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GRUNDRISSE/026: zeitschrift für linke theorie & debatte, sommer 2010


grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 34, sommer 2010


INHALT

Editorial

Moshe Zuckermann:
Zertretener Wurm

Birnstingl & Genoss_innen:
Antirassismus muss Praxis werden können!

Coordinamento per lo sciopero del lavoro migrante in Italia:
[Koordination für den Streik migrantischer Arbeit in Italien]
10 Thesen zu migrantischer Arbeit

Stefan Almer:
Die Sans-Papiers oder die "Tricksters" des 21. Jahrhunderts

Sandro Mezzadra:
Autonomie der Migration - Kritik und Ausblick
Eine Zwischenbilanz

Interview mit Yann Moulier-Boutang
aus: "razza operaia"; Padova edizioni, Mai 1992

Tomasz Konicz:
Athens Schuldenkrise ist nicht Ursache, sondern lediglich Auslöser der neuesten Etappe einer seit Jahrzehnten schwelenden Krise

Robert Zion:
Eine spinozianische Grundlegung der Linken II
Das ökonomische Tableau in Commonwealth.
(Zweiter Teil. Der erste Teil erschien in grundrisse # 33)

Robert Foltin:
Buchbesprechung: Papadopoulos, Dimitris; Stephenson, Niamh; Tsianos, Vassilis:
Escape Routes. Control and Subversion in the Twenty-first Century

Karl Reitter:
Buchbesprechung: Angelika Ebbinghaus, Max Henninger, Marcel van der Linden (Hg.):
1968 Ein Blick auf die Protestbewegungen 40 Jahre danach aus globaler Perspektive

Raute

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

Wir freuen uns, euch eine Ausgabe mit dem Schwerpunkt Autonomie der Migration & antirassistische (Selbst)Organisierung vorlegen zu können. Am Beginn steht eine kurze Selbstdarstellung des in Wien aktiven Offenen Antirassistischen Treffens. Die 10 Thesen zur migrantischen Arbeit wurden aus dem Italienischen übersetzt und reflektieren das Selbstverständnis und die politische Orientierung der migrantischen Bewegung in Italien. Stefan Almer hat in Marseille mit zahlreichen MigrantInnen gesprochen. Aufbauend auf diesen Interviews zeichnet der Autor ein Bild der Situation der Sans Papiers, also der Menschen ohne Papiere und gültige Aufenthaltsgenehmigung, und beschreibt ihre Strategien des Lebens und Überlebens.

Von Sandro Mezzadra findet ihr die Transkription eines Vortrages, den er im Jänner 2010 in Wien gehalten hat. Darin beschreibt er den momentanen Stand der Debatte der Theorie der "Autonomie der Migration" sowie unterschiedlicher damit in Verbindung stehender theoretischer Ansätze. Dabei werden vor allen die Grenzen und Probleme der Weiterentwicklung in den Blick genommen, und zwar immer auch hinsichtlich der real existierenden migrantischen Bewegungen.

Der wahrscheinlich erste jemals in deutscher Sprache gedruckte Text zum Begriff der "Autonomie der Migration" ist ein Interview mit Yann Moulier Boutang, zunächst 1992 auf Italienisch erschienen, ein Jahr später die deutsche Übersetzung in den "Materialien für einen neuen Antiimperialismus Nr. 5". Wir fanden es aus zwei Gründen wichtig, diesen Text (gekürzt) in unserer lange unterbrochenen Serie "MIT NACHDRUCK" zu bringen: Zum einen öffnet das Interview den Blick auf die Veränderungen der Theorie und Praxis der Migrationsbewegungen und bildet so den "Gegenpart" zum Vortrag Sandro Mezzadras 18 Jahre später, zum anderen rückt er den Stellenwert der gesellschaftlichen Arbeitsteilung für eine angemessene Theorie der Migration in den Mittelpunkt, der heute auch in kritischen Migrationstheorien oft zu gering veranschlagt wird.

Außerhalb des Schwerpunkts ist der kleine Text von Moshe Zuckermann "Zertretener Wurm" angesiedelt. Zuckermann hat diese kleine literarische Arbeit in Solidarität mit den Angeklagten im so genannten TierschützerInnenprozess geschrieben. Mehr Informationen über die skandalöse Anwendung des § 278a auf politischen Aktivismus findet ihr auf: http://antirep2008.org. Tomasz Konicz ermöglicht uns durch seinen Artikel "Athens Schuldenkrise ist nicht Ursache, sondern lediglich Auslöser der neuesten Etappe einer seit Jahrzehnten schwelenden Krise" präzise Einsichten in die Mechanismen, die Griechenland an den Rand des Staatsbankrotts geführt haben. Er zeigt, dass die Krise in Griechenland nur eine weitere Etappe der weltweiten Krise des Kapitals darstellt. Diese Krise wurde letztlich durch die wachsende Schere zwischen steigender Arbeitsproduktivität und stagnierendem bzw. sinkendem Masseneinkommen verursacht. Kompensiert wurde das fehlende Masseneinkommen durch Verschuldungen. Uneinbringliche Kredite führten zum Platzen der Immobilienblase, die wiederum in die weltweite Bankenkrise umschlug und nun die Form der Krise der Staatsfinanzen annimmt. Und last not least findet ihr, wie angekündigt, den zweiten und letzten Teil des Plädoyers von Robert Zion für "Eine spinozianische Grundlegung der Linken". Den Abschluss bilden zwei Buchbesprechungen: Wir informieren über einen Sammelband zur 68er-Bewegung und - passend zum Schwerpunkt - über "Escape Routes", in dem Migrationsströme theoretisch reflektiert werden.

In den grundrissen #32 brachten wir drei Texte von und zu Abahlali baseMjondolo, einer Basisbewegung von BarackenbewohnerInnen in den Vororten Durbans. Am 11. April konnten wir im HTU-Cinestudio gemeinsam mit den Wiener Grünen und der Grünen Bildungswerkstatt Wien den Film "Im Schatten des Tafelberges" erstmals in Österreich vorführen. Der Film zeigt die Lebensverhältnisse der BewohnerInnen von Armenvierteln am Rande Kapstadts, aber auch die widerständigen Praxen der dortigen Schwesterorganisation von Abahlali baseMjondolo. Außerdem hatten wir nach der Vorführung des Filmes die Gelegenheit, sowohl mit den FilmemacherInnen als auch mit Ashraf Cassiem und Mne Twalo, zwei Aktivisten der Anti-Eviction-Campaign über ihre Kämpfe, internationale Solidarität und die Auswirkungen der Fußball-Weltmeisterschaft auf die Lebensverhältnisse der armen Menschen diskutieren. Wir empfehlen http://antieviction.org.za/ (dort kann mensch auch Geld spenden!) sowie die Homepage des Films (http://dok-werk.com/) - weitere Aufführungen von "Im Schatten des Tafelberges" in Österreich sind geplant!

transact!
Den grundrissen liegt diesmal die dritte Ausgabe der Zeitung "transact!" bei. Das gleichnamige politische Projekt "transact!" - ein Zusammenhang von AktivistInnen aus Berlin, Bremen, Hanau, Wien und London - versteht sich als Versuch, regionale, überregionale und transnationale soziale Kämpfe in produktiver Debatte miteinander zu verbinden. Wichtiger Bezugspunkt sind dabei die jährlich stattfindenden NoBorder-Camps: Die beigelegte Ausgabe behandelt die Erfahrungen am NoBorder-Camp in Lesvos vom Sommer 2009, will aber auch für zukünftige NoBorder-Aktivitäten mobilisieren. So beispielsweise für das antirassistische und antikoloniale Festival in Jena Anfang Juni, das "in Erinnerung an die Toten der Festung Europa" veranstaltet wird. Ferner beinhaltet die beigelegte Zeitung ein fiktives Streitgespräch "über die Schwierigkeiten transnationaler Organisierung von unten", in dem der Versuch unternommen wird, auszuloten, wie heute, 20 Jahre nach dem faktischen Ende der "Internationalismus-Bewegung", globale Solidarität konkret aussehen kann. Der Veranstaltungskalender auf Seite IV der Zeitung ist umfangreich, wir empfehlen mit Nachdruck die Reise zu der einen oder anderen sommerlichen Veranstaltung!


1. Ratschlag "Für eine Linke mit gesellschaftlicher Dimension!" am 19.6.2010

Zu guter Letzt wollen wir euch noch auf einen wichtigen Termin des Projekts SUPERLINKE aufmerksam machen. Am Samstag, den 19. Juni 2010, findet ab 14 Uhr in den Initiativenräumen des Wiener WUK (Währinger Straße 59, 1090 Wien) der 1. Ratschlag "Für eine Linke mit gesellschaftlicher Dimension!" statt. Neben einem Resümee der bisherigen Diskussionen wird es inhaltliche Arbeitskreise zu verschiedenen Themen geben, außerdem Möglichkeiten zur Diskussion weiterer Perspektiven. Anschließend Chill-Out & Vernetzungs-Palaver mit Musik, Speis & Trank. Mehr Informationen findet ihr auf http://superlinke.blog.at/.

Anregende Lektüre und ein Ende des Regens wünscht

Eure grundrisse-Redaktion

Raute

Moshe Zuckermann

Zertretener Wurm

Für Kevin, Sabine, Christof, Jan, Leo und all die anderen, die für eine wahrhaft menschliche Welt kämpfen

Die Bibelgeschichte von der Sintflut ist merkwürdig. Was für einen Gott hatte man sich da ausgedacht, der wenige Kapitel nach dem gloriosen Schöpfungsbericht sich bereits eines Anderen zu besinnen und fast die gesamte Menschheit auszurotten sich genötigt sah? Und wenn schon die Menschen ob ihrer Sündigkeit bestraft werden mußten - was hatten die Tiere verbrochen, die doch noch ganz das waren, als was man sie erschaffen hatte: reine Natur? Derartiges muß auch den Bibelschreibern in den Sinn gekommen sein. Denn während Noah und seine Sippe als einzige Gerechte exemplarisch für das gesamte Menschengeschlecht erhalten blieben, wurden die Tiere, keiner Moral, mithin keiner Sünde fähig, immerhin als paarweise Exemplare aller Arten und Gattungen gerettet. Im berühmten Sintflut-Bild von Gustave Doré ist die Unschuldshierarchie kurz vor der Katastrophe gleichsam symbolisch festgehalten: An einem von der Flut umspülten Felsgipfel strecken sich in letzter Anstrengung Gestalten von ertrinkenden Eltern, die ihre Kinder vor dem Unglück zu retten, sie auf das aus dem Wasser herausragende Gestein zu hieven versuchen. Die todgeweihten Kinder bevölkern den Gipfel - und neben ihnen, alle an Höhe überragend, eine Tigermutter mit ihren Jungen. Ein berückendes Bild: Im Angesicht der höchsten Gefahr, des nahenden Todes, scheinen Mensch und Tier, zusammengepfercht, einander nicht wahrnehmend, versöhnt. Die zivilisatorisch verursachte "Feindschaft" - die Knechtung der Tiere durch den Menschen, ihre Verfolgung, Tötung und Verwertung - ist im Angesicht der biblisch sich anbahnenden Endlösung für den Moment erloschen: Die noch im Ertrinken sich nach ihren Kindern reckende Menschenmutter und das sein Junges im Maul tragende Muttertier sind gleichsam im nahenden Tod "vereint". Oder? Nein, natürlich nicht. Die nach der Sintflut sich bildende Zivilisation wird nichts aus der gottverursachten Naturkatastrophe gelernt haben, sondern, sich Gottes nach und nach entledigend, den Menschen selbst als Mördergott einsetzen und so lange fortschreiten, bis er die industrielle Menschen- und Tiervernichtung zur kultur-barbarischen Perfektion getrieben hat. Man solle da tunlichst Mensch und Tier auseinanderhalten? Wie? Wann hätte das selbstherrlich argumentierte Auseinanderhalten die Menschen je davon abgehalten, sich gegenseitig so abzuschlachten, "als wären sie Tiere"? Noch im blutigen Schlachtgetümmel der Revolution wusste Rosa Luxemburg, wahrhafte Versöhnung von Mensch und Natur, von Mensch und Tier visionierend, zu sagen: "Rücksichtsloseste revolutionäre Tatkraft und weitherzigste Menschlichkeit, dies allein ist der wahre Odem des Sozialismus. Eine Welt muss umgestürzt werden, aber jede Träne, die geflossen ist, obwohl sie abgewischt werden konnte, ist eine Anklage; und ein zu wichtigem Tun eilender Mensch, der aus roher Unachtsamkeit einen Wurm zertritt, begeht ein Verbrechen."

Raute

Birnstingl & Genoss_innen[1]

Antirassismus muss Praxis werden können!

Für eine strategisch kluge, radikal positionierte, andockfähige[2] antirassistische Bewegung

Seit einem Jahr besteht in Wien das offene antirassistische Treffen. Folgender Text soll die Entwicklung dieses Zusammenhanges nachzeichnen und Fragen antirassistischer Interventionen[3] diskutieren, die angesichts der aktuellen Bewegungssituation in Ö[4] sinnvoller Weise gestellt werden.

Das Nachbereitungstreffen für den Mayday 2009, der dem zehnten Todestag des am Abschiebeflug getöteten Marcus Omofuma gewidmet war, war der Moment der Konstituierung des offenen antirassistischen Treffens. Der Wunsch, "Antirassismus Praxis werden" zu lassen, der von einigen Aktivist_innen angesichts einer innerhalb der Linken trist aussehenden Situation stark gemacht wurde (seit 1999/2000 gab es quasi keine sichtbare antirassistische Organisierung mehr), konnte sich schließlich gegen den Vorschlag, anlassbezogen weiterzuarbeiten und erst im Mai 2010 wieder für die nächsten 10-jährigen Todestage zu mobilisieren, durchsetzen. Gefüttert war das dringende Bedürfnis unter anderem durch die aktuelle Erfahrung mehrfacher und brutaler Polizeirazzien in einem Asylwerber_innenhaus im 17. Bezirk, von denen eine durch eine spontan organisierte Beobachtungsdemo von etwa 60 Leuten zumindest vernehmlich gestört werden konnte. Dies nur als eines von vielen Beispielen für die Notwendigkeit organisierter antirassistischer Praxen.


Ein- und Ausschlüsse, Codes und geheime Integrationswünsche

Das damals noch so genannte "Antiraplenum" war bei den ersten drei Treffen ein migrantisch und nichtmigrantisch, white/colored/black gemischter Zusammenhang. Diskussionen verliefen quer durch formale und inhaltliche Ebenen - im anfänglichen Enthusiasmus, endlich wieder kontinuierlich aktiv zu werden, wurden Ideen gesammelt, Interessenszusammenhänge gebildet und versucht, eine möglichst offene Austauschplattform zu etablieren. Das Spektrum reichte von Unterstützung in der rechtlichen Praxis über Übung im zivilen Ungehorsam, Unterwanderung der Institutionen von links bis hin zu gemeinsamer Wissensaneignung von Theorie. Ob das Antiraplenum eine fixe Gruppe oder ein offenes Netzwerk würde, stand nicht fest.

Woran es liegen konnte, dass nach der Sommerpause eine großteils personelle Neugründung stattgefunden hat, die in den ersten Monaten nur aus - halten wir es mit Kanak Attak - Bioösis bestand, gab natürlich Stoff für wilde Diskussionen voller Selbstbeschuldigungen und freier Interpretationen. Hatten wir das Konzept Integration nicht kapiert? Waren wir doch nur wohlmeinende Stellvertreter_innen der nicht-eigenen Sache? Wessen Sache ist Rassismus? Und wer ist eigentlich eine richtige Antirassistin?

Wenn sich die Aufregung legt, können wir feststellen: Alles eine Frage der Alltagspraxis. Ist der gesamte Freund_innenkreis bis auf ein, zwei Ausnahmen weiß und mit weißer Geschichte befasst, dann kann die politische Arbeit das nur widerspiegeln, und der Kampf um eine "andere" Zusammensetzung bleibt einer um Quoten und Legitimierungen. Schaffen wir es, in Arbeits/Studien/Lern/Bewegungs/Liebes/Freund_innen/Wohnzusammenhängen Verschiebungen anzustellen und uns selbst zu verschieben, dann wird auch die politische Praxis notgedrungen zufriedenstellender sein.

Andererseits ist Rassismus white-made und hat uns als Erb_innen eines kolonialen Europas zu beschäftigen. In diesem Spagat stellen wir die Frage: Wie sieht die politische Praxis "der Antira" aus, wenn sie nicht mehr nur aus weißen Projektionen gefüttert wird? Und denken, ab hier wird es spannend.


Von Lesbos nach Traiskirchen, auf keinen Fall zurück

Das NoBorder-Camp auf Lesbos im Sommer 2009, an dem etwa 30 Aktivist_innen aus dem Wiener Umfeld teilnahmen, hat sicherlich seinen Anteil an antirassistischer Politisierung und einer neuen Perspektivenbildung Interventionen betreffend. Mit der obligatorisch kritischen Kritiker_innenhaltung ausgestattet (können wir es nicht sowieso nur falsch machen?) wurde Anfang Herbst dann doch mit interventionistischen Programmen ernst gemacht und von einer Gruppe rund um den 23. Oktober der Flughafen mit Anti-Abschiebeaktionen bespielt. Im Antiraplenum, das mittlerweile in "offenes antirassistisches Treffen" umbenannt war, um wenigstens hier der Codierung Einhalt zu gebieten, wurde an einer vagen Kampagne gegen rassistische Staatsgewalt gefeilt. Inzwischen hatten andere Zusammenhänge die Idee, den Polizeidienst zu diffamieren - auch wenn es dann mittels einer großangelegten Anwerbeaktion leider der Gegenseite gelungen ist, Personal aufzustocken.

