oder weit sie von im engeren Sinn ökonomischen Fragen entfernt sind, werden mindestens indirekt durch die systemischen Zwänge der Kapitalverwertung berührt, begrenzt oder vorgeformt. Sei es, weil der Zugang zu materiellen Ressourcen (und somit die Verteilung des Mehrwerts) auf dem Spiel steht; sei es, weil auch Fragen der persönlichen Lebensgestaltung oder der "Anerkennung" vom gesellschaftlichen Zwang zur Konditionierung lohnarbeitsfähiger Subjekte nicht unabhängig gedacht werden können. (Dieser Punkt wird nicht zuletzt von der marktförmigen neoliberalen Umgestaltung der Gesellschaft bis in den Alltagsverstand der Individuen hinein illustriert.)

Aus der Annahme einer solchen strukturierenden Kraft ökonomischer Zwangsverhältnisse im Hinblick auf gesellschaftliche Herrschaft insgesamt folgt keineswegs eine deterministische oder gar teleologische Geschichtsauffassung und auch kein Verständnis von Ökonomie als abstraktem "unbewegtem Beweger", der gottähnlich über den realen Verhältnissen steht. Diese Ideologeme entspringen vielmehr der Gedankenwelt der sozialdemokratischen II. Internationale und des Stalinismus - sind mithin Ausdruck des reformistischen Verfalls der revolutionären Arbeiter/innen/bewegung.

Laclau und Mouffe tun jedoch so, als müsse das Konzept einer letztinstanzlichen ökonomischen Determination zwangsläufig auf einen solchen Determinismus hinauslaufen - sie bezeichnen es als "letztes Bollwerk des Essentialismus"[4]. Damit nehmen sie den Anspruch der stalinistischen kommunistischen Parteien, den "authentischen" Marxismus allein zu repräsentieren, für bare Münze.

Kein Wunder, dass sich in Hegemony and Socialist Strategy keine einzige direkte Referenz auf Marx findet, sondern Versatzstücke des "offiziellen Marxismus" zu einem hyperdeterministischen Pappkameraden aufgebaut werden, der ohnehin von niemandem mehr ernsthaft vertreten wird. Diesem stellen Laclau und Mouffe ihr eigenes Verständnis des Politischen entgegen, das alle sozialen und politischen Verhältnisse als kontingent und in alle Richtungen hin offen beschreibt: Alles ist mit allem "artikulierbar", jegliche Notwendigkeitsbestimmungen im Hinblick auf Interessenslagen, Handlungsoptionen oder Zielsetzungen gelten ihnen als unzulässiger, apriorischer "Essentialismus".

Zwar konzedieren sie im Anschluss an Lacan die Notwendigkeit sogenannter "nodal points" (Knotenpunkte), die die Offenheit der Signifikationen, Identitäten und sozialen Beziehungen begrenzen; ferner ist bei ihnen gelegentlich auch vom "materiellen Charakter" jeder diskursiven Struktur die Rede, der einer ideellen Beliebigkeit entgegenzustehen scheint. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass sie mithilfe des von Althusser entwendeten Begriffs der "Überdetermination" jedes fixe Element als prinzipiell in alle Richtungen beweglich ("pierced by contingency"[5]) kennzeichnen, die "nodal points" folglich jederzeit auflösbar sind.[6]

Überdetermination, von Althusser eingeführt, um zu verdeutlichen, dass Klassenkämpfe niemals "in Reinform" auftreten, sondern stets von anderen (geschlechtlichen, religiösen, nationalen, etc.) Konflikten überlagert - auch in dieser Gemengelage jedoch nicht als solche eliminiert - werden, verkommt in Laclau/Mouffes Interpretation zu bloßer Indetermination. (Nicht zufällig war "Indeterminate Communism" der Titel eines stark akademisch-postmodernistisch geprägten "Kommunismus-Kongresses" im Jahr 2003 in Frankfurt/Main, zu dem auch Chantal Mouffe geladen war).

"The critique of reductionism has apparently resulted in the notion of society as a totally open discursive field." (Stuart Hall über Laclau/Mouffe: Hegemony and Socialist Strategy)[7] Entweder 100% eindeutige Determination oder völlige Offenheit - vor diese alleinige Alternative werden wir von Laclau und Mouffe gestellt. Das Ergebnis ist ein subjektivistischer Politizismus, der keine (systemisch oder historisch bedingten) strukturellen Begrenzungen mehr kennt, sondern politisches Handeln stets an den augenblicklichen Bündnisoptionen orientiert - viel postmodernes Theoriegedöns als Apologie des immergleichen opportunistischen Impulses. Ernesto Laclau geht so weit, die KPD der 1920er Jahre für ihre "bornierte" Klassenpolitik zu tadeln und empfiehlt rückblickend Radeks "Schlageter-Linie", die ein "hegemoniales Bündnis" mit deutschen Nationalisten ermöglicht hätte.[8]

In der Konzeption des Ökonomischen als strukturierendem Prinzip eines gesellschaftlichen Ganzen gilt es jedoch, die Fallstricke des Ökonomismus zu vermeiden und dabei zum einen das Wesen dieser Determination (die in ihr angelegte spezifische Kausalität oder Wirkmächtigkeit) und zum anderen das Wesen des Ökonomischen näher zu beleuchten.

