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GRUNDRISSE/030: zeitschrift für linke theorie & debatte, sommer 2011


grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 38, sommer 2011


INHALT

Editorial

Redaktion:
Call for Papers - grundrisse # 39:
Wissenschaftskritik im Postfordismus

Martin Glasenapp:
Interview mit Fawwas Traboulsi.
Wir sind auf dem Weg in ein neues Zeitalter
Über die arabischen Aufstände, die Anforderungen der Zukunft und die Rolle der Linken.

Leo Kühberger:
Car(e) Workers.
Große Krise und (noch) kleine Kämpfe in der Steiermark

Thema: Geschlechterverhältnisse & gesellschaftliche Arbeitsteilung 2

Lisa Haller & Silke Chorus:
Die Regulation geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung
Auf der Suche nach einer feministischen Kritik der politischen Ökonomie

Frauen der Precarias al la deriva, übersetzt von Birgit Mennel:
Fragen, Illusionen, Schwärme, Meuten und Wüsten
Zur Untersuchung und Militanz der Precarias a la deriva

Luzenir Caixeta:
"Wir sind prekär aber revolutionär!" Widerstandsstrategien von Migrantinnen

Peter Birke:
Auf der Reise durchs Immaterielle. Noch mehr Anmerkungen zu Negri / Hardt, Common Wealth

Roland Atzmüller:
Die Krise lernen - Neuzusammensetzung des Arbeitsvermögens im postfordistischen Kapitalismus

Andreas Exner:
Kämpfe um Land. Gut leben im post-fossilen Zeitalter

Robert Foltin:
Buchbesprechungen: Sebastian Kalicha / Gabriel Kuhn (Hg.): Von Jakarta bis Johannesburg. Anarchismus weltweit | Gabriel Kuhn (Hg.): "Neuer Anarchismus" in den USA. Seattle und die Folgen | Uri Gordon: Hier und Jetzt. Anarchistische Praxis und Theorie.

Minimol:
Buchbesprechung: Pun Ngai / Ching Kwan Lee u.a.: Aufbruch der zweiten Generation.
Wanderarbeit, Gender und Klassenzusammensetzung in China

Raute

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

fertig ist er, der zweite Teil unseres Schwerpunktes zu Geschlechterverhältnissen und gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Lisa Haller und Silke Chorus gehen regulationstheoretisch bewaffnet auf die Suche nach einer feministischen Kritik der politischen Ökonomie, die Frauen der Precarias a la deriva aus Madrid stellen sich unter anderem die Frage "Was ist ein Streik?" und zeichnen ihre methodischen Zugänge ebenso wie die Praxis des Derive, ihre Form der militanten Untersuchung gegenwärtiger Arbeits- und Lebensverhältnisse nach. Der Text von Luzenir Caixeta wiederum ist gleichermaßen Darstellung der und Reflexion über die Aktivitäten der autonomen Linzer Migrantinnenorganisation maiz. Abgerundet wird der Schwerpunkt ganz am Ende des Hefts mit einer Buchbesprechung von Minimol zu "Aufbruch der zweiten Generation", in dem die Neuzusammensetzung der chinesischen ArbeiterInnenklasse anhand von Wanderarbeiterinnen analysiert wird.

Im Anschluss an dieses Editorial findet ihr unseren Call for papers für die nächste Nummer - es geht um Wissenschaftskritik -, ein Interview von Martin Glasenapp mit dem libanesischen Marxisten Fawwas Traboulsi über die jüngsten Aufstände im arabischen Raum und die Perspektiven der Linken sowie Leo Kühbergers operaistisch inspirierte Analyse sowohl der Veränderung der Klassenzusammensetzung als auch der (Schwäche der) Widerstandsbewegung, die sich gegenwärtig in der Steiermark gegen den radikalen Sozialabbau der rosa-schwarzen Landesregierung richtet.

Außerhalb des Schwerpunkts setzt sich Peter Birke auf seiner "Reise durchs Immaterielle" mit Hardt / Negris "Common Wealth" auseinander; Roland Atzmüller erforscht die Neuzusammensetzung des Arbeitsvermögens im Postfordismus entlang der Achsen von Pädagogisierung, workfare und neuen Managementtechniken. Andreas Exner versucht sich in "Kämpfe um Land" der Beantwortung der Frage zu nähern, ob Woodstock nicht vielleicht doch in Ägypten liegt und wie wir ohne Auto dort hinkommen. Nein, auch nicht mit dem Flugzeug, soviel sei verraten ... Unser Redakteur Robert Foltin nimmt sich abschließend gleich dreier Neuerscheinungen aus dem anarchistischen Spektrum an, zunächst weltweit, dann in den USA und schließlich Hier und Jetzt.

Wenngleich auch das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, freuen wir uns natürlich über die Freisprüche in allen Punkten im Prozess gegen 13 TierrechtsaktivistInnen. In diesem Sinne möchten wir noch zum Schluss noch auf ein Anfang Juni in der neuen Edition "kritik & utopie" im Wiener mandelbaum verlag erscheinendes Buch hinweisen: "§ 278a - Gemeint sind wir alle!" Details im Kasten. Ach ja: Die nächsten fünf neuen 2-Jahres-AbonnenInnen dürfen sich bereits jetzt drüber freuen!

Einen heißen Sommer wünscht

Eure grundrisse-redaktion


*


Call for Papers - grundrisse # 39: Wissenschaftskritik im Postfordismus

Im Gefolge von 1968 wurde der Kritik der Sozialwissenschaften ein besonders hoher Stellenwert beigemessen. Unzählige Publikationen zur Kritik der Universität bzw. des universitären Wissens waren die Folge, die Rolle der staatlich-kapitalistischen Institutionen der Produktion und Distribution von Wissen(schaft) im Rahmen kapitalistischer Arbeitsteilung wurden eindringlich beleuchtet, ebenso die Rolle der StudentInnen als künftige AgentInnen der Herrschaft des Kapitals über die ArbeiterInnenklasse. Fazit: All dies sollte sich grundlegend ändern, und zwar untrennbar verbunden mit einer Veränderung des Kapitalismus in seiner Totalität. Heute hat nur noch wenig von dieser Kritik überlebt. Die Veränderung des Kapitalismus hin zum Postfordismus und die damit einhergehende Neoliberalisierung der Bildungspolitik haben zwar die Parameter der Wissenschaftskritik verschoben, die Notwendigkeit ihrer - theoretischen wie praktischen - Durchführung erscheint uns jedoch nach wie vor gegeben.

In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat sich das Hauptaugenmerk kritischer Intellektueller allerdings auf die Produktion kritischer Wissenschaft verlagert. Die Entwicklung eigener methodischer Zugänge und Netzwerke kritischer WissenschaftlerInnen leisten einen wichtigen Beitrag zum Kampf um die Hegemonie linker Deutungsweisen gesellschaftlicher Entwicklungen; dabei ist jedoch die grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Wissensproduktion, ihrer Institutionalisierung und deren Rolle im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung oft ins Hintertreffen geraten. Die Formen der Beurteilung in den Naturwissenschaften (Peer Review, Publikationserfolg = wer wird wie oft zitiert) werden auf alle Formen der Wissensproduktion ausgedehnt. Dagegen gibt es Widerstand; aber die katastrophalen Auswirkungen des "Beurteilungsapparats" in den Naturwissenschaften selbst werden nicht thematisiert. Die Kritik an der Forschungspolitik, die Naturwissenschaften betreffend, wird Ethikkommissionen anvertraut, statt sie in die Universitäten und Forschungseinrichtungen hineinzutragen.

Braucht es Wissenschaftskritik noch? Kann die von Andre Gorz und anderen geforderte "Zerschlagung der Universität" noch Horizont einer emanzipativen Strategie sein? Wie könnte ein nicht-hierarchisches Verhältnis von Wissenschaft und sozialen Bewegungen aussehen? Brauchen wir alternative Institutionen der Wissensproduktion und/oder gilt es zuvörderst, um Positionen in den Universitäten und Akademien zu kämpfen? Welche Rolle spielt Wissen als Produktivkraft im Kapitalismus? Macht der Begriff "bürgerliche Wissenschaft" vielleicht doch Sinn? Weshalb ist die gegenwärtige disziplinäre Teilung der Wissenschaften nahezu unumstritten? Warum geht es in der kritischen Wissenschaft so oft um Strukturanalysen und nur selten um politische Kämpfe und soziale Bewegungen? Liegt es auch an der fehlenden feministischen Wissenschaftskritik? Oder deren Verschiebung in "Gender-Nischen? Gibt es überhaupt noch Kritiken naturwissenschaftlicher Erkenntnisproduktion? Kann und soll die Waffe der Kritik die Kritik der Waffen ersetzen? Sachdienliche Hinweise mit höchstens 45.000 Zeichen bis spätestens 1. August 2011 an redaktion@grundrisse.net erbeten.

Wir ersuchen alle, die uns Manuskripte zusenden, folgende einfache Formatierungsregeln zu beachten:

1. Grundsätzlich gilt: So wenig Formatierungen wie möglich! Also keine automatischen Nummerierungen, keine Einrückungen, keine definierten unterschiedlichen Zeilenabstände, keine festen Binde- und Trennungsstriche, keine Textkästen, keine Wortabteilungen, keine definierten Seitenumbrüche usw.

2. Einzeilig und Flattersatz. Absätze sind bitte mit Leerzeilen zu trennen. Das gilt auch für Fußnoten. Bilder und Graphiken sind in beliebigen Formaten extra beizufügen.

3. Fertige Texte bitte im word-doc Format senden. Keine PDFs, keine Appleformate, kein rtf.

Vielen Dank für die Beachtung!

Raute

Martin Glasenapp:

Wir sind auf dem Weg in ein neues Zeitalter

Über die arabischen Aufstände, die Anforderungen der Zukunft und die Rolle der Linken.

Interview mit Fawwas Traboulsi

Fawwas Traboulsi gilt als eine linke Legende im Libanon und kann auf mehr als vier Jahrzehnte politischen Aktivismus zurückblicken. Er war Mitbegründer der Organisation Libanesischer Sozialisten, die 1969 den nationalen Revisionismus der traditionellen libanesischen KP kritisierte und für eine internationalistische Neuorientierung gemeinsam mit der palästinensischen Bewegung eintrat. Zusammen mit anderen studentischen Linken gründete er 1971, inspiriert durch den Pariser Mai 1968, die Organisation Kommunistische Aktion Libanon (CAOL), die bis in die Zeit des libanesischen Bürgerkriegs aktiv war. Seit 1997 ist Traboulsi Professor für Geschichte und Politik an der Lebanese American University in Beirut. Er publiziert regelmäßig zu arabischer Geschichte, Politik und sozialen Bewegungen. Seine Übersetzungen umfassen Arbeiten von Marx, Gramsci, Isaac Deutscher, Che Guevara, Etel Adnan, Sa'di Yusuf und Edward Said.

Das Interview führte Martin Glasenapp (medico international) in Beirut, März 2011. Die ProjektpartnerInnen der sozialmedizinischen Hilfsorganisation medico international im Libanon, in Israel, Palästina und Ägypten engagieren sich für gleichen Zugang zu Gesundheit, für Bürgerrechte und eine demokratische Zukunft aller Menschen in Westasien (Naher Osten). Informationen unter: www.medico.de


Martin Glasenapp: In einem Gespräch zwischen Tariq Ramadan und Slavoj Zizek auf Al Jazeera zitierte letzterer den alten Satz von Mao Zedong "Es herrscht ein großes Chaos unter dem Himmel, aber die Bedingungen sind exzellent", um den Aufruhr in der arabischen Welt zu beschreiben. Sehen Sie das auch so?

Fawwas Traboulsi: Mir gefiel, wie Zizek die aktuelle Entwicklung ein "säkulares Wunder" nannte, weil gerade unvorhersehbare Dinge geschehen. Auch für uns kamen die Ereignisse in Tunesien und in Ägypten plötzlich und unerwartet. Lange Jahre herrschte im arabischen Raum eine Ideologie der Hoffnungslosigkeit, die davon ausging, dass die Demokratie allenfalls in Menschenrechtsworkshops gelehrt oder uns von den USA auferlegt wird, die doch zugleich der erste Garant unserer Oligarchien waren. Aber die wirkliche Demokratie ist eine Frage der umfassenden Veränderungen aller gesellschaftlichen Strukturen, letztlich ist es die Revolution selbst. Es gibt scheiternde Revolutionen und es gibt Revolutionen, die eine partielle Demokratie zur Folge haben. Letzteres verlangt besonders von uns Linken Konzessionen gegenüber der bürgerlichen Demokratie, wenn wir zu keiner sozialistischen Revolution in der Lage sind. In jedem Fall wird die Veränderung des aktuellen Status Quo ein komplizierter und widersprüchlicher Prozess werden.

Wir leben nicht nur in einer Region mit einer anderen Kultur, sondern alle politischen und sozialen Rechte in der arabischen Welt - seien es die Mehrparteiensysteme, die Pressefreiheit, bessere Verfassungen oder Regierungen -, waren das Ergebnis von Volksaufständen. 1988 fiel die Einparteienherrschaft in Algerien, ein Ergebnis der Wut junger Menschen. Erst drei sogenannte "Brot-Aufstände" konnten im Marokko die Macht ins Wanken bringen und eine politische Opposition ermöglichen, die immerhin erste Kompromisse gegen den marokkanische König durchsetzen konnte. Auch Jordanien brauchte drei Intifadas, um eine bessere Verfassung und eine Mindestakzeptanz politischer Parteien durch den König zu erreichen, auch wenn eine feudale Oligarchie weiterhin an der Macht ist.

Auch in Ägypten war alles, was seit dem Tod von Abdel Nasser in 1970ern Jahren geschah die Folge zweier großer Aufstände, die schließlich das Einparteiensystem stürzten. Alles war immer eine Frage des Drucks der Revolte. Das zeigte sich auch in Bahrain, wo auf die Demonstrationen von 1991 immerhin eine erste Verfassung folgte. Ein ähnliches Muster findet sich im Jemen, in dem ein Mehrparteiensystem erst durch die erzwungene Einheit zwischen der sozialistischen Partei und den sehr konservativ-rechten Stammesstrukturen etabliert werden konnte. Diese Entwicklungen verlaufen nicht aus Gründen einer vermeintlichen "arabischen Identität" sehr ähnlich, sondern weil die Menschen vielfach die gleichen Wünsche haben und unter ähnlichen Formen autoritärer Herrschaft leben.

Martin Glasenapp: Inwiefern?

Fawwas Traboulsi: Wir haben bei uns zwei Varianten von Regimes, entweder es sind Diktaturen ohne jede Legitimation - oder es handelt sich zunächst vom Volk anerkannte Autoritäten, die sich dann aber in repressive Herrschaftssysteme verwandelten, die allein auf Korruption und Ausbeutung basierten. Die landläufige neoliberale Vorstellung von Korruption ist dabei völlig bedeutlungslos, denn hier werden allenfalls kleine Funktionäre verfolgt, die 1000 Dollar mitgehen lassen. Ein moderner Pharao wie Mubarak verfügte dagegen über ein Privatvermögen von 40 bis 70 Milliarden Dollar, das sämtlich aus Staatseinahmen stammt. So sehen die Business Effects des globalen Neoliberalismus in den arabischen Gesellschaften aus. Unsere Ökonomien sind heute vorrangig Wirtschaftssysteme, deren Produktivsektoren aufgespaltet und völlig zerrieben wurden; sie sind zu konsumorientierten Märkten und Rentenökonomien verkommen, in denen eine unkontrollierte Privatisierung den Reichtum in die Hände einer kleinen mafiösen Gruppe spült. Deren besonderer Status ergibt sich aus der engen Verbindung zwischen wirtschaftlicher und politischer Macht.

Hinzu kommt, dass unsere Gesellschaften einen Anteil von bis zu 30-40% jungen Menschen unter 30 Jahren haben, die zumeist gut gebildet, aber arbeitslos sind. Diese Generation nutzt nicht nur Informations- und Kommunikationsmittel wie das Internet und Facebook, sondern sie ist auch mit den neuen transnationalen Satellitensendern wie Al Jazeera aufgewachsen, deren unmittelbare Berichterstattung neue Formen eines militanten und identitären Zusammengehörigkeitsgefühls in der Region geschaffen hat.

Die vergangenen Monate lehrten uns aber noch etwas anderes. Die Massenmobilisierungen mit friedlichen und defensiven Mittel waren dort erfolgreich, wo in zwei stabilen Staaten, wie in Tunesien und Ägypten, das politische System nicht mit dem Staat identisch ist. Die Problematik ist weitaus sensibler, wenn das bestehende System oder der Diktator, wie im Falle Libyen, selbst das System ist. Oder wenn das herrschende Regime auf einzelne Sektoren des Staates setzt wie etwa im Jemen und in Bahrain, wo Stammesstrukturen oder religiöse Gruppierungen dominieren. Hinzu kommen Länder wie Jordanien, in denen immer auch die ungelöste Palästinafrage virulent ist. Es ist ein Prozess zweier Geschwindigkeiten, der im Fall von Libyen eine sehr gewalttätige Entwicklung annehmen wird, während es auf der anderen Seite langsamer und verfassungsmäßiger verlaufen wird. Offensichtlich ist aber, dass wir auf dem Weg in ein neues Zeitalter sind. Kein einziges arabisches Land wird unberührt bleiben, wobei Algerien mit seiner traumatischen Erfahrung eines Guerillakriegs mit über 100.000 Toten aus dieser Einschätzung etwas herausfällt.

Aber nicht nur im Maghreb, auch im Irak beginnen sich die politischen Auseinandersetzungen zu verschieben. Der Fokus liegt nicht mehr nur auf der Anwesenheit der US-amerikanischen Truppen, sondern man hat das Gefühl wieder bei den Irakern und den sozialen Problemen anzukommen. Neue soziale Kräfte treten auf, die weder Verbindungen zu al-Qaida oder der schiitischen Madhi-Miliz[1], dem sog. "Widerstand" - nennen wir sie besser bewaffnete Insurgenten - haben, noch mit der Regierung alliiert sind. Es ist eine junge Bewegung, die sich aus Sunniten, Schiiten und Kurden zusammensetzt und die Regierung für die mangelnde öffentliche Infrastruktur und die fehlenden staatlichen Dienste kritisiert.

Martin Glasenapp: Was halten sie von der Position, die Linke in Europa vertreten, dass der Sturz von Saddam Hussein und der Irakkrieg Bedingungen dafür waren, dass es zu den aktuellen Eruptionen der arabischen Gesellschaften überhaupt kommen konnte?

Fawwas Traboulsi: Ich meine, das Gegenteil ist der Fall. Die aktuelle Dynamik lässt sich nicht aus dem Irakkrieg schöpfen. Zuerst einmal hat die Besetzung des Irak kein neues Regime geschaffen, sondern einen Staat zerstört. Saddam Hussein und der Staat waren nicht identisch. Es war nicht notwendig, den Großteil der Verwaltung zu zerstören, die Armee abzuschaffen und eine Million Mitglieder der alten Baath-Partei aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Jeder wusste, dass die allermeisten irakischen Offiziere mit den ausländischen Kräften kollaboriert hätten. Aber all das sind alte Geschichten, die nur bedingt in die Gegenwart wirken. Die offensichtliche Lektion, die wir lernen mussten, ist vielmehr, dass alle kleinen und größeren Aufstände, die zuvor aus einem Mix von sozialen und politischen Forderungen bestanden, von den Regimes mit politischen Konzessionen beantwortet wurden. Die reichen aber nicht mehr aus, auch wenn überall der Ausnahmezustand aufgehoben, Mehrparteiensysteme und Pressefreiheiten eingeführt werden müssen, weil es heute um wirklich sehr tiefgreifende soziale Probleme geht.

Martin Glasenapp: In Tunesien und in Ägypten stand Europa bis zur letzten Minute hinter Ben Ali beziehungsweise Mubarak. Wird der Revolutionssturm in Arabien nicht auch zu einem veränderten Verhältnis zwischen einer bald emanzipierteren, selbstbewussteren arabischen Welt und einem verstörten Westen führen?

Fawwas Traboulsi: Die in Arabien durch die USA und Europa von außen legitimierte Stabilität war in Wahrheit auch ein verdeckter Bürgerkrieg nach innen. Nach dem 11. September 2001 wurden die autoritären Regierungen zusätzlich als westliche Bollwerke gegen den sogenannten "Terrorismus" und den islamischen Fundamentalismus gefördert. Es ging um wirtschaftliche Interessen, aber auch um die Verlängerung des Status Quo zwischen Israel und Palästina. Hosni Mubarak lieferte ägyptisches Erdgas weit unter dem internationalen Preis nach Israel und das zu einem auf 20 Jahre festgelegten Tarif. Die Funktion vieler Regime der Region ist nun einmal an das Vorhandensein fossiler Brennstoffe gekoppelt. Die Milliarden arabischer Petrodollars in den USA und in Europa bilden ein bedeutendes Fundament des globalen Marktes. Die Saudis beispielsweise sind in der unangenehmen Situation den jeweiligen US-amerikanischen Präsidenten fragen zu müssen, ob sie ihre Schatzanweisungen veräußern dürfen. Die saudische Armee kann moderne US-Flugabwehrsysteme nachweislich nicht bedienen, kauft aber F-16 Kampfflugzeuge für 60 Milliarden Dollar, so wie eine reiche Person ein Handy oder einen Computer kauft. Das ist der Hintergrund in der Region, von dem alles andere abhängig ist. Jetzt aber geht es erstmals nicht mehr nur um politische Ziele, sondern um wirklichen sozialen Wandel. Daraus begründet sich auch das enorme Gewaltpotential, das zukünftig noch zu großen Zusammenstössen führen kann. Ägyptens Armee blieb tolerant gegenüber den politischen Forderungen des Tahrir-Aufstands, aber als die Gewerkschaften ihre Rechte einklagten, warnten die Generäle vor sozialen Unruhen. Die großen und insbesondere die unabhängigen Gewerkschaften brachten dennoch ihre Forderungen in die politische Agenda ein. Ein Bestandteil dieses "Wunders", von dem Zizek sprach, war der Umstand, dass ein Slogan gefunden wurde, der alles beinhaltet und in dem sich alle, ob nun Studierende, Arbeitslose, oder Angehörige der Mittelklasse, die Angst vor der Zukunft und ihre Jobs haben, wiederfinden konnten. Ähnlich wie der Aufbruch 1968 kam die direkte Forderung nach einer grundlegenden Veränderung ins Spiel, bei der niemand im Vorfeld schon genau wissen konnte, wo jene Kräfte sind, die sie umsetzen können.

Martin Glasenapp: An welchem Punkt kamen die Bewegungen zusammen?

Fawwas Traboulsi: Ganz einfach: "Die Herrscher müssen gehen, dass Regime muss fallen". Wenn in unserer Region ein politischer Akteur die Herrschaft stürzen will, spricht er klassischerweise über die Option der Gewalt oder vereint eine starke Allianz hinter sich. Hier aber fanden sich junge Menschen im Internet zusammen, sie suchten Verbündete und starteten mit Hunderttausenden eine Kampagne. Bis vor wenigen Monaten waren noch alle überzeugt, dass aus dieser ägyptischen Nation nichts mehr entspringt. Aber auf einmal gelang den Menschen in Tunesien der Umsturz, der Hunderttausende mobilisierte, nach Ägypten überschwappte und dort erneut Millionen bewegte. Diese Freiheit verbreitet sich überall weiter; wobei damit nicht gesagt ist, dass es überall radikale Brüche geben wird oder sich ähnliche Massen mobilisieren werden. Die Menschen in dieser Region wurden seit zwei Generationen von ihren Regimes zutiefst gedemütigt, die zu Anfang zwar eine panarabische Ideologie und einen sozialen Aufstieg versprachen, heute aber nur repressiv die innere Ordnung aufrechterhalten. Diese Regime sind ziellos geworden, sie sind weder für noch gegen Amerika und bis auf einige Ausnahmen sind sie dem Palästinenserproblem gegenüber politisch indifferent. Die Antworten auf all das wurde im Netz formuliert, jetzt liegen sie auf der Straße: "Wir wollen alles ändern".

Martin Glasenapp: Wie sehen Sie die Rolle der Linken? Auf dem Weltsozialforum in Dakar sagte der tunesische Schriftsteller Jelloul Azouna, als in Tunesien die Bewegung schon die Straße eroberte, da dachte die Linke noch klandestin.

Fawwas Traboulsi: Es ist nicht fair mit Tunesien zu beginnen. Ich möchte auf die Frage allgemeiner antworten: Ja, die Linke ist in den meisten arabischen Staaten seit langem marginalisiert und unterdrückt. Daraus resultiert auch ihre mangelnde Dynamik und minoritäre Präsenz in den aktuellen Kämpfen. Bekanntlich wurden die großen kommunistischen Parteien im Irak und im Sudan schon vor Jahrzehnten abgeschlachtet. Später raubten die rechten Militärregime vielen Linken ihre Energie, sodass sie seit den neunziger Jahren keine nennenswerte Rolle mehr spielten. Bis in die jüngste Zeit war das der Status Quo. Trotzdem gab es in Tunesien eine gute, illegal organisierte, kommunistische Arbeiterpartei, die vor allem aus jungen Menschen bestand. Auch in Ägypten spielten kleine linke Gruppierungen und Parteien ihre Rolle, aber die Millionen verabredeten sich im Internet. Ein anderer Punkt ist die vermeintliche Angst vor den IslamistInnen. In dem Moment, wo in Ägypten 10 Millionen auf die Straße sind, nimmt die Muslimbruderschaft, die etwa 20-25 Prozent der Bevölkerung repräsentiert, natürlich ihren Platz ein. Ähnliches passiert in Tunesien, im Jemen, im Marokko und natürlich auch in Algerien. In Bahrain gibt es nur eine kleine linke Strömung, die eine konfessionsübergreifende Brücke zwischen Sunniten und Schiiten schlägt, aber sie ist keine entscheidende Kraft.

Die Frage wird jetzt sein, wie die Linke auf jene Millionen von Menschen reagiert, die handelten, aber nicht in Parteien organisiert sind. Auf alle Fälle kann sie sich neu formieren. Man darf nicht vergessen, dass alle unsere Parteien letztlich stalinistisch waren und in der Vergangenheit entweder einen nationalistischen oder westlich liberalen Kurs einschlugen. Insofern wird es keine leichte Aufgabe sein, die Linke neu rekonstruieren, selbst wenn man den Marxismus als eine umfassende Vision begreift und beginnt, ihn wieder analytisch einzusetzen. Ich denke dennoch, dass die Linke instinktiv weiß, wo sie steht und begriffen hat, dass die Demokratie eine große Errungenschaft ist und wir in der Phase einer demokratischen Revolution sind.

Martin Glasenapp: Sprechen wir über den Libanon. Wird der arabische Frühling hier seine Resonanz erfahren? Viele Linke sagen mir, dass es nur kleine Erschütterungen geben wird und ein junger Palästinenser meinte lakonisch: "Wir haben keinen Tahrir Platz, hier hat jede Konfession ihren eigenen Park".

Fawwas Traboulsi: Der Libanon ist eine gespaltene Gesellschaft und im Gegensatz zu allen arabischen Staaten ist auch das Regime gespalten. Die Allianzen des 14. März[2] und des 8. März[3] einschließlich der Hisbollah sind Teil des Regimes, stabilisieren die konfessionellen Blöcke und akzeptieren letztendlich das wirtschaftliche System. Auch wenn im Zusammenhang mit der Allianz 8. März immer von der Ablehnung des UN-Sondertribunals gesprochen wird,[4] so kritisiert dieser Block in erster Linie die allgegenwärtige Korruption. Im Libanon ist die lokale Oligarchie sehr eng mit dem internationalen Kapital verflochten. Die Staatsverschuldung besteht in erster Linie aus einer Verschuldung des libanesischen Staates gegenüber den einheimischen Banken. Das Defizit wird dann durch einen besonders hohen Zinssatz umverteilt. Wir begannen mit 42 Prozent, jetzt sind wir bei 87 oder 88 Prozent und haben damit eines der höchsten Zinsniveaus der Welt. Dabei ist der Libanon kein wirklich reiches Land. Die wirtschaftliche Zahlungsbilanz ist nur stabil, weil jährlich acht Milliarden Dollar durch AuslandslibanesInnen zurückfließen. In nahezu jeder Familie arbeitet ein Verwandter im Ausland, 40 Prozent aller LibanesInnen leben außerhalb des Landes. Die Masse der Gesellschaft existiert von jenen Geldern, die ihre Verwandten überweisen, da es im Land kaum eine lokale Produktion gibt. Das konfessionelle System garantiert und reproduziert diese Klassenstruktur.

Weil aber das Regime in zwei Blöcke gespalten ist, kämpft eine dritte Kraft im Libanon, wie etwa die Bewegung für die Säkularität, mit besonderen politischen Schwierigkeiten. Aber auch bei uns wird es zukünftig einen Wunsch nach Veränderung geben. Die Frage ist nur, wie sich eine Stimme entwickelt, die auch zu hören ist. Ein weiterer Faktor ist, dass der Libanon noch immer unter syrischem Mandat steht. Jeder Aufruhr bedeutet eine enorme Herausforderung für das syrische Regime, wie umgekehrt jeder nennenswerte Massenprotest in Syrien Einfluss auf die Innenpolitik des Libanons haben wird. Kurzfristig bin ich eher skeptisch, aber die Bewegungen der Region sind jung und auch die Jugend in Beirut hat begonnen zu demonstrieren. Das Problem liegt nicht darin zu beginnen, sondern einen Ausdruck zu finden, in dem sich viele wiederfinden.

Martin Glasenapp: In den siebziger Jahren gab es einen Slogan der palästinensischen Linken, der in etwa lautete: Die Befreiung Palästinas findet über die Befreiung der arabischen Hauptstädte statt. Damals bildete die palästinensische Bewegung so etwas wie die Avantgarde im arabischen Raum, heute verharren die Palästinenser ohne jede Hoffnung auf der Westbank und in Gaza. Glauben Sie, dass die arabischen Aufstände Einfluss auf die palästinensische Frage haben?

Fawwas Traboulsi: Zuerst einmal, denke ich, ist bewiesen, dass der Slogan in seinem analytischen Sinn noch immer richtig, aber heute kaum noch geläufig ist. Die Allianz zwischen den USA und Israel, wie sie seit Jahrzehnten besteht, zielte anfangs nicht darauf, die Palästinenser zu brechen, sondern den Einfluss der damaligen Sowjetunion in der Region zurückzudrängen. Darüber hinaus ging es um die Kontrolle der Ölvorkommen, die wirtschaftliche Sicherheit der protegierten Sicherheitsregimes, schlussendlich um die bilateralen israelisch-palästinensischen Verhandlungen. Daraus resultierte die Vorstellung der PalästinenserInnen, es sei möglich, Palästina unabhängig von den politischen und sozialen Bedingungen in den angrenzenden arabischen Ländern zu befreien. Die palästinensische Führung machte dann ihren schwersten Fehler, als sie es zuließ, dass durch die Oslo-Verträge die politische Verbindung zu den angrenzenden arabischen Ländern gekappt wurde. Ein anderer Punkt ist eher praktischer Natur: Der Niedergang der autoritären Regime ist ein Verlust für die israelische Politik. Das zeigt sich in der Reaktion auf das Verschwinden Mubaraks, aber auch in der Anspannung angesichts der Proteste in Jordanien gegen den König Abdullah. Beide Länder sind Garanten der israelischen Regionalpolitik - um so mehr steht jetzt die strategische Orientierung des gesamten Raums in Frage. Ich ahne, dass sich deshalb der Kurs von Netanjahu, also seine rechte Likud-Politik, behaupten wird.

Schließlich besteht die größte Herausforderung für die palästinensische Befreiungsbewegung, die alte Frage neu denken: Was heißt heute überhaupt palästinensische Befreiung? Die Debatte war verschwunden, weil unter palästinensischen Politikern die Auffassung herrschte, es könnte sich für Palästina separat etwas ändern, unabhängig davon, was in der Region passiert. Wer so denkt, betreibt bestenfalls intellektuelle Gymnastik ohne jede Verbindung zur Realität.


Anmerkungen:

[1] Die Mahdi-Miliz, oder Jaish al-Mahdi (JAM) ist eine schiitische paramilitärische Einheit, die im Juni 2003 von dem Geistlichen Muqtada as-Sadr begründet wurde.

[2] Die Allianz 14. März ist eine prowestliche Koalition, die aus der sog. "Zedernrevolution" hervorging, die 2005 zum Abzug der Syrer aus dem Libanon führte. Führende Gruppierungen sind das "Future Movement" der Familie Hariri, dazu mehrere christlich-maronitische Parteien (Samir Geagea), Sozialdemokraten und kleinere konfessionelle Gruppen.

[3] Die Allianz 8. März umfasst mehrere politische Parteien, die im Allgemeinen als "pro-syrisch" gelten. Darunter u. a. die schiitische Hisbollah und Amal, Teile des christlichen Lagers (Free Patriotic Movement), dazu panarabische, pro-syrische und linke Gruppierungen.

[4] Das Sondertribunal für den Libanon ist der Ad-hoc-Strafgerichtshof der Vereinten Nationen zur Aufklärung des Attentates auf den ehemaligen prowestlichen Ministerpräsident Rafiq al-Hariri am 14. Februar 2005, bei dem dieser und 22 weitere Personen getötet wurden. Die bisherigen Ermittlungsergebnisse des Tribunals verorten die möglichen Täter im Umfeld der Hisbollah und des syrischen Geheimdienstes. Die Hisbollah lehnt die Legitimität des Tribunals ab und bezeichnet die Ermittlungen als ausländische und von Israel gesteuerte Einflussnahme auf den Libanon.

Raute

Leo Kühberger

Car(e) Workers.

Große Krise und (noch) kleine Kämpfe in der Steiermark

Lange Zeit war es ruhig hinter dem Semmering. Krise hin oder her, an der "Kernölrepublik" schien das alles vorüberzugehen, auch wenn uns am "Höhepunkt der Krise" die erschütternde Nachricht ereilte, dass nur 5 von 26 Kernölen wirklich steirisch sind, und der Rest aus chinesischen Kürbiskernen gepresst wird. Doch nicht mal davon ließ sich Franz Voves, Landeshauptmann aus den Reihen der SPÖ und Sohn eines kommunistischen Puch-Betriebsrats, beirren und er wurde nicht müde zu betonen, dass die Steiermark die Krise gut gemeistert hat! Das Hauptargument dafür ist, dass die Zahl der Erwerbslosen - zumindest laut offiziellen Angaben - nur geringfügig gestiegen ist.


Strikes on the car workers

Ein zentrales Instrument der Krisenpolitik in der Steiermark war die Kurzarbeit. Ende 2008 griffen die ersten Unternehmen auf diese Maßnahme zurück, im Laufe des Jahres 2009 waren rund 15.000 ArbeiterInnen in Kurzarbeit.[1] Dieser hohe Anteil erklärt sich aus der ökonomischen Struktur der Steiermark. Besonders im Großraum Graz spielt die krisengebeutelte Autoindustrie eine zentrale Rolle. Der steirische Autocluster umfasst rund 180 Firmen. Selbst wenn die Zahl von 46.000 Beschäftigten[2] etwas hoch gegriffen sein dürfte, und wohl auch nicht mehr ganz aktuell ist, bildet dieser Cluster neben dem Holz-Cluster mit 56.000 Beschäftigten das Rückgrat der steirischen Wirtschaft. Das "Flaggschiff" des Autoclusters ist die "Magna Steyr AG", vormals "Steyr-Daimler-Puch", mit rund 8.800 Beschäftigten. Das klingt noch immer beeindruckend, doch belief sich der Beschäftigtenstand im Jahr 2007 noch auf 11.219. Allein in diesem Zeitraum sind somit mehr als 20% der Stellen gestrichen worden, zu einem Gutteil natürlich im Jahr 2009. Damit ist aber nur die halbe Geschichte erzählt, denn gleich zu Beginn mussten die LeiharbeiterInnen gehen, die in diesen Zahlen gar nicht berücksichtigt sind: Bereits im Sommer 2008 verloren 800 ihre Jobs bei Magna.