Im Februar 2010 schließlich begannen Aktivist_innen aus dem offenen antirassistischen Treffen, sich in Vorbereitung einer Infoveranstaltung in Traiskirchen umzusehen.[5] Und trafen, überraschend oder nicht, auf Interesse bei unterschiedlichsten Leuten vor Ort: sowohl unterstützende Bäckerinnen, Pfarrer und Telefonladenbesitzer als auch eine Menge von skeptisch bis gespannt Interessierten aus der Erstaufnahmestelle. Bei einer Diskussionsveranstaltung zu den Themen Residenzpflicht und Gebietsbeschränkung[6], die super besucht war aber mäßig gut ankam, malten drei Jugendliche aus Afghanistan ein Transpi mit der Aufschrift "No Border, No Nation, Stop Deportation" - das hatten sie, wie sich auf Nachfrage herausstellte, auf Lesbos gelesen, als sie dort im Anhaltelager Paganí waren und eine Demo vom NoBorder-Camp vor den Toren solidarisch Halt machte. Befriedigt stellen wir fest: Anknüpfungspunkte gibt es zuhauf. Im Zentrum nachfolgender und aktuell geführter Debatten im antirassistischen Treffen bzw. zwischen diesem und Leuten in der Erstaufnahmestelle steht die Frage, wie eine Zusammenarbeit, eine gemeinsame politische Handhabe ermöglicht werden kann. Die identitären Fronten - "wir machen mit euch politische Aktionen" versus "verhindert gefälligst unsere Abschiebung, dann sehen wir weiter" - müssen erst einmal abgebaut werden, um dahinter zu kommen, wie wir rasch handlungsfähig werden, auch wenn wir auf eine Art nicht dasselbe wie, auf eine andere vielleicht mehr leisten können als Anwält_innen und professionelle Berater_innen. Die Angst auf unserer Seite, uns mit Beratungsarbeit und dem Schreiben von Einsprüchen zu überladen, sodass wir zwar ständig sinnvolle, aber nur selten befriedigende Arbeit machen, ist jedenfalls da.

Ein Diskussionsfeld, das auf Lesbos zu viel Missmut geführt hat, und uns dennoch in abgeschwächter Form weiterhin begleitet, ist das Definieren des Politischen. Was ist politische Arbeit? Was ist Sozialarbeit? Und wer will sich wovon abgrenzen? Selbst wenn wir schließlich beruhigt zu der Erkenntnis kommen können, dass jedes Format Analyse, Reflexion und Positionierung braucht, um politisch zu sein - egal ob mensch Leuten, die gerade auf Lesbos ankommen, ein Zelt zum Schlafen anbietet[7] oder mit schwarzen Kapuzen am Kopf die Autos von Bullen und Bossinnen anzuzünden plant - bleibt es eine Frage unserer Ressourcen und eine Abwägung der Repression, wie viel wir wo investieren können. Für die nächste Zeit steht daher sowohl ein (beratender) Austausch mit der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung als auch eine Verbesserung der Kommunikation mit den Leuten in Traiskirchen an - und intern ein paar Entscheidungsfindungen.

Mitten in die Kontaktaufnahmen nach Traiskirchen und unsere Auseinandersetzung darüber, wie offen das antirassistische Treffen denn nun sein sollte und was für Konsequenzen das für unsere Handlungsfähigkeit hätte, kam der Aufruf, die Abschiebung zweier Spieler des FC Sans Papiers zu verhindern.


Zu neunzigst lachen über das Lichtermeer[8] - machen wir eh alles richtig?

Wenn in Ö viele Leute auf die Straße gehen, dann weiß die echte Aktivistin gleich: Da ist was faul. Da versteckt sich doch garantiert der populäre Rassismus hinter dem populistischen, da zeigen die roten Rechten mit dem Finger auf die braunen. Da liegen ganze Hundeberge begraben.

Andererseits, wenn in Ö die Linke auf die Straße geht, ist sie meist nicht so vielzählig. Die versuchte Verhinderung der und die Proteste gegen die Abschiebung von Cletus Boniface Ugona und Eze Vincent vom Fußballclub Sans Papiers, die sich vom Polizeiüberfall am Donnerstag, 29. April, bis zum Mittwoch, 5. Mai, auf den Straßen von Wien und dem Flughafen Schwechat abspielte, waren, inklusive der andauernden Nachbereitung, sicherlich die besten Aktionen, die eine autonome antirassistische Bewegung in Wien seit langem geschafft hat:

• Die Aktionen wurden spontan, schnell und relativ mutig durchgeführt - mehrere unangemeldete Demos hintereinander, die als Akt des zivilen Ungehorsams sowohl der viel gebrüllten Parole "Wir sind friedlich, was seid ihr?" als auch einem übertragenen "Feuer und Flamme den Abschiebebehörden!" gerecht wurden.

• Eine Einigung auf eine Vielzahl von Protestformen kam zustande, ohne dass Richtungsstreits breitflächig ausgetragen werden mussten (Demos, Blockaden, Delegation in den Asylgerichtshof, Medien- und Öffentlichkeitsarbeit, Zusammenarbeit mit Anwältinnen usw.)

• Es gab viele kleine Aktionen, die Gruppen auch je nach ihren Vorstellungen von Strategie und Radikalität unabhängig voneinander machten.

• Ein strategisch kluger Umgang mit den Mainstreammedien wurde etabliert - Infos wurden gestreut, ohne allzu viele Kompromisse in der politischen Haltung einzugehen. Und das Medienecho in den Mainstreammedien lässt grüßen: Wann hat krone.at jemals zuvor zwischengetitelt "Kein Mensch ist illegal"?

• Trotz Hierarchiestreitigkeiten und internen Beleidigtheiten über vorschnell getroffene Entscheidungen und Stellvertreter_innenkämpfe wurde mit immensem Durchhaltevermögen an einem Strang gezogen.

Aber es waren 90, manchmal 150 Leute auf der Straße, ein Zweitausendstel des viel beschimpften Lichtermeers. Weil wir keine Fackeln angeboten haben? Weil wir schlechte Pressearbeit machen? Weil wir so ungern unsere selbstgemachten Codes auflösen? Denn dass sich zu hunderttausendst eine Abschiebung wirklich verhindern ließe (mensch stelle sich so eine Menschenmenge um die Frontexmaschine am Flugfeld vor), wird kaum jemand bestreiten.

Wir wollen keinen Zynismus gegenüber radikalen Errungenschaften linker Bewegungen entwickeln, die immer mit Abgrenzungsprozessen einhergehen. Radikal bedeutet in diesem Sinne ein Stück weit angstlos, laut, abseits und neben Gesetzen vorbei oder eben dagegen, ziviler Ungehorsam als notwendige und machbare Praxis. Kein bevormundeter Bitt- und Trauermarsch mit Kerzen in der Hand. Mitmachen beim "Radikal-Sein" wird aber einerseits für viele schwer möglich, wenn mensch sich damit umso mehr den Kontrollmechanismen der Exekutive aussetzt: Demonstrationen, die jene nicht schützen können, die als erste von Polizeikontrolle betroffen sind und die härtesten Konsequenzen zu erwarten haben (Migrant_innen, Sans Papiers - sofern sie nach dem racial profiling[9] der Behörden auszumachen sind oder es kollektive Ausweiskontrollen gibt), produzieren von vornherein Ausschlüsse und dürfen sich nicht über ihre Homogenität wundern. Die vielgerühmte Sichtbarmachung, die Selbstvertretung auf der Straße, gerät in den Widerspruch, dass die Sichtbaren eben auch für die Polizei sichtbar sind. Andererseits bringt ein gewisses Verständnis von Radikalität mit sich, dass viele Leute nicht mitmachen wollen oder können, weil der Zugang fehlt. Diesen Zugang zu schaffen wäre Radikalität (und Radikalisierung) pur.


Andockfähigkeit, wie radikal kannst du sein?

Angedockte Massen bringen erstens einen quantitativen Gewinn: Blockieren wird leichter, der geschundene Eindruck ist größer, die Medien machen mit - und die Polizei bleibt in der Minderzahl. Sichtbarkeit als Unübersichtlichkeit muss die Devise sein.

Zweitens gibt es Diskussionen, die eine ganze Gesellschaft führen muss - etwa die über das Hierbleiben, das Abschieben, die freie Bewegung, die Bilder, die institutionalisierter Rassismus zur Projektion bereitstellt. Diese Diskussionen können weder Kleingruppen vorbehalten, noch in der Sprache von hundert Autonomen nachhaltig angeleiert werden. Wenn Antirassismus Praxis werden soll, bedarf es dazu kollektiver Anstrengungen, dieses Praktizieren auch jenen zu ermöglichen, die die Codes der linken Bewegung/en entweder nicht kennen oder berechtigter Weise kein Interesse daran haben, sie zu übernehmen. Die dringende Frage stellt sich, wie Antirassismus in eine massenfähige Debatte umgeformt werden kann. Welche Begriffe müssen wo platziert werden?

Dem allen steht der ständig drohende Kompromiss gegenüber, die Angst, an Kontur zu verlieren, wenn "alle" mitmachen dürfen und es vielleicht gar nicht so gut wissen, gar nicht so richtig machen wie "wir". Woher kommt die Angst vor Konturlosigkeit? Fire will always burn. Allianzen einzugehen, strategische Bündnisse, populäre Bewegungen zu gestalten, heißt nicht, dass alle Interventionsformen eingeebnet werden.

Vielmehr hieße es, antirassistische Arbeit genauer wahr- und ernstzunehmen (etwa die vielen verhinderten Abschiebungen und Hilfestellungen in Gemeinden, deren Namen wir gleich wieder vergessen) und darüber Bündnisse einzugehen, die nicht nur aktionistisch, sondern auch an einer Diskursverschiebung interessiert sind. Es hieße, die eigenen mühsam erlernten Interventionsformen weiterzuentwickeln und weiter hochzuhalten, ohne sie als die einzig möglichen zu erachten. Anstatt alle Allianzen abzulehnen, könnten wir solidarische Kritikfähigkeiten entwickeln, die Antirassismus aus unzugänglichen Vereinslokalen und karitativen Pfarrveranstaltungen herausheben und zur (yes!) andockfähigen Alltagspraxis machen.


Desintegration am Familienfest

Für jetzt, unmittelbar nach Ende dieser aktuellen Phase gemeinsamer Aktionen, ist es nötig, die gewonnenen Erfahrungen weiterzutragen, den Spirit der kollektiven Anstrengung nicht erlöschen zu lassen. Wir müssen sowohl auf der Ebene kurzfristiger Praktikabilität ernsthaft nachdenken (Am wichtigsten: Wie können abgeschobene Freund_innen wieder zurückkommen? Dann: Wie unterstützen wir die, die nicht mit Verwaltungsstrafen davongekommen sind?) als auch langfristig anvisieren, Antirassismus als gesellschaftliche Praxis zu ermöglichen, und zwar breitflächig und dauerhaft.

In den vergangenen Wochen hat sich wieder einmal herausgestellt, dass an konkreten Projekten nachhaltige Schnittflächen entstehen. Mit einem neuen W.I.R, das seine Stärke aus einem extrem leiwanden Miteinander-Arbeiten bezieht und mühevollen Versuchen aller Seiten, integrativ zu sein (das Weißsein von Gruppen durch schlechte Anwerbepolitik zu durchbrechen, keine Stellvertreter_innen zu sein, mit projiziert authentischen Protagonist_innen zusammenzuarbeiten), die ohnehin zum Scheitern verurteilt sind, das Wasser abgräbt. Stattdessen, nochmal: ins Gelingen verliebte Alltagspraxen entwickeln.

• Selbstvertretungsprozesse mit- und starkmachen!

• Sich ständig einmischen - keine Kontrolle, keine Razzia, keinen Übergriff einfach hinnehmen (ja, es geht, einen Polizeibus zur Stoßzeit am Gürtel zu siebent aufzuhalten).

• Sich Wissen aneignen (wer kann wann abgeschoben werden und wie kann das auf verschiedenen Ebenen verhindert werden, was passiert in der Schubhaft, wie können Nationalgrenzübertritte funktionieren, wo gibt es welche Organisierungszusammenhänge, an die mensch sich wenden/anbinden kann...) und Wissen verbreiten: ziviler Ungehorsam ist auch nach dem StGB keine Straftat!

• Die Polizei desavouieren - den müden Lächeldienst quittieren helfen.

• FC Sans Papiers Ultras gründen.

• Sich mit den Nachbar_innen verbünden.

• Antirassistische Front-Transpis auf der Gewerkschaftsdemo auspacken.

• Sich Desintegrationskonzepte aneignen.

• Akzentfreiheit ablehnen - auch beim Familienfest[10].

Apropos Familie: haben wir nicht zu einem hohen Prozentsatz Omas und Urgroßtanten am völlig unterschätzten Land, die in ihren guten Stuben mühelos minderjährige Flüchtlinge verstecken könnten? Grannies hook up & unite!


Anmerkungen

[1] Getippt von Eine_r aus dem antirassistischen Treffen, entstand dieser Text wie die meisten aus einer Vielzahl von Debatten und Inputs und mit wertvollem Feedback von Freund_innen und Genoss_innen. Danke!

[2] "Andockfähig" verwenden wir hier anstelle des häufiger gebrauchten Wortes "anschlussfähig". Wir wollen nicht I-Tüpferl-Reiten, aber Anschluss ist einfach kein schönes Wort mehr.

[3] Das antirassistische Treffen konzentriert sich - hauptsächlich aus Ressourcengründen - bisher auf Grenzen und ihre Überwindung, Il/Legalisierung und solidarische Arbeit im Bereich von Zulassungsverfahren, Schubhaft, Abschiebungen und anderen Formen rassistischer Polizeigewalt und Justiz. Daher liegt der Fokus des vorliegenden Textes auf Rassismus als staatlich ausgeübte Gewalt und lässt etwa den gesamten Bereich undokumentierter Arbeit und antirassistischen Organisings aus. Praktischer Weise gibt es dank der Nähe zu den politischen Zusammenhängen von trans*act (transact.noblogs.org) und dem Prekärcafé in Wien (http://www.myspace.com/prekaer) sehr wohl Annäherungen an diese Arbeitsbereiche.

[4] Ö steht nicht so sehr für den geographischen, sondern für den politischen Raum, innerhalb dessen Bewegungen stattfinden. Natürlich sind die Grenzen in diesem Sinne durchlässig, politische Bewegungen definieren sich ungern über Nationalstaaten - werden aber gerade im Kampf gegen darin getroffene Entscheidungen konstituiert: siehe die Abschiebepolitik der österreichischen Bundesregierung oder die dem Innenministerium nach-, manchmal auch vorgelagerte Bundespolizei.

[5] In Traiskirchen (Niederösterreich) befindet sich eine der Erstaufnahmestellen für Leute, die ein Asylverfahren anstreben. Die dort zu verbringende Phase wird rechtlich als "Zulassungsverfahren" bezeichnet, an dessen Ende entweder eine drohende Abschiebung oder der Beginn des Asylverfahrens steht.

[6] Residenzpflicht ist eine Auflage für in der BRD lebende Asylbewerber_innen und Migrant_innen mit Duldungsstatus. Es ist den von Residenzpflicht betroffenen verboten, den Meldebezirk bzw. -landkreis ohne schriftliche Genehmigung zu verlassen. Dagegen gibt es mehrere Kampagnen, unter anderem von der Flüchtlingsinitiative Brandenburg. Die Gebietsbeschränkung gilt für Leute im Zulassungsverfahren zum Asylverfahren in Österreich und verbietet das Verlassen des Bezirks. Dagegen müssen erst Kampagnen angeleiert werden.

[7] Mensch mag es nicht glauben, aber solcher Art Solidarität wurde auf dem NoBorder-Camp auf Lesbos von Einigen als "Rotkreuzhabitus" beschimpft.

[8] Das Lichtermeer war eine von der NGO SOS Mitmensch organisierte Großdemonstration gegen das rassistische "Österreich zuerst"-Volksbegehren der FPÖ (Freiheitlichen Partei Österreichs), die am 23. Jänner 1993 in Wien stattfand. Rund 300.000 Leute zogen dabei mit Kerzen und Fackeln durch die Wiener Innenstadt. Diese Ereignisse bewirkten entgegen der Erwartung Einiger keine Korrekturen im Asyl- und Fremdenrecht durch die regierenden Parteien SPÖ und ÖVP. (Immmerhin erschien aber ein Lichtermeer-Sampler mit Hits von Wolfgang Ambros über EAV bis zu STS und Wilfried.)

[9] racial profiling bezeichnet die polizeiliche Fahndung und Kontrolle nach rassistischen Kriterien. Etwa: Ausweise von Leuten kontrollieren, die nicht weiß sind oder aufgrund anderer Kategorisierungen in das Beamt_innenbild von "Migrant_innen mit unsicherem Aufenthaltsstatus" passen.

[10] Birnstingls Vater, als ungarischer Jude radebrechend in eine niederösterreichische Bäuer_innenfamilie einheiratend, empfand das als einzigartige Strategie, den Antirassismus aufs reingeweißte Land zu bringen - drum sei sie hier stark gemacht und weiterempfohlen.

Raute

Coordinamento per lo sciopero del lavoro migrante in Italia:
[Koordination für den Streik migrantischer Arbeit in Italien]

10 Thesen zu migrantischer Arbeit

Übersetzt von einigen Leuten aus dem Umfeld der Grundrisse.

Dieser Text ist ein Ergebnis der Mobilisierungskampagne für den 1. März 2010, an dem unter dem Titel "24 Stunden ohne uns" MigrantInnen in Frankreich, Italien und anderen europäischen Ländern aufgefordert wurden, ihre Arbeit für einen Tag niederzulegen. Die Thesen gehen zurück auf Diskussionen von AktivistInnen in Brescia, Bologna, Turin, Padua, Reggio Emilia, Rom etc. und sind der Versuch einer Verständigung über die Veränderungen der Arbeit in Zeiten der Krise.

1. In Italien ebenso wie im restlichen Europa stellen die MigrantInnen einen immer wichtigeren Teil der Arbeitskraft, und zwar sowohl numerisch als auch in Bezug auf die Produktion. Sie haben mit allen ArbeiterInnen gemeinsam Kämpfe und Streiks zur Verteidigung der Arbeitsrechte ausgefochten. Kein Arbeitskampf kann heute noch die zunehmend wichtige Rolle der migrantischen Arbeit ignorieren.