1.) Es soll ein "sektorales" Ökonomieverständnis vermieden werden, das Ökonomie auf eine Frage der Verteilung (im Unterschied etwa zu "Anerkennung") reduziert (z.B. Nancy Fraser). Ebenso wird ein "limitativer" Determinationsbegriff verworfen, der die Relativität (die "Letztinstanzlichkeit") ökonomischer Determination lediglich an ihre Reichweite (die Intensität, den Zeitraum oder den Gegenstandsbereich) bindet, dabei jedoch die qualitative Prägung des Determinierten durch die Determination außer Betracht lässt (Norman Geras).

2.) Es geht folglich "ums Ganze": Die Ökonomie ist primär eine Frage der Produktion, nicht der Verteilung, und die Produktion strahlt auf die gesamte Gesellschaft aus. Damit soll jedoch nicht das Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit als "Hauptwiderspruch" gegenüber anderen Unterdrückungsverhältnissen privilegiert werden. Gemeint ist vielmehr, dass die kapitalistische Produktionsweise der gesamten Gesellschaft ihren Stempel aufdrückt und alle gesellschaftlichen Verhältnisse in einer ihr zuträglichen Weise organisiert und diesen ihren Platz zuweist - ganz im Sinne der berühmten Marxschen Metapher in der Einleitung zu den Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie:

"In allen Gesellschaftsformen ist es eine bestimmte Produktion, die allen übrigen, und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen, Rang und Einfluß anweist. Es ist eine allgemeine Beleuchtung, worein alle übrigen Farben getaucht sind und [welche] sie in ihrer Besonderheit modifiziert. Es ist ein besondrer Äther, der das spezifische Gewicht alles in ihm hervorstechenden Daseins bestimmt."[9]

Die totalitätsstiftende Kraft der kapitalistischen Produktionsweise als "allgemeine Beleuchtung" aller gesellschaftlichen Beziehungen resultiert im Wesentlichen aus dreierlei Gründen:

a) Die immanenten systemischen Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise (Wertgesetz, Zwang zur Selbstverwertung des Werts, ...) bestehen unabhängig vom Wollen und Wissen der gesellschaftlichen Akteur/inn/e/n und erzeugen - bei Strafe des Stillstands der materiellen Produktion oder des Untergangs ihrer Agent/inn/en - einen permanenten, massiven Druck zugunsten ihrer Realisierung. (Natürlich setzen sich diese nicht zwangsläufig und unvermittelt durch, aber das "Theater des Politischen" wird beständig in ihren Bann gezogen, kreist um sie herum und wird bisweilen eben auch von ihnen vereinnahmt.)

b) Diese systemischen Gesetzmäßigkeiten sind auf Existenzbedingungen angewiesen, welche jenseits der eigentlichen kapitalistischen Produktionssphäre liegen, von dieser jedoch im Interesse ihrer fortlaufenden Reproduktion parasitär angeeignet und zugerichtet werden - so etwa Hausarbeit, Erziehung, Pflege oder Bildung. Zu den Existenzbedingungen gehört aber auch die Atomisierung der lohnabhängig Beschäftigten entlang zahlreicher realer und imaginärer Spaltungslinien. Sie entsteht einerseits "naturwüchsig" aus der systemischen Konkurrenz der Arbeiter/inne/n untereinander, sie kann aber andererseits bei Bedarf (meist verschärften Klassen- oder Verteilungskämpfen) auch mit "außerökonomischen" politischen Mitteln angestachelt werden (Rassismus und Sexismus; zur Atomisierung ist auch die Vereinzelung der politischen Subjekte im Rahmen des auf den individuellen Wahlakt ausgerichteten politischen Systems zu nennen). Hinzu kommt natürlich die "historische Trägheit" des rückschrittlichen Bewusstseins auch unter den Subalternen selbst, die gemäß dem physikalischen Trägheitsgesetz solange "ihre Bahn fortsetzt", wie sie von keinen äußeren Kräften davon abgebracht wird. Die Kräfte des Kapitals haben daran jedoch nur ein begrenztes, und zwar von den Erfordernissen des Betriebsfriedens, des (Fach-)Arbeitskräftebedarfs und der Exportwirtschaft diktiertes Interesse.

c) Den kapitalistischen Produktionsverhältnissen wohnt eine ebenso expansive wie destruktive Dynamik inne, die tendenziell immer weitere Lebensbereiche zu tangieren und letztlich dominieren sucht (reelle Subsumtion der Arbeitskraft, Ökonomisierung der natürlichen Ressourcen, warenförmige Gestaltung von Freizeit- und Reproduktionssphäre, ...) und die im Zeichen der periodischen kapitalistischen Krise tendenziell die gesamte Gesellschaft in Mitleidenschaft zieht (wie heute - nicht nur - in Griechenland zu beobachten ist, wo die ökonomische Zerrüttung die Lebenssituation nicht nur der männlichen Arbeiter, sondern insbesondere von Frauen, Jugendlichen und Migrant/inn/en beeinträchtigt).