Ein anderer Teil der Geschichte, der in der gern zitierten und ohnehin mit allen Mitteln geschönten Erwerbslosenstatistik nicht vorkommt, ist darüber hinaus, dass wir insbesondere in den beiden Schlüsselindustrien in den letzten Jahren eine Neuzusammensetzung der ArbeiterInnenklasse erlebt haben. Slowenien ist nur sechzig Kilometer entfernt, und in der Autoindustrie wurden gezielt ArbeiterInnen aus der Region Maribor eingestellt. Für die wachsende afrikanische Community in Graz ist Magna ebenso eine der wenigen Möglichkeiten auf Lohnarbeit. In der Holzwirtschaft sind es überwiegend Arbeitstrupps aus Bosnien und Kroatien, die als Saisoniers zwölf, dreizehn Stunden am Tag Bäume schlägern und pflanzen. Eine politische Antwort auf diese technische Neuzusammensetzung ist bisher vollkommen ausgeblieben. Daher ist es wenig überraschend, dass die massiven Einschnitte der letzten Jahre ohne erkennbaren Protest oder Widerstand vonstattengegangen sind. Als die LeiharbeiterInnen gehen mussten, fühlte sich die fixe Belegschaft nicht betroffen, und noch weniger war das der Fall, als es die migrantischen KollegInnen erwischt hat. Linke und linksradikale Politik müsste sich also zum einen an dieser Neuzusammensetzung abarbeiten, und sich zum anderen mit der Cluster-Strategie, die seit Mitte der neunziger Jahre offensiv verfolgt wird, auseinandersetzen. Nicht zuletzt mit der Frage, was diese "neue Totalität des Zugriffs auf die Region"[3] konkret bedeutet, und wie dieser Zugriff jedwede Widerständigkeit im Keim erstickt. Beides ist bisher ausgeblieben.

Der Blick auf den gesamten sekundären Sektor macht deutlich, dass in der Krise die Deindustrialisierung vorangetrieben und beschleunigt wird: Waren 2008 in diesem Sektor noch rund 145.000 Menschen beschäftigt, schrumpfte er im Jahr 2009 um 6,6% auf 135.277 Beschäftigte. Einen sehr hohen Rückgang verzeichnet mit 16,21% die Textilindustrie, die aber schon seit Jahrzehnten zunehmend in der Bedeutungslosigkeit verschwindet. Im Maschinenbau war in diesem Zeitraum ein Minus von 7,51% zu vermelden, im Fahrzeugbau von 14,71%. Spitzenreiterin ist jedoch die Leiharbeitsbranche mit minus 21,32%. Der industrielle Bereich beschäftigte 2009 nur mehr 78.610 Menschen.[4] 2011 sind es um 8.819 (10,1%) Arbeitsplätze weniger. Seit 1980 ist ziemlich genau ein Viertel der Industriearbeitsplätze in der Steiermark abgebaut worden.

Diese Deindustrialisierung war immer eine "Transition von oben". Nur einmal, Ende der 80er Jahre, als die Puch-Zweiradproduktion an Piaggio verkauft wurde, gab es auch von unten zarte Versuche die Frage zu stellen, was denn mit dieser industriellen Infrastruktur überhaupt produziert werden soll. Ein Feld offener sozialer Kämpfe war die steirische Industrie schon lange Zeit nicht mehr. Die zahllosen "urban legends", wie jene über die Buschenschank in der Montagehalle - die Steiermark ist ja nicht nur Kernöl-, sondern auch Schilcher-Land - oder über jenen Typen, der sich mit geklauten Teilen zuhause einen "Puch G"-Geländewagen zusammengebaut hat, lassen jedoch den Schluss zu, dass die ganze Palette dessen, was die OperaistInnen als "Refusal of Work" diskutiert haben insbesondere in der Autoindustrie eine lange Tradition hat. Trotz allem haben diese radikalen Veränderungen nicht zu neuen Kämpfen geführt. Da ist es geradezu bezeichnend, dass die ÖVP-nahen FCG[5]-GewerkschafterInnen bei den Betriebsratswahlen im Magna-Werk mit einem Plus von 8,3% die großen GewinnerInnen waren.


Striking back of the care workers!

Aber war da nicht etwas? Massendemonstrationen in der Steiermark? Ja, da war etwas, und da ist etwas. Ganz anders stellt sich aktuell die Situation in der sogenannten "Sozialwirtschaft" dar. Als Ende Jänner die ersten Pläne rigoroser Budgetkürzungen bekannt wurden, bildete sich auf Initiative der KPÖ die "Plattform25"[6], die mittlerweile von fast 600 Organisationen aus dem Sozial-, Kultur-, und Gesundheitsbereich unterstützt wird. 25 wegen der geplanten Einsparungsvorgabe von 25 Prozent, und 25 wegen des Termins der ersten Großdemo am 25. März, an der 10.000 Menschen teilnahmen. Überwältigt von diesem Erfolg, und im Glauben dies nicht übertreffen zu können, wurde für den 11. April eine Menschenkette um das Landhaus angekündigt. Aus der Menschenkette wurde eine Demonstration mit 5.000 TeilnehmerInnen. In den Bezirksstädten fanden in diesen Tagen ebenfalls Demonstrationen und Kundgebungen statt. In Weiz, Murau und Gleisdorf waren jeweils Hunderte Menschen auf der Straße. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichten die Proteste am 26. April, dem Tag vor der Budgetsitzung im Landtag. Dazu hatte nicht nur die Plattform25, sondern auch der ÖGB Steiermark, aufgerufen, der sich anfangs sehr zurückhaltend verhielt, aber durch die anhaltenden Proteste unter Zugzwang geraten war. Für die Steiermark war es mit 13.000 DemonstrantInnen die größte Mobilisierung seit Jahrzehnten, aber zugleich empfanden es viele als unheimlich ernüchternd. Unter der Ägide und den Luftballons des ÖGB hatten die Wut und Kreativität der bisherigen Demonstrationen nur mehr wenig Platz. Am darauf folgenden Tag wurde das Budget ohne weiteren Widerstand beschlossen.

Das Landesbudget sieht massive soziale Kürzungen vor. Neben der Kürzung der Wohnbeihilfe und der steirischen Variante der Mindestsicherung, die noch schlechter ist als in den anderen Bundesländern, werden vor allem die Einsparungen in der Betreuung von Menschen mit Behinderungen kritisiert. Die entsprechenden Verordnungen werden erst in den nächsten Wochen beschlossen, aber schon jetzt ist klar, dass der reduzierte budgetäre Rahmen massive Verschlechterungen für die Betroffenen bringen wird. Nicht zuletzt sind Tausende Arbeitsplätze bedroht. Allein in der Behindertenbetreuung arbeiten 5.600 Menschen, von diesen stehen etwa 1.000 vor der Kündigung. Der Stellenabbau wird seitens der KritikerInnen stets als Argument angeführt, um zu illustrieren, dass diese Einsparungen keinen Sinn machen. Die Landesregierung würde aus Unwissenheit, Ignoranz und Einfallslosigkeit handeln, ihre Politik wäre bestimmt und getrieben durch Macht und Einfluss der (falschen) Lobbys. In Wirklichkeit, so geht das Argument weiter, wäre diese Politik kurzsichtig, nicht nachhaltig, vernichtet Arbeitsplätze, und über kurz oder lang würde es der Gesellschaft und damit uns SteuerzahlerInnen teurer kommen, weil heute im Sozialbereich zu sparen, morgen noch größere Kosten verursacht. Der "Dachverband der Jugendwohlfahrt"[7] spricht ganz offen und unverblümt von den "Kosten für die Reparatur", die in der Folge anfallen werden. Soll heißen: Wenn es uns heute nicht gelingt, Kinder und Jugendliche durch den frühen Einsatz verschiedener Sozialtechnologien zu angepassten und damit arbeitsfähigen Subjekten zu machen, dann werden sie morgen noch weniger angepasste und noch weniger wertvolle (soll heißen: arbeitsfähige) Mitglieder dieser Gesellschaft sein.

Landeshauptmann Voves ist pikanterweise der Einzige, der in der aktuellen Diskussion den naheliegenden Zusammenhang herstellt, indem er darauf verweist, dass dieses Sparpaket angesichts der Krise einfach notwendig ist. Schlussendlich geht es ja auch im Land der Kürbisse und des Schilchers darum die Verwertungsbedingungen des Kapitals zu verbessern, also das zu erreichen, was bisher im Autocluster relativ gut zu gelingen scheint. Der Angriff auf die "Care-Economy", also auf all jene Bereiche, die mit der Pflege von und Sorge um Menschen zu tun haben, ist so gesehen eine schlüssige Krisenstrategie, und dieses Sparpaket bewegt sich entlang einer der entscheidenden Konfliktlinien der letzten Jahrzehnte. Der ganze ökonomische Sektor von Pflege und Betreuung ist den Bewegungen und Kämpfen der sechziger und siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts geschuldet. An erster Stelle natürlich jener der Frauenbewegung, aber auch der Anti-Heim-Bewegung, der Anti-Psychiatrie-Bewegung, usw. Am Anfang stand die Weigerung von Frauen, diese Arbeit weiterhin unbezahlt zu leisten. Die Antwort auf diese Weigerung war es, diese Bereiche der Arbeit durchzukapitalisieren, also daraus Lohnarbeitsverhältnisse zu machen, idealerweise in einem privatwirtschaftlichen Rahmen. Im "Gesundheits- und Sozialwesen" arbeiten heute 29.198 Menschen, das sind 6% aller Beschäftigten. Alleine von 2009 bis 2010 wuchs der Bereich um 1.422 Beschäftigte, hat also um 5,1% zugenommen.[8]

Genau hier setzt das Sparpaket an. Es geht darum den Anteil unbezahlter Betreuungsarbeit wieder zu erhöhen. Am Beispiel der gefährdeten Jobs in der Behindertenbetreuung könnte man eine einfache Milchbubenrechnung anstellen. Die tausend ArbeiterInnen in der Behindertenbetreuung, die nun von Kündigung bedroht sind, erbringen im Laufe eines Jahres eine Arbeitszeit von circa eineinhalb Millionen Stunden. Ein beträchtlicher Teil dieser Arbeitszeit würde einfach verschwinden, und Menschen mit Behinderungen können vieles, das ihnen bisher möglich war, einfach nicht mehr tun, weil die entsprechenden Dienstleistungen nicht mehr vorhanden sind. Der größere Rest wird wieder unbezahlt geleistet werden, in erster Linie von Frauen: Müttern, Großmüttern und Lebensgefährtinnen. Ein Teil der Arbeit wird fernerhin an Frauen abgeschoben werden, die keine Angehörigen sind. Wenn das Land die notwendige Betreuung nicht mehr zahlt bzw. subventioniert, werden verstärkt migrantische Frauen in unterbezahlte, prekäre und noch schlechtere Arbeitsbedingungen gezwungen. Im Bereich der Altenpflege sehen wir das schon heute. Diese Kürzungsmaßnahmen haben eben sehr viel mit der patriarchalen und rassistischen Verfasstheit dieser Gesellschaft zu tun.

Der Diskurs der KritikerInnen lässt bisher eine weitergehende Kritik auf weite Strecken missen. Nicht einmal das "Wir müssen sparen!"-Paradigma wird infrage gestellt, geschweige denn, dass ein Zusammenhang mit der gesamtgesellschaftlichen Krisensituation hergestellt werden würde. Trotzdem waren und sind diese Mobilisierungen auf der Straße bemerkenswert, weil sich langsam Risse auftun, und sich die Intervalle zwischen den verschiedenen Protesten verkürzen. Vor wenigen Monaten waren noch Tausende Studierende auf der Straße, und das kürzlich beschlossene Bettelverbot wird ebenso in Aktionen und Kundgebungen bekämpft. Auch wenn die Proteste bisher handzahm geblieben sind, darf nicht übersehen werden, dass sich in diesem zermürbenden Ringen um eine bessere Betreuung von Menschen mit Behinderungen die radikale Forderung nach einem Leben in Würde für alle, unabhängig von ihrer "Verwertbarkeit", verbirgt.


... but will they strike?

Nach der letzten Großdemonstration und dem Budgetbeschluss wurde seitens der Plattform25 klar formuliert, dass das noch nicht das Ende des Widerstands ist, denn erst in den nächsten Wochen werden die Details der Kürzungen beschlossen. Bisher beschränken sich die Formen des Widerstands auf symbolische, medienwirksame Aktionen. Viele hoffen ja doch noch darauf, dass die handelnden PolitikerInnen noch irgendwie zur Vernunft gebracht werden könnten, oder dass durch das "hervorragende Standing in den Medien" etwas zu erreichen wäre. Nicht wenige stützen ihre Hoffnung auf den Riss, der sich angeblich in der SPÖ auftut - da die FSG[9]-GewerkschafterInnen bei der entscheidenden Abstimmung den Saal verlassen haben -, und meinen da und dort würde bereits die "Hegemonie aufbrechen". Wie wenig dies tatsächlich der Fall ist, wird daran deutlich, dass nicht einmal eine höhere Besteuerung des Glücksspiels, die 20 Millionen Euro für das Budget bringen würde und von der Plattform25 gefordert wird, umgesetzt wird.

Die bisher erfolglosen Mobilisierungen auf der Straße und die noch erfolgloseren parlamentarischen Initiativen der Opposition haben natürlich die Forderung nach Streik laut werden lassen. Zumeist kam die Antwort sofort und unaufgefordert: "Bei uns geht das nicht! Wir können unsere KlientInnen doch nicht alleine lassen!" Die Beziehung zu den Menschen in einer betreuten Wohngemeinschaft ist eben wirklich eine andere als die Beziehung zu einem Auto am Fließband. Die affektive Arbeit ist zwar ins Zentrum der Auseinandersetzungen gerückt, aber zugleich scheint sie strukturelle Grenzen zu schaffen, die nur schwer zu überwinden sind, und durch den (zu) großen Einfluss der Oppositionsparteien und Betriebsratsstrukturen in der Protestbewegung noch verstärkt werden. Es mag wohl stimmen, dass "(...) die Produktion von Affekten, Subjektivitäten und Lebensformen ein gewaltiges Potenzial für autonome Kreisläufe der Verwertung - und möglicherweise für die Befreiung"[10] liefert, aber selbst die Beispiele für erfolgreiche Streiks im Gesundheits-, und Sozialbereich, wie bei "pro mente" in Oberösterreich letzten Dezember, oder aktuell der Streik an der Charite in Berlin, haben in der Steiermark noch nicht die Überzeugung geschaffen, dass es möglich ist. Ein Streik könnte ein Schritt nach vorne sein: nicht nur ein geeignetes Mittel, um die aktuellen Kürzungen zu verhindern, sondern beispielsweise auch die Arbeitsbedingungen in diesem Bereich zum Thema machen, denn noch überwiegt im Land des Kernöls und des Schilchers die Überzeugung, dass es bisher ja eh ganz gut war.

E-Mail: leozinho@reflex.at


Anmerkungen:

[1] Das Zahlenmaterial entstammt, wenn nicht anders angegeben, der "Regionalstatistik Steiermark 2010", die von der Wirtschaftsabteilung der Arbeiterkammer Steiermark herausgegeben wird, und auch online verfügbar ist:
http://www.akstmk.at/bilder/d133/Regionalstatistik2010web.pdf

[2] Siehe dazu die Homepage des "Autocluster Styria": http://www.acstyria.com

[3] E.J. & D.V.: Vorwort, in: Hartmann, Detlef; Geppert, Gerald: Cluster. Die neue Etappe des Kapitalismus, Berlin 2008, S. 10.

[4] Die LeiharbeiterInnen werden in dieser Statistik nicht berücksichtigt.

[5] Fraktion christlicher Gewerkschafter

[6] Siehe: www.plattform25.at

[7] Die Stellungnahme des "Dachverbands der Jugendwohlfahrt" ist online nachzulesen:
http://www.plattform25.at/2011/03/die-stellungnahme-des-dachverbands- der-jugendwohlfahrt_7.5.2011.

[8] Siehe: Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Fachabteilung 1C - Landesstatistik (Hg.): Arbeitsmarkt 2010, in: Steirische Statistiken Heft 3/2011, S. 20.

[9] Fraktion sozialdemkoratischer GewerkschafterInnen

[10] Hardt, Michael: Affektive Arbeit, in: Atzert, Thomas; Müller, Jost: Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität. Analysen und Diskussionen zu Empire, Münster 2004, S. 186.

Raute

Lisa Haller & Silke Chorus

Die Regulation geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung

Auf der Suche nach einer feministischen Kritik der politischen Ökonomie

1. Einleitung

Mit der Ausbreitung von Lohnarbeit wurden in der sich formierenden kapitalistischen Ökonomie verschiedene Formen der Arbeitsteilung institutionalisiert, die seither in einem wechselseitigen Austauschverhältnis stehen. Diese arbeitsteiligen Austauschverhältnisse befinden sich in Folge ihrer reziproken Einflussnahme in andauernden Transformationsprozessen, die - so unsere These - maßgeblich durch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und deren Organisation im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung vorangetrieben werden.[1]

Die jüngsten Veränderungen in der Organisation geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung möchten wir im Rahmen dieses Beitrags genauer betrachten. Dabei soll uns an zentraler Stelle der Reproduktionsbegriff behilflich sein. Diesen verstehen wir einerseits als Reproduktion der menschlichen Verkehrs- und Austauschbedingungen zum Erhalt oder der Veränderung sozialer, politischer und ökonomischer Verhältnisse in ihrer historisch spezifischen Form, wobei wir von gesellschaftlicher Reproduktion sprechen sowie andererseits als Herstellung und Erhaltung menschlichen Lebens, wobei wir von individueller Reproduktion sprechen. Zur individuellen Reproduktion bedarf es in kapitalistischen Gesellschaftsformationen der marktvermittelten Reproduktion, die auf eine Reproduktionskostendeckung zielt sowie der privaten Reproduktion, die als unmittelbare Arbeit für und am Menschen charakterisiert werden kann. Wir haben es also mit drei Ebenen sozialer Reproduktion zu tun, die einander beeinflussen.[2] Arbeiten, die der privaten Reproduktion[3] menschlicher Lebens- und Arbeitskraft dienen, werden mehrheitlich von Frauen jenseits eines Lohnarbeitsverhältnisses verrichtet. Weil diese geschlechtsspezifische Zuteilung von privater Reproduktionsarbeit maßgeblich zur sozialen Ungleichheit zwischen Frauen und Männern beiträgt, ist sie zentraler Gegenstand zahlreicher feministischer Analysen, welche die geschlechtsspezifische Zuteilung von Arbeiten denaturalisiert und damit ihre politischen Gestaltungsmöglichkeiten aufgezeigt haben. Eine Kritik der politischen Ökonomie, die nicht hinter die Errungenschaften dieser feministischen Erkenntnisse zurück fallen möchte, steht vor der Herausforderung, in ihrer Analyse die geschlechtsspezifisch organisierte Arbeitsteilung als Bestandteil der gesellschaftlichen Arbeitsteilung in den Blick zu nehmen, um hiervon ausgehend das Wechselverhältnis zwischen Reproduktionsarbeiten in und außerhalb von Lohnarbeitsverhältnissen untersuchen zu können.

Diese Herausforderung führte uns auf die Suche nach theoretischen Anknüpfungspunkten, die es ermöglichen, die geschlechtsspezifische Organisation von privater und marktvermittelter Reproduktion in ihrer wechselseitigen Beeinflussung zu konzeptionalisieren. Hierbei stießen wir schnell auf den für unser Anliegen überaus bedeutsamen Terminus der sozialen Reproduktion, der von feministischen Kritikerinnen der politischen Ökonomie entwickelt wurde. Diesen Terminus und Begrifflichkeiten, die sich von ihm ableiten, werden wir im Folgenden genauer betrachten. Anschließend werden wir im zweiten Teil des Beitrags die jüngsten Transformationen in der geschlechtsspezifischen Organisation von privater und marktvermittelter Reproduktion skizzieren. Dabei nehmen wir die Zeitspanne vom Fordismus[4] zum Postfordismus in den Blick und rekonstruieren die sich verändernde Widerspruchskonstellation zwischen Produktion und Reproduktion aus der Perspektive der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Im dritten Teil des Beitrags widmen wir uns der Suche nach den theoretischen Anknüpfungspunkten, die es ermöglichen, die geschlechtsspezifische Organisation von privater und marktvermittelter Reproduktion in ihrer wechselseitigen Beeinflussung zu konzeptionalisieren. Hiervon ausgehend werden wir im Ausblick des Beitrags die aktuellen Herausforderungen beschreiben, die sich aus einer integralen Theorie für die gesellschaftliche Arbeitsteilung ergeben.


1.1. Die soziale Reproduktion

Der Begriff der sozialen Reproduktion bezeichnet in der Auseinandersetzung um politische Regulierung das Wechselverhältnis zwischen Subjekt, Staat und [Re]Produktionsweisen, welches zur Erhaltung oder Veränderung bestehender sozialer, politischer und ökonomischer Verhältnisse notwendig ist. Der Begriff der sozialen Reproduktion umfasst alle Bereiche der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, in denen die biologische Reproduktion der Spezies, die Reproduktion von Lebens- und Arbeitskraft und die Reproduktion des gesellschaftlichen Zusammenhanges gewährleistet werden. Weil die verschiedenen Tätigkeiten im Bereich der sozialen Reproduktion je nach hegemonialer Wertvorstellung und gesellschaftlichen Verhältnissen zeitweilig entlohnt, zeitweilig durch Einkommensübertragungen ermöglicht werden, wurde zur Beschreibung der unmittelbaren Arbeit am Menschen auf den englischen Begriff der Carework zurückgegriffen. Der Begriff der Carework fasst, unabhängig davon, ob Tätigkeiten entlohnt werden oder nicht, all diejenigen Arbeiten zusammen, deren Arbeitsgegenstand der Mensch selbst ist. Soziale Reproduktion beinhaltet also eine Reihe verschiedener Tätigkeiten, Institutionen und Prozesse. Diese wirken darauf ein, wie Menschen als gesellschafts- und arbeitsfähige Subjekte erzeugt, erhalten und reproduziert werden und darauf, wie wir im wechselseitigen Handeln einen Zusammenhang erschaffen und erhalten, in dem neben anderen Prozessen auch Tausch und Produktion stattfinden können.


1.2. Reproduktionsarbeit, Reproduktionskosten & Reproduktionsaufwand

In Abgrenzung zu theoretischen Ansätzen, die von klar definierten Arbeitssphären ausgehen, subsumieren wir unter den Begriff der Reproduktionsarbeit jedwede Form von menschlich verausgabter Arbeit. Indem Menschen unabhängig voneinander Waren produzieren, um diese auf dem Markt zu tauschen, wird auch die Herstellung von Waren zum Zweck des Tauschs zur Reproduktionsbedingung. Subjekte können in einer nach dem Prinzip kapitalistischer Warenproduktion organisierten Gesellschaftsformation ihr Arbeitsvermögen nicht zur alleinigen Grundlage der Sicherung ihrer Reproduktion machen, sondern es bedarf zur Deckung der Reproduktionskosten[5] einer zusätzlichen, marktvermittelten Reproduktionsarbeit, zu welcher das Subjekt neben seiner Arbeitskraft auf Produktionsmittel sowie auf die temporäre Freisetzung von privater Reproduktionsarbeit angewiesen ist. Über diese marktvermittelte Reproduktionsarbeit sprechen wir im Folgenden als Lohnarbeit. Der Reproduktionsaufwand setzt sich in kapitalistischen Gesellschaftsformationen aus dem zeitlichen Aufwand zusammen, der dazu benötigt wird, die private Reproduktion zu verrichten sowie aus dem zeitlichen Aufwand für die marktvermittelte Lohnarbeit zur Deckung der Reproduktionskosten. Häufig wird vernachlässigt, dass für die Verrichtung von marktvermittelter Lohnarbeit zur Reproduktionskostendeckung nicht nur die Produktionsmittel benötigt werden, sondern auch die Freistellung der Arbeitskraft von privater Reproduktionsarbeit unabdingbar ist. Diese unabdingbare Freistellung der Arbeitskraft wird durch private sowie durch gesellschaftliche Einkommensübertragungen ermöglicht.[6] Die Reproduktionskosten schwanken dementsprechend in Abhängigkeit davon, zu welchen Anteilen sich der Reproduktionsaufwand aus marktvermittelter Lohnarbeit und privater Reproduktionsarbeit zusammensetzt.


1.3. Reproduktionsarbeiten zwischen Entlohnung & Einkommensübertragung

Welche Arbeiten marktvermittelt und insofern als Lohnarbeit und welche Arbeiten hingegen privat und somit nicht im Rahmen einer Lohnarbeit organisiert sind, folgt keiner stringenten ökonomischen Funktionslogik, sondern einer staatlichen Steuerung in Abhängigkeit von politischen Kräfteverhältnissen, hegemonialen Wertvorstellungen und sozialen Aushandlungen und Kämpfen. Die Organisation der sozialen Reproduktion ist daher historisch kontextuell variabel. Dennoch gibt es ökonomische Motive, aus denen heraus in der Vergangenheit mehrheitlich Arbeiten am Menschen unentlohnt dem privaten Reproduktionsbereich und damit dem emotionalen Nahumfeld zugeschrieben wurden. Insofern im Zentrum des Arbeitsprozesses die Arbeiten am Menschen stehen, setzt das Arbeitsverhältnis die Entwicklung einer Beziehung zu jenem Menschen voraus, dessen Leben hergestellt und erhalten werden soll. Aus diesem Grund wurden in der Vergangenheit und werden bis in die Gegenwart hinein mehrheitlich Arbeiten am Menschen, bei denen die Entwicklung einer Beziehung zur Qualitätssicherung notwendig erscheint, jenseits einer marktvermittelten Entlohnung privat organisiert und in Rückgriff auf staatlich arrangierte Einkommensübertragungen ermöglicht. Zu einem großen Anteil werden Einkommensübertragungen privat im Rahmen von Partnerschaften, Freundeskreisen und Verwandtschaftsverhältnissen getätigt. Einkommensübertragungen in diesem Bereich sind nur zu einem geringen Anteil über das Unterhaltsrecht reguliert und werden von staatlicher Seite lediglich in Form von Einkommenssteuerrückzahlungen anerkannt. Neben dem Ausgleich von Unterhaltsleistungen durch Einkommenssteuerrückzahlungen reguliert der Staat das Wechselverhältnis zwischen marktvermittelter und privater Reproduktion durch Einkommensübertragungen, die einer Regulierung durch die Arbeitsmarkt-, Sozial- und Familienpolitik unterliegen.


1.4. Die Steuerungsfunktion des Staates bei der Verteilung von Arbeiten

Für die Verteilung eines erheblichen Anteils der gesamten Reproduktionsarbeit auf jene Subjekte, die den privaten Reproduktionsarbeiten nachgehen sowie die relative Entlastung anderer von der privaten Reproduktionsarbeit, die sich für die marktvermittelte Lohnarbeit verantwortlich fühlen, ist eine herrschaftsförmige Steuerung von staatlicher Seite notwendig. Die Funktion dieser staatlichen Steuerung ist es, die partielle Freistellung einiger Bevölkerungsgruppen von der privaten Reproduktionsarbeit zu gewährleisten, um durch diese Freistellung die kontinuierliche Eingliederung der von privater Reproduktion freigestellten Arbeitskräfte in die marktvermittelte Lohnarbeit sicherzustellen. Nicht zuletzt hat die staatliche Steuerung durch Sozial-, Steuer- und Familienpolitik die Funktion, die Reproduktionskosten der gesamten Bevölkerung durch eine gewisse Umverteilung des über die marktvermittelte Lohnarbeit erzeugten Mehrwertes zu garantieren. Insofern bewirkt eine staatliche Regulierung der privaten Reproduktionsarbeit durch die Reduktion von staatlichen Sozial-, Steuer- oder Familienleistungen indirekt auf die Lohnstückkosten und das volkswirtschaftliche Lohnarbeitskräftepotenzial. Obgleich sich die Arbeitsgegenstände historisch dynamisch zwischen der privaten und der marktvermittelten Reproduktionsebene bewegen, erfolgt die Zuordnung der Reproduktionsebenen aber in erstaunlicher Kontinuität entlang der Geschlechterhierarchie. So sind seit jeher mehrheitlich Frauen auf Einkommensübertragungen angewiesen, und zwar durch die Verrichtung von unentlohnter privater Reproduktionsarbeit.


1.5. Geschlechterverhältnisse & die kapitalistische [Re]Produktionsweise

Die sich in der Entwicklung des Kapitalismus kontinuierlich neu und immer wieder anders artikulierende Persistenz einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ist es, die uns dazu anhält, das Unternehmen, Arbeiten der privaten Reproduktionsarbeit als Voraussetzung von kapitalistischen Produktionsweisen sichtbar zu machen, als ein feministisches Anliegen zu bezeichnen. Geschlechterverhältnisse als durch kapitalistische Produktionsweisen abgeleitet zu begreifen, liegt uns im Umkehrschluss fern, da nicht zuletzt historisch das soziale Geschlechterverhältnis der kapitalistischen Produktionsweise vorgängig war und überdies auch in Gesellschaftsformationen ohne kapitalistische Produktionsweise nicht von einer Arbeitsteilung entlang der Geschlechterhierarchie abgesehen werden kann.[7] Infolge der sich immer wieder neu und anders artikulierenden Persistenz geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung kann unserer Einschätzung nach darauf zurückgeschlossen werden, dass kapitalistische Produktionsweisen zwar auf abstrakte Differenz, nicht aber notwendigerweise auf Differenz entlang der Geschlechterhierarchie angewiesen sind. Dementsprechend verstehen wir Geschlechterverhältnisse und kapitalistische Produktionsweise als in einer wechselseitigen Austauschbeziehung stehend sowie als eng aufeinander bezogene, ohne dass ein Verhältnis in der einen oder anderen Richtung abzuleiten wäre. Auf derartige monokausale Ableitungen verzichtend, erscheint uns sowohl die Organisation der privaten Reproduktions- als auch die Organisation von marktvermittelter Lohnarbeit nicht einzig von Aushandlungen zwischen Kapital und Arbeit, sondern überdies von Aushandlungen zwischen den Geschlechtern und der Deutung ihrer "Differenz" abhängig. Im Umkehrschluss beinhalten Veränderungen in den Produktionsweisen das Potenzial, auf die Arbeitsteilung entlang der Geschlechterhierarchie Einfluss zu nehmen.


1.6. Fragen, die uns umtreiben

Deshalb interessiert uns, welche Ansatzpunkte wie verknüpft werden müssten, um die reziproken Dimensionen sozialer Reproduktionsverhältnisse in ihrem Spannungsverhältnis zwischen subjektiver Eigenverantwortung, staatlichen Institutionen und kapitalistischer Produktionsweise in ihrer Komplexität erfassen zu können. Überdies fragen wir uns, in welcher Weise es gelingen kann, den Rahmen für eine feministische Kritik der politischen Ökonomie auszuloten, in der die geschlechtsspezifisch organisierte Arbeitsteilung als Bestandteil der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sichtbar wird.


2. Genderregime & [Re]produktionsweise in der Transformation

Ein Forschungsansatz, der die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als Bestandteil der gesellschaftlichen Arbeitsteilung herausgearbeitet hat, ist die Genderregimeforschung. Feministische Wohlfahrtsstaatenforscherinnen zeigten mit Hilfe von vergleichenden Länderuntersuchungen Unterschiede und Ähnlichkeiten auf wie Frauen als Mütter, Erwerbstätige und Staatsbürgerinnen in die wohlfahrtsstaatliche Organisation einbezogen werden. Sie wiesen überdies darauf hin, in welchem Ausmaß die Wohlfahrt auf der unbezahlten privaten Reproduktionsarbeit von Frauen basiert (Ostner 1995; Sainsbury 1999). Wohlfahrtsstaaten tragen demgemäß je nach Ausgestaltung der privatrechtlichen sowie staatlichen Einkommensübertragungen dazu bei, die Geschlechterungleichheit zu verringern oder zu verfestigen (Kulawik 2005: 7). Aktuelle Arbeiten konstatieren eine Erosion des männlichen Ernährermodells, dessen Besonderheit war, dass die private Reproduktionsarbeit der Hausfrau mit der marktvermittelten Lohnarbeit des männlichen Familienernährers in unterschiedlichem Ausmaß in allen Wohlfahrtsstaaten in einem kohärenten Wechselverhältnis standen (Leitner et al. 2004). Eine Leerstelle der feministischen Wohlfahrtsstaatenforschung ist, dass diese zwar die Wirkungsweise wohlfahrtsstaatlicher Arrangements auf das Geschlechterverhältnis betrachtet, bislang jedoch nicht untersuchte, in welcher Weise Veränderungen im Verhältnis zwischen den Geschlechtern auf den Wohlfahrtsstaat sowie auf ökonomische Systeme Einfluss nehmen.


2.1. Genderregime & [Re]produktionsweise im deutschen Fordismus

Will man wissen, in welcher Weise die geschlechtsspezifische Organisationsform der privaten Reproduktionsarbeit auf die Kosten der Arbeitskraft im Produktionsprozess einwirkt, bietet sich die Möglichkeit einer historischen Betrachtung des deutschen Regulationsmodells an. Der keynesianische Wohlfahrtsstaat im zeitlichen Intervall des deutschen Fordismus basierte auf einer vermeintlich klaren Trennung zwischen dem öffentlichen und männlich codierten Raum und dem privaten und weiblich codierten Raum. Durch diese Sphärentrennung wird das männliche Familienernährermodell zu einer staatlich begünstigten Lebensform. Der private Reproduktionsbereich und die darin tätige weibliche Arbeitskraft bleiben - auf privatrechtliche Unterhaltsleistungen verwiesen - von der fordistischen Durchkapitalisierung der Gesellschaft ausgespart. Der marktvermittelte Lohnarbeitsbereich und die darin tätige männliche Arbeitskraft wird durch einen sogenannten Familienlohn, familiale Transferleistungen und Zuschläge sowie einkommenssteuerrechtliche Freibeträge dazu befähigt, die Reproduktionskosten und damit den Lebensunterhalt der von ihr abhängigen Familienangehörigen gewährleisten zu können. Abhängige Familienangehörige - mehrheitlich Frauen - bleiben damit durch ihre Arbeit im privaten Reproduktionsbereich auf privatrechtliche Unterhaltszuwendungen angewiesen. Ihre soziale Absicherung erfolgt in erster Linie über abgeleitete soziale Rechte sowie familienbezogene Transfers. Diese kommen nicht direkt den in der privaten Reproduktion Arbeitenden, sondern dem meist männlichen Haushaltsvorstand zu (vgl. Haller et al. 2011: 31). Arbeiten im privaten Reproduktionsbereich bleiben im fordistischen Zeitalter ein in der ökonomischen Betrachtung scheinbar "abwesender" und indirekter, aus unserer Perspektive aber überaus zentraler Bestandteil des fordistischen Akkumulationsregimes. Die Funktionslogik dieses fordistischen Akkumulationsregimes setzt dementsprechend ein marktvermitteltes Lohnverhältnis auf Seiten des männlichen Familienernährers voraus, dessen Vergütung für die Reproduktionskostendeckung der Familienangehörigen ausreichen muss. In dieser historisch spezifischen Form von Produktions- und Reproduktionsweisen standen eine marktvermittelt Massenproduktion, eine tayloristische Arbeitsorganisation, ein marktvermittelter Massenkonsum und eine vornehmlich private Reproduktionssphäre in einer abgesonderten Care-Ökonomie[8] in einem kohärenten Verhältnis zueinander.