2. Die Migrationsgesetzgebung ist Teil der Arbeitsgesetzgebung. Vom Gesetz Turco-Napoletano vorbereitet, hat das Gesetz Bossi-Fini - neben den vielen Erscheinungsformen einer vertraglichen Prekarisierung - durch die Koppelung von Aufenthaltstitel und Arbeitsvertrag in hohem Maße erpressbare ArbeiterInnen geschaffen, da diese auch, was das Bleiberecht angeht, prekarisiert werden: Wer die Arbeit verliert, verliert auch seinen Aufenthaltstitel. Das Gesetz Bossi-Fini hat auf diese Weise die Arbeit selbst geschwächt.

3. Das im letzten Jahr von der Regierung verabschiedete "Sicherheitspaket", wie auch das Gesetz Bossi-Fini, ist eine der Antworten der Regierung, mit der sie die ArbeiterInnen den Preis für die Krise bezahlen lässt. Der im Sicherheitspaket verankerte institutionelle Rassismus und die so produzierte Illegalisierung, macht die MigrantInnen noch leichter erpressbar.

4. Die Krise ist eine allgemeine Krise und unterscheidet nicht nach Hautfarben. Alle, MigrantInnen ebenso wie ItalienerInnen, müssen den Preis dafür bezahlen. Die MigrantInnen sind jedoch nicht nur von aller sozialen Sicherheit ausgeschlossen, sondern können darüber hinaus auch abgeschoben werden. Der institutionelle Rassismus dient der Spaltung der ArbeiterInnen, indem er einige glauben macht, dass sie "beschützt" werden, während andere rausgeworfen und abgeschoben werden (und während die UnternehmerInnen gleichzeitig ihr Kapital über die Grenzen schaffen, um die migrantische Arbeitskraft "Zuhause" auszubeuten). Der institutionelle Rassismus verweist also auf die Feinde unten, um jegliche Forderung nach oben abzuwürgen.

5. Zentren zur Identifizierung und Abschiebung (CEI - Centri di identificazione ed espulsione früher Centri di Permanenza Temporanea) sind ein Ventil für den Arbeitsmarkt: Sinkt die Nachfrage, wird die überschüssige migrantische Arbeitskraft illegalisiert (der Verlust der Arbeitserlaubnis ist gleichbedeutend mit dem Verlust des Aufenthaltstitels) und abgeschoben. Die Verlängerung der Inhaftierungsdauer in den CEIs kann durch die Krise erklärt werden: Sechs Monate lang können MigrantInnen im Inneren des Landes "abgeschoben" werden, ehe man sie vielleicht über die Grenze zurückschickt.

6. Die Klandestinität wird nicht bekämpft, sondern produziert. Wer die Arbeit verliert, verliert obendrein den Aufenthaltstitel. Außerdem finden sich auch diejenigen mit Aufenthaltstitel immer öfter in einem unbestimmten Zustand zwischen regulärem und irregulärem Aufenthalt, und zwar wegen der langen Wartezeiten, die bei der Erneuerung des Titels entstehen. So vervielfachen sich die Formen informeller Arbeit ohne vertraglichen und rechtlichen Schutz. Die informelle Arbeit der MigrantInnen fungiert als Modell für die zunehmende Entstrukturierung und Informalisierung der Arbeit insgesamt, die nur noch der Regel des Machtausgleichs zwischen UnternehmerInnen und ArbeiterInnen gehorcht. Aus diesem Grund wird die Mehrzahl der Abschiebungen nicht durchgeführt, sondern dient lediglich der Schaffung von noch erpressbareren Männern und Frauen für den Arbeitsmarkt.

7. Die von den Migrantinnen verrichtete Haus- und Sorgearbeit ist das offensichtlichste Moment dieses Prozesses. Dieses verweist darauf, dass das System der sozialen Produktion und Reproduktion nicht von der migrantischen Arbeit absehen kann (was der Amnestieschwindel einzig für SorgearbeiterInnen bekräftigt). Darüber hinaus macht es deutlich, dass die geschlechtliche Arbeitsteilung, die den Frauen die Haus- und Sorgearbeit überträgt, institutionalisiert und entlohnt ist; und dass es nicht ausreicht, die Tarifverträge [contrattazione] zu verteidigen, sondern dass vielmehr Kampfformen entwickelt werden müssen, die dem Prozess der Informalisierung der Arbeit gewachsen sind.

8. Die Verschärfung der Kriterien für Familienzusammenführung, BürgerInnenschaft, aber auch was den Zugang zu sozialem Wohnbau angeht, haben den Effekt, dass in Italien nur isolierte und zu vorübergehendem Aufenthalt gezwungene ArbeiterInnen zum Bleiben berechtigt sind. Wer bleibt, muss wissen, dass die Zukunft schon vorgezeichnet ist: Die Kinder müssen die rassistischen Praktiken, die mit dem Schuleintritt verbunden sind, akzeptieren; Praktiken, die es ihnen verunmöglichen, aus ihrer Position als ArbeiterInnen auszutreten. Darüber hinaus werden die ArbeiterInnen keine Pension mehr haben. Im Angesicht der Krise ist es die Strategie der Regierung, die sozialen Kosten der Arbeit auf ein Minimum zu reduzieren. Dies erklärt auch, wieso MigrantInnen, die sich für eine Abschiebung oder Ausreise aus Italien entscheiden, die von ihnen bezahlten Beitragsleistungen nicht rückerstattet bekommen. Die MigrantInnen nehmen einen globalen Angriff auf die letzten Residuen der sozialen Wohlfahrt vorweg, der alle ArbeiterInnen betrifft.

9. In Anbetracht einer solchen Situation ist es notwendig, sich nicht nur gegen Kündigungen und die verschiedenen Vertragsformen zur Wehr zu setzen; vielmehr müssen die nächsten Mobilisierungen zu Arbeitsrechten die Losung der Aufhebung des Gesetzes Bossi-Fini ebenso inkludieren wie die Forderung nach einer Regularisierung aller MigrantInnen. Die Kämpfe der MigrantInnen müssen die Arbeitsorte erfassen und zum Bestandteil von ein- und demselben Kampf aller ArbeiterInnen werden.

10. Die Krise ist die Vorbereitung für eine komplette Umstrukturierung der Arbeitsverhältnisse. Ihr Preis beschränkt sich nicht auf das, was die ArbeiterInnen heute mit Kündigungen und Lohnausgleichskasse bezahlen, sondern stellt darüber hinaus einen neuerlichen Angriff auf ihre Fähigkeiten zur Organisierung sowie auf ihre Stärke dar. Dieses Match wird heute großteils auf dem Rücken der MigrantInnen ausgetragen. Dieser Umstand verlangt nach einer starken Antwort auf Rassismus und das Gesetz Bossi-Fini: Es verlangt nach einem Streik der migrantischen ArbeiterInnen als Streik aller ArbeiterInnen, und zwar sowohl der italienischen wie auch der migrantischen.


Die Übersetzung basiert auf der italienischen und der französischen Version des Textes, der unter
http://lavoromigrante.splinder.com/post/22318404/Primo+marzo++MATERIALI:+10+tes abgerufen werden kann

Raute

Stefan Almer

Die Sans-Papiers oder die "Tricksters" des 21. Jahrhunderts

Übersetzt von Stefan Almer und Birgit Mennel

"Der Trickster ist die sagenumwobene Figur des Schelms in menschlicher oder tierischer Gestalt. Gewöhnlich navigiert der Schelm eher dank seines Sinns für die List als dank seiner Stärke erfolgreich in einer Umwelt, in der seine Feinde entschlossen sind, ihn zu erlegen - oder ihn zu essen. Grundsätzlich wäre es ihm unmöglich, seine Feinde in einer direkten Konfrontation zu bezwingen, da er kleiner und schwächer ist als seine Widersacher. Nur dank seines Wissens über ihre Gewohnheiten trickst er sie aus, zieht Vorteil aus ihrer Habgier, ihrer Größe, ihrer Leichtgläubigkeit oder ihrer Hast; er schafft es, ihren Klauen eins ums andere Mal zu entwischen, sein listenreiches Tun kann darin bestehen, den Idioten zu spielen oder so gewandt mit Worten zu spielen, dass er seine Widersacher damit in die Irre führt."[1]

Die Grundvoraussetzung dafür, ein Territorium und eine Bevölkerung zu regieren, besteht darin, eine genaue Kenntnis über diese zu erlangen. Dieser Logik entsprechend stellen die verschiedenen Regierungen Europas eine wahrhafte Besessenheit zur Schau, wenn es um die vollständige Kontrolle und Kenntnis ihrer Territorien und Bevölkerungen geht. Im Falle der Migrationspolitik wirkt sich dies in einer wahren Flut von Gesetzeserlässen aus, in der Einrichtung von Institutionen wie Frontex, in der Installierung von Auffang-, Inhaftierungs- und Abschiebelagern (nicht nur auf dem europäischen Kontinent) sowie in der Neubestimmung des Auftrags alteingesessener Organisationen, wie etwa der Internationalen Organisation für Migration, die heute maßgeblich an der weltweiten Lenkung von Migrationsströmen beteiligt ist.

Die jeweiligen Verwaltungsbehörden agieren dabei als "Kundschafter" des Staates, die den Auftrag haben, jedes Individuum, das sich auf ihrem Herrschaftsgebiet befindet, zu registrieren, zu nummerieren, zu verorten sowie zu identifizieren. Ja mehr noch, ihr Mandat erstreckt sich bis zur Entscheidung darüber, welches Leben als "wertvoll" bzw. "wertlos" zu klassifizieren ist: In dieser Perspektive ist denn auch der/die Sans-Papiers nicht befugt, sich legal im jeweiligen Verwaltungsterritorium aufzuhalten, sofern sein oder ihr Leben als - ökonomisch, sozial - wertlos eingestuft wird, und zwar den Bedürfnissen des jeweiligen Staates entsprechend.

Die Sans-Papiers widersetzen sich per Definition diesem Bestreben: Das Fehlen von bestimmten Papieren stellt für sie keinen legitimen Grund dar, der sie zum Verlassen des Landes, das in vielen Fällen längst ihr Zuhause ist, bewegen könnte. Sie finden sich daher in eine "administrative Klandestinität" gedrängt, mit der die Prekarisierung ihrer Existenz einhergeht. Gleichzeitig ist es gerade diese Klandestinität, die es vielen von ihnen ermöglicht, sich dem staatlichen Zugriff - zumindest zeitweilig - zu entziehen. Die Existenz der Sans-Papiers erscheint folglich sowohl für die jeweilige Regierung wie auch für die staatlichen Administrationen als "politisches Problem", als eine Art Angriff auf die Souveränität des Staats, obschon Regierung und Administration selbst es sind, die diesen Status mitzuverantworten haben. Der Staat interpretiert demnach das Verweilen der Sans-Papiers auf seinem Staatsgebiet als Verletzung seiner territorialen Souveränität durch unbefugtes Eindringen. Sans-Papiers werden damit zu Eindringlingen[2], die der souveräne Staat wieder auszustoßen versucht. Dass ihr Eindringen als Störung empfunden wird, ruft den/die Sans-Papiers als politische Figur erst auf den Plan: Der/die Sans-Papiers lässt sich also als Antwort auf die zunehmende Verfolgung und Unterdrückung der Undokumentierten verstehen.

Das Auftauchen dieses für viele äußerst dienlichen "politischen Kernproblems", das der/die Sans-Papiers darstellt, nimmt insbesondere vor dem Hintergrund der ineinander verflochtenen Interessen und Absichten der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und medialen AkteurInnen schärfere Konturen an: So korrespondiert das Interesse von WirtschaftsakteurInnen an besonders willigen und billigen Arbeitskräften trefflich damit, dass PolitikerInnen[3] um ihre (Wieder-)Wahl ständig ebenso besorgt sind wie um ihre Karrierepläne (ein etwaiger Wechsel in die lukrative Privatwirtschaft), während MedienakteurInnen, vereinfacht gesagt, an hohe Auflagen oder Einschaltquoten gebunden sind, um Werbeeinnahmen zu erwirtschaften. Die jeweiligen AkteurInnen bedienen sich unterschiedlichster Ideologien (rassistische Theorien, Identitätsdiskurse, Ökonomietheorien etc.), um ihre persönlichen Belange bzw. die ihrer Interessengruppe vor sich selbst und vor anderen zu rechtfertigen.

Hierbei ist zu präzisieren, dass die Sans-Papiers als ökonomischer Faktor für gewisse Wirtschaftssektoren in Europa längst unverzichtbar geworden sind, insbesondere wenn es um die sogenannte "Auslagerung vor Ort"[4] geht. Ganze Wirtschaftszweige, die nicht in Billigproduktionsländer verlagert werden können, wie etwa das Baugewerbe, die Landwirtschaft etc., sind auf diese billigen und willigen, weil illegalisierten Arbeitskräfte angewiesen. Doch auch Wirtschaftssektoren wie das Textilgewerbe oder das krisenarme und lukrative Sicherheitsgewerbe können nur dank dieser "Auslagerung vor Ort" weiterhin mit Billiglohnländern konkurrieren. Die jeweiligen Unternehmen treten organisiert auf und versuchen ihrerseits aktiv auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen und die politische Landschaft zu ihren Gunsten umzugestalten. Dass die Verwaltungsbehörden auch zukünftig Sans-Papiers produzieren, ist daher auch in ihrem Interesse, da damit garantiert ist, dass sie weiterhin auf gefügige und billige Arbeitskräfte zurückgreifen können.

Migration hat sich längst in ein medienpräsentes, politisches Kernthema verwandelt. Dies hat zur Folge, dass sich Menschen mit administrativen Problemen, etwa eine Verlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligung betreffend, auf wundersame Weise in ein zentrales sozialpolitisches Problem verwandelt sehen und sich nunmehr als solches allabendlich in den Hauptnachrichten bewundern können. Diese Wandlung macht aber nicht nur ihre ökonomische Ausbeutung und ihre politische Instrumentalisierung nachhaltig möglich; vielmehr dient ihre unsichere Existenz zu guter Letzt auch noch dazu, die imaginäre "nationale Identität" zu speisen.[5]

Dieser liegt die wohlbekannte alte Wahnidee einer "'rassischen' und kulturellen Überlegenheit" zugrunde: nämlich die der westlichen Kultur, die sich über ihre "kolonisierte Alterität", ihr "absolutes Anderes" definiert. Dieses Verhältnis kann etwa aus der Perspektive des subsaharischen Afrika begriffen werden, wie Achille Mbembe nahe legt - welchen Weg die französische Einwanderungspolitik eingeschlagen hat, dürfte so rasch klar werden: "In mehrerlei Hinsicht ist es [Afrika] die Antithese, vor deren Hintergrund sich der Westen den Ursprung seiner eigenen Normen verständlich macht, sich ein Bild von sich selbst erarbeitet und dieses in eine Gesamtheit anderer Signifikanten integriert, deren er sich bedient, um das festzuhalten, wovon er annimmt, es sei seine Identität. [...] Es [Afrika] ist sein Unbewusstes, 'dieses erfundene Etwas', das paradoxerweise für seine Ordnung notwendig wird, da 'diesem Etwas' eine enorm wichtige Rolle zukommt, und zwar sowohl in jenem Universum, das sich der Westen erschafft, wie auch hinsichtlich seiner apologetischen Anliegen, seiner Praxen des Ausschlusses sowie seiner Brutalität gegenüber anderen."[6]

Für die Sans-Papiers geht aus diesem nur schwer verdaulichen Gebräu von xenophober Politik, institutionalisiertem Fremdenhass, umsatzorientierter Medienrepräsentanz, wirtschaftlichen Interessen an billigen Arbeitskräften, immer undurchsichtiger und verworrener werdenden Gesetzen und administrativen Praktiken sowie einer an Inhaftierung orientierten Exekutivgewalt[7] ein unwirtliches Territorium hervor, das von AkteurInnen verwaltet wird, die ihnen nicht nur größtenteils feindlich gesinnt sind, sondern zudem an der Wahnvorstellung einer "totalen Kontrolle" leiden. Als Antwort auf diese Situation entwickeln die listenreichen Sans-Papiers eine "Kunst der Taktik", eine Lebenskunst, die es ihnen erlaubt, sich in einem derart verminten Territorium nicht nur zurechtzufinden, sondern zu (über)leben. Ihr Widerstand besteht unter anderem darin, dass sie - um dem Zugriff dieser Mächte zu entkommen - Schlupfwinkel erschaffen und suchen, die es ihnen ermöglichen, in dem Augenblick in Deckung zu gehen und sich zu verstecken, da die Scheinwerfer der Macht sie ins Visier nehmen, und sich so dem Blick ihrer Jäger zu entziehen.

So verwandeln sich die Sans-Papiers in wahre Meister der Taktik, in "Trickster" einer Lebensweise, die es ihnen abverlangt, "das Spiel des Anderen [...] zu spielen/zu vereiteln"[8]. Da sie sich auf einem Gebiet bewegen, das größtenteils vom "Feind" kontrolliert und definiert wird, sind sie auf umfassende Kenntnisse eben dieses Territoriums angewiesen. Sie müssen nicht nur die Regeln, die administrativen Vorgaben sowie die für sie risikoreichen Orte kennen, sondern auch wissen, wann sie welche Worte oder Sätze sagen müssen bzw. wann es nötig ist, zu schweigen. Damit sie im feindlichen Territorium zurande kommen, bringen die Sans-Papiers als Trickster unablässig Listen und Taktiken zur Anwendung, die an die "griechische Metis"[9] denken lassen, ja sie werden zu wahren VirtuosInnen der Metis.

Anlässlich meiner im Jahr 2007 durchgeführten Forschungsarbeit La débrouille au quotidien. Etude des sans-papiers militants du collectif des sans-papiers à Marseille (Sich im Alltag zurechtfinden. Eine Studie zu den Sans-Papiers-AktivistInnen des Sans-Papiers-Kollektivs in Marseille) habe ich Azzam, Aïcha, Fatima und Abdechahid[10] kennengelernt. Alle vier sind legal mit einem Touristenvisum aus Algerien nach Marseille eingereist, in der Absicht, sich dauerhaft in dieser Stadt niederzulassen. Alle vier leben mittlerweile schon seit einigen Jahren in Marseille und sind aufgrund ihrer prekarisierten Lage als Illegalisierte dazu gezwungen, sich in einem von öffentlichen Politiken, Medien und Administrationen stratifizierten Raum zu bewegen, der ihnen größtenteils feindlich begegnet. Die damalige wie auch die aktuelle Gesetzeslage verunmöglicht es ihnen, auf behördlichem Wege die erwünschte langfristige Aufenthaltsbewilligung zu bekommen. Die letzte Möglichkeit, die ihnen bleibt, um ihre administrative Legalisierung in Frankreich zu erlangen, ist der politische Kampf; das heißt, ihre Stimme mittels eines Sans-Papiers-Kollektivs im öffentlichen Raum zu Gehör zu bringen, in der Hoffnung, dass die Regierung ein Circulaire administrative[11] erlässt. In anderen Worten, ihnen bleibt nur die Hoffnung, dass der Souverän ein Begnadigungsschreiben erlässt.