Wie unter b) ausgeführt ist der Kapitalismus zwar auf noch nicht von ihm "kolonisierte" Bereiche angewiesen, so dass dem expansiven Drang der Kapitalverwertung eine innere systemische Grenze gesetzt ist. Dieser Drang jedoch formt und beschränkt von vornherein den Spielraum des Politischen; und im Zeichen der periodischen Akkumulationskrisen werden politisch mühevoll erkämpfte Errungenschaften regelmäßig wieder zunichte gemacht oder infrage gestellt. Denn die Grundlage des Kapitals ist sowohl in politischer wie ökonomischer Hinsicht letztlich eben doch eine nationale (wie der Zerfallsprozess der EU und des Euros und die wachsende Entfremdung innerhalb der transatlantischen "Bündnispartner" gerade sehr anschaulich zeigen). Folglich werden die im nationalen Rahmen getroffenen politischen Vereinbarungen (Kompromisse, Zugeständnisse, die den Verwertungsprozess "zähmen", "regulieren", d.h. vordergründig erst einmal behindern) in dem Moment hinfällig oder jedenfalls stark bedroht, in dem sie dem internationalen Konkurrenzwettbewerb, der sich die nationalen Kapitalien - bei Strafe ihres Untergangs - zu stellen haben, im Wege stehen (und in der Krise setzen sich unter dem Druck der Umstände in der Regel die vordergründigen gegenüber den "vernünftigen", längerfristigen Kapitalinteressen durch).

3.) Wenn der Ökonomiebegriff folglich nicht auf das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital eingeschränkt wird, sondern im Hinblick auf die Existenzbedingungen und die Reproduktion der kapitalistischen Produktionsverhältnisse erweitert wird, sind die Fragen von Herrschaft, Geschlechterverhältnissen oder Umgang mit natürlichen Ressourcen in ihm inbegriffen. Laclau und Mouffe hingegen beziehen sich mit ihrem Verständnis von (Determination durch die) Ökonomie implizit auf die Tradition des sozialdemokratisch-stalinistischen Ökonomismus im Sinne einer Privilegierung des - auf reine Lohnfragen reduzierten - Klassenkampfs als "Hauptwiderspruch". Dies jedoch ist gerade ein Ausdruck des reformistischen Verfalls der Arbeiter/innen/bewegung - Ausdruck dessen, dass hier der Bezug "aufs Ganze" zugunsten der unmittelbaren Interessen von Teilen der lohnabhängig Beschäftigten fallengelassen wurde. Paradigmatisch dafür ist der französische Mai '68, der von der stalinisierten Kommunistischen Partei für ein paar Lohnerhöhungen ausverkauft wurde.

4.) Das Verhältnis des Ökonomischen zum "Nicht-Ökonomischen" (d.h. auch, aber nicht nur zu seinen im engeren Sinn außerökonomischen Reproduktionsbedingungen) zeichnet sich unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise wesentlich durch die mystifizierende Abspaltung "der" Ökonomie vom Rest der Gesellschaft, d.h. insbesondere durch die Trennung von Ökonomie und Politik aus. Diese Trennung wird von der "postmarxistisch"-postmodernen politischen Theorie im Grunde als selbstverständliche Gegebenheit vorausgesetzt.

"Radikaldemokratie" schreiben sich Laclau und Mouffe auf ihre Fahnen - aber wie wäre diese denn vorstellbar, solange Privateigentum an den Produktionsmitteln herrscht und die damit verbundenen Dynamiken und Gesetzmäßigkeiten eine wahrhaft gesellschaftliche Entscheidung darüber, wie gelebt, produziert und konsumiert werden soll, versperren? Erst mit der Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise würden sowohl Ökonomie als auch Politik und Staat in die Gesellschaft aufgelöst.

5.) Die politische Relevanz dieser Analyse zeigt sich daran, dass der hier vorausgesetzte Determinationsbegriff keiner linearen Kausalität folgt, dass also nicht die Frage nach der ursächlichen Entstehungsgeschichte dieser oder jener Herrschafts- und Unterdrückungsform im Vordergrund steht, sondern die Frage nach deren Abschaffung. Die meisten davon sind tatsächlich bereits vor dem Kapitalismus entstanden - eine Tatsache, die jedoch oft verwendet wird, um die Determinationsthematik in unfruchtbarer Weise auf die Frage "Wer oder was hat schuld?" zu reduzieren und vom eigentlich Spannenden, politisch Relevanten abzulenken.