2.2. Feministische Forderungen nach einer Steigerung der Frauenerwerbsquote

An der historisch spezifischen Form von Produktions- und Reproduktionsweise im Fordismus wurde von feministischer Seite starke Kritik laut: Die Freigiebigkeit von sozialpolitischen Leistungen im Fordismus sei auf die Annahme eines Normalarbeitsverhältnisses bezogen, das lediglich die Normalität von männlichen Arbeitsverhältnissen widerspiegele. Die unbezahlte private Reproduktion sei, so die feministische Kritik, inkludierter Part der Normalität der Vollzeit erwerbstätigen Normalarbeiter. Die Integration von mehrheitlich männlichen Arbeitskräften in die marktvermittelte Lohnarbeit verhindere die Entlohnung der weiblichen Arbeitskraft im Bereich der privaten Reproduktion (Kulawik 2005). Die private Reproduktionsarbeit sei folglich in dem Mehrwert enthalten, der über die marktvermittelte Lohnarbeit erwirtschaftet wird. Feministische Theoretikerinnen gingen daher von mehreren Produktionsweisen aus. Die private Reproduktionsarbeit sei in der häuslichen Produktionsweise, die marktvermittelte Lohnarbeit hingegen in der kapitalistischen Produktionsweise verortet, wobei beide Produktionsweisen aufeinander verwiesen seien (vgl. Folbre 1987). Die soziale Absicherung des männlichen Lohnarbeiters in der kapitalistischen Produktion führe zu einer Begünstigung von erzwungenen, unbezahlten Dienstleistungen in der privaten Reproduktionssphäre und damit zu einer eklatanten Abhängigkeit der privaten Dienstleisterinnen von Einkommensübertragungen.

Für Frauen sei deshalb nicht die Erhaltung dieser spezifischen Kohärenz von Produktions- und Reproduktionsweise erstrebenswert, vielmehr sei ihre Auflösung die Voraussetzung einer Befreiung aus privaten Abhängigkeiten. Die deutsche Frauenbewegung erhob daher die Steigerung der Frauenerwerbsquote sowie damit einhergehend die gleichberechtigte Partizipation von Frauen am Erwerbsleben zu ihrer prioritären Forderung.


2.3. Transformation im deutschen Regulationsmodell

Und ihre Forderungen wurden zunehmend hegemoniefähig.[9] Eine Vielzahl von arbeitmarkt-, sozial- und familienpolitischen Reformen der jüngsten Vergangenheit wurde mit der Steigerung der Frauenerwerbsquote sowie einer Gleichstellung hinsichtlich der Partizipationschancen von Frauen und Männern begründet. Unserer Analyse nach kann diese schrittweise Auflösung der fordistischen Produktions- und Reproduktionsweise jedoch nicht einzig mit den Forderungen der deutschen Frauenbewegung begründet werden, sondern muss auch auf die verschobenen Interessenskonstellationen sowohl in der Staatsform wie auch in der Wirtschaft zurückgeführt werden. Dies wird am Beispiel der jüngsten Veränderungen im Unterhaltsrecht deutlich.[10] Angesichts einer Pluralisierung und Individualisierung von Lebensformen sah sich der Staat immer häufiger in der Pflicht zahlungsunfähige und deshalb ausfallende unterhaltspflichtige Ernährer im Nachkommen dieser Pflicht zu unterstützen oder zu ersetzen und die Reproduktionskosten für abhängige Familienangehörige durch staatliche Einkommensübertragungen zu decken.

Darauf reagierte die Politik, indem sie mit einem Unterhaltsänderungsgesetz mehrheitlich Frauen - die bis dato einen marktvermittelt Lohnarbeitenden von der privaten Reproduktionsarbeit freistellten - das Anrecht auf privatrechtliche Einkommensübertragungen entzog. Auf diese Weise wurden die Frauen nun zur marktvermittelten Lohnarbeit gezwungen, jedoch ohne dass ihre Freistellung von der privaten Reproduktionsarbeit garantiert gewesen wäre. Kennzeichnend für die Reproduktionsverhältnisse im Postfordismus ist infolgedessen die Inanspruchnahme von Frauen für die marktvermittelte Lohnarbeit bei zeitgleicher Verringerung der sozialstaatlichen Unterstützung für die private unentlohnte Reproduktionsarbeit. Der mit der aktivierenden Arbeitsmarkt-, Sozial- und Familienpolitik einhergehende Erwerbszwang hat zur Folge, dass die Reproduktionskostendeckung abhängiger Familienmitglieder immer schwieriger wird. Ein bisher unbeachteter, nicht entlohnter und vornehmlich von Frauen ausgeführter Tätigkeitsbereich unterliegt damit tiefgreifenden Veränderungen.

Zwar wird auch im postfordistischen Zeitalter ein großer Anteil von privaten Reproduktionsarbeiten weiterhin unbezahlt und von Frauen zu Hause geleistet, jedoch immer weniger durch Einkommensübertragungen honoriert. Daneben wächst aber auch der Anteil der ehemals privaten Reproduktionsarbeiten, die nun marktvermittelt organisiert sind. Ehemals außerhalb der Warenform, in den Privathaushalten verrichtete private Reproduktionsarbeiten werden im postfordistischen Zeitalter also zunehmend auch innerhalb der Warenform, in Teilen sogar profitbringend organisiert und Kriterien der ökonomischen Effizienz und Profitmaximierung unterworfen.


2.4. Ende oder Wende in der Kohärenz von Produktions- und Reproduktionsweise?

Die Kohärenz von Produktions- und Reproduktionsweise im Fordismus war demnach nicht nur durch den Klassenkampf und den fordistischen Klassenkompromiss gewährleistet, sondern auch durch die spezifische Form der Geschlechterverhältnisse.[11] Das an bürgerlichen Geschlechterverhältnissen orientierte Ernährermodell wurde zwar auch im Klassenkompromiss um das Lohnniveau mit verhandelt, jedoch lässt sich seine Emergenz genauso wenig hinreichend aus der Entwicklung der Klassenverhältnisse allein erklären, wie es die durch dieses Geschlechtermodell geprägte, spezifische Organisation von privater und marktvermittelter Reproduktion tut. Berücksichtigt man die individuelle Reproduktion in Gänze, so wird deutlich, dass die Grenzen der fordistischen Form von Mehrwertproduktion und Kapitalakkumulation nicht nur die Produktivitätsgrenzen der fordistischen Produktionsweise - also den Bereich der marktvermittelten Lohnarbeit - betrafen, sondern auch die Grenzen der Durchkapitalisierung der privaten Reproduktion im Rahmen eines dominierenden tayloristischen Paradigmas der Arbeitsorganisation und der fordistischen Regulation des Geschlechterverhältnisses. Denn in der Spätphase des Fordismus setzte ein starkes Wachstum im personenbezogenen, öffentlichen und privatwirtschaftlichen Dienstleistungssektor ein.[12] Diese ökonomische Transformation beruhte wesentlich auf dem Einzug der Frauen in die marktvermittelte Lohnarbeit und ihren partiellen Rückzug aus der privaten Reproduktionssphäre (vgl. Esping-Andersen 1999). Die Nachfrage nach warenförmiger Carework - wie z.B. Kinderbetreuung, oder Alten- und Langzeit-Krankenpflege - und das Angebot an Arbeitskräften in diesen Bereichen erhöhte sich in Folge. Die Ausweitung der eher wertschöpfungsschwachen, weil zeitintensiven Carework kollidierte aber mit dem fordistischen Prinzip der Dominanz des relativen Mehrwertes[13] und des tayloristischen Produktionsparadigmas im Rahmen der fordistischen Regulation des Klassenverhältnisses - beides entscheidende materielle Voraussetzungen für dieses Entwicklungsmodell des Kapitalismus. Die fordistische Produktions- und Reproduktionsweise geriet also nicht allein deshalb in eine Krise, weil ihre inhärenten Produktivitätsgrenzen zunehmend erreicht waren, sondern auch weil die Dominanz der fordistischen Form des Mehrwertes durch die Ausweitung wertschöpfungsschwacher, gering produktiver Carework in Frage gestellt wurde. Das fordistische Zeitalter krankte letzten Endes also an einem "doppelten" Produktivitätsdilemma. Indem Carework von der ehemals privaten Reproduktionsarbeit in marktvermittelte Lohnarbeit überführt wurde, geriet die Kohärenz zwischen Produktions- und Reproduktionsweise aus dem Gleichgewicht.


2.5. Widerspruchskonstellation - divergierende Produktivitäten nach der Transformation

Die Kohärenz zwischen Produktions- und Reproduktionsweise im Fordismus wurde durch eine wechselseitige Abhängigkeit getragen, nämlich die der Männer von der privaten Reproduktion der Frauen sowie die der Frauen von der Reproduktionskostendeckung des marktvermittelt Lohnarbeitenden. Infolge der veränderten Reproduktionskostenverteilung, die mit der Reduzierung von Einkommensübertragungen durch die jüngste Sozial-, Arbeitsmarkt- und Familienpolitik einhergeht, findet eine partielle Überführung der privaten Reproduktion in die marktvermittelte Lohnarbeit statt, durch welche sich die geschlechterspezifischen Abhängigkeitsverhältnisse verändern. Durch die Modifikationen in der starren geschlechterspezifischen Arbeitsteilung im Fordismus ergeben sich verstärkte Widerspruchskonstellationen in der Arbeits- und Lebensweise, die wir im Folgenden ausführen werden: Die Arbeiten zur Herstellung von Waren zum Zweck des Tausches unterscheidet sich insofern genuin von Arbeiten am Menschen als das sich Arbeit am Menschen nicht vom restlichen Leben abtrennen, aufbewahren oder flüssig machen lassen (vgl. Polanyi 1978: 107). Arbeit am Menschen besteht unabhängig davon, ob sie in der privaten Reproduktion oder als marktvermittelte Lohnarbeit verrichtet wird, wesentlich aus der Entwicklung einer Beziehung zwischen der jeweiligen Care-ArbeiterIn und dem Menschen, dessen Leben hergestellt, erhalten und vielleicht verbessert werden soll. Die Arbeit am Menschen funktioniert daher nach einer anderen Logik als die industrielle Herstellung einer zum Zweck des Tauschs produzierten materiellen Ware. So kann im Arbeitsprozess der Arbeit am Menschen die Care-ArbeiterIn als Bezugsperson nicht beliebig ausgetauscht werden. Die Aufteilung in einzelne Arbeitsschritte sowie die Substituierung der Produktionsfaktoren zum Zweck der Produktivitätssteigerung sind insofern nur begrenzt möglich, ohne eine Verschlechterung der Care-Qualität und damit der jeweiligen Reproduktionsbedingungen zu riskieren (Chorus 2007b).[14] Arbeiten am Menschen können daher zeitbezogen weniger optimiert werden als klassische Arbeiten der marktvermittelten Lohnarbeit, die zum Zweck des Tausches produziert werden. So kann man zwar Autos und Medikamente schneller produzieren, aber man kann Kinder nur schwierig schneller aufziehen (Madörin 2006: 292). Die Produktivität der Arbeit am Menschen divergiert demnach im Vergleich zur Produktivität von Arbeiten, die lediglich zum Zweck des Tausches Waren herstellen. Durch die Möglichkeit der Arbeitszeitoptimierung bei der Herstellung von Waren zum Zweck des Tausches, verlieren warenproduzierende Arbeiten im Vergleich zu beziehungsförmigen Arbeiten an Bedeutung. Nicht zuletzt weil die inhärenten Produktivitätsgrenzen in der Produktion warenförmiger Lebensmittel und Konsumgüter tendenziell erreicht sind, machen diejenigen Arbeiten am Menschen, die zu Zeiten des Fordismus mehrheitlich als private Reproduktionsarbeit organisiert waren, im Vergleich zu derjenigen Arbeiten, die zum Zweck des Tausches ausschließlich als marktvermittelte Lohnarbeit organisiert sind, einen anwachsenden Anteil der gesamten gesellschaftlichen Arbeit aus. Kurz: Es werden tendenziell immer weniger Menschen für die Produktion von warenförmigen Lebensmitteln und Konsumgütern benötigt - der Bedarf an Arbeitskräften im Care-Bereich hingegen ist angesichts einer steigenden Erwerbstätigkeit durch die Reduktion von Einkommensübertragungen, den demografischen Wandels und eine Individualisierung von Lebensformen steigend. Im Rahmen einer kapitalistisch dominierten Ökonomie sehen wir insofern ein unaufhörlich anwachsendes Problem: Aus dem wachsenden Wirtschaftszweig von wertschöpfungsschwachen Arbeiten am Menschen in der marktvermittelten Lohnarbeit kann nur dann Wert geschöpft und akkumuliert werden, wenn diese Arbeiten unter großem Zeitdruck und mit geringen Löhnen verrichtet werden.


3. Die Regulationstheorie als Analyserahmen für eine feministische Kritik der politischen Ökonomie?

Angesichts der aufklaffenden Widersprüche zwischen den Produktions- und Reproduktionsweisen und der hierüber zu Tage tretenden ökonomischen Krisen und gesellschaftlichen Missstände halten wir es für unverzichtbar, eine integrale Theorie zu entwickeln, welche die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und deren Organisation im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung konzeptionalisiert. Einen theoretischen Rahmen, der es ermöglichte, die Erhaltung oder Veränderung von Gesellschaftsformationen aus einer relationalen Perspektive zu betrachten und dabei verschiedene Ansatzpunkte zu verknüpfen, fanden wir in der Regulationstheorie.[14] Sie räumt der sozialen Reproduktion einen zentralen Stellenwert ein, insbesondere hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen der ökonomischen Entwicklung des jeweiligen historischen Modus der Kapitalakkumulation.


3.1. Die Regulation von Reproduktionsverhältnissen aus einer feministischen Perspektive

Mittels der Regulationstheorie scheint es möglich, die wechselseitigen Einflussfaktoren von sozialen Kämpfen mit den Einflussfaktoren kapitalistischer Produktionsweise zu verbinden, ohne dabei die von den Subjekten auf eigensinnige Weise angeeigneten Alltagsideologien aus dem Blick zu verlieren.

Um die Anschlussstellen der bislang nur implizit geschlechtersensiblen Regulationstheorie für eine feministische Kritik der politischen Ökonomie nutzbar zu machen, werden wir im Folgenden Momente der Veränderung im Strukturzustand der verschiedenen Produktionsweisen benennen. Dabei werden wir zeigen, inwieweit die Regulationstheorie die soziale Reproduktion einzubeziehen vermag.[15]


3.1.1. Die vielfältigen Produktionsweisen als Anschlussstelle für eine feministische Kritik der politischen Ökonomie

Eine erste Anschlussstelle für unsere Analyse der gesellschaftlichen Reproduktion ergibt sich in der Regulationstheorie aufgrund ihres Begriffes von der kapitalistischen Produktionsweise. Die Regulationstheoretiker der Pariser Schule verstehen unter kapitalistischen Gesellschaftsformationen solche Gesellschaften, in denen eine kapitalistische Produktionsweise zwar relativ bedeutend ist, jedoch stets mit anderen Produktionsweisen in einer historisch spezifischen Verbindung steht. Die kapitalistische Produktionsweise wird als krisenhafte und unvollständige Produktionsweise konzipiert, die allein aus sich selbst heraus nicht lebensfähig ist. Die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft beruht weiter nicht nur auf abstrakten Tauschvorgängen, sondern setzt immer auch die Existenz nicht markt- und warenförmiger sozialer Beziehungen und Verhältnisse voraus (vgl. Hirsch 1990: 18). Daher spielen die unterschiedlichen Produktionsweisen - darunter auch die mehrheitlich von Frauen besetzte Haushaltsproduktionsweise - in der Analyse gesellschaftlicher Reproduktionsverhältnisse in ihrem je spezifischen, historischen Kontext eine bedeutende Rolle (Lipietz 1985: 110).


3.1.2. Der gesellschaftliche Ökonomiebegriff als Anschlussstelle für eine feministische Kritik der politischen Ökonomie

Die Regulationstheorie räumt in ihrer Entwicklungstheorie nicht nur anderen, nicht-kapitalistischen Produktionsweisen einen Stellenwert für die Existenz der kapitalistischen Produktionsweise ein, sie profiliert darüber hinaus auch einen gesellschaftlichen Ökonomiebegriff. Ökonomie wird als gesellschaftliche Veranstaltung verstanden, die innerhalb des Feldes aller sozialen Beziehungen und innerhalb eines komplexen Netzes gesellschaftlicher Verhältnisse stattfindet (Lipietz 1998: 12). Augenscheinlich wird hierbei, dass eine reine Ökonomie und demzufolge auch eine rein kapitalistische Ökonomie in der Regulationstheorie ausgeschlossen werden (Aglietta 1979: 16). Für unser Anliegen einer feministischen Kritik der politischen Ökonomie ist dieses erweiterte Ökonomieverständnis hilfreich. Es verdeutlicht, dass Ökonomie jenseits des Bereiches der direkten Produktionsverhältnisse auch dort stattfindet, wo Menschen füreinander da sind, wo andere "Rationalitäten" herrschen und Menschen sich in wechselseitigen Austauschbeziehungen ergänzen.


3.1.3. Das Handeln der Subjekte als Anschlussstelle für eine feministische Kritik der politischen Ökonomie

Die ökonomische Geschichte wird mit der Regulationstheorie durch das konfliktive soziale Handeln verschiedenster sozialer Akteure und damit von den Subjekten selbst gemacht. Diese Subjekte handeln in den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen sie leben und in denen sie arbeiten, für andere sorgen, lieben, denken und fühlen und die sie selbstverständlich auch in Frage stellen und verändern können. Um das materielle Leben zu produzieren und zu reproduzieren, gehen Menschen auch in kapitalistischen Gesellschaften unterschiedliche private und marktvermittelte sowie gesellschaftliche Reproduktionsverhältnisse ein. Damit ist die ökonomische Geschichte der Menschen eine soziale Geschichte, die auf sozialem und somit stets auch vergeschlechtlichtem Handeln beruht. Diese Geschichte ist daher mehr als nur die Geschichte von Klassenkämpfen, sie ist ebenso die Geschichte ungleicher Geschlechterverhältnisse. Sie bringt unterschiedliche, miteinander verstrickte Produktionsweisen hervor. In deren Bezogenheit aufeinander finden die kapitalistische Produktionsweise und die Reproduktion ihrer grundlegenden Verhältnisse statt. Insofern die Regulationstheorie hier expliziert, dass das Alltagshandeln der Subjekte ökonomische Verhältnisse verändert oder aber fortschreibt, wird diese für eine feministische Analyse ökonomischer Verhältnisse brauchbar.


3.2. Akkumulationsregime = Produktions- und Reproduktionsweisen

Ihre entwicklungs- und strukturtheoretischen Annahmen über die kapitalistische Produktionsweise übersetzt die Regulationstheorie in konkrete Analysebegriffe. Für die Analyseebene, auf der sich der Begriff der sozialen Reproduktion ansiedelt, ist hier insbesondere für die Kategorie des Akkumulationsregimes relevant.


3.2.1. Die Verknüpfung von Produktions- und Reproduktionsweisen als Anschlussstelle für eine feministische Kritik der politischen Ökonomie

Die Kategorie des Akkumulationsregimes beschreibt die historisch regional verschiedenen Modi und Methoden von Mehrwertgewinnung und Kapitalakkumulation. Die Kategorie umfasst die Art und Weise, wie Arbeitskraft im Produktionsprozess angewandt wird, die Verteilungsrelationen des gesellschaftlichen Wertes und die Formen des Endverbrauches und Konsums. Akkumulationsregime finden - so formuliert es Lipietz - in allen historischen Formationen des Kapitalismus in "einem 'äußeren Raum' statt". Äußere Räume sind z. B. die Haushaltsproduktion, Formen der einfachen Warenproduktion und der Weltmarkt (Lipietz 1985: 120). Der Begriff der Akkumulationsregime beinhaltet also die historisch spezifische Verknüpfung von kapitalistischen Produktionsweisen mit nicht kapitalistischen Produktionsweisen. Er beschreibt außerdem Aspekte der individuellen Reproduktion als gesellschaftliche Bedingungen der sozialen Reproduktion und des Endverbrauches der direkt und indirekt Lohnabhängigen und setzt diese Bedingungen als eine zentrale Variable für eine stabile Kapitalakkumulation.


3.2.2. Die Lebensweise der Subjekte als Bestandteil des Akkumulationsregimes

Daraus können wir ableiten, dass der Endverbrauch und Konsum und damit auch die Lebensweise der direkt und indirekt Lohnabhängigen Bestandteil des Akkumulationsregimes sind, wenn sie warenförmig organisiert sind. Eine nicht warenförmig - oder nur in Teilen warenförmig - organisierte Lebensweise der direkt und indirekt Lohnabhängigen kann die Reproduktionskosten von Arbeitskraft aus der Perspektive des Kapitals senken, sie kann aber auch zu Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals führen, wenn letzteres nach Ausdehnung strebt, diese nicht warenförmigen Räume sich jedoch einer Vermarktlichung unter den jeweils historischen Bedingungen versperren. In jedem Falle hat die Lebensweise der direkt und indirekt Lohnabhängigen, die Art des Endverbrauches und Konsums einen Einfluss auf das Akkumulationsregime, seine Entwicklungstendenzen und seine Entwicklungsmöglichkeiten. Diese Dimension ist die "zweite" Seite der Akkumulation und deshalb werden Akkumulationsregime als Produktions- und Reproduktionsweisen bzw. als Konsumweisen einer Gesellschaftsformation beschrieben. Verallgemeinert sich eine individuelle Lebensweise zu einer hegemonialen Praxis, wie wir dies beispielhaft anhand der verallgemeinerten Form des männlichen Ernährers, ihrer Erosion und Transformation veranschaulicht haben, schlägt Quantität in Qualität um und wird hierüber zum relevanten Einflussfaktor für Politik und Ökonomie, was wir am Unterhaltsänderungsgesetz veranschaulicht haben.


3.2.3. Die Kohärenz zwischen Arbeits- und Lebensweise

Eine wesentliche Bedingung für eine relativ stabile Entwicklung der Kapitalakkumulation ist in der Regulationstheorie die Kohärenz zwischen Produktions- und Reproduktionsweise (vgl. Lipietz 1985: 119 f.). Arbeits- und Lebensweise müssen zueinander "passen". Veränderungen in der gesellschaftlichen Organisation von marktvermittelter Lohnarbeit und Produktion müssen also über kurz oder lang mit Veränderungen in der Organisation von privater Reproduktion und Konsum einhergehen - und umgekehrt. D. h. jedoch im Sinne der Krisentheorie der Regulationstheorie nicht, dass diese Kohärenz sich wie von selbst herstellen würde. Sie ist vielmehr das prinzipiell erst mal immer offene Ergebnis von sozialen Konflikten, Bewegungen und Auseinandersetzungen (vgl. Lipietz 1985: 114). Im historischen Abriss vom Fordismus zum Postfordismus rekonstruierten wir skizzenhaft, wie diese Kohärenz durch vielfach determiniertes, soziales Handeln an verschiedensten "Schauplätzen" der Gesellschaft zunehmend in Frage gestellt wurde und schließlich nicht mehr gewährleistet war.[16]


3.2.4. Der Modus der Kapitalakkumulation als abhängige Variable sozialer Reproduktion

Besonders interessant für eine feministische Perspektive auf die Kritik von kapitalistisch dominierter Ökonomie ist hier, dass die Regulationstheorie den jeweiligen Modus der Kapitalakkumulation als grundsätzlich abhängig von der Art und Weise versteht, wie private und marktvermittelte Reproduktion in der gesellschaftlichen Reproduktion organisiert sind. D. h. die immer auch durch Geschlechterverhältnisse geprägte Organisation der gesellschaftlichen Reproduktion hat einen Einfluss auf die historisch möglichen Formen, Entwicklungstendenzen und Grenzen von Mehrwertgewinnung und Kapitalakkumulation. So gesehen ist es naheliegend zu folgern, dass die jeweils historisch spezifischen Geschlechterverhältnisse einen prägenden Einfluss auf die Formen der Kapitalakkumulation, auf die ökonomischen Wachstums- und Krisendynamiken in kapitalistischen Gesellschaftsformationen besitzen.


3.2.5. Private und marktvermittelte Reproduktion als Leerstelle der Regulationstheorie

Wir resümieren, dass die schrittweise Auflösung der fordistischen Produktions- und Reproduktionsweise keineswegs allein einer ökonomischen Rationalität entspringt, noch reagiert die politische Regulation einfach auf sie. Dieser ökonomische und gesellschaftliche Wandel wird vielmehr von Menschen gemacht. Er wird durch soziales, politisches und immer auch vergeschlechtlichtes Handeln hervorgebracht und in sozialen Aushandlungen und Kompromissen, die stets auch Geschlechterkompromisse beinhalten, institutionalisiert.

Obwohl die Reproduktionsweise der direkt und indirekt Lohnabhängigen für die ökonomische Dynamik des fordistischen Zeitalters von zentraler Bedeutung ist, befassen sich die diesbezüglichen regulationstheoretischen Analysen auffällig selten mit Geschlechterverhältnissen. Diese blinden Flecken in den zeitdiagnostischen Analysen der Regulationstheorie sind unserer Auffassung nach, auf erhebliche Leerstellen in der Konzeptionalisierung der sozialen Reproduktion im Rahmen der Regulationstheorie zurückzuführen.[17] Nach unserem Dafürhalten zeichnet sich die spezifische Form der fordistischen Reproduktion ökonomisch betrachtet sogar darüber aus, dass nur jener Teil der individuellen Reproduktion zunehmend durchkapitalisiert wurde, der im Rahmen eines tayloristischen Produktionsparadigmas gewinnbringend produziert und konsumiert werden konnte (Chorus 2007a: 44 ff.). Diejenigen privaten Reproduktionsarbeiten innerhalb der individuellen und gesellschaftlichen Reproduktion, in der zwischenmenschliche Beziehungen zentral sind - also v. a. Fürsorge-, Pflege-, Beziehungs- und Erziehungsarbeit - bildeten nach wie vor einen zentralen, jedoch "äußeren Raum" des Akkumulationsregimes. Um tatsächlich die jeweils historisch regional spezifische Konstellation von Produktions- und Reproduktionsweise in ihrer ökonomischen Bedeutung zu erfassen, ist es wichtig, die individuelle Reproduktion nicht nur unter dem Aspekt der kapitalisierten Lebensmittelproduktion zu betrachten, sondern gleichermaßen die private sowie die marktvermittelte Carework grundlegend einzubeziehen.


3.2.6. Endlich Lohn für die private Reproduktionsarbeit?

Wir sehen, dass Carework - im fordistischen Zeitalter noch außerhalb der marktvermittelten Lohnarbeit, in einem "äußeren" Raum der kapitalistischen Akkumulation organisiert - im postfordistischen Zeitalter die Warenform annimmt. Dieser Prozess ist Ausdruck der Transformation eines Teiles der ehemals privaten Reproduktionsarbeit zu bezahlten, marktvermittelten Dienstleistungsarbeiten. Dabei ändern Care-Arbeiten nicht nur ihre sozioökonomische Form, sondern es verändert sich auch der Personenkreis derer, die diese Arbeiten ausführen. Die schlecht bezahlten, häufig migrantischen Careworkers sorgen mit ihren niedrigen Löhnen dafür, dass Care-Dienstleistungen trotz geringer Produktivität nicht allzu teuer werden und u. U. sogar noch Profit dabei herausspringt. Für die marktvermittelt arbeitenden Careworkers selbst ist es in der Regel nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich, der eigenen privaten Reproduktionsverantwortung durch den Zukauf von Care-Dienstleistungen nachzukommen. Warenförmige Care-Dienstleistungen zu konsumieren bleibt vergleichsweise teuer und nicht für alle Einkommensklassen erschwinglich. Berücksichtigen wir dabei die Besonderheit von Arbeit am und mit Menschen, die abhängig sind und versorgt, betreut oder gepflegt werden müssen, wird fraglich, wie und ob das zunehmende Eindringen von Warenbeziehungen in die Care-Ökonomie ökonomisch nachhaltig und aus feministischer Perspektive wünschenswert ist.


4. Ausblick: Mit einer integralen Theorie auf der Suche nach neuen Herausforderungen

Eine integrale, feministische Kritik der politischen Ökonomie zeigt uns veränderte Problemlagen und neue Herausforderungen für einen solidarischen Feminismus im 21. Jahrhundert. Die unterschiedlichen Standorte der Produktion von warenförmigen Konsumgütern und warenförmigen Care-Dienstleistungen sowie die divergierende Entwicklung in der Arbeitsproduktivität führen uns auf den Umstand, dass Care-Dienstleistungen in Folge ihrer kaum optimierbaren Zeitintensivität in Relation zu warenförmigen Konsumgütern immer teurer werden. Verringern sich zeitgleich die Reallöhne, weil ein immer größerer Anteil des volkswirtschaftlichen Arbeitskräftepotenzials in den Niedriglohnsektoren des Dienstleistungssektors arbeitet, muss individuell und volkswirtschaftlich gesehen ein immer größeres Arbeitsstundenvolumen aufgebracht werden, um das Einkommensniveau zur Reproduktionskostendeckung nur zu halten. Wenn aber immer mehr Menschen einer marktvermittelten Lohnarbeit nachgehen müssen, ohne dass deren Einkommensniveau sich signifikant erhöht, dann wird die Frage relevant, wie der hierüber erwirtschaftete Mehrwert zu verteilen ist, um die Reproduktionskosten sowohl der direkt als auch der indirekt Reproduktionsarbeitenden gleichermaßen weiterhin zu sichern. Die Widersprüche der Vermarktlichung der privaten Reproduktion werden zwar bislang vor allem durch einen zusätzlichen Input weiblicher Arbeitskraft aufgefangen sowie kanalisiert und daher vor allem von feministischer Seite problematisiert. Sie betreffen jedoch bei weitem nicht ausschließlich Frauen, sondern im Grunde alle, insbesondere all jene, die einmal in ihrem Leben abhängig werden und versorgt, betreut oder gepflegt werden möchten. Die Konzeptionalisierung der geschlechtsspezifisch organisierten Arbeitsteilung als Bestandteil der gesellschaftlichen Arbeitsteilung im Rahmen dieses Beitrags, eröffnet insofern den Ausgangspunkt für politisches Handeln in breiten Bündnissen.

E-Mail: Haller@uni-kassel.de, Chorus@gsnas.fu-berlin.de


Anmerkungen:

[1] Der vorliegende Text ist ein erster Versuch, die geschlechtsspezifisch organisierte Arbeitsteilung als Bestandteil der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zu konzeptionalisieren. Dieser Versuch beabsichtigt, auf die Notwendigkeit einer feministischen Kritik der politischen Ökonomie aufmerksam zu machen, ohne eine solche abschließend formulieren zu können.

[2] Die soziale Reproduktion bildet die Gesamtheit der Reproduktionstätigkeiten, die dazu beitragen, dass sich eine Gesellschaft verändert. Die zweite Ebene der Differenzierung unterscheidet zwischen gesellschaftlicher und individueller Reproduktion. Im Rahmen dieses Beitrags liegt ein Schwerpunkt auf der individuellen Reproduktion, die sich auf einer dritten Ebene aus der marktvermittelten sowie aus der privaten Reproduktionsarbeit zusammensetzt.

[3] Mit Hilfe einer vierten Ebene lässt sich die private Reproduktionsarbeit in diejenige Arbeit unterteilen, die jedeR nur an sich selbst vollziehen kann, sowie derjenigen Arbeit die an anderen vollbracht werden kann, für deren Verrichtung jedoch eine zwischenmenschliche Beziehung unerlässlich ist. In den Ausführungen zur sozialen Reproduktion beziehen wir uns auf Bakker / Gill 2003: 18.

[4] Fordismus ist eine Bezeichnung für das sog. "goldene Zeitalter" des Nachkriegs-Kapitalismus, welches bis Ende der 1970er Jahre datiert wird und auf dessen Krise hin der Postfordismus folgte.

[5] Unter Reproduktionskosten verstehen wir die Gesamtheit aller monetären Kosten, die benötigt werden, die Lebens- und Arbeitskraft von Subjekten zu erhalten sowie ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Notwendige Produktionsmittel und ihre Kosten variieren historisch kontextuell (MEW 23: 185).

[6] Die Freistellung der Arbeitskraft von marktvermittelter Lohnarbeit durch private sowie durch gesellschaftliche Einkommensübertragungen begünstigt durch die Einkommensteuer-, Familien- und Sozialpolitik ist insofern keineswegs als staatliche Wohltat zu betrachten, sondern sie wirkt selbst unverzichtbar an der Überführung von Arbeitskraft in Lohnarbeit mit. Hierzu ausführlich Lenhardt/Offe 1977: 98-127 sowie Haug 1990: 890.

[7] Vgl. hierzu ausführlich Klenner 1990: 865-874.

[8] Vgl. hierzu ausführlich Madörin 2006: 277-299.

[9] Vgl. hierzu kritisch: Fraser 2009: 43-57.

[10] Vgl. hierzu ausführlich: Haller 2010: 215-234.

[11] Vgl. hierzu ausführlich Chorus 2007a.

[12] Vgl. hierzu ausführlich Kohlmorgen 2004: 169.

[13] Relative Mehrwertproduktion funktioniert anders als die absolute Mehrwertproduktion: eine Steigerung des relativen Mehrwertes wird dadurch erzielt, dass der Anteil von Eigenarbeit im Verhältnis zur Mehrarbeit im Rahmen eines konstanten Normalarbeitstages verringert wird. Hierfür stehen v. a. zwei Mechanismen, die eng miteinander zusammenhängen, zur Verfügung: Produktivkraftsteigerung der Arbeitskraft durch Arbeitsorganisation und Technikanwendung und sinkende Reproduktionskosten von Arbeitskraft durch sinkende Produktionskosten der zu ihrer Reproduktion notwendigen Waren.

[14] Zunehmend wird eine Verschlechterung der Care-Qualität in im Zuge einer Taylorisierung von Carework in Kauf genommen.

[15] Eine gute Übersicht über die verschiedenen regulationstheoretischen Ansätze findet sich bei: Hübner 1989.

[16] Wir werden uns dabei vor allem auf die Frühwerke der beiden regulationstheoretischen "Klassiker" der Pariser Schule, Alain Lipietz und Michel Aglietta, beziehen.

[17] Zum Begriff der kapitalistischen Produktionsweise in der Regulationstheorie: Lipietz 1985: 110; Hirsch 1990; Jessop 2001.


Literatur:

Aglietta, Michel (1979): A Theory of Capitalist Regulation. The US Experience. London: Verso.

Bakker, Isabella/Gill, Stephen (2003): Power, Production and Social Reproduction: Human. In/security in the Global Political Economy. Toronto/New York: Palgrave.

Chorus, Silke (2007a): Ökonomie und Geschlecht? Regulationstheorie und Geschlechterverhältnisse im Fordismus und Postfordismus. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller.

Chorus, Silke (2007b): "Who Cares? Kapitalismus, Geschlechterverhältnisse und Frauenarbeiten. Regulationstheoretische Sehkorrekturen", in: Feministische Studien, 25 (2). S. 202-216.

Esping-Andersen, Gøsta (1999): Social Foundations of Postindustrial Economies. Oxford: Oxford Univ. Press.

Folbre, Nancy (1987): "A Patriarchal Mode of Production", in: Albelda, Randy/Gunn, Christopher/Waller, William (Hrsg.): Alternatives to Economic Orthodoxy: A Reader in Political Economy. Armonk/New York/London: Sharpe. S. 323-338.

Fraser, Nancy (2009): "Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte", in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 8/2009. S. 43-57.

Haller, Lisa (2010): "Unterm Strich: Die Auswirkungen der Rangfolgenänderung im neuen Unterhaltsrecht", in: Scheiwe, Kirsten/Wersig, Maria (Hrsg.): Einer zahlt und eine betreut? Rollenbilder im Kindesunterhaltsrecht im Wandel. Schriften zum Familien- und Erbrecht, Bd. 1. Baden-Baden: Nomos. S. 215-234.

Haller, Lisa/Henninger, Annette/Wimbauer, Christine (2011): "Die Reduzierung der Kinderarmut als Rechentrick? Die Situation Unterhaltsberechtigter nach der Reform des Unterhaltsrechts", in Zeitschrift für Sozialreform (ZSR), 57 (1). S. 27-52.

Haug, Frigga (1990): "Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf. Neue Herausforderungen an einen sozialistischen Feminismus", in: Das Argument, 184/1990. S. 879-894.

Hirsch, Joachim (1990): Kapitalismus ohne Alternative? Materialistische Gesellschaftstheorie und die Möglichkeit einer sozialistischen Politik heute. Hamburg: VSA-Verlag.

Hübner, Kurt (1989): Theorie der Regulation. Eine kritische Rekonstruktion eines neuen Ansatzes der Politische Ökonomie. Berlin: edition sigma.