Marseille ist eine alte Hafenstadt, die seit ihrer Gründung eine über die Jahre relativ gleichbleibende Anzahl von Reisenden empfängt, die auf die eine oder andere Weise alle zur Gestaltung dieses urbanen Raums beigetragen haben und beitragen. Diese Stadt war seit ihrer Gründung, also auch während der Zeit der Kolonialisierung eine Stadt der Migration - und ist es bis heute. Marseille wurde also geschichtlich, politisch, wirtschaftlich und kulturell von MigrantInnen geprägt. Allein im 20. Jahrhundert war Marseille der Anlaufhafen für Menschen aus Italien, Griechenland, Russland, Armenien, Spanien, Tunesien, Algerien, Marokko, Korsika, für Harkis[12] ebenso wie für Pieds-Noirs[13].

So erzählte mir etwa Azzam davon, dass Marseille in Algerien als dessen 48. Département gilt. Als sein Lebensraum ist Marseile längst Teil seiner Geschichte: Die Stadt und er sind einander nicht fremd, auch wenn ihn die Verwaltungsbehörde als "Fremden" einordnet. Damit bietet Marseille also sicherlich taktische Vorteile für eine/n Sans-Papiers, insofern es für den rassisierenden Blick nicht leicht ist, einen "Fremden" als solchen zu erkennen. Dennoch kommt es tagtäglich zu rassistischen Polizeikontrollen; Menschen, denen bestimmte administrative Papiere fehlen, werden verhaftet und in Abschiebelager transportiert.


Die facettenreiche "Metis der Sans-Papiers"

Menschen, die sich ohne Aufenthaltsbewilligung in Europa wiederfinden, müssen sehr schnell lernen, in feindlichen und stürmischen Gewässern zu navigieren. Die verschiedenen sozialen und urbanen Räume, in denen sie sich bewegen, bestimmen ihr Leben als Sans-Papiers: Zur Arbeit gehen, Einkäufe erledigen, sich mit Menschen treffen, sich politisch organisieren usw. - all dies sind Tätigkeiten, die ein potenzielles Risiko darstellen; und um dieses Risiko zu verringern, ist es unentbehrlich, sich ein entsprechendes Wissen anzueignen, das risikoreiche Situationen und Orte als solche erkennen hilft. Dieses Wissen dient als Grundlage für Entscheidungen, wie und ob Risiken vermieden werden können oder nicht. Ihre prekäre Existenz verlangt von den Sans-Papiers also die Entfaltung mannigfaltiger Überlegungen und Taktiken, die zu Reflexen werden können und sich in einem Listenreichtum - einer "Metis der Sans-Papiers" - widerspiegeln, welche zur Bedingung für die sichere Bewegung in der Stadt wird.

Die Metis als sehr spezifische Kunst des Handelns kann als listenreiche Antwort auf Maßnahmen wie etwa ein Dokument verstanden werden, das die Dienststellen von Pascal Clement[14] und Nicolas Sarkozy an die Verwaltungsbehörden richteten. Darin finden sich Vorsichtsmaßnahmen und Strategien aufgelistet, die mit den Dogmen der modernen Unternehmensführung und der Kultur des Messbaren im Einklang stehen und gegenüber undokumentierten MigrantInnen zur Anwendung zu bringen sind, wobei die Abschiebung möglichst vieler von ihnen das Ziel ist. So werden etwa drei bevorzugte Orte für die Durchführung von Verhaftungen angeführt: die Straße, das Zuhause der Zielpersonen und der Schalter der Präfektur.[15] Jeder dieser Orte hat seine eigenen Besonderheiten und Problematiken.[16] Zusätzlich sind sowohl die BeamtInnen der Präfektur als auch die Exekutivgewalt schon seit längerem damit konfrontiert, dass eine Abschiebe- beziehungsweise Festnahmequote erfüllt werden muss. Sich in Marseille fortzubewegen bedeutet also auch, sich in einen urbanen Raum zu begeben, der von PolizeibeamtInnen - oft mit Unterstützung des Militärs - gerastert wird.

Die Lebensweise der Sans-Papiers wird durch diese Umstände (mit)bestimmt: Sie müssen ihre Tagesabläufe und Bewegungen kontinuierlich an das Vorgehen der staatlichen Behörden anpassen. Alltägliche Banalitäten, wie etwa die Benützung der U-Bahn, Arztbesuche, das Erledigen von Einkäufen usw. werden so mit einer ganz neuen Bedeutung aufgeladen: nämlich immer auf der Hut zu sein, immer in Bereitschaft, einen Haken zu schlagen - also letztlich zum "Trickster" zu werden, um den alltäglichen Lebensvollzug möglich zu machen. Im Falle von Fatima äußert sich dies etwa darin, dass sie die Pläne der ihr feindlich gesinnten Verwaltungsbehörde durchkreuzt und unter Rückgriff auf die Identität ihres Vaters erfolgreich durch die Maschen der Behörden schlüpft:

"Anfangs habe ich die Papiere meines Vaters verwendet, um eine Mietwohnung zu finden. Mein Vater lebt in ...; er ist ein französischer Kriegsveteran. Er gab mir [die erforderlichen Unterlagen][17] und ich ging damit zur Agentur. [...] Ich habe Anspruch auf eine Wohnbeihilfe in der Höhe von € 227 und bezahle die restlichen € 170 selber. Im Vergleich zu meinen FreundInnen verdiene ich viel Geld. Außerdem habe ich keine Kinder, weshalb ich nur die Verantwortung für mich selbst tragen muss. Wenn ich zehn Stunden am Tag arbeite, ist da niemand, der nach mir verlangt. Frauen, die Kinder haben, können nicht arbeiten und haben außerdem oftmals nicht die entsprechenden Papiere, um eine Wohnung zu mieten. Und ich: Ich habe das alles ganz allein zuwege gebracht: einen Bürgen finden, um eine Wohnung zu mieten, die Papiere meines Vaters und, und, und."[18]

Aufgrund ihres administrativen Status wird illegalisierten MigrantInnen der Zugang zu jenen Dokumenten versperrt, die für die Inanspruchnahme staatlicher Dienstleistungen nötig sind, welche wiederum für ein Leben in Würde unentbehrlich sind. Das Auffinden von Möglichkeiten, um diese Barrieren zu umgehen, wird daher zur Lebensaufgabe: Das Erfinden von Geschichten und Methoden gehört ebenso zur Routine wie die Aneignung eines Wissen darüber, wann und wo welche Taktiken und Redekünste zum Einsatz kommen müssen, die es ihnen ermöglichen, administrative Schlupflöcher aufzuspüren und sich dieser zu bedienen, um eine Wohnung zu mieten, Zugang zu staatlichen Unterstützungen zu bekommen oder einer Arbeit nachgehen zu können.

Die Vielfältigkeit der "Metis der Sans-Papiers" lässt sich auch an Abdechahid veranschaulichen, der sich anlässlich eines Lieferauftrags Zugang zu einem Atomkraftwerk verschaffen musste, was für ihn insofern mit gewissen Schwierigkeiten verbunden war, als die Zustellung in ein Atomkraftwerk in Frankreich nur mit gültigem Reisepass bzw. überhaupt nur für französische StaatsbürgerInnen erlaubt ist, wie Abdechahid mir erklärte. Er musste also Argumente dafür liefern, weshalb es ihm unmöglich sei, diesen Auftrag zu übernehmen:

"Einmal wurde ich mit einer Zustellung nach Cadarache ins Atomkraftwerk beauftragt. Dorthin kann und will ich nicht gehen! Dort kommst du nicht einmal mit einer Aufenthaltsbewilligung für 10 Jahre rein, du brauchst die Staatsbürgerschaft. Mir wurde also gesagt, dass wir einen Lieferauftrag haben; mein Chef weiß nicht, dass ich Sans-Papiers bin; manchmal wird man zur Lüge gezwungen, um eine Arbeit zu finden: Ich hatte ihm gesagt, dass ich Papiere habe, aber offiziell nicht bei ihm arbeiten kann, da ich andere Probleme habe; das war für ihn okay. Ich erklärte ihm, dass ich Probleme mit der Steuer habe. Und er erwiderte, dass ich probeweise einen Monat bei ihm arbeiten könne, und dann werde er mich anmelden. Wenn er wirklich auf die Anmeldung besteht, muss ich die Arbeit bleiben lassen - und tschüss!

Und wie hast du es schließlich geschafft, nicht ins Atomkraftwerk fahren zu müssen?

Er rief mich um sechs Uhr morgens an und sagte: 'Du musst kommen! Wir müssen eine Lieferung nach Cadarache machen.' Ich erwiderte, dass ich krank sei und eine Magengrippe hätte. Er darauf: 'Das gibt's doch nicht! Ich zähle auf Dich!' Ich habe ihm erklärt, dass ich wirklich nicht kann, aber dass dies nicht zu meinen Gewohnheiten gehöre und es mir aufrichtig leid tue."[19]

Als ehrlicher und gläubiger Mensch ist es nicht immer einfach, zu lügen oder Ausreden zu erfinden; das wird oft als Herabwürdigung empfunden. Das Fehlen einer gültigen Aufenthaltsbewilligung zwingt Abdechahid, gegen sein Gewissen und seine moralischen Überzeugungen zu handeln. Die Missachtung seiner Überzeugungen ist denn auch der Grund für sein Leiden und sein Unbehagen. Es wird für ihn zusehends schwieriger, sich selbst zu ertragen, und er verliert sein Selbstwertgefühl. Nach und nach bestimmt eine durch die Behörde geschaffene Situation seine Denk- und Lebensweise, wie er mir im Gespräch weiter erklärte. Dergleichen führt nicht selten zu schweren psychischen Störungen wie Paranoia und Depression bzw. oftmals zu "Unfällen" (mit nicht selten tödlichem Ausgang), etwa beim panischen Versuch, einer Verhaftung zu entrinnen.[20]

Abdechahid und Fatima werden in ihrem Alltag ständig mit Problemen konfrontiert, die in direktem Zusammenhang mit ihrer behördlichen Situation stehen. Sie müssen sich fortwährend der "Metis des Sans-Papiers" bedienen und sehen sich gezwungen, immerfort staatliche Pläne zu durchkreuzen, zu tricksen und Listen anzuwenden, um ihre illegalisierte Situation zu verschleiern. Sie werden ohne Unterlass daran erinnert, dass sie keine Papiere haben und dass sie anders als "alle anderen" sind.


Die Stadt als Lebensraum

Anlässlich eines Treffens mit Abdechahid in einem Café in Marseille erklärte er mir, dass er sich deshalb verspätet habe, weil er die U-Bahn nicht mehr benützen möchte:

"Ich bin heute zu spät gekommen, weil ich die U-Bahn nicht mehr benütze. Ich versuche, so oft es geht, entweder den Bus zu nehmen oder einfach zu Fuß zu gehen. In der U-Bahn gibt es viel zu viele Kontrollen. Ich nehme lieber den Bus als die direktere U-Bahn-Verbindung. Wenn ich die U-Bahn nehme, brauche ich normalerweise eine halbe Stunde bzw. 25 Minuten; mit dem Bus brauche ich dagegen fast eine Stunde. Ich verspäte mich zwar, aber es ist weniger risikoreich."[21]

Das Kriterium für die Wahl der Verkehrsmittel ist für Abdechahid also nicht die schnellste Verbindung, sondern das geringste Risiko. Da die U-Bahn aufgrund der häufigen Kontrollen von ihm als das gefährlichste städtische Transportmittel eingestuft wird, muss er, um sicher ans Ziel zu kommen, Umwege in Kauf nehmen.

Abdechahid wurde nur kurz vor unserem ersten Zusammentreffen von der Polizei festgenommen. Noch von seiner Verhaftung traumatisiert, erklärt er mir, wie sehr diese Verhaftung, seine Art zu leben und sich in der Stadt zu bewegen verändert habe:

"Eigentlich liebe ich es zu reisen; jetzt sitze ich ohne Papiere fest und kann nicht einmal Frankreich verlassen. Das ist unglaublich für mich. Ich kann nicht einmal nach Paris fahren. Sogar hier in der Stadt gibt es sehr gefährliche Orte, zum Beispiel den Bahnhof; dort sollte man nicht hingehen. Die französische Grenzschutzpolizei [PAF: Police aux frontières] ist überall auf der Jagd nach Menschen, die keine Papiere haben. Sie waren es, die mich festgenommen haben. Ich sagte ihnen: 'Macht eure Arbeit und sucht die Kriminellen, die Diebe! Ihr nehmt mich, einen Familienvater, fest, obwohl ich nichts getan habe! Das ist eine Schande! Nur weil ich keine Papiere habe!' Warum haben sie mich nach meinem Ausweis gefragt? Ich habe nichts gemacht, ich ging wie jeder andere meiner Wege!"[22]

Nach der Festnahme wurde die Stadt für Abdechahid sehr eng: Die Beschränkungen, denen er als Sans-Papiers unterworfen ist, wurden ihm gewaltsam in Erinnerung gerufen. Dazu kommt die Angst, die mittlerweile zum Bestandteil seines Lebens geworden ist und jeder seiner Bewegungen eingeschrieben bleibt: Er fühlt sich ständig gejagt, verfolgt und unsicher. Dies wirkt sich auf das gesamte soziale Milieu aus, in dem er sich bewegt. Die hier zur Sprache kommende Entsolidarisierung von Dieben, also von Personen, die ihren Lebensunterhalt nicht auf legale Weise bestreiten (können) - eine Tätigkeit, der viele Undokumentierte nachgehen, da ihre Lage ihnen kaum einen anderen Ausweg lässt - zeigt sehr deutlich, wie sehr selbst jene, die durch den vorherrschenden Sicherheitsdiskurs kriminalisiert und bedrängt werden, darum kämpfen, endlich auch dem Bevölkerungsteil anzugehören, den es vor den anderen, den Kriminellen, den Eindringlingen zu schützen gilt. Die Angst ist wie ein Virus, das langsam um sich greift und letztlich alle terrorisiert.

Im Gegensatz zu Abdechahid versuchen Azzam und Aïcha, sich nicht terrorisieren zu lassen und ein "normales Leben" zu führen, ein Leben wie alle anderen auch: Sie gehen mit ihren Kindern bzw. Verwandten und FreundInnen ans Meer, in Parks etc. Sie stellen sich den Gefahren mit großer Kühnheit und führen ihr Leben in einer Weise, die sich verstärkt der Metis bedient. Zur Verdeutlichung die folgende Erzählung von Aïcha:

"Ja ich lebe normal wie jeder andere auch; ich nehme die U-Bahn und all das. Es kommt auch vor, dass ich eine Mordsangst habe, wenn ich die Bullen sehe, aber ich zeige es nicht, ich gehe weiter, ich kann nicht zurück. [...] Mehrmals bin ich am Bahnhof St. Charles oder an den U-Bahn-Haltestellen auf die Bullen getroffen, sie haben mir mit dem Kinderwagen geholfen. [...] Polizisten haben mir schon öfters geholfen, ganz normal, sie haben mich gefragt, ob es Mädchen oder Jungs sind; ich spreche ganz normal mit ihnen."[23]

Selbst für die mutigsten Sans-Papiers birgt die Bewegung in der Stadt immer eine Gefahr in sich. In die Stadt zu gehen will also überlegt sein; unnötige Risiken müssen vermieden werden. Und dennoch sind Entscheidung wie etwa jene, ob man die U-Bahn nimmt oder nicht, oftmals vom Tageszustand, von Gefühlen und Vorahnungen bestimmt.


Die Arbeitssuche als "Sans-Papiers"

Die prekäre Situation, in der sich Sans-Papiers befinden, erlaubt es ihnen nicht, allzu lange ohne Arbeit zu sein. Dies führt dazu, dass sie oftmals schlecht bezahlte und sozial verpönte Arbeiten annehmen müssen, um ihr Leben bestreiten zu können. Aufgrund ihrer irregulären Situation, für die insbesondere die Behörden verantwortlich zu machen sind, hat Fatima im Laufe ihrer "Karriere" als undokumentierte Arbeiterin nicht nur eine Vielzahl von Tätigkeiten ausgeübt, für die sie überqualifiziert ist (sie hat in Algerien ihren Bachelor in Rechtswissenschaft gemacht); vielmehr wurde diese Situation zudem von ihren jeweiligen ArbeitgeberInnen zu deren Vorteil ausgenutzt.

Die Erzählung von Fatima verdeutlicht die Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hat, um eine Arbeit zu finden und zu behalten:

"Ich habe sechs Monate in einem kleinen Unternehmen [einer Lebensmittelfabrik in einem Viertel in der Innenstadt] gearbeitet. Dann haben andere Araber angefangen, in diesem Unternehmen zu arbeiten, und du musst wissen, Araber und Araber, das klappt nie. Die Arbeitsverhältnisse wurden immer schwieriger, also bin ich gegangen, oh! Ich war es, die gegangen ist. Anschließend habe ich eine Arbeit in einer Reinigungsfirma gefunden. Ich hatte ein sehr gutes Gehalt bis zu dem Tag, an dem der Chef herausgefunden hat, dass ich keine Papiere habe. [...] Ich habe schließlich jemanden kennengelernt, einen Mann. Nun ist dieser Herr, ein Franzose, die letzte Wahl, es gibt offenbar keine Französin, die ihn will. Er ist allein und arbeitet in der Baubranche. Jedes Mal, wenn ich ihn sah, habe ich ihm einen guten Tag gewünscht; eines Tages fragte er mich, ob ich mich mit ihm verloben wolle. Ich erwiderte: 'Nein, das ist unmöglich'; es gibt keinen Grund, warum wir uns verloben sollten; 'Sie sind kein Moslem' und so weiter. Wir haben uns weiterhin einen guten Tag gewünscht und das war's. Später einmal sagte ich ihm, dass er, falls er was von einer Arbeit höre, es mich wissen lassen solle. Und eines Tages gab er mir die Nummer von jemandem, der vielleicht einen Job für mich habe. Auch er weiß nicht, dass ich Sans-Papiers bin.