Völlig unabhängig von ihrem Ursprung können nämlich sämtliche Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse nur mit einer Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise als conditio sine qua non abgeschafft werden. Der Hinweis darauf, dass dies eine notwendige und noch nicht hinreichende Bedingung sei (dass also mit dem Tag X der Vergesellschaftung der Produktionsmittel noch nicht das Patriarchat und der Rassismus abgeschafft sind), sollte sich - eigentlich - erübrigen, wenn deutlich geworden ist, dass (und wie) eine solche Umwälzung nicht vom Himmel fallen wird (bzw. nicht, wie nach 1945 in Osteuropa von einer militärischen Macht aufoktroyiert werden wird), sondern erkämpft werden muss.

Dieser Kampf kann nämlich nur dann erfolgreich sein, wenn in ihm der Kommunismus - als "wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt" (Marx in der Deutschen Ideologie) - bereits "vorweggenommen" wird, wenn er sich also den Kampf gegen sämtliche Formen von Unterdrückung auf die Fahnen schreibt. Nicht (nur) aus moralischen, sondern allein schon aus strategischen Gründen verbietet sich per se

1.) eine Fixierung auf reine Lohnfragen (bzw. die unmittelbaren Interessen des weißen, männlichen Facharbeiters), weil diese ja als solche automatisch im kapitalistischen Rahmen der Anerkennung von Lohnarbeit verblieben; und

2.) ist ein die Lohnfragen überschreitender Kampf um die Aneignung der Produktionsmittel darauf angewiesen, dass gerade die am meisten unterdrückten Schichten der Arbeiter/innen/klasse (Frauen, Migrant/inn/en, Jugendliche, ...) zu politischem (Selbst-)Bewusstsein erwachen und im Rahmen der neuen Organe der Doppelherrschaft (Räte ... oder was es auch immer an konkreten Organisationsformen geben wird) ihre Interessen artikulieren - die zwangsläufig keine rein ökonomischen sein, sondern "das ganze Leben" und damit alle Sphären von Herrschaft und Unterdrückung betreffen werden. Eine Revolution, die ausschließlich oder auch nur in erster Linie von männlichen, weißen Facharbeitern getragen würde, ist schlichtweg undenkbar - die gesamte Geschichte der weltweiten Arbeiter/innen/bewegung wie auch die logische Notwendigkeit der Überwindung von Spaltungen sprechen dagegen.

Es geht folglich um die strategische "Überdetermination" der ökonomischen Kämpfe mit allen anderen Formen von Unterdrückung als notwendige Voraussetzung

- schon für das Gelingen der rein ökonomischen Kämpfe (vgl. das Beispiel des Gate Gourmet-Streiks 2005, der nur durch den Zusammenhalt weiblicher und männlicher, eingewanderter und deutscher Arbeiter/innen und durch die selbständige Artikulation der "besonderen" Interessen der Frauen und Migrant/inn/en durchgestanden werden konnte)

- sowie für das Weitertreiben der ökonomischen Kämpfe in Richtung der Aneignung der Produktionsmittel und der Transformation der gesamten Gesellschaft.

Die ökonomische Determination hat folglich einen projektiven Charakter, der in allen politischen Projekten vorausgesetzt sein muss, wollen sie nicht im Fahrwasser eines Reformismus enden, der sich mit der Reparatur dieser oder jener Teilbereiche begnügt und die grundlegende Frage außer Acht lässt: "Wie soll die Gesellschaft organisiert sein?", die unmittelbar an die Frage der Produktionsweise gebunden ist. Sofern die revolutionäre Option scheitert, wird die letztinstanzlich determinierende Kraft des Ökonomischen regressiv in Erscheinung treten - eben in Gestalt der globalen Krise kapitalistischer Verwertung, die als Immobilien- und Finanzkrise ihren Ausgang nahm, heute als Staatsschuldenkrise erscheint und morgen als ausgewachsene Weltwirtschaftskrise samt Krieg und Massenverelendung alle gesellschaftlichen Sphären mit sich in den Abgrund reißen könnte.



Anmerkungen/Quellenangaben:

[1] Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft: Editorial zu Kosmoprolet # 3, Berlin 2011.

[2] Ernesto Laclau, Chantal Mouffe: Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics, London/New York 2001 (erste Auflage 1985).

[3] Vgl. ebenda, S. 111.

[4] Vgl. ebenda, S. 75.

[5] Vgl. ebenda, S. 110.

[6] Vgl. ebenda, S. 112: "The impossibility of an ultimate fixity of meaning implies that there have to be partial fixations - otherwise, the very flow of differences would be impossible. [...] We will call the privileged discursive points of this partial fixation, nodal points. (Lacan has insisted on these partial fixations through his concept of point de capiton, that is, of privileged signifiers that fix the meaning of a signifying chain)".

[7] Stuart Hall: On postmodernism and articulation. An Interview with Stuart Hall, ed. by Lawrence Grossberg, in: Kuan-Hsing Chen, David Morley (Hg.): Stuart Hall. Critical Dialogues in Cultural Studies, London 1996, S. 146.