Jessop, Bob (2001): "Kritischer Realismus, Marxismus und Regulation", in: Candeais, Mario/Deppe, Frank (Hrsg.): Ein neuer Kapitalismus? Hamburg: VSA-Verlag. S. 16-40.

Klenner, Christina (1990): "Doppelt belastet oder einfach ausgebeutet? Zur Aneignung weiblicher Reproduktionsarbeit in der DDR", in: Das Argument, 184/1990. S. 865-874.

Kohlmorgen, Lars (2004): Regulation, Klasse, Geschlecht. Die Konstituierung der Sozialstruktur im Fordismus und Postfordismus. Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot.

Kulawik, Teresa (2005): "Wohlfahrtsstaaten und Geschlechterregime im internationalen Vergleich"; in: gender-politik-online.
Im: WWW unter: http://web.fu-berlin.de/gpo/teresa_kulawik.htm (Eingesehen am 04.09.2007).

Lenhardt, Gero/Claus Offe (1977): "Staatstheorie und Sozialpolitik. Politisch-soziologische Erklärungsansätze für Funktionen und Innovationsprozesse der Sozialpolitik", in: von Ferber, Christian/Kaufmann, Franz-Xaver (Hrsg.): Soziologie und Sozialpolitik. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZfSS), 19 (Sonderheft). S. 98-127.

Lipietz, Alain (1985): "Akkumulation, Krisen und Auswege aus der Krise: Einige methodische Überlegungen zum Begriff 'Regulation'", in: PROKLA, 58/1985. S. 108-137.

Lipietz, Alain (1998): Nach dem Ende des "Goldenen Zeitalters". Regulation und Transformation kapitalistischer Gesellschaften. Berlin: Argument-Verlag.

Madörin, Mascha (2006). "Plädoyer für eine eigenständige Theorie der Care-Ökonomie", in: Niechoj, Torsten/Tullney, Marco (Hrsg.): Geschlechterverhältnisse in der Ökonomie. Marburg: Metropolis.

Marx, Karl (1890): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, MEW Bd.23, Berlin: Dietz Verlag.

Ostner, Ilona (1995): "Arm ohne Ehemann? Sozialpolitische Regulierung von Lebenschancen für Frauen im internationalen Vergleich", in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 45/1985. S. 3-12.

Polanyi, Karl (1978): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag.

Sainsbury, Diane (1999): Gender and Welfare State Regimes. Oxford: Oxford University Press.

Raute

Frauen der Precarias al la deriva, übersetzt von Birgit Mennel

Fragen, Illusionen, Schwärme, Meuten und Wüsten

Zur Untersuchung und Militanz der Precarias a la deriva

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

Raute

Luzenir Caixeta

"Wir sind prekär aber revolutionär!"

Widerstandsstrategien von Migrantinnen


"Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber das hier ist eine Revolution!" (EZLN)


Mit dem Jingle "Wir sind prekär aber revolutionär!" stellt maiz seit Jahren, am alternativen 1. Mai und bei anderen Aktionen[1], die Prekarisierung und gleichzeitig auch die Macht der Migrantinnen dar.

Die Rolle und die Anzahl von Migrantinnen im prekarisierten Bereich der Care-Dienstleistungssektoren nehmen rasant zu. Bestehende Arbeitsverhältnisse sind dabei überwiegend im Kontinuum "Sex - Fürsorge - Pflegearbeit" angesiedelt, sei es als Sexarbeiterinnen, als bezahlte Hausarbeiterinnen, als Kranken- und Altenpflegerinnen oder als Kinderbetreuerinnen u.a.. Dies ist Resultat sowohl diskursiver als auch rechtlicher und wirtschaftlicher Faktoren. Auch wenn es widersprüchlich klingt, behaupte ich im ersten Teil dieses Beitrags, dass die Frauenmigration in den letzten Jahrzehnten sowie die Anwesenheit von Migrantinnen im prekarisierten Care-Bereich in der sogenannten reichen Welt als latente gegenhegemoniale Widerständigkeit wahrzunehmen ist.[2]

Das framework dieses Beitrags besteht aus einer kontextualisierten migrantischen Perspektive und basiert auf der standpunktlogischen "Epistemologie des Südens" nach Boaventura de Sousa Santos (2009). Nach diesem Standpunkt werden die Signalseite der Realität, die Widerstandsstrategien von gegenhegemonialen Praktiken, die in konkreten sozialen Erfahrungen angelegt sind, Pfade zur Diskussion und Argumentation für die Erweiterung (auch symbolisch) von zukünftigen Möglichkeiten. Die Erfahrung der feministischen und antirassistischen Selbstorganisation maiz[3], einem autonomen Zentrum von und für Migrantinnen in Oberösterreich, bildet diese kontextualisierte migrantische Perspektive und wird im zweiten Teil dieses Artikels, hinsichtlich des skizzierten Spannungsfeldes im ersten Teil, explizit benannt.


(Latente) gegenhegemoniale Widerständigkeit der Prekarisierten

Die hohe Konzentration von Migrantinnen in den oben genannten prekarisierten Dienstleistungssektoren ist kein Zufall. Mehrere Studien zeigen, wie dieses Phänomen in engem Zusammenhang einerseits mit der restriktiven (österreichischen) Einwanderungspolitik, die wiederum mit den internationalen ökonomischen Bedingungen, mit der restriktiven europäischen Einwanderungspolitik und dem Umbau der westeuropäischen Wohlfahrtsregime zusammenhängt. Andererseits ist es verbunden mit der der Nachfrage nach diesen Dienstleistungen in den Zielländern sowie mit der Zuschreibung von bestimmten Geschlechterrollen und einem rassistisch und sexistisch segmentierten Arbeitsmarkt. Die Rolle des Staates bei der Schaffung der Rahmenbedingungen hinsichtlich all dieser Punkte ist äußerst wichtig, denn sexistische und rassistische Stereotype und Strukturen spielen eine zentrale Rolle bei der Zuweisung von Migrantinnen in diese Erwerbsarbeitssektoren, die stark vergeschlechtlicht und ethnisiert sind - so sind in Österreich rund 80% der Sexarbeiterinnen Migrantinnen. Unter Prekarisierung, so zeigt die Erfahrung, kann aber mehr als rechtliche, soziale und finanzielle Unsicherheit verstanden werden: Gefordert ist auch, neue flexible Formen von Kollektivität zu entwickeln und die Fähigkeit, sich selbst kreativ zu entwerfen. Dies sind soziale Erfahrungen, die verfügbar, identifizierbar und aufwertbar sind - obwohl sie durch die hegemoniale Rationalität für nicht-existent erklärt werden.

In diesem Sinn stellen die vorhandenen Widersprüche im Prozess der Prekarisierung eine besondere Herausforderung dar. Die Unterwerfung unter hyperausbeuterische Verhältnisse befreit nämlich die Betroffenen paradoxerweise aus den rigiden Vorstellungen patriarchal-fordistischer Normalität und eröffnet den prekär Beschäftigten aus Sicht migrantischer und feministischer Theorie und Praxis auch verbesserte Lebensperspektiven.[4] In der Prekarisierung von Migrantinnen wird dabei deutlich, was als "Autonomie der Migration" bezeichnet werden kann, einer Art Prekarisierung "von unten", in die die Wünsche der Einzelnen nach besseren Lebensperspektiven einfließen. So bietet die Unterwerfung unter die vielfältigen prekarisierenden Zwangsverhältnisse zugleich erweiterte Handlungsspielräume.

Bereits das Ausbrechen aus elenden ökonomischen Verhältnissen und patriarchalen Strukturen im Herkunftsland und der Schritt in die Lohnarbeit im Ausland kann eine Erfahrung von Selbstermächtigung und in manchen Fällen Kollektivermächtigung sein. Selbst in Ausbeutungsstrukturen finden sich dabei "Zeichen möglicher zukünftiger Erfahrungen, die als Tendenzen und Latenzen erscheinen und die von der hegemonialen Rationalität und dem hegemonialen Wissen ignoriert werden." (De Sousa Santos 2004, S. 1011)

Ob und wie wir beschreiben, wie sich Betroffene beim Verkauf von sexuellen Dienstleistungen in der Sexindustrie, beim Putzen für Reinigungsfirmen oder in Privathaushalten etc. Lebensverhältnisse schaffen konnten, die auch ihren eigenen Interessen entspricht, und welche "sexuelle oder putzende Mehrarbeit" diese beständig aufwenden müssen, um sich den üblichen Zuschreibungen zu widersetzen, ist demnach auch eine Frage der politischen Strategie. (Caixeta 2005) Entscheidend für diese Strategie sind dabei Antworten auf die Frage, wie die bestehenden und zu entdeckenden Widersprüchlichkeiten jenseits eines simplen Verelendungsdiskurses begriffen werden können, der die Subjektivität und Eigenaktivität der Einzelnen in der Prekarisierung sowie die kollektive Strategien unsichtbar werden lässt.

Die flexible Gestaltung der alltäglichen Reproduktion etwa ist dabei nicht nur als Folge neuer ökonomischer Zwänge zu bewerten. Entscheidend ist jedoch, inwiefern das Aufbegehren gegen patriarchal-fordistische Normalitäten und die Suche nach alternativen Lebensweisen eine Bedingung für die Durchsetzung neuer Arbeits- und Produktionsverhältnisse darstellen und wie sie in kollektive Strategien überführt werden kann. (Boudry, Kuster, Lorenz 1999) Hinterfragt und neu organisiert werden müssen auch neue Formen der Arbeit und Arbeitsteilung, die die Grundlagen für transnationale Verteilung und dabei auch neue Spaltungen schaffen - wie in Fall von transnationalen Familien. (Lutz 2007)

Ein Blick auf die konkreten Tätigkeiten illustriert wie seitens der Betroffenen gekämpft wird, deren Widerstandsstrategien - im Spannungsfeld aller vorhandenen Widersprüche und Schwierigkeiten - und die Tendenzen paradoxaler Verknüpfung (Caixeta 2007) von einerseits verstärkter Unterwerfung[5] und andererseits erweiterter Autonomie: So erhalten die einzelnen Beschäftigten oder Teams im Reinigungsgewerbe z.B. die Säuberung ganzer Objekte überantwortet, die Arbeit wird eigenverantwortlich organisiert, der Chef ist meist nicht vor Ort. Ganz ähnlich sind Arbeitsverhältnisse in Privathaushalten geregelt, die meist (wenn auch nicht immer) in Zeiten gereinigt werden, in denen die Auftraggeber_innen außer Haus sind. In der Sexbranche verdienen Migrantinnen das meiste Geld, können ihre Tätigkeit als Nebenjob ausüben, müssen meist keine Ausbildung vorweisen, haben keine vertragliche Bindung und die Möglichkeit Kontakte zu knüpfen, eine Fremdsprache zu üben, usw.

Nichtsdestotrotz bleibt der Kampf um die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von migrierten Sex- und Hausarbeiterinnen - wie auch für Migrantinnen in anderen prekären Dienstleistungsverhältnissen - notwendig. Für jene Migrantinnen, die illegalisiert werden, kann die Tätigkeit im informellen Sektor zwar die Subsistenz kurzfristig ermöglichen, andererseits besteht ständig die Gefahr extremer Ausbeutung, da diese Personen keinerlei Rechte besitzen. Um die Situation von Migrantinnen zu verbessern, ist es notwendig deren Rechte auszubauen und zu stärken. Nicht so sehr trotz, sondern gerade aufgrund des "verborgenen Charakters" der Care-Dienstleistungen gilt es die Arbeitsrechte der darin Beschäftigten zu stärken. Gleichzeitig muss daran gearbeitet werden, dass diese Berufe eine gesellschaftliche Aufwertung erfahren und wie im Falle der Sexarbeit eine Entstigmatisierung und Entkriminalisierung stattfindet - die Anerkennung von Rechten und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen sind dabei unabdingbar. Dabei gilt es vor allem einer Anti- Prostitutions- und Anti-Migrationspolitik entgegenzutreten. Die meist moralistisch begründete Verweigerung der Anerkennung von Sexarbeit als mit Rechten ausgestatteter, stark ethnisierter Arbeit verringert die Zahl der Migrant_innen in diese Sektor nicht, sie ignoriert lediglich die Realität vieler Menschen. Repressive politische Regelungen im Bezug auf Migration, öffentliche Ordnung und Moral führen zu einer verstärkten Verwundbarkeit der Dienstleisterinnen und zu negativen Konsequenzen für deren Gesundheit und Sicherheit. Um nicht in partikularen Lösungen stecken zu bleiben bedarf es also der Entwicklung übergreifender ethisch-politischer Positionen, als Grundlage für jene Kämpfe, die die hegemoniale gesellschaftliche Ordnung in Frage stellen und dekonstruieren. Dabei ist die Identifizierung und Erweiterung der gegenhegemonialen Praxis der Betroffenen - in Form von Selbstorganisation - sowie Allianzen mit allgemeinen gegenhegemonialen Bewegungen, lokal und weltweit, unverzichtbar. Denn, wie Zizek betont, "mehr als je zuvor sollte die Antwort auf jede Krise noch internationalistischer und universalistischer sein als die Universalität des globalen Kapitals." (Zizek 2010)


Gegenhegemoniale Widerstandspraxis - Die Erfahrung von maiz

"Als selbstorganisierter Zusammenschluss haben wir 1994 begonnen, unsere eigene Situation als Migrantinnen in Österreich zu analysieren - als Arbeiterinnen in der Sexindustrie, als Reinigungskräfte für Leasingfirmen, als Putz- und Pflegekräfte in Firmen und Privathaushalten, als Pflegehelferinnen im Gesundheitsbereich, aber auch als Illegalisierte, als Asylwerberinnen, als Arbeitlose, als Hausfrauen, als Studentinnen, als Wissenschaftlerinnen...

Wir kämpfen für die rechtliche und soziale Besserstellung von allen Migrantinnen und greifen aktiv in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Migration und (Anti-)Rassismus ein. Neben Beratungs- und Bildungsangeboten umfassen unsere Aktivitäten daher auch politische Kulturarbeit, öffentliche Aktionen und wissenschaftliche Forschungsprojekte.

Wir stellen uns gegen den Opfer-Diskurs und Voyeurismus der Medien und setzen auf Protagonismus, Selbstartikulation und kollektives Handeln.

Wichtig dabei ist uns auch die Auseinandersetzung unter Migrantinnen selbst. Im Spannungsfeld aller vorhandenen Widersprüche bemühen wir uns deshalb, kollektive Räume für einen Austausch zu schaffen, mit dem Ziel Interessen von Migrantinnen zu fördern und Forderungen nach außen zu tragen."[6]

Es ist mir als Mitbegründerin von maiz ein Anliegen, einen Blick auf unsere politische Erfahrung - die ein gegenhegemoniales Ziel von Anfang an verfolgt - nach Möglichkeiten, aber auch auf Probleme und Spannungen zu werfen. Als Basis wird versucht auf die Frage einzugehen: Wie definieren und gestalten wir unsere Praxis angesichts der hegemonialen Verhältnisse? In der Folge werden drei Ebenen nach den maiz-Prinzipien untersucht: erstens Organisation, zweitens Repräsentation, drittens politische Strategien und politische Aktion.


Definition und Gestaltung einer Praxis angesichts der hegemonialen Verhältnisse

Definition[7]: Der Begriff der Hegemonie, die wir in maiz verwenden, bezieht sich auf die marxistische Definition von Gramsci und bedeutet nicht eine erzwungene Unterwerfung, sondern schließt "die aktive Zustimmung der Subalternen zu ihrer Unterwerfung mit ein: Zwang und Konzens. Hegemoniefähig wird eine gesellschaftliche Gruppe oder Klasse nur, wenn es ihr gelingt, den engen Bereich der Eigeninteressen zu überschreiten, also von einer korporativ-partikularistischen Phase in eine ethisch-politische Phase einzutreten, in der sie eine progressive Funktion für die gesamte Gesellschaft übernimmt (...). Ohne das aktive Element der Zustimmung würde sich Hegemonie auf Zwang und Gewalt reduzieren." (Candeias 2007, 19) Konsens wird im Einklang mit Gramscis Theorie als "Ausdruck sozialer Kämpfe und den Herrschenden abgerungener sozialer Kompromisse" definiert. (Brand 2004) Rechtliche Bestimmungen, staatliche Politiken sind Institutionalisierungen dieser Kompromisse. Der Ort, wo die Kämpfe um Hegemonie stattfinden, wäre nach Gramsci die Zivilgesellschaft.

Auf der Ebene der Prozessgestaltung der österreichische Migrations- und Integrationspolitik beteiligt sich die Zivilgesellschaft, aber nicht Repräsentant_innen von Migrant_innenorganisationen sondern der Mehrheitsgesellschaft - vermutlich Weiße, meistens männlich Mitarbeiter großer Einrichtungen aus dem Sozialbereich vertreten die vermeintlichen Interessen aller Migrant_innen.

Was uns in maiz in Bezug auf die Interessen der Migrant_innen (die kein homogener Block sind) interessiert, sind nicht die einzelnen Positionen der Migrant_innen, sondern das grundsätzliche Hinterfragen der Strukturen, die bestimmte Gruppen in der Gesellschaft von Prozessen der Mitbestimmung ausschließen und ihnen das Recht auf Selbstbestimmung untersagen.

Nicht nur an institutionalisierte Regelungen und Praxen des Ausschlusses richtet sich unsere Kritik, sondern auch an die inhaltlichen Positionen und vertretenen Anliegen der beteiligten Akteur_innen im Aushandlungsprozess zur Herausbildung des hegemonialen Konsenses im Bereich der Migrationspolitik. In verschiedenen Themenbereichen, wie bspw. DaZ (Deutsch als Zweitsprache), werden die Vereinnahmungsstrategien seitens der zuständigen staatlichen Behörden sowie eine gewisse Verstricktheit zwischen den unterschiedlichen Positionen hervorgehoben, um die Frage nach der Möglichkeit eines Auswegs bzw. die Frage nach der Möglichkeit von Dissidenz zu entwerfen.

Obwohl wir uns, aufgrund der öffentlichen Subventionierung eines Großteils unserer Arbeit, gewisser eigener Verstricktheit im oben erwähnten Prozess bewusst sind, bemühen wir uns in maiz stets um dissidente Positionierungen. Wir versuchen diese Spannung produktiv zu gestalten, indem Widersprüche in unserer Praxis nicht geleugnet oder verdrängt, sondern benannt und problematisiert werden. Um dies zu gewährleisten, versuchen wir eine kontinuierliche Reflexion in der Organisation zu ermöglichen, Räume der Auseinandersetzung mit unserer Praxis und der Entwicklung widerständiger Strategien.

Gestaltung: Die maiz-Prinzipien[8] wurden bewusst gegen die hegemoniale Verhältnisse formuliert und dienen als Referenz und Maßstab für die Gestaltung unserer Praxis, die im Folgenden in den Ebenen der Organisation, Repräsentation und politische Strategien/Aktion skizziert werden.

"maiz ist als ein Raum des Widerstands entstanden und definiert sich immer noch als ein solcher: ein Raum zur Reflexion, zur Kritik, zur Erfindung von Strategien, um das Leben möglicher und besser zu machen. Ein Ort der Lust, der Utopie, der Solidarität, der ethischen Empörung. Ein Ort, wo Anteilslose ihre Anliegen und Forderungen artikulieren können. Dementsprechend werden unsere Prinzipien und Ziele formuliert." (Salgado 2010, 41)


1. Organisation

- Autonomie: maiz ist ein von Parteien, Kirchen und sonstigen Organisationen unabhängiger Verein.

- Selbstorganisation: Die Arbeit von maiz basiert wesentlich auf der Selbstorganisierung von Migrantinnen, jenseits neoliberale Konzepte (Begriffe wie "Selbstmanagement" oder "Mainstreaming" lehnen wir entschieden ab).
(aus den maiz-Prinzipien)

Am Anfang waren wir zu dritt (alle ohne Bezahlung), heutzutage sind wir über dreißig Frauen, die bei maiz (angestellt) arbeiten. Selbstverständlich war und ist die Frage über die passende, mit den Prinzipien kohärente Organisationsform und Struktur immer sehr präsent.[9] Auf dieser Ebene sind wir mit verschiedenen Problemen und/oder Herausforderungen konfrontiert, wie z.B.: interne Demokratie einschließlich der Transparenz der Entscheidungen und der Kommunikation; Machtverhältnisse zwischen Kolleginnen, Migrantinnen und Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft im Bewusstsein unseres Selbstorganisationscharakters; das Gleichgewicht zwischen einer formal hierarchischen Struktur (die vom Subventionsgeber verlangt wird) und einer partizipativen Struktur im Sinn von Horizontalität zu schaffen; unsere Ressourcen nicht von Verwaltung und Bürokratie verzehren zu lassen; unsere politische Autonomie, trotz öffentlicher Finanzierung der Arbeit zu bewahren.

2. Repräsentation

- Partizipation & Selbstvertretung: Wir fordern die gleichberechtigte Beteiligung von Migrant_innen am politischen, kulturellen und sozialen Leben sowie ihre Einbindung in politische Entscheidungsprozesse.

- Gleiche Privilegien für alle & das Recht, nicht gleich sein zu müssen: Wir wollen rechtliche, politische, wirtschaftliche und soziale Bedingungen, die allen Menschen - unabhängig von ihrer sozialen und geografischen Herkunft, ihrem Geschlecht und ihrer sexuellen Orientierung - ein Leben in Österreich ohne Diskriminierung garantieren.

- Kein Mensch ist "tabula rasa": Migrant_innen kommen nicht als unbeschriebenes Blatt nach Österreich. Sie verfügen über Wissen, Bildung und Fähigkeiten, die anerkannt werden müssen.
(aus den maiz-Prinzipien)

Wen repräsentiert maiz? Unseren Prinzipien zufolge beanspruchen wir nicht, repräsentativ für die Migrant_innen Organisationen und sowieso nicht für alle Migrant_innen zu sein. Nur für diejenigen, die sich mit unseren Utopien identifizieren und unsere Träume mit uns träumen können. In diesem Sinn sind wir mit vielen gegenhegemoniale Bewegungen auch verbunden, wie die Zapatist_innen in Mexiko: "Hinter uns sind wir ihr. Hinter unseren Masken ist das Gesicht aller ausgeschlossenen Frauen. Aller verfolgten Homosexuellen. Aller verachteten Jugendlichen. Aller geschlagenen Migrant_innen. Aller für ihre Worte und Gedanken Eingesperrten. Aller erniedrigten Arbeiter_innen. Aller durch Vergessen Gestorbenen. Aller einfachen und gewöhnlichen Männer und Frauen, die nicht zählen, die nicht gesehen werden, die nicht genannt werden, die kein Morgen haben." (EZLN)

Wer repräsentiert maiz? Migrantinnen, in Absprache und artikuliert, denn wir sind als Selbstorganisation dezidiert für Selbstvertretung. Entscheidend dabei ist nicht so sehr wer, sondern das Spannungsfeld was und wie, denn es geht darum, in hegemoniale Diskurse einzugreifen und diese zu verschieben. Die kritische Positionierung ist dabei äußerst wichtig, sei es in Bezug auf den common sense - wie gegen die folkloristischen und exotisierenden Zuschreibungen an Migrant_innen - oder in Bezug auf die Politik-Gesetzgebung gegen die herrschende Integrationspolitik und Migrationspolitik oder spezifische Themen wie Gewalt an Frauen, Bildungspolitik, Prostitutionsgesetz, usw. Die Gestaltung der Sichtbarmachung ist extrem zeitraubend, denn sie erfordert viel (kollektiven) Raum für Reflexion, Diskussion und Vorbereitung von z.B. Publikationen, Stellungnahmen oder Aktionen und ist oft ein Ansatzpunkt für Spannung und Konflikt. Auch die Miteinbeziehung der sogenannten neuen Generation von Migrantinnen ist eine Aufgabe, die ernster genommen werden muss.

3. Politische Strategien/Aktion

- Kollektive Selbstermächtigung: Wir setzen uns kritisch mit bestehenden Herrschaftsstrukturen auseinander, um sie zu verändern.

- Feministisches & kritisches Handeln: maiz ist am Entwurf und an der Realisierung einer Praxis beteiligt, als Beitrag für eine Gesellschaft, die sich nicht als weiß, westeuropäisch, patriarchal, (post-)kolonialistisch und heterosexuell definiert.

- Ethische Empörung: ist die Grundlage für unser politisches Handeln.

- Sexarbeit ist Arbeit: Wir treten für die Anerkennung von Sexarbeit als Erwerbsarbeit ein.

- Arbeit: Wir fordern ein bedingungsloses Grundeinkommen sowie den freien Zugang zum Arbeitsmarkt für alle.
(aus den maiz-Prinzipien)

Die maiz-Prinzipien sind, was die politische Positionierung von maiz angeht, unmissverständlich. Es geht um Veränderung und nicht um reformistische Vorstellung der Herrschaftsstrukturen. Die Konkretisierung dieser politischen Arbeit beinhaltet alle unsere tagtäglichen Aktivitäten in den verschiedenen Bereichen und Ebenen und ist nicht frei von Spannung und Wiederspruch. Dazu gehört:

(1) Die Arbeit mit Migrantinnen, besonders denjenigen die illegalisiert arbeiten bzw. worden sind: Netzwerke von und für Migrantinnen zu schaffen; Räume schaffen, in denen sich Migrantinnen treffen und ihre Lebens- und Arbeitssituation reflektieren können, damit kollektive Ermächtigung und Organisierung möglich werden; durch Beratung, Kursmaßnahmen und Gruppenaktivitäten u.a. inhaltliche und rechtliche Informationen an die Frauen weitergegeben um eine Ausweitung und Umsetzung von Rechten zu bewirken.

(2) maiz als Organisation: Eine interne Verbesserung von horizontalen Praktiken und Systeme der Mitverantwortung gehören auch dazu, in Kohärenz mit unseren radikalen Utopien!

(3) Besetzung von öffentlichen Räumen: Die Allianzen mit allgemeinen gegenhegemonialen Bewegungen, Gruppen, etc. ist für diese stark symbolische Ebene enorm wichtig, muss aber unbedingt unter der Voraussetzung der Symmetrie in einer postkolonialen Perspektive stattfinden - das beinhaltet Diskussionen, Vereinbarungen, Evaluationen, um eurozentrische Vereinnahmungen oder kolonialen nonsense zu vermeiden. Obwohl die aktionistische Verbreitung von Utopien und die ironische bzw. humorvolle Kritik[10] an den hegemonialen Verhältnissen Bestandteil unserer Erfahrung sind, muss ich gestehen, dass wir fragend voran gehen, denn "wir fragen nicht nur, weil wir den Weg nicht kennen (wir kennen ihn nicht), sondern auch, weil das Fragen nach dem Weg Teil des revolutionären Prozesses selbst ist." (Zapatist_innen)

Laut Boaventura de Sousa Santos ist die Diskrepanz zwischen sehr starken Fragen und sehr schwachen Antworten etwas, was uns vereint, beunruhigt und zu einem rebellischeren Denken zwingt. "Ich glaube, es ist an der Zeit, kompetente Rebell_innen zu formen. Um kompetente Rebell_innen zu formen, ist es notwendig, bei uns und den Theorien, die wir lehren anzufangen." (De Sousa Santos 2009)

E-Mail: l_caixeta@maiz.at


Anmerkungen:

[1] Mit verschiedenen Performances und seit 2010 mit "radical chearleadings" (www.maiz.at/fotogalerie)

[2] Gutierrez Rodriguez 2010, Hess 2009, Kofman/Phizacklea/Raghuram/Sales 2000, Lutz, 2007, maiz 2004, Sassen 2003.

[3] maiz wurde in 1994 von Migrantinnen gegründet, ist eine Erwachsenenbildungseinrichtung und Beratungsstelle, realisiert Projekte im Forschungsbereich und ist im Feld autonomen Kulturarbeit tätig. (www.maiz.at)

[4] Dieser Aspekt habe ich bereits in einen Artikel erarbeitet: Jenseits eines simplen Verelendungsdiskurses (2007)

[5] Ein Faktor, der beispielsweise die Prekarisierung im Sektor Sexarbeit besonders fördert ist deren sozial stigmatisierter Status Quo. Migrantinnen (in Österreich ca. 80% der Sexarbeiter_innen) werden mehrfach, als "Ausländerinnen" und als "Huren" ausgegrenzt, stigmatisiert und diskriminiert.

[6] Selbstdefinition - Vgl. www.maiz.at

[7] Für diesen Abschnitt bediene ich mich bei einem Artikel meiner Kollegin Rubia Salgado: Deutsch als Zweitsprache im Kontext hegemonialer Verhältnisse (2010).

[8] Siehe die maiz-Prinzipien: www.maiz.at/prinzipien

[9] Derzeit sind wir in acht verschiedenen Arbeitsbereiche und Teams organisiert, zwei davon sind bereichsübergreifend (Projektentwicklung und Administration). Die Teams haben ihre Eigendynamik und alle zusammen (auch die ehrenamtlich Arbeitenden) treffen sich bei den maiz-Foren (6 x im Jahr) und Weiterbildungsprogramm - beide Settings werden mit Partizipation von Mitarbeiterinnen organisiert. Seit 2009 existiert auch ein Betriebsrat. Die sogenannte Geschäftsführung (bei uns heißt es Koordinationsteam) wird von einem dreiköpfiges Team, die gleichzeitig auch Bereichskoordinatorinnen sind (zwei Migrantinnen und eine Österreicherin), gemacht. Unser Vorstand hat eher eine beratende Funktion.

[10] Wie mit dem Spruch "Austria we love you! Wir warden dich nie verlassen!"


Literatur:

Boudry, P./Kuster, B./Lorenz, R., (Hg.): Reproduktionskonten fälschen! Heterosexualität Arbeit & Zuhause. Berlin: b_books 1999

Brand, Ulrich: Was ist eigentlich Hegemonie? In: www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2004/09/20/a0182 (Stand 05.05.11)

Caixeta, Luzenir: Jenseits eines simplen Verelendungsdiskurses - Prekäre Arbeitsverhältnisse von Migrantinnen. In: Köchl/Patulova/Yun (Hg.innen); fields of TRANSFER. MigrantInnen in der Kulturarbeit. IG Kultur Österreich 2007

Caixeta, Luzenir: Precarius labor et stuprum corporis. Prekarität und die bezahlte sexuelle Dienstleistung. In: Kulturrisse 02/05 2005

Candeias, Mario: Gramcianische Konstellationen. Hegemonie und die Durchsetzung neuer Produktions- und Lebensweisen. In: Merkens, A./Rego diaz, V., Hg.: Mit Gramsci arbeiten. Texte zur politisch-praktischen Aneignung Antonio Gramscis. Hamburg: Argument Verlag 2007

De Sousa Santos, B./Meneses, M.(Orgs.): Epistemologias do Sul. Série Conhecimento e Instituicoes. Coimbra: Ed. Almedina SA 2009

De Sousa Santos, Boaventura: Gegenhegemoniale Globalisierung. In: UTOPIE kreativ, H. 169 (November 2004), S. 1004-1016

Gutierrez Rodriguez, Encarnacion: Migration, Domestic Work and Affect. A Decolonial Approach on Value and the Feminazation of Labor. London/New York: Routledge 2010

Hess, Sabine: Globalisierte Hausarbeit. Au-Pair als Migrationsstrategie von Frauen aus Osteuropa. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009

Kofman/Phizacklea/Raghuram/Sales: Gender and International migration in Europe: employment, welfare and politics. London/New York: Routledge 2000

Lutz, Helma: Vom Weltmarkt in den Privathaushalt. Die neuen Dienstmädchen im Zeitalter der Globalisierung. Opladen: Budrich 2007

maiz (Luzenir Caixeta, Bettina Haidinger, Barbara Haas, Sonnja Rappold, Daniela Rechling, Pamela Ripota): Housework and Caretaking in Austria: Migrant Women in Private Households. Unpublisched report, 2004

Salgado, Rubia: Deutsch als Zweitsprache im Kontext hegemonialer Verhältnisse. Oder: Das Einzige, was wir wollen, ist, die Welt zu verändern. In: ÖDaF-Mitteilungen (österreichischer Fachverband für Deutsch als Fremdsprache/Zweitsprache). Wien, Heft 2/2010

Sassen, Saskia: Contrageografías de la globalización. Género y ciudadanía en los circuitos transfonterizos. Madrid: Traficantes de suenos 2003

Zizek, Slavoj: Zeit der Monster. Ein Aufruf zur Radikalität. In:
www.monde-diplomatique.de/pm/2010/11/12.mondeText.artikel,a0048.idx,14 (Stand 05.05.11)

Raute

Peter Birke

Auf der Reise durchs Immaterielle

Noch mehr Anmerkungen zu Negri / Hardt, Common Wealth

Inmitten des Strudels, durch den die LeserInnen am Ende der Trilogie von Negri und Hardt zu rudern gezwungen sind, wird "ein Mann namens Mohammed" vorgestellt, der in Monrovia / Liberia "über mehrere tausend Männer verfügt haben soll", die er für "eine Vielzahl unterschiedlicher informeller Jobs beliebig einsetzen kann": "An einem Tag schickt er die Leute in eine illegale Diamantenmine im Südosten Liberias, am nächsten Tag entsendet er Arbeiter für eine Kautschukplantage in einen anderen Teil des Landes; es ist auch kein Problem, zweitausend Männer irgendwo aufmarschieren zu lassen, damit sie als ehemalige Kämpfer für ein Entwaffnungs- und Wiedereingliederungsprogramm der Vereinten Nationen auftreten [...] und natürlich stehen die Männer auch für militärische Operationen zur Verfügung" (S. 159 f.).[1] Im Anschluss an die nachvollziehbare Feststellung, dass es sich hier um eine extrem prekarisierte Gruppe, sogar um eine population flottante handele, folgt fast im selben Atemzug die These, dass diese Geschichte exemplarisch stehe für den Widerspruch zwischen der Kontrolle, die den Produzenten die Verfügung über die Zeit nimmt, und der Maßlosigkeit und Entgrenzung der Arbeit (S. 160). Es ist unmöglich, dieser Behauptung (und ganz allgemein diesem Text) gerecht zu werden, es sei denn, man will sich auf eine Kritik an der einseitigen und problematischen Verallgemeinerung beschränken, die unter anderem die unmittelbare existenzielle Bedrohung ignoriert, die jenen Männern in Monrovia an ihren diversen Einsatzorten begegnet. Ersatzweise werde ich hier zunächst darstellen, wie Negri und Hardt das Ende ihrer groß angelegten Gegenwartsdiagnose gestaltet haben, also auf die Gestalt des Textes eingehen, um sodann einige fundamentale Zweifel an den Thesen zu notieren, mit denen Negri und Hardt ihre Hoffnung auf eine Erneuerung der globalen Kämpfe um Autonomie und Emanzipation illustrieren.


Der fliegende Teppich

Negri und Hardt schreiben nicht, sie weben. Die Fäden, an denen sie fortwährend ziehen und die sie laufend miteinander verflechten, bilden ein Netz, dass sich jedoch verselbstständigt, an manchen Stellen sogar in eine Art fliegenden Teppich verwandelt. Da insofern sowohl Unmögliches geschieht als auch der klare Bezug auf Raum und Zeit verloren geht, stellt sich von vornherein die Frage, wo dieser Teppich landen wird, und wie die Sache an ein Ende kommen kann, denn es handelt sich hier ja um das Ende einer Trilogie. Was sind die letzten Dinge, was sollte nach Meinung der Autoren definitiv gesagt werden? Um es gleich zu sagen: Eine Antwort scheint auf Grundlage der Textgestaltung, die auch eine inhaltliche Ordnung impliziert, unmöglich zu sein. Aber schon in formaler Hinsicht deutet sich an, dass es um alles geht, aber dass alles gar nicht (oder noch nicht) ausgesprochen werden kann. Es folgt eine rasende, wühlende Kreisbewegung durch Geschichte und Gegenwart. Der Text verselbstständigt sich und macht einen Gleitflug über die analytischen Ebenen und das Gebirge der Praxis hinweg.