Ich rief also die Person an, ich fragte, ob sie jemanden für eine Arbeit suchen. Er sagte: 'Ja, ich habe eine Reinigungsfirma.' Ich arbeitete dann zwei Jahre lang in dieser Firma und wurde sehr gut bezahlt. Ich habe 16 Stunden pro Woche gearbeitet. Bis zu dem Tag, an dem er mir sagte, er habe Arbeitsverträge für alle Geschäfte in dieser Straße erhalten und er wolle mich nun deklarieren. Ich musste ihm erklären, dass ich Sans-Papiers bin. An diesem Tag hat er mich nicht ausbezahlt; er behielt sich die € 480, die er mir bezahlen hätte müssen. Ich kehrte einige Male zurück, um mein Geld einzufordern; er aber erklärte mir, dass er mir das Geld nur dann aushändigen werde, wenn ich meinen Personalausweis vorlege. Er wusste ganz genau, dass ich keinen Ausweis habe, weshalb er auch darauf bestand, dass er mich, wenn ich ihm den Ausweis bringen würde, anmelden und mit einem Scheck ausbezahlen würde. Ich habe dann die Zeitung genommen und wieder eine Arbeit gefunden; ich kümmere mich um ältere Menschen; diese Arbeit mache ich auch heute noch."[24]


Der Arbeitsplatz, ein risikoreicher Ort

"Jedes Mal, wenn ich derzeit wegen einer Arbeit angerufen werde, ist diese außerhalb von Marseille. Im Moment gibt es viele Kontrollen; früher haben sie nur den Fahrer kontrolliert, aber jetzt kontrollieren sie auch den Beifahrer. Ich habe selbst Freunde, die das erlebt haben. Ich vermeide es, auf großen Baustellen zu arbeiten - es ist zu gefährlich. Ich arbeite in privaten Haushalten, weil das Risiko geringer ist. Aber manchmal hat man keine andere Wahl."[25]

Für Abdechahid wird die Wahl des Arbeitsortes durch drei Faktoren bedingt: Distanz, große oder kleine Baustellen und nicht deklarierte Arbeit. Aufgrund der möglichen Polizeikontrollen ist jeder Arbeitsplatz, der außerhalb der Stadt liegt und mit langen Fahrten verbunden ist, an ein höheres Risiko gebunden. Die Fahrten zum Arbeitsplatz sind Teil des Alltages; dieses Risiko muss jeden Tag aufs Neue in Kauf genommen werden, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Jedes Mal aufs Neue wird zwischen Risiko und Notwendigkeit abgewogen: Ist das Geld knapp, wird ein höheres Risiko eingegangen; sind hingegen Geldreserven vorhanden, kann man ein solches Arbeitsangebot ausschlagen und darauf warten, nahe am Wohnort auf einer kleinen Baustelle zu arbeiten, am besten Renovierungsarbeiten im Inneren durchzuführen.

Die zahllosen Taktiken, die Azzam, Aïcha, Fatima und Abdechahid anwenden, sind Formen des Widerstands, die aus jenen Situationen hervorgehen, in denen sie mit BeamtInnen, PolizistInnen, RichterInnen und beim Ausfüllen behördlicher Formulare in Berührung gekommen sind. Auch Taktiken wie das Erlangen des Flüchtlingsstatus bzw. des Krankenstatus[26], der Beitritt in ein Sans-Papiers-Kollektiv sowie die Beteiligung an politischen Kämpfen sind Fluchtlinien aus der durch administrative Rasterungen geprägten Situation. Die Metis der Sans-Papiers umfasst aber nicht nur Strategien, welche dazu beitragen, Behördengänge zu meistern und Verhaftungen zu entgehen, sondern auch eine rhetorische Kunst, die gegenüber RichterInnen in Anschlag gebracht wird, um eine Abschiebung aufzuschieben: So kommt es des Öfteren vor, dass ein/e Sans-Papiers wegen eines Verfahrensfehlers, der sich auf ein allzu hastiges und unrechtliches Vorgehen der Exekutive zurückführen lässt, freigelassen werden muss, was jedoch lediglich heißt, frei bis zur nächsten Kontrolle.

Anhand der Erzählungen von Azzam, Aïcha, Fatima und Abdechahid werden die Grenzen der Machtausübung, denen Sans-Papiers unterworfen sind, ebenso deutlich wie die Beschränkungen des nationalen Sicherheitsdiskurses. Denn die bloße Existenz der Sans-Papiers stellt die Wahnvorstellung einer "totalen Kontrolle" von Bevölkerung und Territorium, an der die verschiedenen Regierungen leiden, radikal infrage.

Sich in Europa als Sans-Papiers zu bewegen ist angesichts der aktuellen Rechtslage und der politischen Repression ein durchaus gewagtes Abenteuer. Um dieses Abenteuer zu meistern, müssen Sans-Papiers immer zur Eroberung schattiger Ecken bereit sein, die ihnen Schutz vor der sengenden verwaltungsbehördlichen Sonne bieten, bzw. müssen sie sich durch eine Ritze des Behördenapparates und des bürokratischen Systems zwängen können. Es gilt, immer auf der Hut zu sein, um möglichen Polizeikontrollen und gerichtlichen Strafverfolgungen zu entwischen, sowie eine listenreiche Findigkeit zu entwickeln, um eine Arbeit und eine Wohnung zu finden. Kurzum, die Sans-Papiers sind zu permanenter Wachsamkeit und Bereitschaft verdammt, damit ihnen keine Gelegenheit entgeht, die es ihnen ermöglicht, ihr prekarisiertes Leben in Frankreich, in Europa weiterhin zu leben. Aus dieser Not entwickelt sich eine Kunst der Taktik, ein Savoir-vivre, eine Art "Metis der Sans-Papiers".

Der überwiegende Teil des Lebens der Sans-Papiers wird dabei von dem Traum bestimmt, die für ein legales Leben nötigen "Papiere" zu erhalten. Diese Papiere sind somit ein Synonym für ihre Träume von einer besseren Zukunft, einem richtigen Zuhause, einer guten Ausbildung für ihre Kinder - kurz, das Synonym für ein Leben wie "alle anderen".

Über Jahre hinweg in einem Zustand permanenter Unsicherheit und Ungewissheit zu leben strukturiert und infiltriert ihren Alltag und ihr Leben. Die ständige Anpassungsleistung an eine sich kontinuierlich verändernde Umgebung lässt die eigene Identität fließend werden. Je länger dieser Zustand anhält, desto wahrscheinlicher führt dies zu einer veränderten Selbstwahrnehmung, die sich schlimmstenfalls durch eine paranoide Angst äußert. Als Sans-Papiers wird man (von den Medien, den Behörden etc.) ständig damit konfrontiert, nicht wie "alle anderen" zu sein. Dies kann zu einer Verinnerlichung der diskriminierenden Diskurse führen und schließlich so weit gehen, dass der/die Sans-Papiers sich selbst als "nicht normal" wahrnimmt; eine Selbstwahrnehmung, der - so wie Azzam, Aïcha, Fatima und Abdechahid in den von mir geführten Interviews - mit der beharrlichen Feststellung der eigenen Normalität und des eigenen Menschseins begegnet wird.

Bleibt die Frage, welche Folgen ein politisches Gesellschaftsprojekt zeitigt, das ein imaginäres "Wir" über den Weg der permanenten Terrorisierung und Traumatisierung eines Teils seiner Bevölkerung herbeizuführen versucht.

Die gegenwärtige Migrationspolitik in Europa und insbesondere in Frankreich bringt kontinuierlich Sans-Papiers hervor und führt zu einer Klassifizierung des Lebens in wertvolles und wertloses Leben. Eine solche Politik ist auf identitäre Diskurse und Praktiken angewiesen, um den rassistischen Ausschluss zu legitimieren und in der Bevölkerung durchzusetzen. Am Beispiel der französischen Immigrationspolitik sowie des Ministeriums für Migration und nationale Identität lässt sich aufzeigen, dass eine solche Politik selbst vor der (Wieder-)Belebung der "nationalen Identität" oder, besser gesagt, des "Urfranzosentums" nicht zurückschreckt. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass der/die "Fremde" stets aufs Neue von Medien und PolitikerInnen als Bedrohung und Gefahr verteufelt wird, und zwar mit dem Ziel, Vorteile auf Kosten eines "Schwächeren" zu erhaschen. Der außerordentliche Zynismus einer solchen Ausbeutung lässt sich exemplarisch daran verdeutlichen, dass Bauunternehmen Aufträge für Überwachungsanlagen, Mauern und Abschiebelager erhalten, die zu Dumpingpreisen von schlecht bezahlten Sans-Papiers errichtet werden. Und so schließt sich der wirtschaftliche Teufelskreis.

Der traurige Unterton dieser Geschichte ist, dass die Idee, sich einzumauern, Zuflucht in Einsamkeit und Isolation zu finden und alles Fremde zu erschlagen, längst wieder salonfähig geworden ist. Wörter wie Gastfreundschaft hallen nur noch als weit entferntes Echo aus längst verstaubten Zeiten nach, als alte schnattrige Stimmen aus vergilbten Büchern, die kaum mehr an unsere Ohren dringen, in einer Zeit, in der alles lärmt, hastet und schreit - und in der man sich nur noch auf die Namen von SchriftstellerInnen beruft, aber längst nicht mehr auf die Inhalte ihrer Bücher, obwohl sich darin doch die eine oder andere lesenswerte und bedenkenswerte Stelle finden ließe, wie etwa in Homers Odyssee:

"Fremdling, es ziemte mir nicht, und wär' er geringer als du bist,
Einen Gast zu verschmähn; denn Gott gehören ja alle Fremdling' und Darbende an."
[27]

almer.stefan@gmail.com


Anmerkungen

[1] James C. Scott, La domination et les arts de la résistance, Fragments du discours subalterne, Editions Amsterdam 2008, S. 179.

[2] Jean-Luc Nancy, Der Eindringling/L'Intrus. Das fremde Herz. übers. v. Gabriel Garcia Düttmann, Merve 2000, S. 7-8.

[3] In Bezug auf PolitikerInnen und MedienakteurInnen merkt Gérard Noiriel in seinem Buch Immigration, antisémitisme et racisme en France an, dass den PolitikerInnen heute kaum mehr als das Kommentieren der durch die Medien forcierten Themen übrig bleibe. Sie surfen sozusagen auf der Welle der medialen Aktualität mit und können demgemäß auf Themen, die ihnen wichtig erscheinen, lediglich so lange Einfluss nehmen, wie diese in den Medien präsent sind; schon allein deshalb werden kollektive Aktionen (wie etwa eine Demonstration) oftmals in Events verwandelt, in für die mediale Berichterstattung verdauliche Häppchen. Noiriel zufolge besteht die politische Kunst heute also darin, die unterschiedlichen Kommentare zur Aktualität nicht nur zu nähren, sondern auch zu koordinieren, um auf diesem Weg Verbündete aus allen Lagern in Bezug auf ein Thema zu mobilisieren. Deutlich wurde dies etwa anlässlich der Debatte um das Kopftuchverbot in Schulen, in der sich die "kleinen Stimmen", die dazu ihre Ansichten äußerten, wie z. B. feministische Gruppierungen, den Vorstößen der rechten Parteien inhaltlich anschlossen. Vgl. Gérard Noiriel, Immigration, antisémitisme et racisme en France (XIXe - XXe siècle) Discours publics, humiliations privées, Paris: Fayard 2007, S. 589-605, hier S. 639.

[4] Terray Emmanuel, "Le travail des étrangers en situation irrégulière ou la délocalisation sur place", in: Etienne Balibar, Monique Chemillier-Gendreau, Jacqueline Costa-Lasoux, Emmanuel Terray, Sans-papiers: l'archaïsme fatal, Paris: Éditions la Découverte 1999.

[5] Nicolas Bancel, Pascal Blanchard, Françoise Vergès, La République coloniale, Albin Michel 2003.

[6] Achille Mbembe, De la postcolonie, Essai sur l'imagination politique dans l'Afrique contemporaine, Paris: Karthala 2000, S. 9 f.

[7] "2007 haben Polizei und Gendarmerie in Frankreich mehr als 88.000 ImmigrantInnen ohne Aufenthaltsbewilligung kontrolliert und ca. 23.000 von den vorgegebenen 25.000 Abschiebungen wurden durchgeführt." Vgl. Cette France-là 1, 06.05.2007 - 30.06.2008, Diffusion La Découverte, Jänner 2009.

[8] Michel de Certeau, Die Kunst des Handelns, übers. v. Ronald Voullié, Berlin: Merve 1988,. S. 60.

[9] Vgl. Marcel Detienne/Jean-Pierre Vernant, Les ruses de l'intelligence. La mètis des Grecs, Paris: Flammarion 1974: "Die Metis ist [...] eine Form der Intelligenz und des Denkens, ein Erkenntnismodus; sie impliziert ein komplexes, aber sehr kohärentes Gerüst von mentalen Einstellungen und intellektuellen Verhaltensweisen, die Spürsinn, Scharfblick, Voraussicht, einen beweglichen Geist, Finten, Einfallsreichtum, Wachsamkeit, den Sinn für günstige Gelegenheiten, vielfältige Gewandtheiten sowie eine über die Jahre erworbene Erfahrung kombinieren. Die Metis kommt in flüchtigen, wandelbaren, verwirrenden und mehrdeutigen Situationen zum Einsatz; in Situationen, die sich nicht für eine genaue Maßnahme, ein exaktes Kalkül oder eine strenge Vernunftlogik eignen" (S. 10) "[...] wenn das mit Metis begabte Individuum - ob Gott oder Mensch - mit einer vielfältigen, veränderlichen Realität konfrontiert ist, die aufgrund ihrer unbegrenzten Macht zur Vielgestaltigkeit kaum erfasst werden kann, dann kann es diese Realität lediglich dadurch beherrschen - d. h. auf eine einzige und feste, handhabbare Form eingrenzen -, wenn es sich selbst als noch mannigfaltiger, beweglicher, vielseitiger erweist als sein Widersacher" (S. 11). "Die Metis vollzieht sich auf beweglichem Terrain, in ungewissen und mehrdeutigen Situationen. Zwei antagonistische Kräfte stehen einander gegenüber [...]. Während dieser spannungsgeladenen und labilen Zeit des agôn verleiht die Metis eine Handhabungsmöglichkeit, an der es ohne sie fehlen würde" (S. 21).

[10] Um die Anonymität der Personen zu wahren, habe ich hier Pseudonyme verwendet.

[11] Nach französischem Verwaltungsrecht ist ein Circulaire adminstratif ein - in diesem Fall an die Einwanderungsbehörde gerichtetes - Rundschreiben, das dieser vorschreibt, ausnahmsweise (sozusagen als souveräner Gnadenerlass) eine bestimmte Anzahl von Undokumentierten, die wiederum bestimmten Kriterien erfüllen müssen, zu legalisieren.

[12] "Harkis" sind Algerier, die Frankreich während des algerischen Unabhängigkeitkrieges unterstützt haben.

[13] Franzosen, die in Algerien lebten und nach der Unabhängigkeit Algeriens nach Frankreich "zurückgekehrt" sind.

[14] P. Clement war vom 02.06.2005 bis zum 07.05.2007 französischer Justizminister.

[15] Die Präfektur ist der Sitz des Präfekten. Seine Funktion ist es, den französischen Staat im Département zu vertreten; ernannt wird der Präfekt vom Staatspräsidenten. Er ist der Leiter der gesamten dekonzentrierten Staatsverwaltung im Département und als solchem kommen ihm insbesondere weitreichende Polizeibefugnisse zu (er ist der Befehlshabende für die im Département befindlichen Brigaden der Gendarmerie Nationale). Die BeamtInnen, die dem Präfekten unterstehen, sind außerdem sowohl für die Bearbeitung der Einreiseanträge als auch für die Verlängerung von Aufenthaltsbewilligungen zuständig.

[16] Cette France-là 1, 06.05.2007 - 30.06.2008, Diffusion La Découverte, Jänner 2009.

[17] Für die Erstellung des Textes wurden bestimmte Stellen und Angaben zu Taktiken, die Teil des mündlichen Interviews waren, ausgelassen, um die Anonymität der Personen zu wahren.

[18] Gespräch mit Fatima 1, geführt am 16. Dezember 2006.

[19] Gespräch mit Abdechahid, Familienvater mit Kind, geführt am 16. Februar 2007.

[20] Vgl. Cette France-là 1, 06.05.2007 - 30.06.2008, Diffusion La Découverte, Jänner 2009, S.196 f.

[21] Gespräch mit Abdechahid, Familienvater mit Kind, geführt am 16. Februar 2007.

[22] Gespräch mit Abdechahid, Familienvater mit Kind, geführt am 16. Februar 2007.

[23] Gespräch mit Aïcha und Azzam, geführt am 09. Februar 2007.

[24] Gespräch mit Fatima 1, geführt am 16 Dezember 2006.

[25] Gespräch mit Abdechahid, Familienvater mit Kind, geführt am 16. Februar 2007.

[26] Eine Aufenthaltsgenehmigung auf der Grundlage einer im Herkunftsland unheilbaren bzw. die Abschiebung verunmöglichenden Krankheit.

[27] Homer, Odyssee, 14. Gesang, Odysseus bei Eumaios.

Raute

Sandro Mezzadra

Autonomie der Migration - Kritik und Ausblick

Eine Zwischenbilanz

Übersetzt von Martin Birkner

Transkription eines Referats, gehalten in Wien am 28. Jänner 2010 im Rahmen eines von Martin Birkner und Stephanie Weiss organisierten Workshops zu kritischer Migrationsforschung: "(Un)Sichtbare Prekäre. Migrantische Subjektivitäten und Selbstorganisation von MigrantInnen innerhalb des europäischen Grenzregimes" am Graduiertenzentrum der Fakultät für Sozialwissenschaften an der Universität Wien.