[8] Laclau vertritt diese Auffassung in seiner Auseinandersetzung mit Poulantzas, den er - ebenso wie den für dessen Theoriebildung zentralen Gramsci - noch für zu "orthodox" hält: "It is no surprise then, when Poulantzas discusses the political strategies of the Comintern, that he tends to consider any kind of nationalist agitation as a concession to the adversary. Thus, in his discussion of the Schlageter line - whereby Radek proposed to initiate nationalist agitation in Germany against the Versaille Treaty - Poulantzas considers it inadmissible opportunism. [...] If [...] it was not possible to agitate against the Versailles Treaty because this would have been chauvinist, this is because for Poulantzas nationalism is an 'element' of bourgeois ideology and, as such, is not susceptible to transformation in a socialist direction." (Ernesto Laclau: Politics and Ideology in Marxist Theory. Capitalism, Fascism, Populism, London 1977, S. 96f.) Für Laclau ist der berüchtigte Schlageter-Kurs der KPD daher offensichtlich kein "inadmissible opportunism", sondern ein denkbarer Schritt hin zur Überwindung marxistischer "Klassenborniertheit".

Albert Leo Schlageter, ehemaliger Freikorpssoldat und NSDAP-Mitglied, wurde im Mai 1923, zur Zeit der Ruhrbesatzung, wegen Spionage und Sabotage von einem französischen Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. Unterstützt von Komintern-Präsidiumsmitglied Karl Radek förderte der KPD-Vorsitzende Thalheimer die in der Partei verbreitete Position, die nationalistische Propaganda gegen den Versailler Vertrag und gegen die Besetzung des Ruhrgebiets "nicht den Rechten zu überlassen". Wie weit Radek in seiner Anbiederung an die Nazis geht, zeigt dieser Auszug aus seiner "Schlageter-Rede" vor der Komintern im Juni 1923: "Schlageter, der mutige Soldat der Konterrevolution, verdient es, von uns Soldaten der Revolution männlich-ehrlich gewürdigt zu werden. Sein Gesinnungsgenosse Freska hat im Jahre 1920 einen Roman veröffentlicht, in dem er das Leben eines im Kampfe gegen Spartakus gefallenen Offiziers schildert. Freska nannte den Roman: Der Wanderer ins Nichts. Wenn die Kreise der deutschen Faschisten, die ehrlich dem deutschen Volke dienen wollen, den Sinn der Geschicke Schlageters nicht verstehen werden, so ist Schlageter umsonst gefallen, und dann sollten sie auf sein Denkmal schreiben: der Wanderer ins Nichts." (zitiert nach:
www.marxists.org/deutsch/archiv/radek/1923/06/schlageter.html, letzter Zugriff: 31.10.2013)

[9] Karl Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, (Ost-)Berlin 1974, S. 27.

*

Buchbesprechung von Karl Reitter

Ronald Blaschke, Werner Rätz (Hg.): Teil der Lösung. Plädoyer für ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Zürich: Rotpunktverlag 2013, 204 Seiten, Euro 17,90


"Von Sammelbänden halte ich wenig", meinte einmal ein Verleger zu mir, "da tun sich die AutorInnen oftmals nicht allzu viel an, ganz im Gegenteil zu ganzen Büchern, für die sie mit ihrem Namen bürgen." Unter ständigem Publikationsdruck stehend ist für so manche im intellektuellen Bereich Arbeitende der Beitrag zu einem Sammelband oftmals ein Nebenprodukt, fasst bereits Publiziertes zusammen oder skizziert Ideen, die doch gründlicher Ausarbeitung bedürften.

Der von Ronald Blaschke und Werner Rätz herausgegebene Sammelband stellt diesbezüglich in jedem Fall eine positive Ausnahme dar. Kein einziger der insgesamt zwölf Beträge wirkt rasch hingeschrieben oder schlecht recherchiert, im Gegenteil. Das ist zum einen offenbar der Tatsache geschuldet, dass dieses Buch eine kritische Antwort auf ein anderes ist, nämlich auf eine Intervention gegen das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens, welches unter dem Titel Irrweg Grundeinkommen vom ehemaligen deutschen Staatssekretär Heiner Flassbeck gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Friederike Spiecker, "Finanzexperte" Dieter Vesper sowie Volker Meinhardt verfasst wurde. Ausgehend von den Idealwelten bürgerlicher Ökonomen, in denen ein idealisierter Markt zum universalen Regelmechanismus der Gesellschaft schlechthin avanciert, auf dem ein ebenso idealisierter homo oeconomicus optimierend seine Marktentscheidungen trifft, reformulieren sie die gängigsten Gassenhauer gegen das bedingungslose Grundeinkommen - wer wird nach Einführung überhaupt noch arbeiten gehen und wer soll das alles bezahlen - in eleganter ökonomischer Theoriesprache versteht sich.