Das Buch, das von Atzert und Wirthensohn kongenial übersetzt wurde, enthält sechs Kapitel: über die Republik, die Moderne, das Kapital, das Empire, das Jenseits und die Revolution. Zwischen diesen Kapiteln sind vielleicht alleinstehende, vielleicht jedoch auch zusammenfassendeTexte eingeschoben. Um welche Sorte Text es sich handelt, das soll möglicherweise der Leser entscheiden, der jedoch möglicherweise damit überfordert sein wird. Die Knoten, durch die die verschiedenen Elemente des Buches miteinander verknüpft werden, sind Begriffe wie "Biomacht", "Biopolitik" und "biopolitische Arbeit." Diese Begriffe werden aus der Adaption einer oppositionellen sozialwissenschaftlich-philosophischen Geschichte kondensiert, deren Leuchttürme Spinoza und Foucault sind. Insbesondere der Begriff der "Biopolitik" verweist jedoch zugleich auf die operaistische Tradition, namentlich auf die Rezeption der Marx'schen Grundrisse und insofern auf die dort im Grunde nur sehr kurz und fragmentarisch ausgeführte Idee der Entwicklung eines general intellect,[2] von dem die Autoren weiterhin vermuten, dass er den Konflikt zwischen Gebrauchswerten und den systematischen Prinzipien, durch die hindurch Kapital akkumuliert wird, auf die Spitze treiben wird. Die beschworene Figur verweist dabei zwar noch immer auf jenen historischen Sprung, der früher von der Arbeiterklasse erwartet wurde, die sich als "Klasse für sich" politisch konstituiere und gerade dadurch an ihrem eigenen Verschwinden in der klassenlosen Gesellschaft arbeite. Dabei wird dieses Modell eines Umschlags von der Identitätsfindung zur Allgemeinbildung im letzten Kapitel des Textes einerseits auf die Queer-Bewegung, auf migrantische Kämpfe und letztlich auf das Universum der sozialen Kämpfe in Gänze bezogen. Aber andererseits wird vermutet, dass diese Kämpfe Ausdruck der Produktion jener "commons" seien, die in einer Sphäre produziert würden, die bereits heute nicht mehr innerhalb des Kapitalverhältnisses zu suchen sei, sondern nur noch "parasitär" fremdangeeignet würde.[3]

Für Negri und Hardt sind wir angesichts der dominanten Bedeutung dieser produktiven "Biomacht", die nicht mehr allein die Arbeit, sondern das gesamte Leben umfasst, in diesem Beruf des Verschwindens heute einen großen Schritt weiter gekommen. Als Ausdruck davon habe sich die Sehnsucht nach dem Gemeinsamen, den commons, mittlerweile verallgemeinert. Auch dies soll im Begriff der "Biopolitik" angezeigt werden. Dabei erlaube die produktive Dynamik einer "immateriellen Arbeit" vielfältige Übertragungen zwischen den oben erwähnten Männern von Monrovia und, zum Beispiel, den Modedesignern von Milano. Denn diese habe die Grenzen verschoben, in denen Staat und Politik, Leben und Liebe gedacht und auch gemacht werden könnten, zumal die "Produktion von Subjektivität" ihr "eigentlicher Kern" sei. Auf dieser Grundlage "muss sich der Horizont der Ethik neu orientieren, von der Identität zum Werden" (S. 12).

Dabei wird das Gemeinsame nicht nur angeeignet, sondern im Kontext der dominanten Figur der "immateriellen Arbeit" auch als Kommunikation, Wissen, Sorge um den Anderen produziert: Es ist, schreiben die Autoren mit Hinweis auf Foucault, "eine andere, alternative Produktion von Subjektivität [...], die der Macht nicht nur Widerstand leistet, sondern ihr gegenüber zugleich Autonomie sucht" (S. 70). In einem interessanten Exkurs über die "Metropole" wird schließlich ausgeführt, dass die Ablösung des Industriekapitals durch das Finanzkapital als neuem zentralem Faktor der Wertschöpfung ein Ausdruck der aktuell immer vordringlicher werdenden Bedeutung der "Externalitäten" sei, unter denen sodann eben jenes Gemeinsame verstanden wird, das insbesondere im urbanen und urbanisierten Raum als Produkt der "biopolitischen Arbeit" entstehe: "Die Metropole ist [...] das, was für die industrielle Arbeiterklasse die Fabrik war" (S. 270). Denn vor allem hier "wird das Kapital zu einem Hindernis für die Produktion von Reichtum", "zu etwas dem Produktionsprozess Äußerlichen" (S. 271). Bei Negri und Hardt fungiert der Begriffs-Ort "Metropole" als Metapher für den Umstand, dass die "Gesellschaft als Ganze" nunmehr "Hauptschauplatz produktiver Tätigkeit [die dort sogar im Singular stehen darf]" sei (S. 302). Diese Metapher wird neuerdings in anderen Texten im Zusammenhang mit einer Kritik der Immobilienwirtschaft konkretisiert.[4]


Die zeitlose Revolte

Endgültig hat hingegen, meinen die Autoren zum Beispiel auf Seite 304, "das Kapital seine produktive Funktion" verloren. Nicht zum ersten Male wird hier der Niedergang der "Fabrikgesellschaft" beschrieben, das Verschwinden jenes halb geschlossenen, diskreten Raums, der Disziplin der "Normalzeit" und der abstrakten Herrschaft der Bürokratie. Negri und Hardt beschreiben, wie es auf der Grundlage der Revolten gegen die Fabrikgesellschaft in der "signal crisis" der 1970er Jahre zu jener aktuellen "final crisis" gekommen sei, in der der spezifische, historische Ort der Revolte verallgemeinert werde, und sogar jenes Gemeinsame selbst sei. Sie beschreiben eine Klasse von Maulwürfen, die, dem Untergrund entkommen, nunmehr in die Position von Singularitäten versetzt sei und als solche zunehmend Potential einer Gesellschaft werde, die einerseits immanent als der Ort der Produktion und der Produktivität fungiere, andererseits dem Kapital äußerlich werde, so dass sie nur noch diese bereits sterbende Umhüllung abwerfen müsse, um ein Zusammenleben ohne Herrschaft und Unterdrückung zu etablieren. Soviel zu den Thesen. Wie werden sie illustriert, belegt, gegenüber möglicher (und längst formulierter) Kritik behauptet?

Wichtig scheint den beiden Autoren zu sein, immer wieder zu jenem Bruchpunkt zurückkehren, an dem sich eine "neue Subjektivierung / Subjektivität" zeigt. Ich habe den Eindruck, dass sich hier - wenngleich nicht explizit - die dreifache historische Erfahrung insbesondere Negris manifestiert: der Protest gegen die Politik der Kommunistischen Partei in den frühen 1960er Jahren, die Erfahrung der Arbeiterrevolten um 1969 sowie die der neuen sozialen Kämpfe um 1977. Aber es ist keine Zeit zum Verweilen: Denn tatsächlich sei der Bruchpunkt, in dem sich die "neue Subjektivität" zeige, überall (in der Vergangenheit, seit 2.000 Jahren bereits, sogar vor der Revolution). Aber damit ist er eben auch nirgends (er ist eben "noch nicht", etwas, das erwartet wird, gespürt, aber eben noch nicht auf die Welt gekommen ist). Das hat Folgen, auch für die Orte von 1960, 1969 und 1977, und für die konkreten historischen Erfahrungen, die wir dort finden könnten.[5] Die Autoren besuchen diese Orte, aber sie berühren sie nicht. Das kann vorteilhaft sein, aber da es nicht reflektiert und auch methodisch nicht transparent gemacht wird, bleibt es bis zum Ende dabei, dass es keine Fragen gibt in diesem Buch, nur Antworten. Der Text kommt nicht zum Punkt. Immer wieder wird angekündigt, dass der Dialog mit den Lesenden über die existenziellen Probleme, um die es hier geht, angefangen werden soll. Aber irgendwie haben die Beiden immer gerade etwas anderes vor, und es kommt niemals zu einer Verabredung.

Für meinen Eindruck einer in dieser Weise entrinnenden Schreibweise spricht auch das Durcheinander, das in Bezug auf die raum-zeitliche Verortung der Hauptdarstellerin, der sich selbst biopolitisch schaffenden Multitude, produziert wird. Von dieser Multitude heißt es, dass ihre Idee sich nicht allein in einer auf Spinoza zurückgehenden Denktradition, sondern dass sie sich auch - hier wird unter anderem Linebaughs und Redikers Vielköpfige Hydra wohlwollend rezipiert - in der Praxis der englischen und amerikanischen vorindustriellen Revolutionen des 16. bis 18. Jahrhunderts gezeigt habe.[6] Es sei also eine Figur, die eine Geschichte erzählt.[7] Andererseits sei es eine Figur, die, als Trägerin der räumlich und zeitlich entgrenzten Produktion, selbst ist. Und schließlich sei es eine Figur, die noch nicht ist, sondern die - als reine Potentialität - zunehmend wird. In diesem Zirkel bewegt sich der Text: Es geht um etwas, das war, ist, nicht war, nicht ist, noch wird und so weiter. Es ist ein Strudel, aber man wird nicht hineingezogen, obwohl die Autoren nach jedem Kapitel ankündigen, dass sie, nennen wir es ruhig offen so, eine Art Rezeptur präsentieren werden: "Welche Waffen [...] gewinnen den Kampf?", fragen sie sich und die Lesenden auf Seite 374, aber am Ende, auf Seite 390, bleibt nur das Zitat eines Graffitis, das schon in den 1970er Jahren beliebt war und in dem es heißt, dass "sie [wer auch immer hier gemeint war, ist oder sein wird] durch unser Gelächter begraben werden."


Die Katze im Dunklen

In der Gegenwart sei Multitude die Vorstellung von Klasse als einer Vielheit, die keinen zentralen Ort definiert, aber Verbindungen zwischen den Kontinenten herzustellen vermag und an deren Horizont die Grenzen zwischen den diversen Formen der Arbeit, dem schöpferischen Tun und dem politischen Handeln verfließen. Ähnliche Metaphern sind in den letzten Jahren nicht nur von Negri und Hardt, sondern von einem breiten Spektrum postoperaistischer und linksradikaler Autor_innen evoziert worden, mal mehr, mal weniger poetisch, zwischen "Multitude" und "Cyborg". Es gibt allerdings verwandte Begriffe wie "dezentrierte Arbeiterklasse" oder "Multiversum",[8] die vielleicht weniger plastisch sind, aber den unschätzbaren Vorteil haben, dass sie die Sache, um die es gehen soll, weniger als zusammengesetztes, virtuell handlungsfähiges Subjekt denn als Konstellation zu begreifen versuchen, die, als solche, auf einen historischen Ort bezogen werden kann. Wie auch immer, die Arbeit an diesen Begriffen ist wichtig, zumal in ihr Widersprüche und Hierarchisierungen zur Sprache gebracht werden, die sich unter der Oberfläche der "Klasseneinheit" verbergen.[9] Aber gerade anhand des vorliegenden Buches stellt sich die Frage, ob diese Begriffsarbeit zunehmend spekulativen oder sogar spirituellen Charakter annimmt oder ob zumindest einige zögerliche Schritte in Richtung einer forschenden Praxis unternommen werden, die die Erfahrungen und Kämpfe, um die es sich handelt, nicht nur metaphorisch besingt, sondern sich von ihnen auch überraschen und verändern lässt. Zwar verbeugen sich Negri und Hardt auch in Common Wealth immer wieder vor der Tradition des Arbeiterfragebogens und der militanten Untersuchung. Doch nirgends wird klar, wie das Training am Begriff, in dem wir uns gemeinsam mit dem intellektuellen Generalstab befinden, sich auf militant forschende Ansätze konkret beziehen ließe, zumal sämtliche vorkommenden Alltagssituationen, aber auch alle offen artikulierten sozialen Kämpfe, von den Auseinandersetzungen um den Zugang zu Wasser in La Paz, Bolivien, bis hin zu den Kämpfen in den französischen Banlieues, lediglich summarisch abgehandelt werden.[10] Dies ist, meine ich, auch ein Defizit des Begriffes selbst: Als Multitude ist "Klasse" in letzter Instanz ein Subjekt, eben etwas anderes als eine Konstellation, obwohl es doch vernünftigerweise relational bestimmt bleiben sollte, hört es nicht auf zu zappeln, ist voller Mucken und Spitzfindigkeiten, verschwindet aus der Fabrik, treibt sich überall herum, macht was es will, und macht sich im Zweifel auch dort aus dem Staub. Für Negri und Hardt ist, kurz gesagt, die "Klasse" der Multitude nicht durch ein Verhältnis definiert, sie entsteht nicht in einer Bezugnahme, sondern sie ist nicht-relational, verdinglicht, und sie kommt sogar als Ding zur Welt. Paolo Virno weist hingegen in seiner Grammatik der Multitude recht dringlich darauf hin, dass die Auseinandersetzung um einen festen Wohnsitz für das Monster nicht zuletzt deshalb unabdingbar ist, weil es sich durchaus nicht nur und nicht immer um einen sympathischen Zeitgenossen handeln könnte.[11] Es scheint nämlich keineswegs ausgemacht, dass das Überschießende und Unkontrollierbare, das Negri und Hardt an der Multitude so schätzen, lediglich als Stimme aus einer emanzipierten Zukunft wirken wird - zum Beispiel könnte es ja auch ein Geräusch aus einer schrecklichen Vergangenheit sein. Denn sind Pogrome nicht auch Akte, die von einer Multitude veranstaltet werden können? Kommt es nicht mehr darauf an, worum gekämpft wird, sondern nur noch darauf, dass das Klassen-Ding eine Form behält, dass das Ding als solches existiert?

Dass die "Multitude kein spontanes politisches Projekt ist", sondern "eines der Organisierung", wie auf Seite 183 bemerkt wird, ist keine Antwort auf diese zugegeben rhetorische Frage, auch deshalb nicht, weil Negri und Hardt auf keiner der fast vierhundert Seiten des Buches einen praktischen Bezug auf die Frage der Organisation entwickeln. Aber wenn wir uns schon unbedingt auf das Revoltieren als Motor der Geschichte beziehen möchten, sollten wir doch mindestens auf jeder vierhundertsten Seite daran denken, dass non-normative actions, also Revolten, die die vielen individuell eingeschliffenen Alltagsroutinen ebenso neu definieren wie die institutionellen Grenzen der Politik, eine historische Ausnahme darstellen.[12] Sie markieren die Dynamik einer Situation, in die wir, ob als Generalstab oder als Fußvolk, nur situativ eingreifen können. Ein Eingreifen im engeren, technischen Sinne, ein organisatorisches oder organisierendes Eingreifen verstetigt hingegen die Revolten und legt sie zugleich still. Wie sich diese Ambivalenz jeweils konstituiert, ist eine Frage der Untersuchung, hingegen kann der Aufstand so oder so keinesfalls evoziert werden. Deshalb muss das Problem der Ambivalenz, der verschiedenen Register, die die Revolten ziehen und bedienen müssen, müssen ihre Vielsprachigkeit, Uneindeutigkeit, Mißverständlichkeit und ihr umkämpfter Charakter selbst dort berücksichtigt werden, wo es um Aktionen geht, mit denen wir zutiefst sympathisieren und deren Verallgemeinerung und Ausdehnung wir erträumen. Beispielsweise hat die Revolte in Griechenland noch im Frühsommer des laufenden Jahres in der Linken eine heftige Debatte über die Frage der Militanz provoziert. Und in Athen gab es nicht nur drei tote Bankangestellte, die Opfer einer verselbstständigten, sorglosen und ritualisierten Demonstrationsgewalt waren, sondern auch eine, wenngleich verhältnismäßig schwache, rechtsextreme Präsenz in den Protesten gegen die Austeritätspolitik. All das änderte nichts daran, dass wir diesen Aufstand für die Ouvertüre zu einer kommenden, europäischen Situation hielten (die sich vielleicht in der Wirklichkeit aktuell im Maghreb findet, mit all ihren großen Hoffnungen und blutigen Ambivalenzen).

Und möglicherweise meinten wir sogar, wir hörten - in dem Protest gegen die Polizeigewalt von 2009, den Aufständen gegen das Zerschlagen sozialer Ansprüche von 2010, dem oft erfolgreichen Versuch, Freiräume inmitten der kapitalistischen Gesellschaft zu konstituieren - tatsächlich eine Stimme aus der Zukunft. Aber dennoch wird von dem, was die Geschichte auch dieser Revolte sein wird, nichts Substanzielles bleiben, sondern lediglich die Erinnerung an eine Artikulation, an eine spezifische historische Situation, in der die sozialen Verhältnisse und Konflikte zum Ausdruck gebracht worden sind und damit offen lagen. Die Bezugnahme, die auf dieser Grundlage in den kommenden Kämpfen möglich ist, ist eine, die die Potentiale der Befreiung sichtbar macht, die dort ausgesprochen worden sind, eingebettet in ein Kräftefeld, in dem gleichwohl auch ernsthaft von Gefahren und Katastrophen zu sprechen ist, von der Präsenz der Konterrevolution.

Für Negri und Hardt sind die Revolten dagegen wie Katzen im Dunkeln, sie sind alle grau, und es scheint Aufgabe der Analytiker zu sein, sie bunt anzumalen. Überall dort, wo es im Text um historische und aktuelle soziale Konflikte geht, fehlen empirische Merkmale, konkretes Handeln, jegliche spezifische Position, die Revolten haben in der Tat keinerlei Verbindung miteinander, sind nur "potentiell", und sie stehen ganz allein auf der großen Bühne dieser "anderen" Weltgeschichte. Es sind leere Subjekte, ohne Eigenschaften. Die laufenden Beschwörungen sind in Bezug auf die wirkliche Bewegung wirklich unpassend, während sie dem monströsen Charakter des Textes angemessen zu sein scheinen: Es geht um die Anrufung eines Geistes. Ähnlich verhält es sich mit der Auseinandersetzung um die Veränderungen innerhalb der Produktion.


Der immaterielle Soldat

Die These von der wachsenden Dominanz der "Immaterialität" innerhalb des Arbeits- und Verwertungsprozesses ist häufig hinterfragt worden. Deshalb beschränke ich mich hier auf das zu Beginn gegebene Beispiel jenes Arbeiter-Schwarms, den jener Mann in Monrovia "beliebig", wie es heißt, in die Diamantenminen oder den Krieg ziehen lassen kann. Auf derselben Seite, auf der diese hässliche Geschichte einer absoluten Unterwerfung und potentiellen Vernichtung der Soldaten-Arbeitenden geschrieben wird, erklären Negri und Hardt, was die wesentlichen Inhalte der heutigen Produktivität (und ihrer systemfeindlichen Potentialität) seien: "Gedanken und Bilder verfertigen, Affekte hervorbringen" (S. 161). Es wird dabei nicht näher erörtert, was die armen jungen Männer von Monrovia auf ihrer Reise in die Mine verfertigen und welche Affekte sie an der Front produzieren. Sicher scheint mir allerdings, dass ihr Beispiel von der obschon verbesserungswürdigen Idylle, die die Tätigkeit eines Grafikers im Hamburger Schanzenviertel (oder eines Redakteurs einer akademischen Zeitschrift) umgibt, sehr weit entfernt liegt. Letztlich trägt die These die Schwäche in sich, dass sie ebenso unspezifisch argumentiert wie jene ungeheure Multitude zu kämpfen scheint.[13] Zwar lassen sich solidarische Beziehungen lediglich in Bezug auf das Gemeinsame herstellen, aber nur insofern es nicht allein als Begriff fungiert. Mit der Kritik an der mangelnden historischen Verortung jener "Immaterialität" möchte ich nicht suggerieren, dass eine andere Dominante in der Welt der bezahlten und unbezahlten Arbeit näher liegt als jene, die Negri und Hardt evozieren. Doch die wesentlichen Merkmale, mit der "Immaterialität" assoziiert wird, sind nicht einmal für den kleinen Ausschnitt der aktuellen Arbeits- und Lebensverhältnisse hinreichend oder charakteristisch. Karl Reitter konstatiert in diesem Zusammenhang zurecht, dass "dort, wo Arbeitsverhältnisse tatsächlich exakt analysiert werden, (...), alle jene mit Euphorie vorgestellten Kategorien seltsam absent" sind.[14]

Die politische Konstituierung der Weltarbeiterinnenklasse verläuft nicht linear, gehorcht keinem Stufenmodell, sondern ist Resultat der verstreuten und ungleichzeitigen Artikulation der Revolten, die sich mit der widersprüchlichen Gestaltung der weltweiten Arbeitsteilung verbinden. Das bedeutet, dass Konflikte nicht erst im Verlauf der Revolte entstehen. Allerdings werden sie in derselben, wie erwähnt, artikuliert. Es mag zum Beispiel sein, dass die Massenkämpfe in Frankreich und Italien Ende der 1960er Jahre, diese Eruptionen mit ihren vielen Millionen Beteiligten, dem Fordismus in Westeuropa die Totenglocken geläutet haben. Aber die Fabrik - und da würden Negri und Hardt sicher zustimmen - war immer eine durch vielfältige soziale Antagonismen geprägte Einrichtung, und Ford'sche wie Taylor'sche Strategien waren seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein Versuch, eine migrantisch geprägte Schicht von Massenarbeiter_innen zu disziplinieren - also eine Reaktion auf eine, mitunter latente, mitunter offene Alltags-Opposition. Auch in der Bundesrepublik begann die Revolte gegen das Fließband nicht am 20. August 1973, als ein türkischer Arbeiter in den Fordwerken in Köln-Niehl "Schluss jetzt!" rief (was in den paar Wochen darauf die Presse und seitdem die Forschung in Atem hielt), sondern zehn, zwanzig oder fünfzig Jahre vorher, als ein ganz anderer, namentlich nicht bekannter Arbeiter einen Schraubenschlüssel in das Band warf, um sich eine Zigarettenpause zu gönnen. Das bedeutet aber auch, dass die chinesischen Bauern-Arbeiter_innen, die in einem aktuellen Buch von Pun Ngai und anderen zum Sprechen gebracht werden,[15] einen ähnlichen Kampf um die Autonomie der Migration und gegen die Ordnung der Fabrik führen, während dieser Kampf aber zugleich etwas gänzlich Neues darstellt. Im Bild einer Verallgemeinerung immaterieller Produktivität verschwindet diese Spannung zwischen Analogie (als Aktualisierung anderer historischer Erfahrungen) und Konstitution (als Bestimmung des je spezifischen Konflikts), der die sozialen Kämpfe meines Erachtens stets strukturiert.

Negri und Hardt richten den Blick auf die Veränderung der Arbeitsprozesse sowie die Bewegungsformen der Arbeitenden. Das ist sehr wichtig. Doch eine konkrete Bezugnahme zwischen diesen entsteht nicht wesentlich auf der Grundlage einer neuen Stufe der Produktivität, die sich wie ein Automat verselbstständigt und dem Kapital über den Kopf wächst. Wie Negri und Hardt selbst immer wieder betonen, ist das jeweils Neue mit einem Traum von persönlicher und kollektiver Autonomie verbunden, und es steht in einem gegensätzlichen Verhältnis zu einer Gesellschaft, die durch die Inwertsetzung des Lebens, der Arbeit und dessen, was Negri und Hardt als das Gemeinsame bezeichnen, geprägt ist. Veränderungen werden jedoch auf der Grundlage biographischer Erfahrungen, durch antagonistisches soziales Handeln angestoßen, zu dem auch und noch immer das Anhalten und Aufhalten der kapitalistischen Maschinerie gehört. In diesem Handeln geht es eher um den Protest gegen persönliche Versehrtheit und für menschliche Solidarität und Würde als um einen undurchdringbaren Produktivismus, gleichgültig, ob dieser nun als emanzipatorisch gedacht wird oder nicht. Es handelt sich also nicht um eine bloße Technik, die erlernt werden kann, nicht einmal um eine soziale Technik, es geht um keine bestimmte Form der Assoziation, um kein Potential und kein Produkt, sondern um eine Möglichkeit, die plötzlich aufscheint und den Blick auf den Horizont öffnet: Das "Glück", von dem Negri und Hardt auf S. 383 f. sprechen, ist immer zum Greifen nahe, aber es ist auch immer etwas Neues, wenngleich es sich an einigen Punkten der Geschichte verdichtet, an denen die Gelegenheit besteht, sie ausgehend von den sozialen Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerungen zu erzählen. Die Aufzeichnung beispielsweise der Geschichte von Xin, die Pun Ngai und Lu Huilin in Heft 4 (2010) von Sozial.Geschichte beigetragen haben,[16] und die Vermittlung von ähnlichen Erfahrungen gehören zu den Voraussetzungen dessen. Die Konstellationen, in denen solche Geschichten multipliziert werden, können jedoch nicht artifiziell produziert, sondern lediglich analysiert werden. Die "Produktivität der Multitude" erscheint bei Negri und Hardt hingegen als etwas, das den Prozess der Produktion in eine politische Praxis verwandelt, insofern Letztere produktives Wissen, Analyse und Konstitution miteinander kurzschließt. Selbst das Schreiben wird als unmittelbarer Teil einer Praxis der Revolte verstanden. Es ist durchaus zu befürchten, dass jener Lenin, der sich im Laufe des Textes auffällig häufig verabschiedet (S. 98, 102, 128, 189, 253, 306, 310),[17] vermittels der Vorstellung einer solchen Unmittelbarkeit durch die Hintertür wieder den Raum betreten wird. Zumindest könnte sich in diesem Raum eine selbst ernannte Avantgarde frei bewegen, weil sie sich nicht mehr um die banalen Probleme der Vermittlung und der Repräsentation scheren muss.


Aktivierung und Erlösung

Der Produktivismus, ein alter Hut der Arbeiterbewegung, den lange kaum jemand aufsetzen mochte, verwandelt schließlich auch die Sicht auf die Eigenschaften, die sich die immateriell und entgrenzt Arbeitenden aneignen: Selbstorganisation, Selbstregierung und Selbstherrschaft erscheinen in Common Wealth einerseits (vom Standpunkt der Produktivität aus betrachtet) als "Externalitäten", andererseits (vom Standpunkt der Multitude) als das "Gemeinsame": "Zur für die biopolitische Produktion erforderlichen Freiheit gehört auch das Vermögen, soziale Beziehungen aufzubauen und autonome gesellschaftliche Institutionen zu schaffen. Eine mögliche Reform, um solche Fähigkeiten zu entwickeln, ist die Einführung von Mechanismen partizipatorischer Demokratie auf allen Regierungsebenen, damit die Multitude gesellschaftliche Kooperation und Selbstregierung lernen kann" (S. 318). An dieser Stelle des Textes verwandelt sich das ungeheure, monströse, exzessive, vielarmige Wesen, das an unzähligen anderen Stellen des Textes in einer faszinierenden Sprache skizziert wird, für einen Moment in den Teilnehmer einer Bildungsmaßnahme, eines Trainings oder einer Therapie. Den Satz, dass "Demokratie etwas ist, das man nur by doing lernen kann" (ebd.), würde auch die Grüne Jugend oder die Junge Union unterschreiben. So fungiert ja die Inwertsetzung sozialer Beziehungen und territorialer Positionen heute in der Metropole nicht zuletzt vermittels einer solchen, instrumentell angelegten Partizipation. Zwar ist es richtig, die (übrigens nicht mehr ganz so neuen) Techniken der Selbstregulierung als "Nadelöhr" zu betrachten, in dem und denen gegenüber Kollektivität sich erst herstellen muss. Aber gerade aus dieser Sicht erscheint es notwendig, eine Kritik der Partizipation in ihren konkreten Ausprägungen zu formulieren, eine Kritik, die diese Ausprägungen auch als Formen der Fremdaneignung und Herrschaft zu begreifen vermag - und nicht lediglich als Produktivkraft, die es zu "trainieren" gilt. Und vielleicht sollte auch nicht darauf gehofft werden, dass systemimmanente Formen der Selbstermächtigung letztlich dazu beitragen werden, dass sich das System als solches als "unsinnig erweist und in sich zusammenfällt" (S. 316). Es passt zwar zum Programm des Campus-Verlags, der ansonsten mittlerweile sehr viel betriebswirtschaftlichen Unfug veröffentlicht, allerlei "Hemmnisse der Autonomie der Arbeit" bekämpfen zu wollen (S. 318). Dennoch muss gesagt werden, dass partizipatorische Regimes, unabhängig davon, ob sie gegenüber SGB-II-Empfänger_innen oder Automobilarbeitenden in Anschlag gebracht werden, einerseits vielfach zur Eindämmung der Artikulationsmöglichkeiten der Betroffenen beitragen, andererseits nicht erst aktuell werden, wenn "die Akkumulation von Macht und Fähigkeiten die Schwelle überschreitet" (S. 320). Die Verdrängung von Oppositions- und Widerstandspotentialen, die die aktuelle Krise in der Bundesrepublik bislang kennzeichnet, hat meines Erachtens nicht nur, aber auch damit zu tun, dass das Selbstregieren in der Entwicklung der Städte ebenso wie auf dem Arbeitsmarkt im Norden Europas weiter entwickelt ist als in anderen Weltregionen. So nutzt der Hinweis darauf, dass die Multitude sich im Jubeljahr "selbst regieren wird" (ebd.), denen nicht viel, die heute dazu verdammt werden, in den endlosen Schleifen der "aktivierenden" Bürokratie an solchem "Totengraben" teilzuhaben.

Negri und Hardt unterscheiden systematisch zwischen "Opposition" und "Subversion", wobei sie offenbar "nicht oppositionellen und subversiven [= an die Immanenz des dezentrierten Regierens anknüpfenden, P. B.] Reaktionen" den Vorzug geben (S. 379). Das mag richtig sein, es ist eine Geschmacksfrage, und auch die mit dieser Setzung einhergehende Abgrenzung gegenüber einer "Gegenmacht, die den bestehenden staatlichen Strukturen entspricht" (S. 378) wird ja ganz zu recht von vielen Autorinnen geteilt, die das Schicksal der traditionellen, verstaatlichten Arbeiterbewegung kennen. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Hoffnung, dass mit der "Subversion" kein Staat gemacht werden kann, vor dem Hintergrund der eben angedeuteten Erfahrungen mit dem "aktivierenden" Staat berechtigt ist.

Alles in allem treibt Negri und Hardt nach wie vor das Bedürfnis um, neu anzufangen. Das ist nachvollziehbar, ebenso wie die Forderung nach einer sozialen Bewegung, die durch einen kritischen Umgang mit identitären Kämpfen um Arbeit, Geschlechterverhältnisse und Migration gekennzeichnet ist. Die von den Autoren erhobene Forderung nach "Intersektionalität" kann vielleicht ein Ausgangspunkt für eine Suche nach einer solchen nicht-identitären Bewegung sein. Doch allzu dringlich bestehen die Autoren auf dem Positiven, das einen solchen Neuanfang zu prägen hätte: "Natürlich sind den Menschen die voll ausgebildeten Fähigkeiten, sich selbst zu regieren, Konflikte zu lösen, dauerhafte, beglückende Beziehungen einzugehen, nicht angeboren, aber in uns allen steckt ein Potential zu all dem" (S. 384). Wieder und wieder wird erklärt, wie dieses Potential entwickelt, eingeübt, trainiert werden müsse: "Es handelt sich um die Erkenntnis, dass Menschen erziehbar sind" (ebd.). Unermüdlich wird davor gewarnt, dass es sich um einen schwierigen Wandlungsprozess handle. Ungebrochen bleibt die Hoffnung, dass es jetzt, endlich, um nichts weniger gehe als um die "Abschaffung der Familie und der Nation". Und nichts hält die Autoren davon ab, weiterhin zu verkünden, dass jetzt, endlich, die "Revolution auf der Tagesordnung" stehe, ein Prozess, in dem "wir schrecklich zu leiden haben, aber [...] gleichwohl vor Freude lachen [werden]" (S. 390). Am Ende der Trilogie gibt es zu viele Engel und Teufel, zu viel Inferno und Paradies, zu viel Erlösung und Verdammnis, Ungeheuer und Wolken, Rauch und Rauschen - zu viel Beschwörung, und zu wenig Ironie.

E-Mail: Pbirke@stiftung-sozialgeschichte.de


Anmerkungen:

[1] Michael Hardt / Antonio Negri, Common Wealth. Das Ende des Eigentums. Aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn, Campus: Frankfurt am Main u. a. 2010; in Klammern gesetzte Seitenzahlen verweisen im Folgenden auf diesen Text. Der vorliegende Text ist eine leicht überarbeitete Fassung einer Rezension, die in Heft 4 (2010) der Zeitschrift Sozial.Geschichte Online erschienen ist: vgl. [http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=23701] (alle Downloads im Folgenden: 20.2.2011).

[2] Hier heißt es, dass die Entwicklung des fixen Kapitals anzeigt, "bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen [...] zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist, und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen, und ihm gemäß umgeschaffen worden sind", Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin/DDR 1974, S. 594. Während Marx im Maschinenfragment der 1850er Jahre schrieb, dass "Lokomotiven, Eisenbahnen, electric telegraphs, selfacting mules etc." sowie der "gesellschaftliche Lebensprozess" als solcher Ausdruck eines "allgemeinen gesellschaftlichen Wissens" seien (und insofern durch das Kapitalverhältnis und die durch ihn hindurch sprechenden Herrschaftsverhältnisse vermittelt), gehen Negri und Hardt in den 2010er Jahren davon aus, dass sich dieses Wissen (die "sozialen" commons wie Wissen, Sprache, Codes, Informationen, Affekte) ebendiesem Kapitalverhältnis in der Realität des Postfordismus bereits entwunden haben. Marx' Fragment ist hier allerdings ebenso vielseitig zu interpretieren wie andere Heilige Schriften. Die dem zugrunde liegende Genealogie betont Karl Reitter in grundrisse 35, indem er darstellt, wie der Bezug auf Spinoza in Common Wealth unter anderem die Funktion hat, die "Formproblematik bei Marx zur Seite zu schieben": Karl Reitter, Produktivität als Autonomie. Zum Abschluss der Trilogie Empire, Multitude, Common Wealth von Antonio Negri und Michael Hardt, in: grundrisse 35 Seite 35-43.

[3] Vgl. hierzu die Kritik am Begriff der "immateriellen Arbeit" (und den Hinweis auf das "Recyclen" operaistischer Entwürfe) in der Rezension von Christian Frings, Common Wealth - Glaube, Liebe, Hoffnung, in: analyse und kritik 549 (2010), S. 25.

[4] Vgl. hierzu: Sandro Mezzadra / Andrea Fumagalli (Hg.), Die Krise denken. Finanzmärkte, soziale Kämpfe und neue politische Szenarien, Münster 2010, wo die "Externalitäten" als Dreh- und Angelpunkte gesehen werden, aus denen heraus die Finanz- und Wirtschaftskrise sowohl theoretisch begriffen als auch als Ausgangspunkt einer politisch-organisatorischen Alternative gedacht werden kann. Wie bei Negri und Hardt werden die sozialen Kämpfe dort als "metropolitan" gekennzeichnet, allerdings wird der empirische Gehalt dieser Setzung hier wie dort (zumindest noch) kaum ausgeführt. Vgl. auch die Rezension von Bart van der Steen in der kommenden Ausgabe von Sozial.Geschichte Online, d.i. Heft 5 (2011), erscheint im Mai (wie Anm. 1).

[5] Karl Reitter kritisiert an dieser Stelle auch die mittlerweile weit verbreitete These eines bruchlosen Übergangs von den Revolten der 1968er Jahre vermittels der Aufnahme der "Künstlerkritik" als aktuelle Dominante der urbanen kapitalistischen Verwertung: "Im Grunde vertreten Negri und Hardt die These von Boltanski und Chiapello, die von der Verwirklichung der Bedürfnisse der 68er Revolte im Postfordismus ausgehen." Es sei, dieser Kritik zustimmend, darauf hingewiesen, dass Boltanski und Chiapello die Reformen des Arbeitsprozesses insoweit untersuchen, als dass sie sich in der Managementliteratur auffinden lassen. Diese allerdings war bereits vor 1968 durchaus (im sozial-technischen Sinne) fortschrittlich eingestellt und repräsentierte zudem stets eine Art kapitalistische Utopie (auch im Taylorismus). Dass sich das dieser Utopie zugrunde liegende Menschenbild gewandelt hat, ist sicherlich auch der Revolte geschuldet, allerdings spricht diese, wie Negri und Hardt selbst noch im Motto des Anfangs des ersten Bandes ihrer Trilogie zum Ausdruck brachten, unter einem anderen Namen: Antonio Negri / Michael Hardt, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt am Main u.a. 2002, S. 9.