Ich werde heute eine völlig überarbeitete Version eines Textes über die Autonomie der Migration präsentieren, den ich vor einigen Jahren verfasst habe.[1] In dieser neuen Version versuche ich einerseits, die Auseinandersetzungen und die Kritik der letzten Jahre sowohl in akademischen wie auch in aktivistischen Kreisen zu berücksichtigen. Andererseits habe ich im Prozess des Schreibens auch versucht, die Auswirkungen der globalen Wirtschaftskrise auf die Migration zu verstehen. Es ist klar, dass die Wirtschaftskrise zu einer Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von MigrantInnen führt. Wenn wir zurückblicken in die Geschichte verschiedener Erfahrungen mit Krisen und Krisenmanagement, so können wir eine Art Regelmäßigkeit in der Geschichte des Kapitalismus erkennen: Zum Beispiel in den frühen 1930er Jahren, bei der Einführung des New Deal, als 500.000 mexikanische MigrantInnen deportiert wurden - und mit ihnen auch jene Kinder, die in den USA geboren worden waren - und somit US-amerikanische StaatsbürgerInnen. In der Entwicklung der gegenwärtigen Wirtschaftskrise kann etwas Ähnliches beobachtet werden. Betrachten wir kurz die Situation in Spanien, wo die Wirtschaftskrise sich bereits früher abzeichnete als in anderen europäischen Ländern. Dies war vor allem im Bausektor der Fall. Im Frühjahr 2008, also vor der "Explosion" der Finanzkrise, startete die spanische sozialistische Regierung Programme der so genannten "freiwilligen Rückkehr", welche tatsächlich jedoch Programme der Deportation waren. Aber wir könnten und sollten auch andere Beispiele in Betracht ziehen, die sich nicht notwendiger Weise auf die Situation in Europa beziehen. Wenn wir beispielsweise die Golf-Staaten betrachten, dort gab es in den letzten 12 Monaten einen massiven Exodus indischer migrantischer ArbeiterInnen. Etwas ganz ähnliches können wir - um eine andere migrantische Landschaft in den Blick zu nehmen, die besonders wichtig für mich ist - in China beobachten, wo BinnenmigrantInnen - vor allem Frauen - nach Beginn der Krise gewissermaßen gezwungen wurden, in die ländlichen Gegenden zurückzukehren. Der Anstieg eines teilweise aggressiven Rassismus, zum Beispiel in Italien, muss im Rahmen der globalen Krise verstanden werden, obwohl es nicht möglich ist, ihn darauf zu reduzieren. Wenn wir später das Video über Rosarno[2] sehen werden, wird dort diese Verbindung in sehr direkter Weise auftauchen. Aber lasst mich die wichtigste Frage hinsichtlich der Beziehung zwischen Migration und der gegenwärtigen globalen Krise formulieren: Erleben wir eine Situation, in der MigrantInnen die Länder, in denen sie leben, verlassen oder ist es doch eine andere Situation?


Krise & Migration

Ich glaube nicht, dass wir damit konfrontiert sind, dass MigrantInnen ein für alle Mal die Länder verlassen, in denen sie arbeiten und leben. Ich glaube, dass die Reaktion der MigrantInnen auf die globale Wirtschaftskrise einen wichtigen Aspekt zeitgenössischer Migrationsbewegungen zeigt, die sie von anderen historischen Bewegungen unterscheidet: ihre extreme Flexibilität, ihre große Fähigkeit, auf veränderte ökonomische, soziale und politische Gegebenheiten zu reagieren und sich ihnen anzupassen. Ich habe nicht zufällig die Golf-Staaten und China erwähnt. Sie stellen tatsächlich zwei Beispiele dar, in denen MigrantInnen "nach Hause" zurückgingen. Aber das passierte genau deshalb, weil sowohl in den Golf-Staaten als auch in China bereits Netzwerke existieren, die es möglich machen zurückzugehen, aber auch wiederzukommen an die Orte der Emigration. Das ist etwas völlig anderes als im vorher angesprochenen US-amerikanischen Fall des New Deal der frühen 1930er Jahre. Die flexible Reaktion der MigrantInnen auf die Krise hat uns eine Menge zu sagen über die Weisen, auf die MigrantInnen den vorherrschenden flexiblen Kapitalismus erfahren und ihn in gewisser Hinsicht auch bedingen, und zwar nicht nur im Westen, sondern überall in der Welt. Für mich ist das ein Teil dessen, was der Ansatz der "Autonomie der Migration" zu verstehen sucht. Was ich damit sagen will, ist, dass die Reaktionen der MigrantInnen auf die Krise zeigen, dass diese nicht passive AkteurInnen, keine "toten Körper" sind, die durch die objektiven Dynamiken des Kapitalismus mobilisiert werden. MigrantInnen sind aktive Subjekte, die eine Rolle spielen in der andauernden Umgestaltung der sozialen Beziehungen, welche den Kapitalismus ausmachen. Ich komme somit zum Ansatz der "Autonomie der Migration".

Mir ist nicht klar, wie gut ihr euch auskennt mit dieser theoretischen und politischen Annäherung an Migration, die nicht nur auf mich zurückgeht, sondern auch auf Yann Moulier Boutang in Frankreich, die Transit-Migration-Gruppe in Deutschland, auf US-amerikanische ForscherInnen wie Nicholas de Genova und solche aus Australien wie Nikos Papastergiadis, Brett Neilson und Angela Mitropoulos. Ich möchte im Folgenden über diesen Ansatz sprechen, in der Annahme, dass ihr mit seinen Grundzügen vertraut seid. Natürlich können wir anschließend die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen dieses Ansatzes diskutieren. Im Folgenden möchte ich einige Punkte erwähnen und kurz diskutieren, die sich in meinen Augen als problematisch erweisen, zumindest in der Art und Weise, in der ich den Ansatz bisher entwickelt habe.


Romantisierung & Ökonomismus

Ich möchte mit einem kurzen Zitat aus einem Buch von Dimitris Papadopoulos, Niamh Stephenson und Vassilis Tsianos beginnen, das vor einem Jahr erschienen ist und gewissermaßen eine spezifische Version des Ansatzes der "Autonomie der Migration" vorschlägt: "Von Autonomie der Migration zu sprechen ... bedeutet Migration als soziale Bewegung im Wortsinn zu verstehen, nicht als bloße Antwort auf ökonomische und soziale Missstände. [...] Der Ansatz der Autonomie der Migration betrachtet Migration natürlich nicht losgelöst von sozialen, kulturellen und ökonomischen Strukturen. Das Gegenteil ist wahr: Migration wird verstanden als kreative Kraft innerhalb dieser Strukturen".[3] Problematisch ist hier für mich (und das bedeutet, dass wir diesen Punkt weiter entwickeln müssen) die Beziehung zwischen dem subjektivem Handeln der MigrantInnen und den sozialen, kulturellen und ökonomischen Strukturen. Ich glaube, dass wir nicht wirklich erfolgreich waren in der Entwicklung eines zufrieden stellenden theoretischen Rahmens, der uns erlaubt, "Autonomie der Migration" als einen Ansatz vorzustellen, der nicht zu einer Romantisierung von Migration führt. Dies ist auch die bekannte kritische Anmerkung zum Ansatz der "Autonomie der Migration": Ihr romantisiert Migration, ihr präsentiert sie als "kreative Kraft", ihr wollt die strukturellen Begrenzungen, die strukturellen Bedingungen von MigrantInnen nicht zur Kenntnis nehmen. Für mich ist das ein sehr wichtiger Einwand und gewissermaßen versuche ich, daran zu arbeiten, indem ich den gegenwärtigen Stand der kritischen Migrationsforschung untersuche, der - um es eher schematisch auszudrücken - noch immer charakterisiert werden kann durch eine theoretische Gegenüberstellung eines ökonomischen Ansatzes und einem aus den Cultural Studies kommenden.

Einerseits versuchen von den Cultural Studies beeinflusste ForscherInnen aufzuzeigen, wie migrantische Hybridität und Handlungsmacht essentialistische Identitätsdiskurse destabilisieren; andererseits existiert, was ich sehr grob "ökonomischer Ansatz" genannt habe, welcher die Ausbeutung hervorhebt. Ausbeutung ist in diesem Ansatz der Schlüssel zur Situation der MigrantInnen. Mensch könnte sagen, es gibt auf der einen Seite ein negatives Bild der MigrantInnen - als ausgebeutetes Subjekt, und auf der anderen Seite gewissermaßen ein positives Bild: MigrantInnen als kulturelle Avantgarde der Gegenwart, als diasporische Subjekte, "KosmopolitInnen von unten". Ich glaube, diese theoretische Polarität muss überwunden werden. Um mit euch über einige andere Bezüge zu sprechen, muss ich aber auch etwas über die geographische Reichweite meiner eigenen Forschungsarbeit sagen.

Es ist klar, dass ich in Europa arbeite und in Italien, und so ist auch mein Schreiben bedingt durch diese Politik der Verortung. Aber wenn ich über Migration in Europa, in Südeuropa, in Italien, in Bologna arbeite, so versuche ich doch immer eine Reihe von Forschungen aus anderen Teilen der Welt im Blick zu behalten, und zwar nicht nur aus den USA oder Australien, sondern auch aus dem "Globalen Süden". Das ist der Grund, warum ich versucht habe, Materialien über Migration beispielsweise in Indien, in China, in den Golf-Staaten, in Lateinamerika und im Mittleren Osten zu analysieren. Das bedeutet nicht, dass ich notwendigerweise an der Entwicklung eines globalen theoretischen Ansatzes arbeite, aber ich bin in einer bestimmten Weise zutiefst überzeugt von der Notwendigkeit, Europa zu provinzialisieren, um Dipesh Chakrabarty zu zitieren. Und genau deshalb, um Europa zu provinzialisieren, versuche ich meinen Blick zu schärfen an anderen nicht-europäischen Kontexten, um auf Europa gewissermaßen einen provinzialisierten Blick zurückzuwerfen.

Der englische Wissenschaftler John Chalcraft hat umfangreiche Forschungen über die Bedingungen syrischer migrantischer ArbeiterInnen im Libanon angestellt.[4] Dies ist eine sehr interessante Fallstudie und wir müssen im Kopf behalten, dass die meisten ungelernten ArbeiterInnen im Libanon syrische MigrantInnen sind. Wenn wir über Migration im Libanon und im Mittleren Osten sprechen, müssen wir uns außerdem der Tatsache bewusst sein, dass wir mit transnationalen migrantischen Praxen zu tun haben. Aber warum spreche ich jetzt darüber? Weil Chalcraft sehr deutlich zeigt, dass der Blick auf Praxen, die nicht so übertheoretisiert sind wie die europäischen, uns die theoretischen Entgegensetzungen der Migrationsforschung in Europa in einem anderen Licht erscheinen lassen. Chalcraft zeigt beispielsweise sehr deutlich, dass Hybridität und "Border-Crossing" auch wichtige Momente der Reartikulation von Ausbeutung sein können. Das bedeutet, dass Ausbeutung rund um Praxen der Mobilität, Hybridität und des "Border-Crossing" herum neu organisiert werden kann. Und ich glaube, das gilt nicht nur für syrische MigrantInnen im Libanon, sondern überall in der Welt. In diesem Sinne versuche ich die Entgegensetzungen zwischen einem positiven und einen negativen Bild von Migration und MigrantInnen, von denen ich vorhin sprach, zu destabilisieren. Ich versuche gewissermaßen zu betonen, dass das, was ich generalisierend als Ambivalenz der migrantischen Praxen bezeichnen würde, zentral ist für den Ansatz der "Autonomie der Migration". Das war das erste Problem, welches ich herausstreichen wollte und wir können natürlich ausführlich darüber diskutieren.


Citizenship Studies

Ich möchte nun über ein zweites Problem sprechen, dass ich mit meinen eigenen Texten, meiner eigenen Vorstellung der "Autonomie der Migration" habe. Ich sprach vorhin von einem ökonomischen und einen Cultural-Studies-Ansatz, aber ich glaube, es gibt noch einen anderen Ansatz in der kritischen Migrationsforschung, der insbesondere in den letzten 20 Jahren bedeutsam geworden ist, und dies ist der Ansatz, der aus den Citizenship Studies heraus entstanden ist. Auch ich habe versucht, zur Entwicklung dieses Ansatzes etwas beizutragen, ich habe eine Menge geschrieben über BürgerInnenschaft - sowohl aus historischer Perspektive als auch aus jener der gegenwärtigen Migrationsbewegungen. Citizenship Studies sind besonders bedeutsam hinsichtlich ihrer Interpretation migrantischer Kämpfe und ich werde auf diesen Punkt am Ende meines Referats zurückkommen. Wenn ich über Citizenship Studies spreche, denke ich an Namen wie Étienne Balibar, aber auch an eine spezifische Forschungspraxis, die vielleicht weniger bekannt ist: Die Zeitschrift Citizenship Studies, die von Engin Isin betrieben wird, der in London an der Open University lehrt. Dies ist eine sehr wichtige Zeitschrift und ich glaube, dass Isin die wichtigsten Texte über BürgerInnenschaft und auch über BürgerInnenschaft und Migration in den letzten Jahren geschrieben hat[5], und dann möchte ich noch den Mitherausgeber der Zeitschrift, Peter Nyers erwähnen, der in Kanada lebt und ein höchst interessantes Buch über Flüchtlinge und ihre Kämpfe geschrieben hat.[6]

Obwohl ich der Meinung bin, dass dieser Ansatz sehr wichtig ist, muss ich auch erwähnen, dass ich Probleme damit habe und ich bislang nicht wirklich in der Lage war, mich in meinen eigenen Texten mit diesen Problemen auseinanderzusetzen. Die Probleme haben mit der Tatsache zu tun, dass sowohl Isin als auch Étienne Balibar die Beziehung zwischen BürgerInnenschaft und Kapitalismus nicht wirklich theoretisieren. Kapitalismus bleibt außerhalb ihrer theoretischen Reichweite. Es ist klar, dass Étienne Balibar den Kapitalismus erwähnt, er ist ein vorzüglicher Interpret von Marx, aber der Punkt ist, dass aus einer theoretischen Perspektive BürgerInnenschaft gewissermaßen autonom vom Kapitalismus zu sein scheint - und ich möchte auf diesen Punkt zurückkommen, wenn ich über die Kämpfe von MigrantInnen sprechen werde. Was ich also wiederum zu tun versuche, ist jede allzu einfache Entgegensetzung zu destabilisieren. Das ist für mich äußerst wichtig, und es geht nicht im Geringsten darum, dass BürgerInnenschaft nicht wichtig wäre, zu sagen: "BürgerInnenschaft ist formal, ein Überbauphänomen, hier hast du die Realität: Kapitalismus ist die Realität!" Das ist nicht der Sinn, es geht vielmehr darum, das sehr enge Verhältnis von Kapitalismus und BürgerInnenschaft ins Zentrum der theoretischen Reflexion zu rücken. Und um das zu tun, braucht es einen Standpunkt, den wir als einen der Produktion von Subjektivität, von Subjektkonstitution definieren können. Dies ist ein Standpunkt, der in der italienischen operaistischen und postoperaistischen Diskussion entwickelt wurde, aber nicht nur in dieser. Er ist auch zentral in den Foucaultschen Studien und in den Citizenship Studies. Isin zufolge ist BürgerInnenschaft eine "Differenzmaschine", eine Maschine, die ununterbrochen verschiedene Formen von Subjektivität produziert. Ich glaube, es ist wirklich nicht möglich, zeitgenössische Produktionsweisen von Subjektivität zu analysieren, ohne den gegenwärtigen Kapitalismus als Kern- und Angelpunkt in seinen Verhältnissen zur "Differenzmaschine" der BürgerInnenschaft zu verstehen. Gewöhnlich gibt es in den Citizenship Studies, wie ich vorhin bereits festgestellt habe, keine direkte Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus im Sinne einer Kritik der politischen Ökonomie. Natürlich gibt es eine Auseinandersetzung mit dem - oder zumindest Verweise auf den - Neoliberalismus und diese Verweise sind gewöhnlich "negativ": Der Neoliberalismus destabilisiert die Strukturen, desartikuliert BürgerInnenschaft als komplexe Anordnung bürgerlicher, politischer und sozialer Rechte - aber es ist nur eine negative Art des Verweisens, und das ist ein grundsätzliches Problem, das ich mit dem Begriff des Neoliberalismus habe. Wenn das die einzige Art ist, in der auf den Kapitalismus verwiesen wird, verlieren wir die Möglichkeit, Widersprüche zu erkennen und zu ergreifen, Momente des Bruchs, des subjektiven Auftretens, die nicht direkt funktional sind für die Reproduktion des neoliberalen Kapitalismus.