Dieser Intervention galt es umfassend zu antworten, der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis. Und er spannt einen weiten Bogen. "So diskutieren beispielsweise Ronald Blaschke und Dagmar Paternoga Produktivität grundsätzlich, Ingmar Kumpmann Produktion ökonomisch, Volker Köhnen Arbeit philosophisch, Antje Schrupp Arbeitsmotivation und Geschlechterverhältnisse historisch, Matthias Blöcher und Ralf Welter Vergesellschaftung im Kapitalismus grundsätzlich und Albert Jörimann Umsetzungsfragen praktisch", lesen wir im Vorwort. Franz Segbers diskutiert das Grundeinkommen als Menschenrecht, Herbert Jauch informiert über das BGE-Experiment in Namibia, Mag Wompel denkt über die Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise hinaus und Margit Appel, Liselotte Wohlgenannt und Luise Gubitzer bringen die feministische Perspektive in die Debatte, wäre hinzuzufügen.

Die hohe Qualität der Beiträge erkläre ich mir nicht bloß aus dem Kalkül, dem Verriss des Grundeinkommens sachlich und hoch informiert argumentativ zu begegnen. Die Reife oder Unreife von politischen Ideen und Konzepten korreliert nach meiner Auffassung mit den objektiven gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Bedingungen ihrer möglichen Verwirklichung.

Das Desaster der neoliberalen Umwälzungen, verbunden mit der Tatsache, dass ein bloßes Zurück zur fordistischen Gesellschaftsordnung der 60er und 70er Jahre weder objektiv möglich, noch subjektiv wünschenswert ist, drängen geradezu zur Einführung des Grundeinkommens. Hand in Hand mit der gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung selbst ist das Konzept des Grundeinkommens den Kinderschuhen entwachsen und präsentiert sich als reife und durchdachte Forderung. Vorliegender Sammelband ist Ausdruck und Moment dieses Reifungsprozesses zugleich.

*

Buchbesprechung von Stefan Junker

Jonathan Sperber: Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert

München: C.H. Beck 2013, 634 Seiten, Euro 29,95


Dieses Jahr ist eine neue Marx-Biographie erschienen, wobei sich sofort die Frage erhebt: was soll ein weiteres Buch über Marxens Leben Neues bringen? J. Sperber erhebt den Anspruch, uns das Jahrhundert, in dem Marx lebte und wirkte, näher zu bringen und ihn sogar aus dieser Zeit heraus zu erklären. "Jonathan Sperbers exzellenter Biographie gelingt es glänzend, unser Bild von Karl Marx neu zu gewichten, indem er ihn und sein Denken direkt in die gesellschaftlichen und intellektuellen Strömungen des 19. Jahrhunderts hineinstellt, statt ihn nur im Licht des 20. Jahrhunderts zu interpretieren." So steht es im Klappentext, aber wird Sperber dem Versprechen auch gerecht?

Seine Biographie gliedert Marxens Leben in drei Abschnitte: "Prägung", "Kampf" und "Vermächtnis". Diesen Abschnitten sind 14 Kapitel untergeordnet, welche sich chronologisch orientieren und einzelne Lebensabschnitte romanhaft überschreiben mit "der Emigrant", "der Revolutionär", "der Umstürzler" usw. So erhalten wir Beschreibungen verschiedener Personifikationen, die natürlich darunter leiden, daß sie sich in einem Zeitabschnitt einpassen müssen, wenngleich gegen Ende deutlich wird, insbesondere wo er sich dem "Ökonomen" nähert, daß Sperber dieses Konzept nicht durchhalten kann. Jede Biographie leidet darunter, das Leben möglichst chronologisch darstellen zu wollen, dabei aber auch den inneren Entwicklungsgang des Denkens und Schaffens ihres lebendigen Gegenstandes zu erfassen. Sperber verfolgt Marx über sein gesamtes Leben, gibt uns hier und da einige interessante zum Teil auch neue Details. Die gute Lesbarkeit seines Buches macht die Lektüre verführerisch.