[6] Peter Linebaugh / Marcus Rediker, Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks, Berlin / Hamburg 2008. In englischer Sprache: dies., The Many-Headed Hydra. Sailors, Slaves, Commoners, and the Hidden History of the Revolutionary Atlantic, Boston 2000. Vgl. auch die Diskussion des Buches in Sozial.Geschichte Online, Heft 2 (2010):
[http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-24054/08_birke_henninger.pdf],
sowie in Heft 3 (2010): [http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DocumentServlet?id=22626].

[7] Frings kritisiert aus meiner Sicht zurecht, dass gerade der Bezug auf die "Hydra" verdeutliche, wie Negri und Hardt letztlich darauf verzichten, einen rebellischen Diskurs "von unten her" (d.h. auf der Grundlage der Arbeit an der Geschichte der Klassenkämpfe) "zu rekonstruieren". Common Wealth, so Frings "(beschwört) seitenweise die intellektuelle Kreativität der Multitude", bezieht "seine eigenen Ideen aber durchgängig aus der Interpretation von und in Zwiesprache mit den bürgerlichen Helden der Philosophie." Frings, Common Wealth, (wie Anm. 3).

[8] Vgl. zum Beispiel: Karl Heinz Roth, Die globale Krise: Bisheriger Verlauf - Entwicklungstendenzen - Wahrnehmungen und Handlungsmöglichkeiten von unten, in: Sozial.Geschichte Online, Heft 2 (2010),
[http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-24053/07_roth_krise.pdf].

[9] Dies betonte 2005 etwa Max Henninger, Befreiung der Körper. Zu Antonio Negris Neubestimmung des Revolutionären Subjekts, in: Arranca 33: [http://arranca.org/ausgabe/33]. Zahlreiche weitere Texte, die denselben Ausgangspunkt haben, sind in der Vergangenheit auch in den grundrissen erschienen.

[10] Reitter kritisiert in den grundrissen 33 den Mangel an (zumindest) systematischen Verweisen auf eine Empirie, der für das Buch charakteristisch sei, vgl. Reitter, Produktivität, (wie Anm. 2).

[11] Dabei teilt Virno durchaus die grundlegenden begrifflichen Setzungen. Aber er kündigt folgendes an: "Furcht und Sicherheit: Hier zeigt sich ein in philosophischer und soziologischer Hinsicht relevantes Raster, ein Lackmustest, an dem sich erkennen lässt, dass in der Gestalt der Multitude nicht nur eitel Sonnenschein herrscht, und mit dem herauszufinden ist, welche Gifte in ihr wirken. Die Multitude ist eine Seinsweise, die heute vorherrschende Seinsweise. Doch wie jede Seinsweise ist sie ambivalent." Paolo Virno, Grammatik der Multitude. Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen, Berlin 2005, S. 14.

[12] Wir können hier noch immer sehr viel von folgendem Text lernen: Frances Fox Piven / Richard A. Cloward, Poor People's Movements. Why they Succeed, How they Fail, New York 1979 (2. Auflage), S. 6ff.

[13] Auch hier stimme ich Karl Reitters Kritik zu, der konstatiert, dass hier lediglich eine Hegemonialstellung analog zum historisch-operaistischen Bild des Massenarbeiters konstruiert wird: Reitter, Produktivität, (wie Anm. 2).

[14] Ebd.

[15] Pun Ngai / Ching Kwan Lee u.a., Aufbruch der zweiten Generation. Wanderarbeit, Gender und Klassenzusammensetzung in China, Hamburg 2011.

[16] Pun Ngai / Lu Huilin, Unvollendete Proletarisierung - Das Selbst, die Wut und die Klassenaktionen der zweiten Generation von BauernarbeiterInnen im heutigen China, in: Sozial.Geschichte Online, Heft 4 (2010),
[http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-26032/05_Pun_Lu_China.pdf].

[17] Dies ist auch anderswo bemerkt worden, vgl. Frings, Common Wealth (wie Anm. 3).

Raute

Roland Atzmüller

Die Krise lernen - Neuzusammensetzung des Arbeitsvermögens im postfordistischen Kapitalismus[1]


Einleitung

Die Uniproteste des Jahres 2009 haben ihre Ursachen nicht allein in der spezifischen Situation an den Universitäten, die nach den Zielen und Kriterien des Bolognaprozesses reformiert werden. Vielmehr haben sie einmal mehr gezeigt, dass die Bildungssysteme im Zentrum der sozialen Kämpfe um die Bewältigung der fundamentalen Instabilität und Krisenanfälligkeit des postfordistischen Akkumulationsregimes (Jessop 2002; Hirsch 2005) und der damit verbundenen Krise des Wohlfahrtsstaates stehen. Aufgrund der fortschreitenden Erosion des fordistischen Normalarbeitsverhältnisses (unbefristet, sozialversicherungspflichtig und arbeitsrechtlich geregelt) und der historisch damit artikulierten Formen der Reproduktion der Ware Arbeitskraft werden nämlich die Konstitutionsprozesse des Arbeitsvermögens in den verschiedenen Bildungs- und Sozialisationsinstanzen der Gesellschaft zum zentralen Feld der sozialen Auseinandersetzungen. Diese drehen sich um die Neuzusammensetzung des Gebrauchswertes der Ware Arbeitskraft und der darüber vermittelten, hegemonialen Formen gesellschaftlicher Arbeitsteilungen, die darauf abzielen, grundlegende Veränderungen der Arbeits- und Produktionsprozesse im Postfordismus durchzusetzen. Diese Entwicklungen vollziehen sich einerseits durch die Prekarisierung der Arbeit (exemplarisch Pelizzari 2004), die eine Rekommodifizierung der Ware Arbeitskraft (Abbau der sozialen Sicherheitssysteme und arbeitsrechtlichen Regulierungen) durchsetzt, und Unsicherheit und Instabilität ihrer Reproduktion (wieder) zum zentralen Bestimmungsmerkmal der Existenz der Lohnabhängigen macht. Andererseits, wenn auch in vielerlei Hinsicht mit den Prekarisierungsprozessen verbunden, sind die sich durchsetzenden Veränderungen der Produktionsprozesse im Postfordismus z.B. durch die wachsende Bedeutung immaterieller, subjektbezogener Aspekte der Arbeit (Hardt/Negri 2001; Moldaschl/Voß 2002), wie etwa Kooperation, Emotionalität, Wissen und Subjektivität, bestimmt. Diese wurden nicht zuletzt in den sozialen Kämpfen in den Fabriken aber auch anderen Sphären der Gesellschaft (Gorz 1972) seit Ende der 1960er Jahre sichtbar und richteten sich gegen die hegemonialen tayloristischen Formen der Arbeitsorganisation und die damit verbundenen rational-bürokratischen Unternehmenshierarchien, in denen Fähigkeiten und Kompetenzen der Arbeitskräfte, die über die engen technischen Anforderungen der Produktionsprozesse hinausgingen, als Gefahr angesehen wurden.

Durch diese Tendenzen, in denen m.E. nicht zufälligerweise wichtige gesellschaftliche Reproduktionsinstanzen wie etwa die Bildungsinstitutionen (aber auch die Familienform) im Zentrum der sozialen Kämpfe standen, sind der Entwicklungsstand und die Qualitäten des Arbeitsvermögens (Pfeiffer 2004) zu einem zentralen Feld der politischen Auseinandersetzungen um die Sicherung der gesellschaftlichen Voraussetzungen der Akkumulation geworden. (Zumindest) Teile des Kapitals wie auch der Staatsapparate erkannten (und akzeptierten) die Potenziale der sich manifestierenden Neuzusammensetzung der Fähigkeiten und Kompetenzen der Ware Arbeitskraft für die in der Krise des Fordismus seit den frühen 1970er Jahren drängende Revolutionierung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse zur Durchsetzung eines neuen Akkumulationsregimes. Dieses erforderte aber eine Reihe von wirtschafts- und unternehmenspolitischen Maßnahmen und Strategien zur Redefinition und Einhegung der in diesen Kämpfen sich entwickelnden emanzipatorischen Ansprüche und Potenziale, um die Neuzusammensetzung des Arbeitsvermögens für die Restrukturierung der Produktionsweise fruchtbar machen zu können.

Im gegenwärtig hegemonialen wirtschaftspolitischen Denken wurde daher das Bildungsniveau der Ware Arbeitskraft zu einem der wichtigsten endogenen Wachstumsfaktoren erhoben, der für den Erfolg der verschiedenen Entwicklungspfade der kapitalistischen Länder - der sogenannten "varieties of capitalism" (Hall/Soskice 2001; kritisch Coates 2000) - bestimmend sei. Demnach kommt der Qualifikationsstruktur und den Ausbildungsprozessen der Arbeitskräfte im postfordistischen Akkumulationsregime eine zentrale Rolle für die Wettbewerbs- und Veränderungsfähigkeit verschiedener Kapitalismusmodelle zu. Dies bedingt widersprüchliche und umkämpfte Suchprozesse nach neuen Formen der Regulation der Konstitution des Arbeitsvermögens in den gesellschaftlichen Bildungs- und Sozialisationsinstanzen. Bildung wird dabei auf das für die Produktionsprozesse relevante Qualifikationsniveau der Arbeitskräfte reduziert, die zum Humankapital (Becker 1993; Bowles/Gintis 1975) erklärt werden. Wird Arbeitskraft als Humankapital verstanden, wird (Aus-)Bildung unter das Primat ökonomischer Verwertbarkeit gestellt und erscheint als Problem rationaler Investitionsentscheidungen und kosteneffizienter Ressourcenallokation in den Bildungsprozessen (Ribolits 2006). Einzelne Qualifikationsbausteine werden als Güter konzipiert, die produziert, am Markt angeboten, verkauft und verwertet werden können - aus Aus- und Weiterbildung kann ein Markt werden (Marsden 1999).

Auch die dominanten Entwicklungsdynamiken des postfordistischen Akkumulationsregimes, die dazu führen sollen, dass Nationalstaaten zunehmend ihrer eigenständigen wirtschaftspolitischen Handlungsmöglichkeiten (Jessop 2002) verlustig gehen, soll dazu beitragen, dass das Humankapital der Bevölkerung zusätzlich an Bedeutung gewinnt. Im Kampf um die Sicherung komparativer Wettbewerbsvorteile sei nämlich die Qualität der Arbeitskräfte zum wichtigsten "Standortfaktor", der noch über national verfasste Politiken zu beeinflussen ist, geworden. Insbesondere hoch entwickelte Industriestaaten erhoffen sich daher, durch die Verbesserung des Qualifikationsniveaus der Bevölkerung dem ruinösen Konkurrenzkampf mit Niedrig-Lohn-Ländern ausweichen, Lohndumping vermeiden und die notwendigen Restrukturierungen der Ökonomie vorantreiben zu können. Daher hängen die skizzierten Entwicklungen eng mit der Krise und dem Umbau des Wohlfahrtsstaates zusammen. Diese sind insbesondere durch die Etablierung sogenannter Workfare-Staaten, wie die gegenwärtigen Umbautendenzen des Wohlfahrtsstaates bezeichnet werden (Atzmüller 2008; 2006; Jessop 2002; Peck 2001), geprägt.

Workfare zielt auf einen weitgehenden Rückbau der dekommodifizierenden Elemente der wohlfahrtsstaatlichen Apparate, die es den Lohnabhängigen ermöglichten, sich nicht um jeden Preis am Arbeitsmarkt verkaufen zu müssen, und verstärkt daher die Prekarisierungsprozesse. Die im Wohlfahrtsstaat institutionalisierten Formen der legitimen, durch soziale Transferleistungen gewährleisteten Nicht-Teilnahme an Erwerbsarbeit - etwa aufgrund von Krankheit, Arbeitslosigkeit, Alter, Teilnahme an Bildung - werden sukzessive eingeschränkt bzw. wieder stärker auf die Rückkehr bzw. den Eintritt in den Arbeitsmarkt (bzw. den längeren Verbleib in Beschäftigung) orientiert. Die Sicherung und Durchsetzung des dafür notwendigen Arbeitsethos und des Zwangs zur Lohnarbeit stehen daher im Zentrum von workfaristischer und aktivierender Sozialpolitik. Diese Reorientierung der Sozialpolitiken bleibt aber nicht auf die Reformen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik beschränkt, sondern stellt sukzessive alle Bereiche der wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme unter die Imperative der Aktivierung, sodass die umfassende und in Permanenz gestellte Reorganisation des Arbeitsvermögens der Bevölkerung zum Medium und Inhalt des Umbaus des Wohlfahrtsstaates wird.

Die Sicherung und Vervielfältigung der Tauschoptionen zwischen Lohnarbeit und Kapital (Offe 1975), die eine zentrale Funktion des Wohlfahrtsstaates im Kapitalismus darstellen, werden damit zu einem pädagogischen und sozialarbeiterischen Problem.

"(...) there is a regulatory imperative not only to numerically adjust the flows of workers into and out of the wage labour, but also to endeavour remaking workers themselves, their attitudes towards work and wages, their expectations about employment continuity and promotion prospects, their economic identities, and so on." (Peck 2001: 58)

Die Pädagogisierung der Reproduktion der Ware Arbeitskraft wird jedoch nicht mehr am fordistischen Modell einer biographischen Sequenzierung von Bildung, Ausbildung und Erwerbsarbeit (unterbrochen durch Familiengründung) orientiert. Daher verschwimmen in manchen Bereichen die Grenzen von Arbeit und Ausbildung zunehmend, sodass Lernen zu einer lebenslangen Anforderung an die Beschäftigten wird. (Aus-)bildung wird zu einem konstitutiven Bestandteil von Workfare, das im Gegensatz zum keynesianischen Wohlfahrtsstaat nicht an Vollbeschäftigung, sondern an Beschäftigungsfähigkeit, die zur Verantwortung der Individuen wird (Jessop 2002: 165), orientiert ist.

Durch den Abbau der dekommodifizierenden Elemente des Wohlfahrtsstaates und die bereits angedeuteten Prekarisierungsprozesse wird der Erwerb von formalen Bildungsabschlüssen, Qualifikationen und Ausbildungen zu einer wichtigen Dimension der Hegemonie des Kapitals. Die Bereitschaft das eigene Arbeitsvermögen (permanent) zu bilden und zu optimieren, wird zu einer wesentlichen Voraussetzung gesellschaftlicher Teilhabe, also der Möglichkeit im postfordistischen Kapitalismus überleben zu können. Die Ware Arbeitskraft wird daher sukzessive einem "pädagogischen Verhältnis" (Gramsci 2004) unterworfen, das einerseits die jeweilige Positionierung der Individuen in den Produktionsverhältnissen und der Klassenstruktur der Gesellschaft gemäß der meritokratischen Logik bürgerlicher Bildungsinstitutionen als Ergebnis individueller Anstrengungen ermöglicht und legitimiert, andererseits die Polarisierungsprozesse zwischen den Arbeitskräften entlang hierarchisch angeordneter Bildungsabschlüsse stabilisiert.

Darüber hinaus erlaubt die Redefinition von Arbeitskraft zu Humankapital, gesellschaftliche Entwicklungstendenzen und insbesondere Krisenerscheinungen in pädagogische Fragen zu übersetzen und damit zu Problemen der Bildung und Qualifizierung sowie der Lernfähigkeit der Arbeitskräfte zu machen. M.E. bedeutet dies, dass eine neue Form des Krisenmanagements (Offe 1973) etabliert wird, die die Bewältigung von krisenhaften Entwicklungen auf die Individuen und deren Fähigkeiten zur Anpassung verlagert und als Problem adäquater Lernbereitschaft und -fähigkeit definiert, die als Voraussetzung der Dynamik des finanzgetriebenen Akkumulationsregimes präsentiert wird. Das heißt, die Herrschaft des Kapitals über den Produktions- und Verwertungsprozess wird zum Medium und Inhalt der Lern- und Anpassungsfähigkeit der Ware Arbeitskraft. Bevor ich diese Überlegungen näher ausführen werde, möchte ich anhand von drei Argumentationsschritten die theoretischen und empirischen Grundlagen der skizzierten Überlegungen klären.

Im ersten Teil werde ich die Bedeutung der Fähigkeiten und Kompetenzen der Ware Arbeitskraft für die kapitalistischen Arbeitsprozesse diskutieren, um zu zeigen, wie sich die Entwertung der Arbeit im Kapitalismus über die Veränderung der Qualifizierungsanforderungen vollzieht. Im zweiten Teil werde ich die Bedeutung von Flexibilität und Innovationsfähigkeit für das postfordistische, finanzgetriebene Akkumulationsregime herausarbeiten, die die Veränderung und Anpassung der Ware Arbeitskraft durch Lernen zu einer wesentlichen Grundlage der Reproduktion der kapitalistischen Produktionsweise machen. Im dritten Schritt werde ich schließlich zeigen, dass die Veränderungen des Wohlfahrtsstaates durch Workfare und Aktivierung, die nicht zu trennen sind von den Auseinandersetzungen um den Umbau der Bildungssysteme, eine neue Form des Krisenmanagements etablieren, die im umfassenden Bildungsimperativ realisiert wird. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen werde ich im abschließenden Teil schließlich zeigen, dass durch die Forderung umfassender Lernbereitschaft die Rationalisierung der Produktionsprozesse und die Reproduktion der Herrschaft des Kapitals in und über die Produktionsverhältnisse zur Aufgabe der Arbeitskräfte gemacht werden. Die Strukturierung der Klassenverhältnisse im Postfordismus wird derart zum Ergebnis der Aktivitäten der Lohnabhängigen. Die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Produktionsweise wird zum individuellen Anpassungsproblem.


Das Wissen der Ware Arbeitskraft

Lange Zeit gingen marxistisch orientierte Analysen davon aus, dass die langfristige Entwicklung der Fähigkeiten und Kompetenzen des Arbeitsvermögens des Proletariats in der kapitalistischen Produktionsweise auf eine Absenkung der Durchschnittsqualifikation - also Dequalifizierung - hinauslaufe. Dieser These lag die auf das tayloristisch-fordistische Entwicklungsmodell (Aglietta 2000) (Fließband, Massenproduktion) bezogene Beobachtung zugrunde, dass die Herrschaft des Kapitals in den zunehmend industrialisierten Produktionsprozessen mit einer weitgehenden Zerstückelung und inhaltlichen Reduktion der einzelnen Arbeitsverrichtungen bzw. der fortschreitenden Unterordnung der Arbeit unter die wissenschaftlichen und technischen Determinanten der Produktionsprozesse verbunden war (Braverman 1974). Diese Arbeitsorganisation beruhte auf einer strikten Teilung der Arbeitsprozesse in Planung und Ausführung, die im rational-bürokratischen Aufbau vertikal organisierter Unternehmen institutionelle Materialität erhielt und so den Lohnabhängigen als "fremde Macht" gegenüber trat. Die subjektiven Dimensionen der Ware Arbeitskraft galten als potenzielle Bedrohung und sollten durch umfassende Kontroll- und Überwachungssysteme weitgehend ausgeschaltet werden.

Die mit den Dequalifizierungsprozessen verbundene Entwertung der Arbeit rührt aus folgenden strukturellen Bedingungen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse her: Unternehmen kaufen am Arbeitsmarkt nicht Arbeit ein, sondern zuerst einmal nur eine bestimmte Potenzialität, nämlich das Vermögen der Ware Arbeitskraft, wertbildende Arbeit zu leisten (Knights/Willmott 1990). Da aber Arbeitskraft auch in den Arbeitsprozessen an ihre TrägerInnen gebunden bleibt, kommt es nie zu einer eindeutigen und vollständigen Übertragung der Verfügungsgewalt über das Arbeitsvermögen an den/die UnternehmerIn, wie das in anderen Transaktionen von Waren oder Dienstleistungen der Fall ist. Da sich daher aus dem Kauf der Ware Arbeitskraft noch nicht ihr Gebrauch ergibt, besteht für das Kapital das Problem nun darin, wie das Arbeitsvermögen realisiert und Mehrwert erzeugt werden kann. Das heißt, es geht darum, die Lohnabhängigen zum Arbeiten zu bringen. Die Entwicklung umfangreicher Kontroll- und Überwachungsstrategien und die Aneignung des Wissens der ProduzentInnen, das vermittelt über die bürgerliche Wissenschaft in den Produktionstechnologien und im organisatorischen Aufbau der Unternehmen dem Proletariat als Herrschaftsinstrument gegenübertritt, ist die logische Konsequenz, die in den Konzepten der wissenschaftlichen Betriebsführung, wie sie etwa von Frederick Taylor (1922) entwickelt wurden, kulminierte.

Angesichts der Probleme bei der Umsetzung tayloristischer Managementstrategien wurde aber sehr rasch klar, dass allein durch die Konzentration auf Kontrolle und Überwachung die Herrschaft des Kapitals über die Produktionsprozesse nicht erklärt werden kann. Dies hat damit zu tun, dass sich die an ihre TrägerInnen gebundene Arbeitskraft in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen letztlich selbst anwendet, jeder Arbeitsprozess also zuerst durch den Kopf der Arbeitenden hindurch muss. Daher rückt selbst in extrem entfremdeten, vereinfachten und unter umfassender Kontrolle und Überwachung stehenden Arbeitsprozessen die Frage, wie die aktive Zustimmung der Arbeitskräfte Arbeit zu leisten, gesichert werden kann, in den Vordergrund (Burawoy 1985).

"Der Arbeiter muss auch arbeiten wollen. Das Grundproblem jeder betrieblichen Organisation der Arbeit besteht demgemäß darin, den Arbeiter als Subjekt der Arbeitskraft zu dieser Mitwirkung zu veranlassen." (Berger/Offe 1984: 92, Hervorhebung im Original)

Durch diese Überlegungen konnte der enge Fokus auf repressive Überwachungsstrategien überwunden und Kontrolle nicht als technologische Erfordernis, sondern auch als Gegenstand sozialer Kämpfe, deren Feld damit erweitert wurde, sichtbar gemacht werden. Die Erzeugung der Bereitschaft der Arbeitskräfte, das Potenzial ihrer Arbeitskraft durch Arbeit zu realisieren, ist das Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen in den Produktionsverhältnissen und der Etablierung spezifischer Kompromisse mit den ArbeiterInnen (etwa bezüglich Arbeitszeit, Löhne und sozialer Absicherung), in denen die stets umkämpfte Hegemonie des Kapitals über die Arbeits- und Produktionsprozesse sichergestellt werden muss.

Das Problem der Konzentration der meisten kritischen Untersuchungen zu den kapitalistischen Arbeitsprozessen auf die Frage der Überwachung bzw. der Zustimmung der Lohnabhängigen besteht jedoch darin, dass der Fokus der Diskussion damit weiterhin im dequalifikationstheoretischen Verständnis der Entwicklung der Fähigkeiten und Kompetenzen der Lohnabhängigen verblieb. Die Frage, ob die Arbeitskräfte auch über die Fähigkeiten und Kompetenzen verfügen, die ihnen überhaupt erst ermöglichen, den Gebrauchswert ihrer Arbeitskraft zu realisieren, schien daher lange Zeit relativ "unproblematisch", da die Auswirkungen der Subsumtion der Lohnabhängigen unter das Kapital auf ihre Fähigkeiten und Kompetenzen als klar galten.

Ja mehr noch: Die spätestens seit den 1970er Jahren in den sozialen Kämpfen in den Betrieben aber auch anderen Sphären der Gesellschaft manifest werdenden sowie erkämpften Veränderungen der Arbeit werden von Kapitalseite schließlich in vielen Sektoren. Aus der Neuzusammensensetzung des Arbeitsvermögens, das den sozialen Die damit verbundenen Änderungen der Produktionskonzepte wurden als "Rücknahme der Arbeitsteilung" und "Reprofessionalisierung der Facharbeit" interpretiert und brachten das überkommene Kritikparadigma der kapitalistischen Arbeitsprozesse in eine Krise (Moldaschl 2002; Wolf 1998). Vor dem Hintergrund des Dequalifizierungstheorems erwies es sich als schwierig, Entwicklungstrends wie die Mobilisierung des subjektiven Faktors in der Produktion, das gesteigerte Qualifikationsniveau, die Abflachung der innerbetrieblichen Hierarchien, die Stärkung kooperativer Aspekte (Gruppenarbeit) oder die Eigenverantwortung der Beschäftigten adäquat zu kritisieren. Es reicht nicht, sie als eine Form der Intensivierung der Arbeit oder als ideologische Verschleierung der tatsächlichen Arbeitsbedingungen abzutun - v.a. wenn es in gewerkschaftlichen Kämpfen nicht nur darum gehen soll (wie im Fordismus), äußere Rahmenbedingungen der Arbeitsverhältnisse zu verbessern, sondern die Verfügungsgewalt des Kapitals über die Produktionsprozesse selbst anzugreifen.

Für die grundlegende Kritik der Arbeits- und Produktionsprozesse im postfordistischen Akkumulationsregime, die fähig ist zum Bruch mit der Produktionsweise beizutragen, scheint es mir daher unerlässlich, eine kritische Theorie der qualifizierten Arbeit zu entwickeln. Diese muss am Doppelcharakter der Arbeit (als Tauschwert und Gebrauchswert) im Kapitalismus ansetzen, der die Arbeitskräfte zwingt, sich gegenüber ihrer Arbeit in einer doppelten Art und Weise zu verhalten, sich also einer "doppelten Zweckstruktur" zu unterwerfen (Beck/Brater 1978). Das heißt, sie müssen zum einen bereit und v.a. fähig sein, konkrete, nützliche Arbeit zu leisten, zum anderen müssen sie ihr Arbeitsvermögen - also ihre Fähigkeiten und Kompetenzen - so einrichten, dass sie sich erfolgreich als Ware Arbeitskraft verkaufen und ihre Reproduktionsbedürfnisse und -notwendigkeiten befriedigen können (Beck/Brater 1978: 92).

Der damit angesprochene Doppelcharakter der konkreten Formen des Arbeitsvermögens zeigt, warum auch die technologisch-sachlichen Aspekte der Arbeit nicht von ihren gesellschaftlichen Dimensionen zu trennen sind, und qualifizierte Arbeit daher ein Feld sozialer Kämpfe darstellt, deren Zusammensetzung nicht vom jeweiligen Entwicklungsstand der Produktivkräfte abgeleitet werden kann. Vielmehr werden dadurch einerseits die Beschäftigten zu aktiven, selbstbewussten und selbständigen Subjekten konstituiert, andererseits bewegen sich in ihnen die Widersprüche zwischen Lohnarbeit und Kapital. Das heißt, die sozialen Kämpfe um die Zusammensetzung des Arbeitsvermögens haben letztlich das (imaginäre) Verhältnis der Individuen zu den Produktionsverhältnissen und ihre Position in der Arbeitsteilung zum Gegenstand (Althusser 1976). Ein wesentlicher Aspekt dieser imaginären Verhältnisse besteht darin, dass die das Arbeitsvermögen der Arbeitskräfte ausmachenden Fähigkeiten und Kompetenzen und ihr Erwerb in der bürgerlichen Gesellschaft als Qualifizierung/Ausbildung und Qualifikationen in einer Reihe sogenannter "ideologischer Staatsapparate", in denen sich die Auseinandersetzungen um die Konstitution des Gebrauchswertes der Ware Arbeitskraft verdichten, ausgearbeitet werden, um in unterschiedlichen Formen den Individuen vermittelt bzw. in Lernprozessen von diesen aktiv angeeignet werden. In diesem Sinne werden Qualifikationen zu ideologischen Anrufungen der Individuen (Beruf!) durch das Kapital und den Staat, die jedoch nicht einfach als Ausdruck der Subsumtion der ArbeiterInnenklasse unter das Kapital verstanden werden können, sondern im Sinne einer konflikttheoretischen Interpretation der Althusserschen Ideologietheorie darauf verweisen, dass die Zusammensetzung des Gebrauchswertes der Ware Arbeitskraft ein Feld des Klassenkampfes ist. Wesentlich ist daher, dass Qualifizierungsprozesse und daher Qualifikationen sicherstellen sollen, dass die Individuen zu fähigen und kompetenten (Arbeits)subjekten werden, die ein »Zentrum von Initiative« darstellen und in den gesellschaftlichen Verhältnissen "ganz von alleine" (Althusser 1976: 168) und freiwillig funktionieren. Das heißt, in der Qualifizierung des Arbeitsvermögens erlangen die Individuen im ganz konkreten Sinn ein (imaginäres) Bewusstsein über die Verhältnisse, in denen sie sich befinden, und das sie in Arbeit realisieren. Gleichzeitig werden in den umkämpften Konstruktionsprozessen des Gebrauchswertes der Ware Arbeitskraft die kapitalistischen Produktionsverhältnisse als Herrschaftsbeziehung reproduziert.


Innovationsfähigkeit und finanzgetriebenes Akkumulationsregime

Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Konstitution des Arbeitsvermögens resultieren auch aus der zentralen Bedeutung von Flexiblität und Innovationsfähigkeit/Innovationen für das postfordistische Akkumulationsregime (Jessop 2002), also der (permanenten) Revolutionierung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse zur Sicherung von Extraprofiten. Die Bedeutung von Innovationen im Übergang zum Postfordismus und der fundamentalen Restrukturierung der Produktionsweise ist, wie Tony Negri (Negri 1992) argumentiert hat, eine Antwort des Kapitals auf die Angriffe der ArbeiterInnenklasse auf das fordistische Entwicklungsmodell. Veränderung wird zur spezifischen Form der Reproduktion der Herrschaft des Kapitals in und über die Produktionsverhältnisse, die auch die Veränderung und Anpassung des Arbeitsvermögens erfasst, die zur Voraussetzung der Restrukturierung der Produktionsweise im Postfordismus gemacht wird. Die (permanente) Suche nach Innovationen (in den Produktionsprozessen oder bei Waren und Dienstleistungen) korrespondiert m.E. mit der sogenannten Finanzialisierung der Akkumulation im Übergang zum Postfordismus. Die Deregulierung und Flexibilisierung des internationalen Kapitalverkehrs, die Ausdehnung der Anlage- und Investitionsmöglichkeiten und die damit verbundenen Globalisierungsprozesse führen zu einer Dominanz des sogenannten Shareholder-Values. Dieser zwingt die Unternehmen zu möglichst hohen Gewinnspannen, die v.a. dann zu lukrieren sind, wenn man aufgrund der Entwicklung innovativer Produkte und Dienstleistungen Extraprofite erzielen kann. Außerdem müssen Unternehmen spätestens seit den 1980er Jahren als Reaktion auf die Sättigung der Märkte für standardisierte Massengüter Absatzprobleme durch die Diversifizierung des Angebotes und verkürzte Produktionslebenszyklen beantworten, was ebenfalls den Innovationsdruck erhöht (Sauer et al. 2001: 184). Diese Entwicklungen kommen bspw. in der sogenannten Dritten Industriellen Revolution zum Ausdruck, die durch die Ausbreitung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien zu einer umfassenden Umgestaltung der Produktionsprozesse aber auch zur Entwicklung neuer Konsumgüter geführt hat.

Die Restrukturierung der Produktionsverhältnisse zwingt die Unternehmen zur permanenten Reorganisation der internen Prozessstrukturen, in der nicht nur einzelne Bereiche und Abteilungen Gegenstand beschleunigter Rationalisierung werden, sondern die gesamte vertikale Produktions- und Wertschöpfungskette, die das Ziel haben, die reorganisierte Arbeitsteilung und Kooperation als Produktivkraft nutzen zu können (Sauer et al. 2001: 185). In diesem Kontext ist insbesondere auf die Dezentralisierung der Unternehmensstrukturen zu verweisen, durch die die Autonomie einzelner Unternehmensteile, die zu Costcenters werden, erhöht wird. Gleichzeitig werden aber auch die Durchgriffsmöglichkeiten der Unternehmensführungen gestärkt (Jürgens et al. 2003), die auf Basis der neuen Informationstechnologien auf "härtere" (quantitative) Steuerungs- und Kontrollmechanismen der Produktionsprozesse (Orientierung an Benchmarks, Performance und Output etc.) zurückgreifen können und die konkrete Umsetzung der unternehmerischen Ziele den ProduktionsagentInnen in den dezentralen Unternehmenseinheiten übertragen.

Diese Entwicklungen verbinden sich mit einer Reorganisation der Produktions- und Arbeitsprozesse, die insbesondere Tätigkeiten erfasst, die nicht unmittelbar auf die Erstellung der jeweiligen Waren und Dienstleistungen ausgerichtet sind. Die "indirekten" Aktivitäten werden in gewisser Weise aufgewertet und ausgeweitet. Forschung und Entwicklung und auch Qualitätssicherung sind in den Produktionsprozessen nicht mehr sequenziell angeordnet, sondern prozessbegleitende, parallele Querschnittsmaterie (Baethge/Baethge-Kinsky 1998) und werden sukzessive in die Produktionsarbeit integriert. Wesentliches Ziel dieser Prozesse ist die Verlagerung der mit den Produktions- und Akkumulationsprozessen verbundenen Risiken und Unsicherheiten von den fokalen Unternehmen auf vor- und nachgelagerte Produktionsstufen und -segmente (Sauer et al. 2001) und insbesondere auf die Beschäftigten. Auf diese Weise versuchen die Unternehmen sicherzustellen, dass die Arbeitskräfte bereit sind, ihre Fähigkeiten und Kompetenzen zur Rationalisierung und Optimierung der operativen Abläufe, also der kontinuierlicher Verbesserung und Innovation, einzusetzen.

Mit den skizzierten Veränderungen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse rücken die konstitutive Instabilität und Dynamik der Reproduktion der kapitalistischen Produktionsweise, die durch permanente Umwälzungen der Produktionsprozesse und -bedingungen geprägt ist, in den Vordergrund. Die kapitalistische Produktionsweise führt, wie schon Marx herausarbeitete, zu einer vollständigen Aufhebung aller "Ruhe, Festigkeit, Sicherheit der Lebenslage" der Lohnabhängigen, die mit einem permanenten Wechsel der Arbeiten konfrontiert sind, die die "absolute Disponibilität der Menschen für wechselnde Arbeitserfordernisse" (Marx 1972) fordert. Im Kapitalismus ist Veränderung daher eine Methode der Herrschaft(ssicherung) (Negri 1992), die durch die Umwälzung der Produktionsverhältnisse die Fähigkeiten der Ware Arbeitskraft, sich mit den Produktionsmitteln zu verbinden, immer wieder prekär werden lässt und so die permanente Anpassung und Veränderung des Arbeitsvermögens zur konstitutiven Anforderung an die Lohnabhängigen macht. Die Reproduktion des Kapitalismus ist daher als Veränderung, als ununterbrochener Innovationsprozess zu denken, der nicht den besonderen Qualitäten und Fähigkeiten einzelner unternehmerischer Individuen - den schumpeterschen Entrepreneuren - entspringt, sondern in den Produktionsverhältnissen erst entsteht.


Vom wohlfahrtsstaatlichen zum subjektivierten Krisenmanagment

Da dem modernen wirtschaftswissenschaftlichen Verständnis von Innovation die organisatorischen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt staatlichen Voraussetzungen und Rahmenbedingung von kapitalistischen Innovationen durchaus bewusst sind (Kreisky et al. 2006), ergibt sich hier ein wesentlicher Begründungszusammenhang für den workfaristischen Umbau des Wohlfahrtsstaates zur Stabilisierung des postfordistischen Akkumulationsregimes. Die Notwendigkeit der Veränderung und Anpassung des Arbeitsvermögens der Individuen, für die Workfare steht, verweist auf eine grundlegende Modifikation der Funktion des Wohlfahrtsstaates, die nicht mehr darauf abzielt, die Menschen vor den Auswirkungen der Bewegungen des Kapitals zu schützen, um sie als Arbeitskräfte zu erhalten, sondern die Bewältigung der Instabilität und Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Produktionsweise den Individuen überträgt. Die Funktion des Wohlfahrtsstaates bestand nach Claus Offe (1993; 1984) in der Verwandlung von Menschen in Arbeitskräfte, die bereit waren, sich den fordistischen Produktionsverhältnissen (Taylorismus, Massenproduktion etc.) zu unterwerfen und der neuen Lebensweise (Massenkonsum) anzupassen. Neben dem Ausbau der sozialen Sicherungssysteme (Arbeitslosenversicherung, Pensionen), der öffentlichen Gesundheitssysteme, des sozialen Wohnungsbaus etc, die (v.a.) die (physische) Reproduktion der Ware Arbeitskraft sicherten, stellte auch der Ausbau der Bildungssysteme einen wesentlichen Pfeiler des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements des Fordismus dar, durch den die Funktion des Wohlfahrtsstaates durch die staatliche Organisation der individuellen Sozialisation durch Bildungsprozesse realisiert wurde.