Souveränität & BürgerInnenschaft

Die anderen beiden Probleme, die ich ansprechen möchte, sind einerseits der Begriff der Souveränität, wie er in der Diskussion um Migration und um die Autonomie der Migration verwendet wird, und andererseits das Phänomen migrantischer Kämpfe. Es ist klar, dass sowohl geschichtlich, aber auch in den gegenwärtigen Migrationsregimes Bewegungen der Migration zentrale Elemente der Souveränität berühren, da sie es mit der Kontrolle der Grenzen zu tun haben, mit der Unterscheidung zwischen BürgerInnen und Fremden und der zentralen Entscheidung, wer Zutritt zum nationalen Territorium erhält und wer nicht. Welches Problem aber habe ich mit der Souveränität? Fragen wir uns: Ist das Konzept von Souveränität zentral in kritischen Diskussionen über Migration? Ich denke ja, speziell in der Art und Weise, wie sie in jüngster Zeit durch den italienischen Philosophen Giorgio Agamben entwickelt und theoretisiert wurde. Seine Arbeit über Souveränität, beginnend mit "homo sacer", war äußerst wichtig, besonders weil sie Theorieproduktion, Forschung und auch politische Praxen gefördert hat, die eine wichtige Rolle in der Kritik und Bekämpfung jener strukturellen Gewalt gespielt haben, die mit der Grenzpolitik und speziell mit den Institutionen der Internierungslager für MigrantInnen zu tun haben. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass der von Agamben vorgeschlagene Begriff der Souveränität auch Unklarheiten, Verkürzungen und Fallen produziert hat. Er ist stark von den Arbeiten Carl Schmitts beeinflusst und deshalb ist für Agamben Souveränität im Grunde die Entscheidung über den "Ausnahmezustand" (Deutsch im Original, Anm. d. Ü.). Souveränität ist deshalb strukturell gewalttätig und auf Ausnahmesituationen bezogen. Ich meine, dass solch ein Blick auf Souveränität riskiert, die Artikulation dieser Gewalt innerhalb viel komplexerer und feinerer Verbindungen (assemblages, um es mit Saskia Sassen auszudrücken) von Macht, Recht und Territorium zu verdunkeln.[7] Darüber hinaus riskiert er durch einseitige Hervorhebung der souveränen Macht die Auslöschung der Bewegungen und Kämpfe der MigrantInnen, die täglich die Grenzen in Frage stellen, welche in diesem Sinne einen Ort der Ausnahme par excellence darstellen. Ich versuche in Richtung eines anderen Bildes von Souveränität zu arbeiten und dabei die reichlich vorhandene Literatur zu Gouvernementalität und Governance - besonders hinsichtlich deren Anwendung auf das Grenzregime - zu berücksichtigen. Ich glaube, dass die Arbeit der Transit-Migration-Gruppe, insbesondere jene von Vassilis Tsianos, Sabine Hess, Serhat Karakayali und Manuela Bojadzijev, dazu in den letzten Jahren besonders wichtig war, weil sie in sehr detaillierten Feldforschungen zeigen konnten, dass das Grenzmanagement - im konkreten Fall jenes der südöstlichen EU-Außengrenze - nicht den Vorstellungen von Souveränität als absoluter Gewalt entspricht.[8] Die alltägliche Funktion des Grenzregimes ist viel flexibler und mobiler: Sie ist mehr nach Überlegungen gestaltet, die Nikos Papastergiadis die "Turbulenz" gegenwärtiger Migrationsbewegungen genannt hat[9], welche nicht nach einem starren System - wie zum Beispiel jenem der traditionellen "Quotierungen" - regiert werden können.

Diese Art der Interpretation des sich entwickelnden europäischen Grenzregimes führt jedoch nicht zu einer Verschleierung der Tatsache, dass täglich hunderte Frauen und Männer sterben beim Versuch, die europäische Grenze zu überwinden. Aber um die Mechanismen zu verstehen, die jene Konstellation darstellen, in der dies geschieht, um jene "Politik der Mobilität" kritisch in den Griff zu bekommen, die beispielsweise im Mittelmeerraum praktiziert wird, müssen wir verschiedene Arten von Begriffen und Ansätzen verbinden. Es gibt hier einen sehr bedeutsamen Aspekt, der mit der Frage der Souveränität verbunden ist und der auch sehr wichtig ist für unsere Diskussion um BürgerInnenschaft: Wenn wir BürgerInnenschaft und Souveränität aus dem Blickwinkel der Grenze betrachten, was wir in den letzten Jahren versucht haben, so ist die Tatsache augenfällig, dass die Trennung zwischen Außen und Innen - die logische Voraussetzung sowohl der modernen Souveränität als auch von BürgerInnenschaft - zunehmend verschwimmt. Das bedeutet nicht, dass diese Trennung nicht mehr existiert, aber sie verschwimmt, wird dezentriert, verschoben. Wir können eine Bewegung der Verschiebung der Grenze nach außen verfolgen und eine Bewegung der Wendung der Grenze nach innen. In meiner Arbeit gemeinsam mit einem australischen Freund und Genossen, Brett Neilson, versuche ich den Begriff der "differentiellen Inklusion" (differential inclusion) zu entwickeln.[10] Wir meinen, dass wir uns nicht auf Exklusion konzentrieren sollten, um die politischen Herausforderungen durch die heutige Migration zu verstehen - und das ist natürlich die Kehrseite dessen, was ich vorhin über Souveränität und Ausnahme gesagt habe. Wir sollten uns nicht auf Exklusion konzentrieren, weil die Formen der "Inklusion" dramatischen Veränderungen unterworfen sind, auf die wir besonders achten müssen. Aber natürlich könnte ich anstatt "differentieller Inklusion" auch "differentielle Exklusion" sagen. Die Crux liegt in der Suche nach Begriffen, die uns erlauben, die Situation festzuhalten, in welcher die Trennung zwischen Innen und Außen verschwimmt. Dies ist auch von einem politischen Standpunkt aus äußerst wichtig: Wenn wir mit dieser Idee eines Verschwimmens der klaren Unterscheidung zwischen Innen und Außen arbeiten, werden Konzepte wie jenes der Integration äußerst problematisch.


Migrantische Kämpfe & Perspektiven

Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, hat mit migrantischen Kämpfen zu tun. Ich würde sagen, dass - und auch in diesem Fall werde ich eher schematisch vorgehen - es vier Perspektiven gibt, aus denen migrantische Kämpfe für gewöhnlich interpretiert werden:

Die Menschenrechts-Perspektive: Speziell, wenn wir auf Grenzen blicken, auf Lager, dann tun wir das aus einer Art Menschenrechts-Perspektive. Natürlich bedeutet Menschenrechts-Perspektive viele verschiedene Dinge: Es gibt das Standardbild der Menschenrechte, das aus der Rhetorik der EU stammt und auch von vielen NGOs geteilt wird, aber es gibt auch radikale Varianten des Menschenrechts-Diskurses. Zum Beispiel das wichtige No-Border-Camp im Sommer 2009 auf Lesbos: Viele der TeilnehmerInnen sind enge Freunde von mir und haben dort wunderbare Arbeit geleistet. Wenn wir aber die meisten Texte und Communiques betrachten, die sozusagen den Ton in Lesbos angegeben haben, dann - würde ich meinen - findet sich eine Art radikaler Menschenrechts-Perspektive, welche sich in Richtung Anarchismus bewegt. Ich respektiere diese Perspektive zutiefst und dennoch finde ich sie problematisch, weil ich überzeugt bin, dass nur die Kombination aller vier Perspektiven es erlaubt, einen effektiven politischen und theoretischen Rahmen zu entwickeln, um die Kämpfe der Migration zu verstehen.

Die anderen drei Perspektiven, die ich im Sinn habe, können durch drei Schlüsselwörter umrissen werden: Rassismus, BürgerInnenschaft bund Arbeit. Mein Punkt ist, ich wiederhole es, dass wir politisch immer diese vier Perspektiven und Diskurse gemeinsam artikulieren müssen, um mit der Vielfalt und dem Reichtum migrantischer Kämpfe zurechtzukommen. Aus einer theoretischen Perspektive meine ich dennoch, dass die Arbeits-Perspektive die wichtigste ist, und zwar meiner Meinung nach schon aus dem simplen Grund, da Migrationspolitiken (und die Bedingungen von MigrantInnen) nach wie vor hauptsächlich durch die Bestrebungen beeinflusst und bestimmt sind, Arbeitsmigration zu regulieren - mit der Konsequenz, dass die Arbeitssituation von MigrantInnen die Basis für ihren Zugang zu Rechten ist.

Lasst mich zum Schluss etwas sagen über die Perspektive der BürgerInnenschaft. Ich habe mich vorhin auf Étienne Balibar und Engin Isin bezogen und ich möchte nun gerne vom Standpunkt migrantischer Kämpfe aus deren Perspektive hervorheben, die einem anderen theoretisch-politischen Ansatz sehr nahe ist, nämlich - grob gesprochen - der Theorie der "Radikalen Demokratie". Ich verstehe "Radikale Demokratie" hier in einem sehr weiten Sinn und möchte sie nicht auf jene TheoretikerInnen reduzieren, die sie explizit vertreten, wie z.B. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Ich weiß nicht, ob ihr vertraut seid mit der Arbeit von Jacques Rancière, ich würde ihn beispielsweise unter der Überschrift "Radikale Demokratie" einordnen. Rancière schrieb wunderbare Artikel über die Kämpfe der Sans Papiers in Frankreich Mitte der 1990er Jahre.[11] Auch Engin Isin publizierte kürzlich einen Text zu migrantischen Kämpfen in Europa, verstanden als BürgerInnenschaftsakte (citizenship acts).[12] Er hat, ausgehend von einer Parallele zwischen Sprechakt und BürgerInnenschaftsakt, eine sehr raffinierte und faszinierende Theorie der BürgerInnenschaftsakte entwickelt. Unglücklicher Weise habe ich nicht mehr die Zeit, um näher darauf einzugehen. Etwas problematisch in dieser Interpretation von migrantischen Kämpfen aus der Perspektive der BürgerInnenschaftsakte finde ich, dass diese das Ereignis des migrantischen Aufstands einseitig hervorheben. Beide - Rancière und Isin - schreiben, dass zum Beispiel die Kämpfe der Sans Papiers in Frankreich gezeigt hätten, wie der ausgeschlossene Teil des politischen Gemeinwesens, der "Anteil der Anteilslosen" (Rancière) das Wort ergreifen und handeln kann und somit die die politische Ordnung selbst subvertiert.


Kommunismus als Ereignis?

In Rancières philosophischen Werk gibt es eine radikale Unterscheidung zwischen Politik und Polizei, und Polizei - übereinstimmend mit dem von Foucault untersuchten System der frühmodernen "Polizeiwissenschaften" (Deutsch im Original, Anm. d. Ü.) - ist, um es vereinfacht auszudrücken, Verwaltung.[13] Um ein Regime der Administration (also der Polizei) zu bekommen, muss der soziale Körper in Teile geschieden werden und diese Teile müssen gezählt werden. In der Zählung dieser Teile aber existiert immer auch etwas nicht gezähltes, ein Rest, der draußen bleibt. Was aber ist Politik? Politik ist der Aufstand dieses "Anteils der Anteilslosen". In diesem Aufstand gibt es ein Moment, in dem die gesamte politische und soziale Ordnung herausgefordert wird. Aber das ist ein Moment, ein Ereignis. Rancière führt einige Beispiele an, zum Beispiel die Französische Revolution, aber auch die berühmte Rede von Blanqui vor Gericht, als ihn der Richter fragte: Was ist ihr Beruf, ihre Profession?, und er antwortete: "Proletarier", und der Richter verstand nicht, was er mit dem Wort meinte - "Das ist die Profession von 30 Millionen Franzosen, die von ihrer Arbeit leben und keine politischen Rechte haben".[14] Das war die Konstitution eines neuen politischen Subjekts "Proletariat", welches zuvor nicht gezählt wurde; und genau jener Moment stellt das ganze soziale und politische Gefüge in Frage. Rancière zu lesen ist eine faszinierende intellektuelle Erfahrung, aber das Problem, das ich mit seinem theoretischen Konstrukt habe, ist, dass Politik auf das Ereignis reduziert wird, auf die punktuelle Zeitlichkeit des Ereignisses des Aufstands. Was meiner Meinung nach fehlt, ist die Reflexion über - um es sehr generell auszudrücken - die materielle Basis der aufständischen Ereignisse. Es gibt keine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen dem Aufstand und der Konstitution einer gemeinsamen materiellen Basis, die Widerstand und Kampf erst ermöglichen, und das ist besonders hinsichtlich migrantischer Kämpfe problematisch.

Zum Abschluss möchte ich noch eine letzte Anmerkung zum Ansatz der Citizenship Studies hinsichtlich migrantischer Kämpfe machen: Sowohl Engin Isin als auch Etiénne Balibar haben wichtige Beiträge zur Infragestellung der Grenze zwischen Innen und Außen als Voraussetzung moderner BürgerInnenschaft geleistet. Sie haben deutlich gezeigt, wie Außenstehende, Fremde beitragen zur Konstitution und zum Gewebe der BürgerInnenschaft. Nichtsdestotrotz baut der Diskurs der BürgerInnenschaft strukturell auf der Unterscheidung zwischen Innen und Außen auf. Sich in diesem Diskurs bewegend ist mensch gezwungen, diese Logik zu verinnerlichen und damit die ihr entsprechende Unterscheidung zwischen Innen und Außen. Das zeigt sich ebenfalls in der Tatsache, dass alle von mir genannten TheoretikerInnen für gewöhnlich über die Kämpfe der "illegalen MigrantInnen" schreiben, über Sans Papiers, während es kaum Bestrebungen gibt, ein theoretisches Verständnis jenes Kontinuums zu entwickeln, welches die Bedingungen "legaler" und "illegaler" MigrantInnen und ihrer Kämpfe miteinander verbindet. Das ist meines Erachtens riskant, da solch eine Herangehensweise dazu tendiert, die Binarität zwischen legalen und illegalen MigrantInnen zu reproduzieren. Wenn wir darüber hinaus an ein Land wie Österreich denken, in dem es keine Kämpfe der Sans Papiers gibt, und wir die Situation durch die Augen von Isin oder Rancière betrachten, so könnten wir meinen, es gäbe überhaupt keine migrantischen Kämpfe, und ich glaube nicht, dass dies der Fall ist.

Wie auch immer, die skizzierten Probleme eines Sprechens über die Zeitlichkeit des Ereignisses als einzige Zeitlichkeit der Politik sind sehr wichtig für mich, und ich möchte mit dem Hinweis schließen, dass dies nicht nur mit Migration, migrantischen Kämpfen und BürgerInnenschaft zu tun hat, sondern auch mit der Art und Weise, in der eine neue Theorie des Kommunismus, speziell in Frankreich, entwickelt wird. Ich denke dabei nicht nur an Jacques Rancière, sondern auch - und vor allem - an Alain Badiou und Slavoj Zizek, die letztes Jahr eine anspruchsvolle Konferenz in London organisiert haben.[15] Ich weiß nicht, wie bekannt euch ihre aktuellen Arbeiten sind, wie diese Diskussion über "Kommunismus" in Österreich rezipiert wird. Das Problem ist immer das Ereignis, Kommunismus ist ein Ereignis für Badiou, so wie die Demokratie für Rancière. Badious und Zizeks Kommunismus ist ein Kommunismus ohne Marx. Ich möchte damit nicht sagen, dass es an einer "ideologischen" Grundlegung des Kommunismus durch Marxsche und marxistische Schriften mangelt. Kommunistische "Ideologie" ist mir völlig egal. Vielmehr betonen möchte ich die Tatsache, dass dieses Bild des Kommunismus ein von der Kritik der politischen Ökonomie tendenziell abgetrenntes ist, von jeder Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus und seiner Konfliktlinien, seiner Widersprüche und den Prozessen der Subjektkonstitution, die durch sie hindurch laufen. Wie ich zu zeigen versucht habe, möchte ich mit meiner Arbeit zu Migration und BürgerInnenschaft einen anderen Weg gehen, und ich glaube, dass dieser Weg auch etwas über Politik im Allgemeinen zu sagen hat.


Sandro Mezzadra lebt und arbeitet in Bologna, wo er Theorie der Politik an der politikwissenschaftlichen Fakultät der dortigen Universität lehrt. Er ist innerhalb des autonomen Netzwerkes UniNomade tätig und veröffentlichte u. a.:

Diritto di fuga. Migrazioni, cittadinanza, globalizzazione, Verona, ombre corte, 2006;

Citizenship, War, Class. A Dialogue with Étienne Balibar and Sandro Mezzadra, ed. by M. Bojadzijev and I. Saint-Saëns, in "New Formations", Number 58, Summer 2006;

La condizione postcoloniale. Storia e politica nel presente globale, Verona, ombre corte, 2008.

Vor kurzem erschien der von ihm gemeinsam mit Andrea Fumagalli herausgegebene Sammelband Crisis in the Global Economy. Financial Markets, Social Struggles and New Political Scenarios, Los Angeles, semiotext(e), 2010.

E-Mail: sandro.mezzadra@unibo.it


Anmerkungen und Literatur

[1] Mezzadra, Sandro (2010): The Gaze of Autonomy. Capitalism, Migration and Social Struggles, in: V. Squire (ed.): Contesting the Securitization of Migration: Borderzones and Irregularity, London, Routledge. Vgl. die erste Fassung des Aufsatzes: Kapitalismus, Migrationen und soziale Kämpfe. Vorbemerkungen zu einer Theorie der Autonomie der Migration, in: Atzert, Thomas, Karakayali, Serhat, Piper, Marianne und Tsianos, Vassilis (Hg.) (2007): Empire und die biopolitische Wende, Frankfurt a. M., Campus, S. 179-193.

[2] In der kalabresischen Kleinstadt Rosarno kam es im Jänner 2010 zu einem Aufstand afrikanischer Erntearbeiter, nachdem einer von ihnen zuvor aus einem fahrenden Auto heraus angeschossen wurde. Der empfehlenswerte Film eines antirassistischen Kollektivs dazu ist unter http://vimeo.com/8851852 abrufbar.

[3] aus: Papadopoulos, Dimitris, Stephenson, Niamh und Tsianos, Vasilis (2008): Escape Routes. Control and Subversion in the 21th Century, London - Ann Arbor, Pluto Press (vgl. Rezension in diesem Heft).

[4] Chalcraft, John (2007): Labour in the Levant, in: New Left Review 45, May-June 2007, S. 27-47.

[5] Vgl. vor allem sein Buch (2002), Being Political. Genealogies of Citizenship, Minneapolis, University of Minnesota Press.

[6] Vgl. Nyers, Peter (2006): Rethinking Refugees. Beyond States of Emergency, New York - London, Routledge.

[7] Vgl. Sassen, Saskia (2006): Territory, Authority, Rights. From Medieval to Global Assemblages, Princeton - Oxford, Princeton University Press.

[8] Vgl. Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.) (2007): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld, Transcript Verlag.

[9] Papastergiadis, Nikos (1999): The Turbulence of Migration: Globalization, Deterritorialization and Hybridity, Malden Massachusetts, Blackwell Publishers.

[10] Vgl. Mezzadra, Sandro und Neilson, Brett (2010): Frontières et inclusion différentielle, in "Rue Descartes", 67, S. 102-108.

[11] Vgl. dazu Rancière, Jacques (2009): Moments politiques. Interventions 1977-2009, Paris, La Fabrique, S. 39-45 und 71-81.