Sicher, mit einer Biographie den Geschmack aller Leserinnen und Leser zu treffen, ist kaum möglich. Auch erwartet die Leserschaft nicht eine alle Aspekte behandelnde und über jede Kritik erhabene Ausführung. Sperber zugute gehalten werden ihm seine Informiertheit angesichts des Studiums der inzwischen veröffentlichten Ausgaben der Marx-Engels-Gesamtausgabe. Und löblich ist auch der Versuch, Marx aus der Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts heraus zu verstehen. So gesehen mag diese Biografie als Einführung in Leben und Werk von Marx betrachtet und benutzt werden, wenn hier nicht jene Vorgefaßtheit der Urteile wäre, jene Marx unterstellte "Rückwärtsgewandtheit", wie sich Gerhard Koenen in der Frankfurter Allgemeinen ausdrückt. Dies relativiert auch den an sich lohnenswerten Versuch, Marx in seine Zeit zu setzen, um ihn so besser zu verstehen. Gerade dies gelingt Sperber nur bedingt. Selten geht er über das hinaus, was sich nicht bereits bei anderen Biographien findet. Wenn wir erwarten, daß er uns in das geistige Klima des 19. Jahrhunderts führe, dessen Lebenshauch spüren läßt und die geistigen Diskurse vor unseren Augen zu Leben erwachen lasse, dann erwarten wir zu viel. Zweifelsfrei erfahren wir einige interessante Begebenheiten aus Marxens Leben, seiner Familie und seiner Freunde. Und auch werden hier und da historische Begebenheiten erzählt, die für alle, welche sich mit dieser Lektüre einen ersten Einblick verschaffen wollen, interessant und erhellend wirken. Selbst unter der selbstgestellten Voraussetzung, Marx in die Grenzen des 19. Jahrhunderts zu setzen, erfahren wir nur zu bruchstückhaft von den inneren Dynamiken dieser Zeit, die nicht zu fern, aber uns doch sehr fremd geworden ist. Nehmen wir beispielsweise den italienischen Krieg 1859, um den auch eine heftige Kontroverse zwischen Marx und Lassalle rankte. Wer von den heutigen Lesern weiß, daß zu dieser Zeit Norditalien, eingeschlossen Städte wie Mailand, Teil der Habsburger Monarchie war, geschweige denn kennt allein die politischen Verwicklungen, die diese Sache mit sich brachte? Den Kampf um die italienische Einheit erwähnt Sperber zwar, läßt aber weitere Aufklärung vermissen, präsentiert dafür aber die falsche Unterstellung, Marx und Engels hätten aus ihrer Gegnerschaft zu Napoleon III. ein militärisches Eingreifen der deutschen Staaten auf Seiten Österreichs befürwortet. (336)

Als ein weiteres Beispiel mag die für Marx sehr fundamentale Einschätzung Rußlands gelten. Bekannt ist, daß Marx aufgrund umfangreicher Recherchen zu dem Schluß gelangte, der Führer der Whigs im englischen Unterhaus, Lord Palmerston, sei ein bezahlter Agent des Zarismus gewesen. Ein abschließendes Urteil über diese Einschätzung ist hier nicht zu fällen, nur Sperber zieht, anstelle dieser Sache wirklich nachzugehen, Marxens Untersuchungen ins Lächerliche. Die "Phobie gegen das Zarenreich" war "schon vor und nach der Revolution von 1848 ein zentrales Element des marxschen Denkens gewesen". (315) Marx las u.a. die "vergilbten politischen Pamphlete aus dem 18. Jahrhundert". Möglicherweise hat sich Marx in Bezug auf Palmerston geirrt, seine Analysen, die der englischen Rußlandpolitik vorwarfen letztlich zaristischen Interessen zu dienen, sind damit nicht vom Tisch. Auch nicht, wenn Personen, auf die sich Marx stellenweise stützte, in ein eigenartiges Licht gestellt werden, wie es mit der "merkwürdigen und irgendwie faszinierenden Persönlichkeit" David Urquhart geschieht. (313) Diese "merkwürdige" Persönlichkeit war mehrere Jahre Mitglied des Unterhauses und repräsentierte das Königreich als Gesandtschaftssekretär in Konstantinopel. (MEGA IV, 12, 1609)

Auf den ersten Blick wirkt sehr angenehm, daß Sperber nicht Feuer und Blut über Marx verschüttet, und in ihm und seinem Denken die Ursache des Stalinschen Terrors ausmacht. Stattdessen wird er gönnerhaft zurechtgestutzt auf eine obgleich interessante Persönlichkeit, der es jedoch nicht vergönnt war, über die Grenzen seiner Zeit hinauszugehen. "Das Bild von Marx", das seine Ideen für die "moderne Welt" prägend hält, sei "überholt" und solle "einem neuen Verständnis weichen, das ihn als Gestalt einer verflossenen historischen Epoche sieht", wobei natürlich zu fragen wäre, inwieweit vom 19. Jahrhundert als von einer in sich abgeschlossenen Epoche gesprochen werden kann. Diese Darstellung gehöre zu den "Prämissen", schreibt Sperber weiter "die dieser Marx-Biographie zugrunde liegen", also, sie sind eine Voraussetzung, mit der er sich ans Werk gesetzt, diese Marx-Biographie zu schreiben. Wir sollten aber nicht undankbar für diese Offenherzigkeit sein, erlaubt sie dem Publikum die Lektüre mit einer kritischen Distanz zu beginnen. Es ist dieses Wechselspiel von freier Interpretation und tendenziöser Darstellung, die uns durch das Buch begleitet und uns so auch eine ganze Menge über Sperber selbst erzählt.