Gleichzeitig war mit dem Wohlfahrtsstaat ein Mechanismus gefunden, die grundlegende Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Produktionsweise einzuhegen. Diese führt nämlich dazu, dass von den Bewegungen des Kapitals beständig und kumulativ gesellschaftliche Phänomene und Elemente geschaffen werden, die in sozialen Kämpfen genauso sichtbar werden können, wie in anomischen Erscheinungen gesellschaftlichen Zerfalls oder in der Entstehung neuer gesellschaftlicher Bedürfnisse (etwa nach mehr freier Zeit), die wesentliche normative Voraussetzungen des Kapitalismus untergraben können. Diese können aber letztlich nicht durch den Akkumulationsprozess behandelt werden, auch wenn sie gleichzeitig auf ihn zurückwirken. Mit dem Wohlfahrtsstaat und dessen interventionistischen Aktivitäten (öffentliche Investitionsprogramme zur Sicherung der Nachfrage etc.) wurden spezifische Formen des Krisenmanagements etabliert, die gegen diese Dynamiken die erweiterte Reproduktion des Kapitals sicherten und darüber hinaus das Kapital vor den von seiner Bewegung hervorgebrachten Entwicklungen schützten (Offe 1973). Spätestens in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zeigte sich aber, dass es im gegebenen institutionellen Arrangement schwieriger wurde, zu verhindern, dass aus den systemfremden Formen, welche notwendig aus den Effekten der kapitalistischen Verwertungsprozesse entstehen, tatsächlich systemfremde Inhalte werden, die erstere substanziell in Frage stellen (Offe 1973), wie dies in den sozialen Kämpfen seit 1968 manifest wurde.

Die skizzierten Funktionen des Wohlfahrtsstaates betreffen nicht zuletzt auch Fragen der Reproduktion der Lohnabhängigen, die aufgrund der Fiktivität des Warencharakters von Arbeitskraft außerhalb der kapitalistischen Ökonomie stattfindet (Offe 1984), aufgrund des stummen Zwangs der Verhältnisse in der kapitalistische Produktionsweise jedoch an diese gebunden bleibt, da das Proletariat über keine alternativen Formen der Subsistenz verfügt. Gleichzeitig bedroht und verunmöglicht die permanente Ausdehnung der Verwertungslogik die für die fortgesetzte Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise konstitutiven außerökonomischen Reproduktionsprozesse. Dabei geht es nicht nur um das physische Überleben der Arbeitskräfte und ihrer Familien bei Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit, sondern eben auch um die Reproduktion der Fähigkeiten und Kompetenzen des Gebrauchswertes der Ware Arbeitskraft, die durch die Dynamik der Akkumulationsprozesse, zu denen technologischer Wandel genauso gehört wie Arbeitslosigkeit, permanent bedroht sind. Ein wesentlicher Mechanismus zur Bearbeitung dieser Krisenmomente war die staatliche/öffentliche Organisation temporärer Ausnahmen vom Zwang, an Verwertungsprozessen teilzunehmen - also die partielle Dekommodifizierung der Ware Arbeitskraft (Offe 1984) - und sich bspw. bilden zu können. Für die Analyse der sozialen Kämpfe um den Wohlfahrtsstaat bzw. die Bildungssysteme ist diese Überlegung wichtig, da sie darauf hinweist, dass sich die kapitalistische Produktionsweise auf Dauer nur reproduzieren kann, wenn sie gesellschaftliche Instanzen und Logiken etabliert, die anderen Kriterien unterworfen sind als die Verwertungsprozesse.

Insofern aber die mit diesen ermöglichten Lebensweisen zu einer massenhaften (unter den gegebenen Bedingungen aber temporären) Erfahrung werden - etwa in der sogenannten Bildungsexpansion - wird aus den wohlfahrtsstaatlichen Mechanismen der Krisenbewältigung selbst ein Feld sozialer Kämpfe, die die weitere Reproduktion der Produktionsweise zur Disposition stellen, wie dies nach 1968 der Fall war.

Die Kämpfe in und um die Bildungssysteme, in denen sich die Widersprüchlichkeit des Wohlfahrtsstaates zeigt, spitzten sich spätestens mit der Bildungsexpansion seit den 1960er Jahren und den damit verbundenen Demokratisierungstendenzen des Zugangs zu höher Bildung zu. Zwar war auch im Fordismus höhere Bildung - in bürgerlichen Gesellschaften traditionell konzipiert als "zweck"frei - lange Zeit nur auf Basis einer institutionellen und inhaltlichen Trennung von der beruflich orientierten Ausbildung für die proletarisierten Schichten zu haben, wie sie in besonders rigider Form in den gegliederten Bildungssystemen der deutschsprachigen Länder zum Ausdruck kommt. Freie Bildung konnte unter kapitalistischen Bedingungen bis weit in die fordistische Phase daher nur als Reproduktion der herrschenden Klassen und der staatlichen Eliten konstituiert werden, sodass die "reflexiv(en), offen(en) und kommunikativ(en), lernend(en), problemorientiert(en), kritisch(en) und fallibilistisch(en)" Fähigkeiten (Demirovic 2004), die durch einen wissenschaftlich orientierten Bildungsprozess vermittelt werden könnten, auf wenige marginalisierte, kritische Intellektuelle beschränkt blieb. Durch die Bildungsexpansion wurde jedoch einem wachsenden Teil der Bevölkerung der Zugang zu Wissen ermöglicht, das die Fähigkeit zur begrifflichen Erfassung der alltäglichen Erfahrungen und reflexiven Auseinandersetzung mit der Inkohärenz des Alltagsverstandes verbreiterte. Dadurch wurde die in der bürgerlichen Gesellschaft traditionell auf schmale Schichten beschränkte Fähigkeit zur Analyse und Gestaltung komplexer gesellschaftlicher Prozesse und Abläufe auf größere soziale Gruppen ausgedehnt. In den sozialen Kämpfen seit 1968 geraten daher insbesondere die herrschenden, also kapitalistischen, Organisationsformen gesellschaftlicher Produktion und Arbeitsteilungen auf der einen Seite und die Reproduktion der Ware Arbeitskraft in den Bildungssystemen auf der anderen Seite in das Visier der Auseinandersetzungen. Der Angriff auf entfremdende Arbeitsformen, die Intensivierung der Arbeit und Entwertung der Fähigkeiten und Kompetenzen der Arbeitskräfte, die auf je unterschiedliche Weise die tayloristisch-fordistischen Fabriksregime geprägt hatten, verband die Kämpfe der ArbeiterInnen mit den Kämpfen der Protestbewegung um eine andere Lebensweise im Allgemeinen und gegen autoritäre Bildungsinstitutionen und die Verschulung der Gesellschaft im Besonderen.

Die in diesen Dynamiken eröffneten Möglichkeiten einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft und Demokratisierung aller Lebensbereiche scheiterten auf der einen Seite aber nicht zuletzt an den inneren Widersprüchen der darauf folgenden sozialdemokratischen Reformprojekte (bürokratische Kontrolle von oben) und an den Verfallserscheinungen der sozialen Bewegungen, die oft erstaunlich rasch von der selbsternannten Avantgarde des Proletariats zum neuen KleinbürgerInnentum wurden (Poulantzas 1975), das sich in den Überbauten der Gesellschaft schließlich zur Personifikation des nachhaltigen und ökologischen Kapitalismus machte. Auf der anderen Seite geriet aber auch von Seiten der sich formierenden neoliberalen und neokonservativen Reaktion die überkommene Form des wohlfahrtsstaatlichen Krisenmanagements unter Druck. Neoliberale Regierungsprojekte zielen einerseits auf einen Rückbau der dekommodifizierenden Elemente des Wohlfahrtsstaates (Abbau und Kapitalisierung der sozialen Sicherungssysteme) und auf die Privatisierung und Liberalisierung des öffentlichen Sektors. In diesem Prozess geht es darum, die für die Reproduktion der kapitalistischen Produktionsweise notwendigen Aktivitäten einerseits durch eine umfassende Vermarktlichung wieder zu entpolitisieren und der Tauschwertorientierung zu unterwerfen. Andererseits korrespondiert dieser Prozess mit einer Rekonfiguration der geschlechtlichen Arbeitsteilungen, da viele der Reproduktionsarbeiten wieder in den Haushalten durchgeführt werden müssen, in denen sie von unbezahlten Ehefrauen, Müttern oder Großmüttern, oder prekär beschäftigten, niedrig entlohnten und oftmals migrantischen Haushaltshilfen übernommen werden. Darüberhinaus gelang es dem Neoliberalismus, die von den sozialen Bewegungen formulierte Kritik an der rigiden Arbeitsorganisation des Fordismus und der staatlichen Kontrolle der Bildungsprozesse mit Vorstellungen von Eigenverantwortung und Individualismus zu verbinden, sodass Emanzipation als Befreiung des Homo Oeconomicus und individuellen Nutzenmaximierers uminterpretiert werden konnte. Der neoliberale Angriff auf den Wohlfahrtsstaat und die Bildungssysteme zielt daher darauf ab, die Reproduktion des Arbeitsvermögens als Humankapital wieder an die Imperative der Kapitalakkumulation zu binden. Ja mehr noch, auf diese Weise wird durch Workfare und Aktivierung eine neue Form des Krisenmanagements durchgesetzt, die die Bewältigung der von den Bewegungen des Kapitals hervorgerufenen Effekte zur Aufgabe der Individuen macht. Die Lohnabhängigen müssen eigenverantwortlich fähig und bereit sein, permanent ihr Arbeitsvermögen in Lernprozessen zu verändern und ihre subjektiven Fähigkeiten zu mobilisieren, um ein "Maximum an Tauschoptionen für Kapital und Arbeit" zu ermöglichen und nicht prognostizierbare Erfordernisse, die aus der konstitutiven Instabilität des postfordistischen Akkumulationsregimes resultieren, verarbeitbar zu machen und den neuen Anforderungen anzupassen (Offe 1975).


Arbeit als Lernprozess - Veränderung des Kapitalismus durch Veränderung der Ware Arbeitskraft

Der postfordistische Workfare-Staat "versorgt" daher das Kapital mit Arbeitskräften, die fähig und bereit sind, als Unternehmer ihrer eigenen Arbeitskraft die Dynamik der Akkumulationsprozesse zu sichern, da die Lern- und Anpassungsfähigkeit der Arbeitskräfte für das postfordistische Produktionsmodell von zentraler Bedeutung ist. Diese ergibt sich gewissermaßen aus einer "Selbstkritik" des Managements an den überkommenen tayloristisch-fordistischen Überwachungsstrategien, der Monopolisierung der Wissens- und Lernaktivitäten beim Management und bei Innovationsspezialisten und der damit verbundenen Dequalifikation der Arbeitskräfte (Jin/Stough 1998; Baethge/Baethge-Kinsky 1998). Zu diesen "Einsichten" musste das Kapital aber nicht zuletzt durch die Kämpfe der Lohnabhängigen gegen die überkommenen tayloristischen Produktionsmethoden, wie sie insbesondere seit 1968 sichtbar geworden waren, gezwungen werden. Die Betonung der Lernfähigkeit der Beschäftigten und die Organisation der Arbeit als Lernprozess zielen daher nicht nur auf die Bereitschaft der Arbeitskräfte, für andere zu arbeiten und sich den damit verbundenen Kontrollinstrumenten der wissenschaftlichen Betriebsführung zu unterwerfen. Vielmehr versprechen lernorientierte Managementstrategien die Neugier und Kreativität der Beschäftigten zu entwickeln, um ihre Bereitschaft und Fähigkeit, sich aktiv an den Innovationsprozessen zu beteiligen und Rationalisierungsprozesse in Eigenregie voranzutreiben, sicherzustellen (Jin/Stough 1998).

Dem passiven und quasi automatisierten, auf zerstückelte Wissenselemente ausgerichteten Verständnis der Vermittlung und Aneignung von Wissen und Fähigkeiten des Taylorismus wird nun ein aktives, systematisches und integrales Lernkonzept gegenüber gestellt. Die Schaffung, Diffusion und Transformation von Wissen soll im wettbewerbsfähigen Unternehmen des Postfordismus systematisiert und im gesamten Organisationsprozess verkörpert und materialisiert werden. Dies zielt auf die explizite Überwindung der tayloristischen Arbeitsteilungen und will sicherstellen, dass die institutionellen Arrangements vorhanden sind, um Ausführung und Konzeption miteinander zu verbinden (kritisch Contu et al. 2003; Örtenblad 2002).

"Active learning involves systemic institutional arrangements which try to integrate conception with execution at all levels of a firm and synthesize existing knowledge and skills across departmental boundaries and along the value chain of a product and therefore create new knowledge." (Jin/Stough 1998)

Aktive Lernprozesse werden bspw. folgendermaßen konzipiert: Sie sollen zielgerichtet sein und beruhen auf der intrinsischen Motivation, dem Selbstbewusstsein und der Würde der Arbeitskräfte bzw. ihrer Neugier und Freude am Lernen und an Kreativität beruhen, welche als Voraussetzung verstanden werden, um aktiv in Veränderungsprozesse eingreifen zu können. Das heißt, Lernen wird als Anforderung an die Beschäftigten herangetragen und mit dem Versprechen verknüpft, darüber eine Humanisierung der Arbeitswelt zu erreichen. Die Unterscheidung von Arbeit und Lernen im Innovationsprozess verschwimmt mehr und mehr (Dehnbostel 2006; Kühnlein/Paul-Kohlhoff 2001; Jin/Stough 1998).

Diese Veränderungen dienen den Unternehmen einerseits zur Kostenreduktion, da die Anforderung an die Arbeitskräfte, ihre Kompetenzen weiter zu entwickeln, mehr und mehr Bestandteil der Arbeitsprozesse selbst wird. Andererseits bedingen sie auch eine Reorganisation der Personalmanagementstrategien der Unternehmen, "wie zum Beispiel die Verbindung von Qualifizierung und Personalentwicklung, die Betonung von informellen Lernprozessen und die stärkere Verzahnung von Arbeiten und Lernen. Die Gestaltung des gesamten Arbeitsprozesses mit seinen personalen, organisatorischen und technologischen Bedingungen wird ins Verhältnis zur qualifikatorischen Entwicklung der Mitarbeiter/innen gestellt." (Kühnlein/Paul-Kohlhoff 2001: 267). Nach Rolf Arnold und Philipp Gonon (2006) wird damit der Betrieb immer mehr zum "eigentlichen Gestaltungsprinzip der beruflichen Entwicklung". Insofern die Grenzen zwischen Arbeits- und Lernprozessen in den betrieblichen Restrukturierungsprozessen des Arbeitskräfteeinsatzes zum Verschwimmen gebracht werden, gelingt es den postfordistischen Unternehmen, die betrieblichen Lernprozesse mit Innovations- und Veränderungsprozessen zu koppeln. Die Fähigkeit zu lernen wird zum "universellen Veränderungsmodell" (Geißler/Orthey 1998: 86) und damit zum Rationalisierungsmodus auf der Suche nach einem dauerhaften Entwicklungspfad im Übergang zum Postfordismus. Lernen macht Rationalisierung zur Aufgabe der Beschäftigten, in der diese nicht nur Arbeits- und Produktionsprozesse, sondern zugleich sich selbst verändern müssen, um die Profitabilität des Unternehmens zu sichern.

Aus Perspektive der Arbeitskräfte geht es dabei um die stets abrufbare Fähigkeit, aus der Rolle des Arbeitenden, der sich mit den materiellen und immateriellen Arbeitsaufgaben und Determinanten des Produktionsprozesses auseinandersetzen muss, in die des Lernenden zu schlüpfen (Geißler 1998: 45). Die Fähigkeit zu lernen besteht demnach darin, die Qualität der eigenen Arbeit aktiv zu erhalten und sie zum Gegenstand der Selbstbeobachtung und Reflexion zu machen. Die Subjektivierung der Arbeit und die Rehabilitierung der Subjekte, die als Herrschaft aus der Distanz, Zwang zur Freiheit oder indirekte Steuerung gedacht werden (Moldaschl 2002), konkretisieren sich daher m.E. erst in der von den Individuen geforderten Fähigkeit zu lernen und die eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen zu verändern.

Dies kann das Subjekt aber nicht für sich allein leisten, sondern nur in Kooperation und Auseinandersetzung mit anderen. Lernfähigkeit hat daher in diesem Verständnis die Teilnahme an Kooperations-, Lern- und Selbsterziehungssystemen bzw. Lerngemeinschaften zum Inhalt. Als Mitglieder in lernenden Organisationen bzw. Lerngemeinschaften müssen sie die Fähigkeit haben, sich der gemeinsam praktizierten, sozialen Regeln des jeweiligen Bereichs bewusst zu werden und sie gegebenenfalls in Konfrontation mit bestimmten Ansprüchen und Forderungen, über die ein Konsens hergestellt werden soll, zu verändern. Dieser Prozess ergibt aber keine freie Assoziation der ProduzentInnen, sondern will das Problemlösungspotenzial der Kooperationsgemeinschaft verbessern, um die Profitabilität des Unternehmens zu sichern. Aus der wissenschaftlichen Betriebsführung wird damit ein pädagogisches Projekt, der Arbeitsprozess wird zugleich als (Selbst-)erziehungs- und Bildungsprozess der Arbeitskräfte konzipiert.

Diese Beschreibung der Bedeutung der Bedeutung der Fähigkeit der Arbeitskräfte ihr Arbeitsvermögens durch Lernen anzupassen und zu verändern und die Behauptung, dass sich Grenzen zwischen Arbeiten und Lernen verwischen würden, darf aber nun nicht dazu führen eine Reihe von Probleme auszublenden. Zum einen ist nochmal zu betonen, dass die Bildungs- und Lernprozesse des Arbeitsvermögens der Arbeitskräfte bzw. ihre durch Bildungszertifikate vermittelte Hierarchisierung zur Grundlage einer polarisierten Klassenstruktur des Postfordismus wird. D.h. die beschriebenen Veränderungen betreffen im Besonderen bestimmte Segmente der Arbeitskräfte, wobei aber festzuhalten ist, dass sie nicht nur auf sogenannten WissensarbeiterInnen im engeren Sinne beschränkt sind, sondern auch klassische FacharbeiterInnen betreffen können, da ja gerade dort, die Fähigkeit zum Umgang mit Innovationsprozessen zentral ist. Wie bereits argumentiert, macht der workfaristische Umbau des Wohlfahrtsstaates darüber hinaus deutlich, dass die Aktivierung und Anpassung der Arbeitskräfte einen wesentlichen Aspekt der Reproduktion aller Schichten der ArbeiterInnenklasse darstellt. Die zentrale Bedeutung, die nicht zuletzt der Qualifizierung und Weiterbildung der Arbeitslosen zugeschrieben wird, zeigt, dass sich auch der zunehmend repressive Charakter der Arbeitsmarktpolitik als pädagogisches Verhältnis konstituiert. Die bei den Arbeitslosen durchzusetzende Bereitschaft an Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen teilzunehmen, wird dabei mit dem Versprechen verbunden, dass darüber die Integration in den Arbeitsmarkt gelingen könne, während die Einschränkung der Transferleistungen andere Formen der Reproduktion der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen zunehmend verunmöglicht.

Zum anderen liegen die skizzierten Analysen der Veränderung von Arbeit und der wachsenden Bedeutung der Lernfähigkeit und des Wissens der Arbeitskräfte oft sehr emphatischen Einschätzungen über den Charakter postfordistischer Arbeitsverhältnisse und den Möglichkeiten der Emanzipation zu Grunde (kritisch: Bittlingmayer 2005). Angelehnt an die gesellschaftlichen Utopien vieler Theorien zur Dienstleistungsgesellschaft wird behauptet, dass durch diese Entwicklungen die immer wieder kritisierte Trennung zwischen allgemeiner und zweckfreier, in der gesellschaftlichen Realität den bürgerlichen Klassen vorbehaltener Bildung und einer an ökonomischen Zwecken und der Arbeitskräftenachfrage der Unternehmen orientierten Ausbildung, die der ArbeiterInnenklasse vorbehalten bleibt, überwunden wird. In der "learning economy" des postfordistischen Kapitalismus soll daher, so die ideologische Untermauerung dieser Entwicklungstendenzen, der Interessensgegensatz zwischen den Lohnabhängigen, die eine Reduktion ihres Arbeitsvermögens auf Arbeitskraft durch die umfassende Entwicklung und Realisierung ihrer Potenziale verhindern wollen, und den Unternehmen, die möglichst produktive Arbeitskräfte einsetzen wollen, aufgehoben werden, indem ersteres zur Voraussetzung des letzteren gemacht wird (Bittlingmayer 2005; Bittlingmayer/Bauer 2006).

Die Fähigkeit der Menschen, zu lernen und damit ihre Potenziale zu entwickeln und zu realisieren soll auf diese Weise mit den Erfordernissen der Kapitalverwertung versöhnbar werden. Ja mehr noch, die positive Bezugnahme auf die Lernfähigkeit der Lohnabhängigen durch das Kapital wird quasi zur Voraussetzung für Emanzipations- und Selbstverwirklichungsansprüche der Individuen, die daher nicht erkämpft werden müssen, sondern quasi ein Nebeneffekt der gesellschaftlichen Entwicklung sind. Dies unterschätzt, wie bereits argumentiert, die Polarisierungstendenzen innerhalb der ArbeiterInnenklasse, die nicht einfach auf einen niedrigeren Entwicklungsstand des Arbeitsvermögens bei einigen Segmenten der Lohnabhängigen verweisen, der durch Höherqualifizierung zu lösen wäre, sondern eine wesentliches Element der Durchsetzung der Hegemonie des Kapitals, die sich im Postfordismus m.E. zunehmend als pädagogisches Verhältnis in und über die Produktionsverhältnisse konstituiert, darstellen.


Schlussfolgerungen

Das postfordistische Akkumulationsregime zielt auf eine umfassende Förderung der Fähigkeiten der ökonomischen AkteurInnen zu Innovation und Veränderung ab, um auf diese Weise einen dauerhaften Wachstumspfad etablieren zu können. Wie gezeigt, ist das weniger als Befreiung des UnternehmerInnentums und dessen Fähigkeit zur kreativen Zerstörung zu interpretieren, sondern als fundamentale Transformation der Arbeits- und Produktionsverhältnisse, die sich nicht zuletzt in der und durch die Anpassung des Arbeitsvermögens der Arbeitskräfte in den gesellschaftlichen Lernprozessen vollzieht. Die wachsende Bedeutung der Fähigkeit der Arbeitskräfte, zu lernen und sich neuen Bedingungen anzupassen oder gar selbst Neuerungen hervorzubringen, wird in kritischen Diskussionen oft mit einer bestimmten Interpretation des Umbaus der Bildungs- und Erziehungssysteme verbunden. Diese betonen, dass (Aus)Bildung zunehmend ökonomischen Kriterien (Kosten) unterworfen und nach am Markt orientierten Effizienzkriterien organisiert wird (Bewirtschaftung von Ausbildungsplätzen). Sie heben daher die Privatisierung und Liberalisierung von Bildungsinstitutionen, in denen Staaten das Monopol hatten und die nun für eine Vielzahl von Anbietern geöffnet werden, hervor, wodurch ein heterogener Markt (insbesondere in Weiterbildungs- und arbeitsmarktpolitischen Bereichen) entstehe, der massiven Prekarisierungstendenzen ausgesetzt ist. Diese Entwicklungen können m.E. aber nicht so interpretiert werden, dass sich der Staat aus den Bildungsprozessen zurückzieht. Vielmehr geht es um eine Veränderung der Steuerungsmechanismen in diesen Bereichen und der damit verbundenen Zugriffsmöglichkeiten auf die Subjekte durch pädagogische Prozesse. Die neoliberale Kommodifizierung der Ausbildungs- und Schulsysteme führt demnach insgesamt nicht einfach zu einem Abbau derselben. Vielmehr geht darum, die in den Bedürfnissen nach höherer Bildung zum Ausdruck kommenden Ansprüche auf Selbstbestimmung und Subjektivität zu entpolitisieren und zu individualisieren (Betonung der Eigenverantwortung, Durchsetzung eines Selbstverständnisses als ArbeitskraftunternehmerIn/Humankapital, Bildung als Investition etc.) und die aus Bildung resultierenden Möglichkeiten einer demokratischen Gestaltung der Gesellschaft durch die Anforderung die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch Anpassung des eigenen Arbeitsvermögens zu bewältigen, zu ersetzen. Diese Entwicklungen bedingen aber auch eine grundlegende Veränderung der Herrschaft des Kapitals in und über die Produktionsverhältnisse, die von den Lohnabhängigen selbst in Veränderungsprozessen aufs Neue hergestellt werden muss.

Die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsweise, die Bewältigung der von ihr permanent erzeugten und ihre Reproduktion bedrohenden gesellschaftlichen Effekte werden somit zur Aufgabe der Individuen. Der postfordistische Kapitalismus beruht daher nicht einfach auf der Fähigkeit der Menschen, im Arbeitsprozess ihre Kräfte und Fähigkeiten in Bewegung zu setzen und die ihnen äußere Natur (materielle Objekte und soziale Beziehungen) durch Arbeit zu transformieren. Vielmehr wird ihre Fähigkeit, gleichzeitig in den Arbeitsprozessen ihre Möglichkeiten und Kräfte zu entwickeln (Marx 1972), um sich selbst zu verändern, zur wesentlichen Produktivkraft für die auf Permanenz gestellten Innovationsprozesse. Die Selbstveränderung der subjektiven Fähigkeiten und Kompetenzen durch Lernen wird zur Voraussetzung der Reproduktion der kapitalistischen Produktionsweise.

"Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eigenen Botmäßigkeit." (Marx 1972: 192)

Die emphatische Bezugnahme auf die Subjektivität und das souveräne Selbst der Beschäftigten in den postfordistischen Produktionsverhältnissen gewinnt aber ihren Maßstab nicht aus einer kritischen Reflexion und kollektiv organisierten Praxis der individuellen Emanzipation. Vielmehr werden der individuelle Erfolg auf dem Arbeitsmarkt, die Profitabilität des jeweiligen Betriebes im globalisierten Wettbewerb und die Sicherung des nationalen Standortes zur Richtschnur für den Erfolg der individuellen Humankapitale. Krisenerscheinungen werden als Scheitern der einzelnen Arbeitskräfte am Markt interpretiert und der individuellen Bewältigung durch verstärkte Anpassungsanstrengungen überantwortet. Der über den Lernimperativ konstituierte Anpassungsdruck bringt somit auf sehr spezifische Weise den Machtverlustes der Lohnabhängigen im postfordistischen Akkumulationsregime zum Ausdruck, da Macht auch als Möglichkeit, nicht lernen zu müssen, gedeutet werden kann, wie Karl W. Deutsch festgestellt hat.

Lebenslanges Lernen und permanente Umschulung gerinnen zum Selbstzweck, also zum "neuen Geist des Kapitalismus", der zwar die individuelle Reproduktion nicht garantieren kann, aber deren unhintergehbare Voraussetzung darstellt. Durch die Verallgemeinerung selbstgesteuerter und selbstorganisierter lebenslanger Lern- und Weiterbildungsaktivitäten, die die Hegemonie des Höherqualifizierungspostulates in den alltägliche Praxen der Individuen materialisieren, entstehen neue Polarisierungslinien der Entwertung der Arbeitskraft und ihrer Fähigkeiten und Kompetenzen. Die Strukturierung der Klassenverhältnisse (Vester 2009) wird zum Medium und Ergebnis der Aktivitäten der ArbeiterInnenklasse selbst, die stets davor Angst haben müssen, dass die Lernaktivitäten ihrer Konkurrenten ihr eigenes Arbeitsvermögen veralten lassen. Unter diesen Bedingungen ist Prekarisierung nicht nur das Ergebnis der Rekommodifizierung der Ware Arbeitskraft durch den Abbau der sozialen Sicherungssysteme und der arbeitsrechtlichen Absicherungen. Vielmehr machen sich die Lohnabhängigen durch die von ihnen geforderten Verhaltensweisen permanent selbst prekär, da in den Lernprozessen das einmal erworbene Bündel an Fähigkeiten und Kompetenzen immer wieder zur Disposition gestellt wird und nur durch permanentes Weiterlernen überhaupt so etwas wie eine Biographie entstehen kann.

Zugegebenermaßen habe ich in diesem Aufsatz den Versuch unternommen, die skizzierten Entwicklungen auf zugespitzte Weise vornehmlich als spezifische Form der Subsumtion der Arbeitskräfte unter das Kapital, die sich über ihre Fähigkeit und Bereitschaft ihr Arbeitsvermögen durch Lernen anzupassen und zu verändern reproduziert, zu analysieren. Die Frage inwiefern sie auch Grundlage sozialer Kämpfe und emanzipatorischer Kämpfe sein könnten, blieb außen vor.

Mir ging es aber darum, zu zeigen, wie durch die Fähigkeit und Bereitschaft zu lernen, die Unterordnung der ArbeiterInnenklasse zur Eigenleistung der Individuen wird, die gemäß der Logik pädagogischen Denkens als Entwicklung der Fähigkeiten und Kompetenzen erscheint. Damit wird auch der in vielen Diskussionen angenommene emanzipatorische Gehalt dieser Entwicklungen umgebogen. Es erscheint mir daher nicht adäquat anzunehmen, dass in den lernfähigen Subjektivitäten postfordistischer Arbeitskräfte bereits von den Imperativen der Verwertungsprozesse bloß unterdrückte Potenziale emanzipatorischer Arbeitsprozesse sichtbar werden, die quasi, würden sie vom Druck der Verwertungsprozesse und der Herrschaft des Kapitals befreit, sogleich eine andere Produktionsweise realisieren könnten. Solange es in den Bildungsprozessen der Gesellschaft nicht gelingt, die klassenspezifischen Polarisierungen, die sich über den erreichten Bildungsstand konstituieren, zu subvertieren, bleiben die im Subjektivierungsprozess der Arbeit und in der Lernfähigkeit der Arbeitskräfte angerufenen Fähigkeiten (Kreativität, Selbstorganisation, Selbstverantwortung, Problemlösung etc.) wesentliche Momente einer Dynamisierung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und der Reproduktion des KleinbürgerInnentums (Poulantzas 1975). Ob ein Bruch mit den über Lernen und Bildung vermittelten Subjektpositionen dieser Segmente der Lohnabhängigen möglich ist, hängt aber davon ab, inwieweit es gelingen kann, die Kämpfe aus den Bildungsinstitutionen und -prozessen in die Gesellschaft zu tragen und mit anderen Kampffeldern zu verbinden.

E-Mail: rolandatzmuller@hotmail.com


Bemerkung:

[1] Bei diesem Text handelt es sich um einen überarbeiteten Vorabdruck aus: Sandoval, Marisol; Sevignani, Sebastian; Rehbogen, Alexander; Allmer, Thomas; Hager, Matthias; Kreilinger, Verena (Hrsg.), Bildung MACHT Gesellschaft. Mit einem Vorwort von Alex Demirovic, Münster, Verlag Westfälisches Dampfboot, Mai 2011.

Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Beitrag mit der freundlichen Genehmigung des Autors des Verlags Westfälisches Dampfboot.



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Raute

Andreas Exner

Kämpfe um Land

Gut leben im post-fossilen Zeitalter(*)

Wer erinnert sich noch an die gute alte Zeit der hohen und sicheren wirtschaftlichen Wachstumsraten, eines beständigen Ausbaus von Sozialleistungen, des freien Hochschulzugangs? Wer hat noch die Zeit im Gedächtnis, als man sich um einen Arbeitsplatz keine Sorgen machen musste, und wenn man doch keinen hatte, so jedenfalls nicht wegen des Arbeitsamts. "Stempeln gehen", das war nicht mehr als ein kurzer Besuch ohne Folgen.


"Schon zehn Tage Glück"

Und wer erinnert sich noch an 1968, als viele eine Gesellschaft kritisierten, die genau dies bereit hielt: sichere Arbeitsplätze, Sozialleistungen, Wirtschaftswachstum - und doch so viel Unglück produzierte. Oder gerade deshalb. "Arbeitet nie", "Unter dem Pflaster liegt der Strand" und "Verbietet das verbieten", so lauteten die Parolen der Studierenden in Frankreich. Sie wollten eine Welt gewinnen, für sich und alle anderen, anstatt in einem Büro der Produktionsmaschinerie unter konsumistischer Narkose noch vor der Zeit zu enden. "Schon zehn Tage Glück", schrieb jemand an die Mauer der besetzten Sorbonne.

Arbeiter/innen erkannten im Funken, der 1968 an den Pariser Universitäten aufglühte, ihre eigene Leidenschaft für ein Leben, das so viel besser sein konnte. Etwa bei Renault: "Als Arbeiter sollten wir selbst danach streben, den Gang unserer Unternehmen zu kontrollieren. ... Die Verwaltung der Industrie und die der Universität sollten von denen, die dort arbeiten, auf demokratischem Weg sichergestellt werden." Selbst eine Gruppe, die selten durch Rebellionen auffällt, proklamierte: "Wir Fußballer, Angehörige verschiedener Clubs der Pariser Region, haben beschlossen, heute den Sitz der französischen Fußballföderation zu besetzen. ... Um den 600.000 französischen Fußballern und ihren Millionen Freunden das zurückzugeben, was ihnen gehört: Den Fußball, den die Bonzen ihnen abgenommen haben, um ihren eigennützigen Interessen als Profitschöpfer des Sports zu dienen..."[1]

Ganz Italien war die 1970er Jahre über in Aufruhr, die USA erlebten einen Exodus ihrer Jugend: nach Indien, in die Kommunen, in Experimente mit Musik und neuen Lebensweisen. Dieser ungeheure Aufbruch, diese Bewegung in eine frische Zukunft zerbrach mit einem Schlag Ende der 1970er Jahre. Die eiserne Faust des Staates sperrte jene, die der Lebensdurst am stärksten antrieb, ins Gefängnis, anderswo, in Chile etwa, hatte sie schon früher Tod und Verderben über die Erneuerung gebracht, die am Horizont erblüht war. Als die US-amerikanische Zentralbank 1979 die Leitzinsen mit einem Schlag erhöhte, um die prekär gewordene Machtposition der USA zu sichern, schnellten auch die Arbeitslosenzahlen empor. Die Gewerkschaften scheuten sich im Verlauf der 1970er Jahre immer weniger, für die Belange der Lohnabhängigen einzutreten. Die Angriffe von Reagan und Thatcher zerbrachen sie und damit einen Damm gegen die neoliberale Flutwelle. Seither geht's bergab, jedenfalls was den Zugang der breiten Mehrheit zu den Gütern und Diensten der Gesellschaft angeht.

Die Hoffnung, die in "zehn Tagen Glück" gewachsen war, wurde von einer Gesellschaft zermalmt, die nichts zulässt als Profit: Geldmachen um des Geldmachens, Kaufen um des Kaufens willen. Vor diesem Gebot verblasst jede menschliche Sehnsucht: nach Liebe, Freiheit, Ungezwungenheit. Unsere Gegenwart ist stattdessen von Schrecknissen beschlagnahmt. Wie ein Fluch lastet der Lauf der Dinge, die wir machen, auf uns. Wir hasten von Anpassung zu Anpassung: an den Klimawandel, die Krise der Finanz, den Arbeitsmarkt, an das stumme Bewusstsein all der Todesgefahren, denen unsere so genannte Zivilisation uns aussetzt. Und es ist nie genug.