Auch was die theoretischen Diskurse betrifft, wie diejenigen mit Sozialisten wie Proudhon, Lassalle, Blanqui, oder Mitstreitern im Bund der Kommunisten, hätten wir uns eine gründlichere Beschäftigung mit deren Gedankenentwürfen gewünscht. Sie und ihre Ideen und Taten erscheinen nicht in verdecktem Licht, werden nur kaum erläutert und so bleiben die Diskurse oft kursorisch behandelt. Dies hat nicht selten zur Folge, daß Marxens Verhalten unverstanden bleibt und als persönliche Anwandlung abgetan wird. So fällt es beispielsweise Sperber in Bezug auf Lassalle nicht auf, daß Marx in dem Augenblick, die ihm geneigte Haltung revidierte, als er sich der autoritären und elitären Einstellungen Lassalles gegenüber der Arbeiterklasse bewußt wurde. Als dieser Marx in London besuchte, mußte er sich den Vorwurf eines "aufgeklärten Bonarpartisten" gefallen lassen. Dabei hat Sperber erkannt, wie eng verzahnt demokratische Verfassung und proletarische Selbstemanzipation bei Marx sind. Daß Marx Lassalle nicht offen kritisierte, was sich Sperber nicht erklären kann, findet seinen Grund in der Solidarität, zu der sich Marx verpflichtet fühlt, weil mit Lassalle die Entstehung einer Arbeiterpartei unabhängig vom und außerhalb der bürgerlichen Organisationen (der Fortschrittspartei) verbunden ist. Andrerseits gelingt es Sperber im Zusammenhang mit Bakunin und dessen Rolle in der 1. Internationale mit sicherer Feder Partei der "föderalistischen und dezentralen Ordnung" Marxens gegenüber Bakunin zu ergreifen, der "von seinen Anhängern bedingungslosen Gehorsam" einforderte, "was", wie er zu recht findet "nicht wirklich antiautoritär anmutet".(380) Zeit seines Lebens führte Marx einen intellektuellen und politischen Kampf gegen jegliche Art politischer Diktatur einer revolutionären Regierung, sei es bei Blanqui, Lassalle oder Bakunin, um einige Beispiele zu nennen, was ihn aber andrerseits nicht davon abgehalten hat, sich in Einzelfragen solidarisch zu zeigen.

Über all dies möchte der Leser oder die Leserin gerne hinwegsehen, geht es doch bei einer Biographie primär darum, sich einen ersten Eindruck zu verschaffen, wo nicht jedes Wort gleich in die Waagschale geworfen wird. Aber was das Lebenswerk eines Menschen betrifft, so ist doch gewünscht, daß dieses wenigstens in Umrissen greifbar gemacht wird. Doch hier versagt Sperbers Buch gänzlich, zeigt er wie wenig er die Diskussionen selbst kennt, bzw. deren Gegenstände wirklich erfaßt hat. Marxens Analyse der Ökonomie sei "im Wesentlichen hegelianisch" und Hegels 'Phänomenologie des Geistes' nachempfunden, (426-27) Ricardos ökonomische Theorien habe er nicht verworfen, sondern diese weiterentwickelt, in eine "hegelianisierte Variante" gebracht. (461) Tausch setze Marx gleich Preis (430), um sich letztlich in der "Tautologie" des "Werts der Arbeit" zu verlieren. Sperber ist der Unterschied zwischen den Kosten der Reproduktion der Arbeitskraft und deren Wertbildung im Produktionsprozeß unergründlich. (431)

Interessant fand ich Herangehensweise des Autors zu Marx, welche mir einiges über die bürgerliche Sichtweise und ihre Argumentation gegen den Kommunismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts verraten hat. Ich finde es daher aufschlussreich, das Buch von dieser Warte aus zu lesen.

*

IMPRESSUM

Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 9. Dezember 2013
Redaktionsschluss der Nr. 49: 15. Februar 2014

Ein Jahresabo kostet für 4 Nummern Euro 20,-, das 2-Jahres-Abo nur 35,- Euro!
Bestellungen an redaktion@grundrisse.net; Infos: www.grundrisse.net

Bankverbindung: Österreich: BAWAG Konto Nr. 01010044347, Bankleitzahl 14000.
International: IBAN: AT021400001010044347, BIC: BAWAATWW.

Medieninhaberin: Verein für sozialwissenschaftliche Forschung, 1170 Wien
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"

MitarbeiterInnen dieser Nummer: Martin Birkner, Bernhard Dorfer, Robert Foltin, Maria Gössler, Markus Grass, Stefan Junker, Franz Naetar, Karl Reitter, Paul Pop, Walter S.

Layout: Stefan Junker.

Erscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1100 Wien

Offenlegung: Die Partei "grundrisse" ist zu 100% Eigentümerin der Zeitschrift "grundrisse"

Grundlegende Richtung: Förderung gesellschaftskritischer Diskussionen und Debatten.

Copyleft: Der Inhalt der "grundrisse" steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, außer wenn anders angegeben.

ISSN: 1814-3156, Key title: Grundrisse (Wien, Print)

*

Quelle:
grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
winter 2013, nr. 48
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"
Antonigasse 100/8, 1180 Wien
E-Mail: grundrisse@gmx.net
Internet: www.grundrisse.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Januar 2014