Musik und Müll

Das Festival in Woodstock 1968 gerann zum Symbol für den unbändigen Drang nach Glück, nach weit mehr als lediglich zehn Tagen. Dieser Drang war kraftvoll, euphorisch, wie der Einbruch der Sonne in die Dunkelheit eines Verließes. Und doch trug dieser Drang seinen eigenen Hemmschuh in sich. Das dreitägige Fest der Musik war eines der ersten, das hätte Profit ziehen sollen aus der überreichen Kultur der Hippies, die Geld häufig für eine ziemlich verrückte Idee und freies Wohnen, Essen und Genießen für selbstverständlich hielten. Woodstock, von drei jungen Leuten organisiert, die eigentlich Bares sehen wollten, wurde von der Menge, die nicht akzeptierte, für "ihr Fest" plötzlich zahlen zu sollen, gestürmt und daher wider Willen gratis.

Doch auch das Leben der Hippies selbst war von einem Widerspruch durchzogen. Am Ende der drei Tage Love and Happiness stand nämlich die Tristesse eines ungeheuren Müllplatzes. Zu den Klängen eines Gitarristen, der einen unsagbar traurigen Blues intonierte, waren Berge von Decken, Kleidung, Hausrat und Verpackungen zu sehen, zurückgelassen von den Konzertbesucher/innen, die eben noch nackt und im Schlamm, in Zelten im Wald und beim Liebemachen auf der Wiese wie ein neuer Stamm von Kindern Gottes angemutet hatten. Doch waren sie mit Autos angereist, die Erdöl brauchten, lebten von den Produkten und Freiräumen einer Gesellschaft, die auf fossile Ressourcen angewiesen war. Eine innovative Wirtschaftsweise, die wirklich neue Wege aufgezeigt hätte, scheiterte schon am ersten Winter in den Landkommunen des US-amerikanischen Westens und an den Schlagstöcken der Polizei.


Oberirdische Verwerfung, unterirdische Erschöpfung

1971, drei Jahre nach dem Aufbruch des Pariser Mai, vier Jahre nach dem "Summer of Love" an der West Coast, war ein bedeutsames Jahr. Häufig erkennen Zeitgenoss/innen nicht sofort die Tragweite eines Ereignisses. Manchmal sogar erst Jahrzehnte später. Die Bewegung, die 1968 ihren Anfang nahm und die nur der Neoliberalismus einfangen und bremsen konnte, ist weit bedeutsamer als gemeinhin angenommen. Fast zeitgleich zu den Verschiebungen im gesellschaftlichen Gefüge der Hierarchien und Normen ereignete sich jedoch auch unterirdisch eine Veränderung, die weniger bekannt ist: Die USA erreichten Peak Oil, den Höhepunkt der Ölförderung auf ihrem Territorium. Sie sind seither zu wachsender militärischer Intervention gezwungen um ihre wichtigste Ressource, Erdöl, zu sichern. Damit setzte auch der Verfall ihres Status als Supermacht ein, den die zunehmenden weltwirtschaftlichen Probleme, die bereits 1973 in die Auflösung der bis dahin geltenden relativ stabilen Weltwirtschaftsordnung mündeten, nur verstärkten, ebenso wie der Krieg gegen Vietnam. Der globale Peak Oil wurde höchstwahrscheinlich 2008 erreicht. Anders als die USA Anfang der 1970er Jahre hat die Wachstumswirtschaft nun keinen neuen Riesenquellhahn mehr parat. Während die Lebensqualität seit dieser Zeit, wie alternative Wohlstandsindikatoren illustrieren, selbst im globalen Norden nicht mehr gestiegen, teilweise sogar gesunken ist, wuchs der Warenkonsum ungeheuer. Die kapitalistische Wirtschaftsweise, deren Profitjagd, von der Konkurrenz erzwungen, letztlich alles bestimmt, was in der Gesellschaft geschieht oder nicht geschieht, kann damit nicht umgehen.

Seit den 1980er Jahren wurden Sozialleistungen abgebaut, die Reallöhne gedrückt und die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben, weil eine Alternative zur kapitalistischen Wirtschaftsweise, wie die 68er/innen sie angezielt hatten, für immer ausgelöscht werden sollte. Deshalb erinnern wir uns der guten alten Zeit wie an einen längst vergangenen Traum. Und noch stärker verschüttet ist die Erinnerung an die 68er/innen selbst, die etwas anderes wollten als einen sicheren Job, nämlich ihr Leben gemeinsam selbst in die Hand nehmen. Unfassbar.

Seit 2008 werden Sozialleistungen abgebaut, Reallöhne gedrückt und die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben, weil eine Alternative zur kapitalistischen Wirtschaftsweise unumgänglich geworden ist. Sie soll verhindert werden oder in eine Fortführung der Herrschaft von Menschen über Menschen unter anderen Vorzeichen umgebogen, und das um buchstäblich jeden Preis. Denn das Kapital braucht Erdöl, Erdgas, Kohle - oder Atomkraft - mit den erneuerbaren Energien hat es seine Schwierigkeiten: ihr Aufkommen schwankt, sie sind nicht leicht zu speichern und zudem teuer. Daher kommt der Zwang zum Wachstum, der den Kapitalismus auszeichnet, erst voll zur Geltung, sofern es billige Energieträger gibt, die in ständig erweitertem Ausmaß nachgeliefert werden. Nach Peak Oil wird Energie teurer und schließlich knapp: es ist nicht genug für alle Konsumansprüche da. Vor allem nicht für den Konsumanspruch des Kapitals, das für weiteres Wachstum auch mehr Energie benötigt.


Woodstock in Ägypten

Nachdem der "unterirdische Wald" des Erdöls, das ja über lange Zeiträume eingefangenes Sonnenlicht darstellt, von dem wir eine historisch extrem kurze Zeit lang zehren, indem wir es verbrennen, quasi zur Hälfte abgeholzt worden ist, kommt nun der "oberirdische Wald" an die Reihe, und zwar wortwörtlich. Die Landfläche wird erneut entscheidend. Man braucht wieder Biomasse, jetzt allerdings nicht vorrangig um Häuser zu beheizen, sondern um Millionen und Abermillionen von Autotanks zu befüllen, die das Leben in den wachsenden Städten dieser Erde zum tödlichen Parcours, zumindest aber zu einem lärmenden Stressinferno machen und ganze Landschaften mit ziellosen Asphaltgeraden zerstückeln. Eine auch nur annähernd vollständige Deckung des Bedarfs dieser Flotte mit biogenen Kraftstoffen ist unmöglich. Allerdings hält das die Staaten und Wirtschaftslobbyisten des globalen Nordens nicht davon ab, Mais, Zuckerrohr, Palmöl oder Soja für den Tank der reichen Konsument/innen statt für den Teller der wachsenden Zahl an Hungernden vorzusehen.

Kämpfe um Land setzen ein, wenn sich die Grenzen der systematischen Maßlosigkeit kapitalistischer Wirtschaftsweise hart bemerkbar machen. So hart, dass die Luxusansprüche der einen, mit gutem Gewissen weiter Auto zu fahren, den Klimawandel zu bremsen und dennoch zu prosperieren, sich ökologisch zu präsentieren und gleichzeitig Profite zu machen, die Überlebensansprüche der anderen durchstreichen. Sie bekommen von einem Tag auf den nächsten nichts Essbares mehr in den Magen. Dabei ist "Land" im Doppelsinn zu verstehen: einerseits als handgreifliche Fläche, andererseits als die Früchte, die ihr entsprießen und die in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung vom Markt oder vom Staat verteilt werden. Denn um die Früchte und deren Verteilung geht es. Sie ist in einer Klassengesellschaft umkämpft.

Menschen, die lange hungern, wehren sich kaum noch. Menschen, die wenigstens einigermaßen ausreichende Nahrung gewohnt sind jedoch revoltieren, wenn der Preis ihrer Existenz, also das, was sie für Nahrungsmittel zahlen müssen, mit einem Mal in den Himmel ungeahnter Vermögenszuwächse schießt, während sie sich dem Abgrund des Hungers gegenübersehen. Die Unruhen in der arabischen Welt sind nicht zuletzt dem Anstieg der Lebenshaltungskosten in den letzten Jahren geschuldet. Steigende Energiepreise brachten nicht nur das Kapital und sein Wachstum in Bedrängnis, sondern schlugen sich auch auf die Kosten der modernen Landwirtschaft, die Energie fossiler Herkunft in großem Maß verschlingt. Schon seit Längerem war in Ägypten der Widerstand gegen die Ausbeutung in den Betrieben und die Repression des Staates angewachsen, allerdings brachten die steigenden Nahrungsmittelpreise das Fass zum Überlaufen.

Die Revolte kondensierte am Tahrir-Platz. Die Kommentator/innen waren ratlos. Man sprach von Machtvakuum. Man zeigte sich erstaunt über die Fähigkeit der Ägypter/innen, sich selbst zu organisieren. Eine Journalistin auf Al Jazeera rotierte um die Führer, die es nicht mehr gab und die Führer, die westliche Führer gerne hätten. Ja, wo waren sie, die Führer? Neben Machtvakuum war Woodstock das zweite Wort, das auf Al Jazeera die Runde machte. Jemand twitterte: die Leute am Tahrir-Platz helfen einander, jemand bringt Brot und verteilt es, eine unglaubliche Atmosphäre der Verbundenheit, es ist Woodstock in Ägypten.

Westliche Medien waren rasch bei der Hand mit einer Deutung: es gehe um Demokratie. Davon war freilich in den Aussagen der Revoltierenden selbst nichts zu hören. Sie wollten vom Staat in Ruhe gelassen werden, keine Gebühren mehr für Bildung zahlen, endlich ein gutes Gesundheitswesen. Demokratie? Darum ging es, in dem Sinn jedenfalls, dass Menschen ihre Stimme bei einer Wahl abgeben, sicher nicht. Es war der Drang nach Freiheit, der sich äußerte. Auch das ägyptische Woodstock freilich ist von einem Widerspruch geprägt. Wie schon die 68er/innen vor ihnen orientieren sie sich an den trügerischen Verheißungen des fossilen Zeitalters. Auch eine demokratische Regierung wird Ölquellen nicht mehr zum Sprudeln bringen. Ägypten, welch Zufall, erreichte seinen Peak Oil 1995. Noch in den 1960er Jahren Selbstversorger bei Nahrungsmitteln, muss es inzwischen nicht nur Öl, sondern auch Nahrung importieren. Die Armut wuchs und ebenso der Schuldenstand.


Wie kommt man nach Woodstock ohne Auto?

Die Unruhe in Ägypten, selbst durch den Umsturz in Tunesien angefacht, hat weitere Revolten in anderen arabischen Ländern ausgelöst. Zwar ist der Ausgang der jüngsten Welle der Rebellion noch ungewiss. Eines jedoch ist klar: Wenn Erdöl knapp wird, Energie und Nahrungsmittel sich verteuern, kommen die Regime im Mittleren Osten in Bedrängnis. Was wenigen klar ist: dies gilt auch für allfällige demokratische Nachfolgeregierungen. Damit müssen früher oder später auch die USA und die EU erneut durch die Macht des Faktischen erkennen: sie befinden sich in einer Sackgasse fossiler Außenabhängigkeit.

Der Ruf nach Befreiung ertönt wieder lauter. Er muss erst noch die ihm entsprechenden Instrumente, Melodien finden um sich orchestrierend auszudehnen. Der undifferenzierte Schrei der Vielen, der Zorn gegen ein Leben, das unterdrückt und in Angst und Sorge gestürzt wird, das so viele Potenziale unrealisiert verkommen lässt und der sich in den Revolten ausdrückt, öffnet erst einmal einen Raum für etwas Neues. Dieses Neue entsteht schon dort, wo die Vielen sich versammeln, am Tahrir-Platz etwa, der wie ein großes Gemeingut wirkte, ein Raum wechselseitiger Unterstützung, aufgebaut in Solidarität gegen die Herrschenden. Ebenso in den vielen feinen Kanälen des alltäglichen Lebens und der Lösung seiner Probleme in einer Situation, wo die Ordnung der Herrschaft in Unordnung gerät und sich daher eine andere Ordnung der Solidarität herausbilden kann.

Die Kämpfe um Land werden nicht nur in Ägypten, sondern ebenso im Widerstand gegen die globale Landnahme fühlbar, die 2008 eingesetzt hat um Nahrung und Bio-Energie für den Norden und die Schwellenländer, aber auch den Mittleren Osten, zu sichern. Auch dort geht es um Gemeingüter an Land, die etwa in Afrika noch große Flächen einnehmen und in Gemeinschaft verteidigt werden. Und auch dort entstehen vorderhand einmal Fragen, die erst Antworten finden müssen. - Stell Dir vor, es gibt Woodstock und keine Autos fahren dorthin.

E-Mail: andreas.exner@aon.at


Hinweise und Anmerkung:

*) Dieser Text ist ein Auszug aus der Einleitung von "Kämpfe um Land. Gutes Leben im post-fossilen Zeitalter" (hg. von A. Exner, P. Fleissner, L. Kranzl und W. Zittel). Der Band wird im Herbst 2011 in der Edition kritik & utopie beim Wiener mandelbaum verlag erscheinen. Er basiert auf einem Forschungsprojekt des Österreichischen Klima- und Energiefonds (KLIEN), dessen Berichte auf
www.umweltbuero-klagenfurt.at/sos einsehbar sind.

Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Beitrag mit der freundlichen Genehmigung des Autors des Wiener Mandelbaum Verlags.

[1] Beide Zitate mit Quellenangaben in http://de.wikipedia.org/wiki/Mai_1968 (3.5.2011)

Raute

Buchbesprechungen von Robert Foltin

Sebastian Kalicha / Gabriel Kuhn (Hg.): Von Jakarta bis Johannesburg. Anarchismus weltweit.
Münster: UNRAST Verlag, 2010, 400 Seiten, Euro 19.80

Gabriel Kuhn (Hg.): "Neuer Anarchismus" in den USA. Seattle und die Folgen.
Münster: UNRAST Verlag, 2008, 300 Seiten, Euro 16,80

Uri Gordon: Hier und Jetzt. Anarchistische Praxis und Theorie. Aus dem Englischen übersetzt von Sophia Deeg.
Hamburg: Edition Nautilus, 2010, 256 Seiten, Euro 18,-


Nachdem der Anarchismus nach dem Sieg des Bolschewismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts marginalisiert wurde, erlebte er wie viele linke und linksradikale Bewegungen um und nach 1968 einen neuerlichen Aufschwung. Aber erst um die Jahrtausendwende, nach dem Zusammenbruch des "realen Sozialismus" kann von einer regelrechten weltweiten Welle gesprochen werden. Viele Aktivist_innen der globalen Protestbewegungen sehen sich nicht explizit anarchistisch, nehmen aber viele Strukturen auf, die charakteristisch für den Anarchismus sind: das Auftreten gegen Hierarchien, horizontale Organisation, die Vorwegnahme von Selbstverwaltungsstrukturen, direkte Aktionen, eine Art von Konsensdemokratie etc.


Anarchismus weltweit

Sebastian Kalicha und Gabriel Kuhn versuchen in dutzenden Interviews (und wenigen anderen Beiträgen) die gegenwärtigen anarchistischen Strömungen als weltweite Bewegung zu erfassen ("Von Jakarta nach Johannesburg"). Einige methodische Vorgaben verhelfen zu einem gelungenem Überblick (S. 10): Es wurden nur Aktivist_innen interviewt, die sich selbst als Anarchist_innen bezeichnen. Es wurde versucht, solche Personen anzusprechen, die tendenziell einen Überblick über die regionale Szene haben und nicht (all zu sehr) in Konflikte der unterschiedlichen Strömungen involviert sind (was meistens gelungen ist). Außerdem wurden marginale Randgruppen (etwa Anarchokapitalist_innen) außen vor gelassen. Da Nationalstaaten für Anarchist_innen keine Bedeutung haben (sollten), bezieht sich die Einteilung auf Regionen als Referenzräume. Auffällig ist das Gewicht, das Europa zugemessen wird. Als einzige Großregion ist sie noch weiter unterteilt (was natürlich mit der unterschiedlichen Geschichte zu tun hat, wie etwa in Osteuropa). In der Einleitung wird die Problematik angesprochen, dass die anarchistische Szene weiß und männlich dominiert ist, was sich auch in der Auswahl der Interviews ausdrückt, auch wenn versucht wurde, weibliche und indigene Stimmen zu Wort kommen zu lassen.

Das vielfältige Panorama der weltweiten Anarchismen bietet einige interessante und erstaunliche Erkenntnisse. Offensichtlich konzentriert sich der aktuelle Aufschwung auf die "Weißen" Kontinente Europa, Nord- und Südamerika, während libertäre Strömungen in Afrika marginal sind und auch in Asien nur in wenigen Regionen größere Bedeutung haben. Trotzdem wurde versucht, den globalen Süden angemessen zu repräsentieren.

Spannend ist es auch, Neues über die anarchistische Geschichte zu erfahren: dass der lateinamerikanische Anarchismus von europäischen Immigrant_innen (oft aus Italien) geprägt war, war zu erwarten. Dass sich in China (S. 230f) und in Korea (257f) zu Beginn des 20 Jahrhunderts starke anarchistische Strömungen entwickelten und sich in der "Autonomen Provinz Shinmin" zwischen 1929-1931 eine anarchistisch beeinflusste dörfliche Selbstverwaltung etablieren konnte (258), war mir vollkommen neu.

Der Individualanarchismus spielt kaum mehr eine Rolle, die meisten Anarchist_innen verorten sich auf einer gesellschaftlichen oder kollektiven Seite, auch wenn sich nur wenige ausdrücklich als Anarchokommunist_innen verstehen. Einflussreich sind neuerlich der Anarchosyndikalismus und Strömungen, die sich auf die Wobblies (IWW, Industrial Workers of the World, eine wichtige radikale Gewerkschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts) beziehen. Einzelne Gruppen vertreten allerdings den so genannten "Plattformismus", ein anarchistisches Programm, wie es von Enrico Malatesta und anderen 1926 formuliert wurde.

Vermeintlich kontradiktorisch zum Bezug auf historische Strömungen erscheint, dass die "neue Welle" des Anarchismus in den 1980ern oder 1990ern in vielen Regionen mit der Punk-Bewegung verbunden ist, besonders dort, wo es keine historische Kontinuität gibt. Internationale Kontakte wurden häufig bereits durch die Punkkultur hergestellt. Länger bestehende Gruppen versuchen sich oft von diesen als Lifestyle-Anarchist_innen bezeichneten sozialen Zusammenhängen abzugrenzen (damit sind aber auch Strömungen gemeint, die sich ökologisch verorten, queere Lebensformen propagieren oder sich als vegane Tierrechtler_innen verstehen). Die Vielzahl der Beiträge zeigt ein breites Panorama nicht nur des "neuen Anarchismus". Durch die Auswahl bleibt manchmal unklar, wie stark und bedeutend die Strömungen sind, die sich selbst nicht als Anarchist_innen definieren, da aufgrund der informellen Organisationsstrukturen deren Größe schwer einzuschätzen ist.


Anarchismus in den USA

Der deutschsprachige Raum wird absichtlich ausgelassen, es wird auf eine Reihe von Publikationen hingewiesen[1]. Am auffälligsten war der Aufschwung des Anarchismus der letzten fünfzehn Jahren in den USA, wo er durch die Demonstrationen und Krawalle in Seattle im November 1999 auch in der bürgerlichen Medienlandschaft wahrgenommen wurde. Es gibt nur ein Interview aus den USA, als Ergänzung kann aber die von Gabriel Kuhn herausgegebene und kommentierte Anthologie 'Neuer Anarchismus' in den USA" dienen, die einen Überblick über die dortigen Diskussionen und Strömungen bietet. Insbesondere die umfangreichen Einleitungen des Herausgebers erlauben es, die Auseinandersetzungen an Hand der Originaltexte nachzuvollziehen.

Ich will nur einige spannende Diskussionen erwähnen, die dort dokumentiert sind. Da ist einmal der Begriff des "Neuen Anarchismus" nach Seattle, der sich vom historischen Anarchismus abgrenzt, aber auch heftig kritisiert wird. Viele Diskussionen löste in der Szene auch der so genannte "Schwarze Block" aus, an dessen Auftreten viele Anarchist_innen anknüpfen, was von anderen kritisiert wird. In einer Nebenbemerkung wird erwähnt, dass sich für manche die Frage stellt, wo der Unterschied zwischen ("neuen") Anarchist_innen in den USA und den Autonomen in Mitteleuropa liege. Ähnliche Fronten der Auseinandersetzung zeigen sich zwischen "traditionellen" und so genannten "Lifestyle-Anarchist_innen", einem Begriff, den der einflussreiche anarchistische Theoretiker Murray Bookchin prägte. Auch die weiße und männliche Dominanz des Anarchismus wird in entsprechenden kritischen Beiträgen in Frage gestellt.

Eine speziell auf die USA fokussierte Diskussion ist die Ablehnung des Links-Seins durch manche anarchistische Strömungen ("Post-linke Anarchie"). Damit ist nicht der Antikommunismus gemeint, wie er unter vielen Anarchist_innen auf Grund der historischen Erfahrungen verbreitet ist, sondern die Abgrenzung von mit der Linken verbundenen anarchokommunistischen Strömungen. Verbreitet ist diese Tendenz durch den so genannten "Primitivismus", der in seiner gemäßigten Form technologiefeindlich ist, in seiner extremen Ausformungen jede Form der Zivilisation ablehnt. Da einer der Haupttheoretiker, John Zerzan, öffentlich den "Schwarzen Block" in Seattle verteidigte, erlangte diese Strömung mehr öffentliche Präsenz als ihr wahrscheinlich zusteht. Diese skurrilen Positionen haben aber einen ähnlichen Einfluss auf die anarchistische Szene der USA wie die Antideutschen in Deutschland und Österreich auf die Autonomen: Extrempositionen werden zwar abgelehnt, aber sektiererische Sichtweisen können sich durchsetzen: oft werden (breitere) soziale Bewegungen von der Szene diffamiert und abgelehnt.


Hier und Jetzt

Wer einen leicht lesbaren Einblick in das Denken des "neuen Anarchismus" gewinnen will, ist mit "Hier und Jetzt" des israelischen Aktivisten Uri Gordon gut bedient. Gordon stellt den Anarchismus als Teil der internationalen Bewegung dar, wenn auch mit Schwerpunkt auf den angloamerikanischen Raum. Der Charakter eines Netzwerkes aus vielfältigen Bezugsgruppen und Einzelpersonen wird beschrieben, in deren Kern eine "vorwegnehmende Politik" steht: direkte Aktion, aber auch dauernde selbst organisierte Projekte. Die Auseinandersetzung um die Macht wird diskutiert; sowohl auf der staatlichen und institutionellen Ebene als auch auf der Mikroebene des Verhaltens auf Plenas und in persönlichen Beziehungen. Das Spannungsverhältnis zwischen Gewaltfreiheit und Militanz wird angesprochen wie auch das zwischen Technikkritik und Technikablehnung auf der einen Seite und Nutzung von Technologie auf der andern. Und nicht zuletzt wird der Umgang mit dem Nationalismus am Beispiel Israel / Palästina diskutiert, was bei einem Aktivisten von "Anarchists against the Wall" zu erwarten ist.

Wer einen Überblick über die weltweite Verbreitung des Anarchismus sucht, wird sich über "Von Jakarta bis Johannesburg" freuen, für Genaueres über die aktuellen Diskussionen in den USA ist "'Neuer Anarchismus' in den USA" unverzichtbar und wer eine Einführung in aktuelle anarchistische Ideen und Diskussionen sucht, die auch für "unpolitische" Verwandte lesbar ist, dem sei "Hier und Jetzt" empfohlen.


Anmerkung:

[1] Eine etwas schiefe Ergänzung könnte das ebenfalls im Unrast Verlag erschienen Buch des ak wantok: "Perspektiven Autonomer Politik" sein, das Diskussionen im deutschsprachigen Raum sammelt. Der Blick ist schief, weil sich die "autonome Politik" nur teilweise mit dem Anarchismus überschneidet.

Raute

Buchbesprechung von Minimol

Pun Ngai / Ching Kwan Lee u.a.: Aufbruch der zweiten Generation Wanderarbeit, Gender und Klassenzusammensetzung in China

Berlin/Hamburg: Assoziation A, Oktober 2010, 296 Seiten, 18,00 Euro

"Aufbruch der zweiten Generation" ist nach "Unruhen in China" (Beilage zu Wildcat #80, Dezember 2007) und "Dagongmei. Arbeiterinnen aus Chinas Weltmarktfabriken erzählen" (Assoziation A, September 2008) die bereits dritte Publikation, die von den FreundInnen von gongchao (http://www.gongchao.org) zur Lage und zu den Kämpfen der ArbeiterInnen in China herausgegeben wurde. In ihrem eigenen Beitrag zum vorliegenden Sammelband, in dem sie die Streikwelle, die zwischen Mai und Juli 2010 durch die Fabriken transnationaler Automobilhersteller und anderer Unternehmen in China rollte, analysieren, definieren sie die zweite Generation der chinesischen WanderarbeiterInnen so:

"Die 'zweite' oder 'neue' Generation von WanderarbeiterInnen sind die nach 1980 geborenen ArbeiterInnen. Sie sind noch auf dem Land gemeldet (hukou), aber viele sind in der Stadt geboren und zum Teil dort aufgewachsen. Sie haben oft kein Ackerland oder keine Erfahrung mit Landarbeit mehr. In der Zeit des Aufschwungs groß geworden, weigern sie sich zunehmend, schlechte Löhne und überlange Arbeitszeiten hinzunehmen, oder 'Bitternis zu essen'(chiku), wie es noch die vorherige Generation getan hat. Sie wollen oft gar nicht mehr am Fließband stehen oder weit wandern, um Arbeit zu finden. Mehr und mehr von ihnen arbeiten in Städten im Inland, näher an ihren Heimatorten." (Seite 243)

Im Buch sind Beiträge von vorwiegend chinesischen und weiblichen WissenschaftlerInnen versammelt, die "in ihren Untersuchungen auf ethnografische Methoden zurückgreifen, insbesondere Interviews und teilnehmende Beobachtung, um konkrete Lebenssituationen verstehen zu können. Sie nehmen eine Perspektive 'von unten' ein und wollen die Situation vom Standpunkt der Beobachteten aus verstehen." (Seite 16)

Die einzelnen Texte beschäftigen sich mit den Arbeits- und Lebensbedingungen von AutomobilarbeiterInnen, ElektronikarbeiterInnen, Sexarbeiterinnen, LastenträgerInnen, BauarbeiterInnen und Hausarbeiterinnen. Der Arbeitsmarkt ist stark geschlechtsspezifisch segretiert, sowohl hinsichtlich der Einstellungspolitik als auch was die Kontrollmechanismen in den Fabriken betrifft. In exportorientierten und arbeitsintensiven Industrien wie Elektronik und Textilverarbeitung sind die Belegschaften wie auch in Mexiko, Indonesien oder Thailand überwiegend weiblich, in der Autoindustrie werden hingegen hauptsächlich Männer beschäftigt. Die Löhne der Automobilarbeiter sind vergleichsweise hoch, deshalb sind diese Arbeitsplätze sehr begehrt. Das Management versucht auch in China, LeiharbeiterInnen, PraktikantInnen, Beschäftigte ohne jeglichen Arbeitsvertrag und die Stammbelegschaft gegeneinander auszuspielen. Aus diesen Gründen war die Streikbereitschaft in der Automobilindustrie lange Zeit eher gering, obwohl die Fließbänder leicht lahm gelegt werden und schon kleinere Streikaktionen an zentralen Produktionsorten aufgrund der "lean production" große Wirkung entfalten können. Das hat auch der Streik im Getriebewerk von Foshan, von dem die Streikwelle von Mai und Juni 2010 ausging, gezeigt. Die schlecht bezahlten und unabgesicherten PraktikantInnen waren hier federführend und jene Spaltungen, die durch das so genannte duale Arbeitssystem (Stammbelegschaft versus schlechter bezahlte prekarisierte Beschäftigte) entstehen, konnten im Kampf überwunden werden.

Zur neuen Qualität der Selbstorganisierung und zur Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien in den Streiks von Mai und Juni 2010 schreiben die FreundInnen von gongchou: "In den Streiks entstanden neue Kerne von Arbeitermilitanten und informelle Netzwerke. Die ArbeiterInnen nutzten das Internet und Handys für die Organisation der Kämpfe. Bei Honda Auto Parts Manufacturing in Foshan setzten sie Berichte auf Internetforen und Online Bulletin Boards, um über ihren Streik zu informieren. StreikführerInnen berichteten, sie hätten die Informationen über Chinas Arbeitsgesetze aus dem Internet. Während der Auseinandersetzungen standen sie in eigenen Chat-Rooms mit 600 ArbeiterInnen in Kontakt. Foxconn-ArbeiterInnen beschrieben ihre Bedingungen online und posteten ihre Lohnabrechnungen, die zeigten, dass ihre Überstunden weit über dem rechtlich zulässigen Rahmen lagen. Honda Lock-ArbeiterInnen in Zhongshan verschickten SMS, in denen sie andere ArbeiterInnen aufforderten, sich dem Druck der Fabrikbosse nicht zu beugen. Sie posteten detaillierte Berichte über ihren Ausstand online und veröffentlichten Videos, die zeigen, wie der Wachschutz die ArbeiterInnen herumschubst." (Seite 237/238)

Die AutorInnen des Sammelbandes haben sich die Mühe gemacht, im Rahmen von Feldforschungen mit den ArbeiterInnen in Kontakt zu treten. So arbeitete zum Beispiel Zheng Tiantian aus New York monatelang als Hostess in Karaoke-Bars, um das Vertrauen von Sexarbeiterinnen zu gewinnen - in der Hafenstadt Dalian im Nordosten Chinas. Dalian liegt in der Nähe Südkoreas, ist Chinas nördlichster eisfreier Hafen und seit 1984 Sonderwirtschaftszone. In der Stadt leben mittlerweile sechs Millionen EinwohnerInnen und sie ist zum Magneten für WanderarbeiterInnen geworden.

"Ein beträchtlicher Teil der Migrantinnen findet Arbeit in Dalians boomender Sexindustrie. An fast jeder Ecke der Stadt finden sich Karaoke-Bars. Jian Ping, Reporter des Magazins Xinzhoukan, spricht von der Stadt als 'gigantische Sauna oder Karaoke-Bar'. Laut einem der städtischen Polizeichefs gibt es in Dalian 4.000 Nachtclubs, Saunen und Karaoke-Bars, und er schätzt, dass 80 Prozent der Migrantinnen der Stadt dort als Hostessen arbeiten. (...) Die Bars werden vorwiegend von Geschäftsmännern mittleren Alters, Regierungsbeamten, Unternehmern, Neureichen, Polizisten und ausländischen Investoren besucht. Diese Kunden können die Dienstleistungen der Hostessen in Anspruch nehmen und gleichzeitig gesellschaftliche Kontakte (ying chou) oder Beziehungen (guangxi) mit Geschäftspartnern oder Regierungsbeamten pflegen." (Seite 134/135)

Die Arbeitsbedingungen der Sexarbeiterinnen sind sehr hart, sie sind vielfältigen Gewaltverhältnissen ausgesetzt. Sie werden zwischen den Kunden, den Chefs und Chefinnen, den repressiven Maßnahmen eines autoritären Polizeistaates und seinen korrupten Vertretern zerrieben. Und sie müssen aufgrund der Doppelmoral die Quelle ihres Gelderwerbs geheim halten. Dennoch stellt die Sexarbeit für viele junge Frauen eine Möglichkeit dar, Geld zu verdienen und in der Stadt zu bleiben. "Die Arbeit als Hostess war nicht der erste Job der jungen Frauen. Viele begannen als Arbeiterinnen in Fabriken oder als Kellnerinnen in Restaurants und Hotels: Einige fingen als Hostess an, weil sie durch Lohnrückstände und massive Lohnabzüge in eine auswegslose finanzielle Situation geraten waren." (Seite 139)

Yan Hairong untersucht die Unterschiede zwischen den Arbeits- und Lebensbedingungen der Haushaltsarbeiterinnen in der Mao-Ära und heute. Auch in China nimmt der Bedarf an bezahlter Hausarbeit in Privathaushalten zu. Einer der Gründe für die neue geringere Autonomie der migrantischen Arbeiterinnen in städtischen Haushalten sei die staatliche und gesellschaftliche Um- bzw. Abwertung des maoistischen Konzepts der Ruralität: "Die Arbeitgeber finden es unfassbar und lächerlich, dass migrantische Hausangestellte 'einfache' Hausarbeiten wie Bügeln und das Reinigen von Parkettböden nicht beherrschen. (...) Im neuen häuslichen, Modernität verkörpernden Raum finden die jungen migrantischen Hausangestellten keine Orientierung und werden einer materiellen und symbolischen Ordnung unterworfen, deren fremder und beherrschender Code von den Arbeitgebern mit ihrer Autorität und ihrem überlegenem Zugang zu Modernität programmiert und überwacht wird. (...) Ihre ländliche Identität wird als unpassend und dem kosmopolitischen häuslichen Raum widersprechend beschrieben, und so ihr Wert und ihre Identität negativ markiert." (Seite 183)

Insgesamt ergibt sich das Bild, dass trotz des Versuches des Blicks von unten viele Beiträge aus der Perspektive des Kapitals und vom Leid der ArbeiterInnen sprechen, deren kollektive Subjektivität nur an manchen Stellen aufblitzt. Das führt trotz der beschworenen Hoffnung, die vielen kleineren, meist voneinander isolierten Arbeitskonflikte würden irgendwann in einen Massenaufstand der ArbeiterInnenmacht umschlagen, letztendlich doch zu einem Gefühl der Ohnmacht. Jenseits der Kritik der deutschen HerausgeberInnen an der Verrechtlichung der ArbeitInnenunruhen und an der Linken, die sich dem Staat als Helferin bei der Reformierung der Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital andienen wolle, wird dem Versuch, aus einer Analyse der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse heraus eine mögliche Perspektive der radikalen politischen Organisierung zu wagen, aus dem Weg gegangen.

Abschließend soll noch bemerkt werden, dass es schade ist, dass die meisten Texte vor Ausbruch der Krise 2008 fertig gestellt wurden. So erfahren wir nur in einzelnen Beiträgen etwas über die Auswirkungen der Krise auf die Bedingungen der ArbeiterInnen sowie über deren Versuche, darauf zu reagieren. Das ist aber wohl zum Teil auch dem hohen Zeit- und Arbeitsaufwand für wissenschaftliche Arbeit geschuldet - sowie den sorgfältigen Übersetzungen und all den anderen Arbeiten, die für das Entstehen des sehr schön gemachten Buches notwendig waren.

Raute

IMPRESSUM

Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 15.5.2011,

Ein Jahresabo kostet für 4 Nummern Euro 20,-, das 2-Jahres-Abo nur 35,- Euro!
Bestellungen entweder an grundrisse@gmx.net oder an K. Reitter, Antonigasse 100/8, A-1180 Wien

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Die Redaktionstreffen der Grundrisse finden jeden 2. und 4. Montag im Monat um 19 Uhr im "Amerlinghaus",
1070 Wien, Stiftgasse 8 statt. Interessierte LeserInnen sind herzlich eingeladen.

Weitere Infos unter: www.grundrisse.net und unter redaktion@grundrisse.net

Medieninhaberin: Partei "grundrisse" Antonigasse 100/8, 1180 Wien
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"

MitarbeiterInnen dieser Nummer: Martin Birkner, Bernhard Dorfer, Robert Foltin, Birgit Mennel, Wolfgang Neulinger, Minimol, Franz Naetar, Anton Pam, Karl Reitter,

Layoutkonzept & Layout: Karl Reitter

Erscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1100 Wien

Offenlegung: Die Partei "grundrisse" ist zu 100% Eigentümerin der Zeitschrift "grundrisse".

Grundlegende Richtung: Förderung gesellschaftskritischer Diskussionen und Debatten.

Copyleft: Der Inhalt der "grundrisse" steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, außer wenn anders angegeben.

ISSN: 1814-3156, Key title: Grundrisse (Wien, Print)


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Quelle:
grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
sommer 2011, nr. 38
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"
Antonigasse 100/8, 1180 Wien
E-Mail: grundrisse@gmx.net
Internet: www.grundrisse.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juni 2011