[12] Isin, Engin F. (2009): Citizenship in Flux: The Figure of the Activist Citizen, in Subjectivity, 29, S. 367-388.

[13] Rancière, Jacques (2002): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a. M., Suhrkamp, S. 39 ff.

[14] Vgl. a.a.O., S. 49.

[15] Vgl. dazu Badiou, Alain (2009): L'hypothese communiste, Paris, Éditions Lignes, sowie jenen Band, in dem die Beiträge der Londoner Konferenz publiziert sind: Badiou, Alain und Zizek, Slavoj (Hg.) (2010): L'idée du communisme, Paris, Éditions Lignes.

Raute

Interview mit Yann Moulier-Boutang

aus: "razza operaia"; Padova edizioni, Mai 1992

Das vorliegende Interview erschien auf Deutsch erstmals 1993 in "Strategien der Unterwerfung - Strategien der Befreiung." Materialien für einen neuen Antiimperialismus Nr. 5, Schwarze Risse Verlag Berlin und wurde um einige damals unmittelbar aktuelle Passagen gekürzt. (Anm. d. Red.)


Sprechen wir zunächst über die Migrationsbewegungen aus dem Süden der Welt und aus dem Osten in Richtung "entwickelter Norden", insbesondere in Richtung Westeuropa. Wie sind sie zusammengesetzt? Wie werden sie sich in Zukunft entwickeln?

Für alle entwickelten Länder, die sogenannten industriellen Demokratien, ist die internationale Immigration der Arbeitskraft nichts Neues. Mehr und mehr "ethnisiert" werden alle unqualifizierten Arbeiten, die im Rahmen der gesellschaftlichen Aufspaltung und der kapitalistischen Arbeitsteilung auf den untersten Stufen der Hierarchie angesiedelt sind: d.h. sie werden immer stärker von ausländischen ImmigrantInnen besetzt, die hauptsächlich aus dem Süden der Welt und heute auch aus dem Osten kommen, der hier nun wieder eine Rolle spielt. Die Arbeitskraft der EinwandererInnen beläuft sich in quantitativer Hinsicht auf 8% bis 15% in den USA und in Westeuropa, hier z. B. in der Schweiz und in Korsika sogar bis 30%.

Das ist allein deswegen schon wichtig, weil dieser Anteil innerhalb der zahlenmäßig rückläufigen ArbeiterInnenklasse immer mehr an Gewicht gewinnt. Natürlich kann man das nicht strikt verallgemeinern, weil dieser Prozess nicht in allen Ländern Westeuropas gleich verläuft. Es gibt da Unterschiede, z. B. gibt es in manchen Ländern Arbeitskräfte aus ehemaligen Kolonien, und andere Länder haben "eigene" Anwerbungsländer.

Die Migration aus dem "unterentwickelten Süden" in den "entwickelten Norden" wird mit Sicherheit weitergehen, sie wird nicht abnehmen. Schon allein deswegen nicht, weil - im Gegensatz zu dem, was von verschiedenen Seiten verkündet und propagiert wird - die zunehmende Migration nicht Folge der Stagnation ist, sondern von der Entwicklung selbst produziert wird: Gerade in der ersten Entwicklungsphase werden enorme Massen an Arbeitskraft freigesetzt. Zum Beispiel hat die erste Phase des "Aufschwungs" im Mezzogiorno [Süditalien] eine riesige Welle der Binnenmigration und der Auswanderung in andere Länder ausgelöst. Daher ist die Annahme, das Immigrationsproblem könnte mit einem Investitionswachstum im Süden angegangen und reguliert werden, völlig absurd. Ein Investitionsfonds von sagen wir 0,5% bis 1% des Bruttosozialprodukts der Länder Westeuropas übersetzt sich sofort, wenn er nicht in den Taschen irgendeines lokalen Mobutus landet, in mehr Emigration und mehr Druck in Richtung Emigration. Daher ist der Migrationsdruck heute stärker denn je!

Umso mehr gilt dies vor dem Hintergrund, dass Kriege wie am Golf und die politischen Umschwünge im Osten neue Migrationen auslösen, und zwar Flüchtlingsströme. Grundlegend ist bis heute, dass die 75er Krise - die Phase der Rezession, die dem Ölschock von 1973 folgte - den Druck in Richtung Emigration nicht einschneidend reduziert hat, obwohl damals der entwickelte Norden (außer den USA) die staatlich geförderte Einwanderung beendete. Diese Abschottung hat die Einwanderung in keiner Weise zum Verschwinden gebracht, sie hat sie schlicht zur massenhaften illegalen Immigration gemacht.[1]

Dann ergeben sich neue Umstände, hervorgerufen durch den Zusammenbruch der Länder des sogenannten realen oder real existierenden Sozialismus. Es ist allerdings noch nicht abzusehen, ob es dadurch eine große Welle von internationaler Emigration geben wird. Wir wissen z. B., dass die Migrationen aus der UdSSR nach Israel konstant geblieben sind, selbst als die Sowjets sie je nach internationaler Lage und Krisenentwicklung im Nahen Osten blockiert oder begrenzt hielten. Andererseits machen die Einführung des Markts und die zunehmende soziale Ungleichheit eine starke Zunahme der Migration in den nächsten Jahren wahrscheinlich. Bei einer kürzlichen Meinungsumfrage haben 30% der Jugendlichen in Moskau erklärt, sie seien bereit, die UdSSR in Richtung USA und Westeuropa zu verlassen. Selbstverständlich werden die Einführung des Markts, die Spielregeln des Kapitalismus und der Übergang zum Kapitalismus Emigration produzieren, wie wir am Beispiel der deutschen Vereinigung sehen konnten. Sie wäre nicht so schnell und heftig verlaufen, wenn es nicht die Migrationsbewegung gegeben hätte, die die Regierung der DDR in die Knie gezwungen hat. Wenn es zu in gewisser Weise positiven politischen Veränderungen von unterdrückerischen autoritären Systemen kommt, die allein schon durch ihre Existenz den Wunsch nach Flucht genährt hatten, dann kann die Binnenmigration in der UdSSR sehr viel stärker werden, die bis zu diesem Zeitpunkt durch das System der internen Pässe scharf reglementiert und in Schranken gehalten worden war.

Bei einer Zunahme der Binnenmigration - ob sie eintritt, hängt ausschließlich von der Entwicklung der politischen Situation im Osten und in der UdSSR ab - könnte die Migration Richtung Westen viel geringer ausfallen, als allgemein angenommen wird, aufgrund der rein ökonomischen Analyse der Situation: d. h. Arbeitslosenrate, Erwartungshaltungen in Bezug auf Reichtum, Wohlstand und Konsum etc. In jedem Fall wird es wieder dazu kommen, dass die Migration aus dem Osten - nach der Unterbrechung ab 1948 mit dem "Eisernen Vorhang" und dann besonders seit dem Mauerbau in Berlin 1961 - zumindest wieder zu der alten Konstante wird, wie sie seit dem letzten Jahrhundert in Europa gängig war. Es ist also auf keinen Fall ein Rückgang der Migrationsströme aus dem Osten zu erwarten, sondern vielmehr, dass sie mindestens wieder das Niveau vor dem Zweiten Weltkrieg erreichen werden, als Länder wie Polen und die Tschechoslowakei eine dominante Rolle in der Emigration spielten. Heute könnten Rumänien und Bulgarien diese Bedeutung übernehmen. Das ist etwas schematisch, aber so würde ich die großen Tendenzen der Migrationsbewegungen kennzeichnen.

Mit der zweiten Frage kommen wir zur Formierung der Migrationsbewegungen, auch in geographischem Sinn, aber vor allem zur Untersuchung der Ursachen; also Angebot oder aber Nachfrage von Arbeit? Oder eine klassische Marktdialektik?

Welche Migrationsbewegungen, wohin gehen sie, wo ist das Zentrum? Das ist die erste Frage, die wir uns stellen. Die Jahre nach 1975 zeichnen sich nach meiner Einschätzung vor allem dadurch aus, dass die Immigration stets von der "Unterentwicklung" zur "Entwicklung" verlaufen ist, vom Nichtreichtum zum gesellschaftlichen Reichtum. Das ist für alle eine eindeutige Richtung, und daher standen am Endpunkt die USA. Da jetzt Europa der größte "ökonomische Pol" der Welt geworden ist, wird ein Teil der Migrationsbewegungen anstatt in die USA in das zuvor "blockierte" Europa kommen. Grundlegend - und derzeit in Veränderung begriffen - ist, dass sich die Welt in mindestens drei wichtige Einwanderungszentren einteilen ließ: Aus der Karibik, aus Mexiko und dem lateinamerikanischen Karibikgürtel in Richtung USA und Kanada; aus dem Mittelmeerraum, d. h. aus Nordafrika und Südeuropa in Richtung Nordwesteuropa; und häufig übersehen, Südafrika, das die Migrationsbewegungen von Angola bis Mosambik, von Tansania bis Namibia aufsaugt. Man sollte auch nicht die Migration vergessen, die auf den Yom Kippur Krieg 1973 folgte, in Richtung Saudi Arabien, den Irak und die Golfemirate.

In Italien gibt es eine große Anzahl pakistanischer EmigrantInnen und allgemein aus dem Raum des Indischen Ozean ...

Genau darauf wollte ich jetzt kommen. In einer ersten Emigrationsphase entwickelten sich die Bewegungen aus den traditionellen, historisch bekannten Räumen in die ebenso traditionellen und historischen Zentren, wobei die zurückgelegten Entfernungen recht kurz waren. Typisch für die heutige Situation ist dagegen, dass die gesamte Weltkugel von der Migrationsbewegung überzogen wird und dass die Reise des MigrantInnen weltumspannend werden kann: in Richtung eines immer entlegeneren Zentrums und von einem Zentrum zum nächsten.

Nun zu Indien und Pakistan: Als "Reservoir" an Arbeitskraft ist diese Region unermesslich und es hat hier zwei Hauptrichtungen der Emigration gegeben. Die erste ging in Richtung Großbritannien, da die Pakistani als Bürger des Commonwealth das Recht hatten, dorthin umzuziehen. Und das hat eine Emigration in jedem Sektor und in jeder Klasse der pakistanischen Gesellschaft zur Folge gehabt. Das möchte ich besonders betonen, weil man das häufig vergisst, genauer gesagt, man vergisst, dass die Migration aus wirtschaftlichen Gründen alle sozialen Schichten betrifft: natürlich die Bauern und Bäuerinnen, aber vor allem die städtische Bevölkerung, die Unzufriedenen und so auch alle Schichten der Bourgeoisie, die StudentInnen, die Unqualifizierten und die FacharbeiterInnen usw. Es ist also nicht ein typisches Armutsphänomen. Es emigrieren nicht diejenigen, die sich im absoluten Elend befinden, und es ist ein Irrtum, wenn man das glaubt oder das propagiert. Die Emigration filtert den aktivsten Teil der städtischen und ländlichen Bevölkerung heraus, also den Teil, der in politischer und ökonomischer Hinsicht die meisten Bedürfnisse anmeldet.

Unter diesem Gesichtspunkt trägt die Emigration dramatisch zur Verarmung dieser Länder bei, und zwar nicht nur in der Hinsicht, dass ein beträchtlicher Teil der Menschen mit Schulbildung weggeht, was als "Flucht der Hirne" (brain drain) bezeichnet wird. Es gibt noch eine andere Art der Verarmung, und zwar in politischer und subjektiver Hinsicht, nämlich den Fakt, dass derjenige der emigriert einfach den Entschluss fasst, weggeht und so mit den Füßen abstimmt. Dieser Fakt wird meist verschwiegen und ist bisher unzureichend erforscht worden. Wegzugehen ist ein politisches Votum, es hat eine Bedeutung, die Hirschman[2] als exit im Unterschied zu voice bezeichnet. Mit anderen Worten kann man sagen, dass es zwei Arten der Partizipation in einem politischen System gibt: Die Exit-Lösung besagt: Ich kann oder ich will nichts machen oder sagen gegen das System und ich gehe weg - der Absentismus in der Fabrik bedeutet z. B. nicht Konsens und auch nicht Abwesenheit von Konflikten, er ist vielmehr ein Zeichen für eine Konfliktualität, die sich nicht offen und institutionalisiert äußern kann - dagegen besagt die Voice-Lösung, dass man bleibt, Widerstand leistet und offen kämpft.

So ist die Emigration aus Europa in die USA fast immer in Verbindung mit politischen Niederlagen der Arbeiterklasse erfolgt oder aufgrund von Repression gegenüber der Landbevölkerung, und aufgrund der Herausbildung neuer staatlicher Gefüge. Man denke nur an die staatliche Vereinigung Italiens, mit den Folgeerscheinungen wie allgemeine Wehrpflicht, neue Steuern usw. oder an die Enclosure-Bewegung.

Für die wechselhafte Beziehung von Exit/Voice-Lösungen und ihren Entsprechungen in den Kampfzyklen der ArbeiterInnen, der Klasse und den nationalen Befreiungsbewegungen kann man beispielhaft Algerien anführen. In Algerien hat man sehen können, dass die heftigsten Migrationswellen nach Frankreich 1945 mit der brutalen Zerschlagung der illusionären Ansprüche erfolgte, die aus dem Ende des zweiten Weltkrieges und der Beteiligung am Kampf gegen den dann besiegten Nazifaschismus erwachsen war. Mit der Rückkehr der algerischen Kriegsteilnehmer schwächen sich die Migrationsbewegungen ab, genau zu dem Zeitpunkt also, in dem der Guerillakrieg um die nationale Befreiung beginnt. Die Migrationsbewegungen steigen nach dem Sieg der FLN und nach der Absetzung Ben Bellas, mit der autoritären und bürokratischen Wende und der Desillusionierung in Bezug auf die Breite und die Radikalität der Veränderungen.

Wir sollten also verstehen, dass die Emigration die Massenavantgarden aus dem Geschehen des Ursprungslands herauszieht, das Land also auch in politischer Hinsicht ärmer macht und den subalternen Klassen Kraft und Bezugspunkte raubt. Die Länder, die diese Migrationsbewegungen aufgenommen haben, erhielten einen starken politischen Impuls und mussten ihr staatliches Gefüge umbauen, um die Konfliktualität im voraus zu kontrollieren, im Unterschied zu Ländern wie z.B. Italien, die sich bis vor kurzem auf einen Süden im eigenen Lande haben stützen können.

Die Globalisierung der Migrationsbewegungen, die ja nicht mehr von "armen" Ländern zu "reichen" Nachbarländern verläuft, vermittelt uns ein viel komplexeres Bild: Beispielsweise geht ein Pakistani nach England, aber die Petrodollars von 1974 bringen ihn dann in die Golfstaaten, und so verallgemeinert sich das Migrationsphänomen.

Die Emigration beginnt immer mit ein oder zwei Promille der Bevölkerung, die wegziehen, also mit einer winzigen Minderheit. Anschließend wird die Bewegung breiter und zu einem Massenphänomen, sie erreicht zwei bis drei Prozent der Bevölkerung pro Jahr, was in zehn Jahren eine enorme Anzahl ausmacht. Das sind die Dimensionen der großen Migrationswellen aus Portugal, aus Sizilien und aus allen Ländern Südeuropas, die zunächst Richtung USA und später Richtung Nordwesteuropa gingen.

Wenn wir die heutigen Perspektiven auf diese Wachstumszahlen aus der Migrationsgeschichte beziehen, wenn wir die Migration nicht mehr nur auf die traditionellen Regionen beschränkt sehen können, und wenn wir heute in Europa eine illegale Immigration aus allen Teilen der Welt, sogar aus Sri Lanka oder aus Mauritius konstatieren, wenn wir die Dutzenden von "Regionalkriegen" mit "niedriger Intensität" und erst recht die Operationen der "Internationalen Polizei" hinzunehmen, mit dem Gesamtergebnis von über 15 Millionen Flüchtlingen weltweit, aber vor allem aus Afrika - dann können wir ermessen, welch gigantische Dimensionen die Exit-Lösung annimmt.

Zum zweiten Teil deiner Frage, welche Faktoren die Migrationsbewegungen bestimmen, warum und wie die Leute den Entschluss fassen wegzuziehen und was dabei der Hauptaspekt ist ... so möchte ich zunächst auf fehlerhafte Einschätzungen hinweisen, die bei der Analyse der Migration aus dem Süden der Welt oder aus dem Osten immer wieder auftauchen, und grob skizzieren.

Da ist zuallererst die große Mystifizierung, die der demographischen Analyse und ihrer Ergebnisse geschuldet ist. Der Gedanke, der in den demographischen Theorien immer wieder auftaucht, dass die Bevölkerung als solche ab einem bestimmten Punkt von Wachstum und Bevölkerungsdichte Emigration produziert, gestützt also auf eine biologistische Erklärung des Phänomens, so wie man das in dem Laboratorium mit den Mäusen untersucht, die sich in einem begrenzten Raum vermehren, so dass irgendwann ein Teil aus dem Raum in einen anderen verlegt werden muss, weil sie sich sonst gegenseitig zerstören würden - dieser Gedanke legt mehr oder weniger nahe, dass sich menschliche Gesellschaften genau wie die Mäuse regulieren würden! Historisch kann man nachweisen, dass es überhaupt keine Beziehung zwischen Bevölkerungsdichte und Migration gibt, weil andernfalls die HolländerInnen in jeden Teil der Welt ausgewandert sein müssten. Das Gegenteil ist der Fall. In Holland leben viele TürkInnen, IndonesierInnen usw.

An zweiter Stelle ist darauf hinzuweisen, dass Armut als solche nicht zur Emigration führt. Nehmen wir zum Beispiel die Emigration aus Irland. Wesentlich dabei war immer, dass in Irland die Emigration aus dem jahrhunderte langen Kampf gegen den englischen Kolonialismus herrührte. Die Repression des Befreiungskampfes des irischen Volks hat mit der permanenten Besetzung durch die britische Armee die Art und Weise, die Perioden und den Umfang des Migrationsflusses Richtung USA bestimmt. Es war nicht so sehr die Hungersnot, die Irland Mitte des vergangenen Jahrhunderts traf und nur die Emigration vergrößerte, die längst begonnen hatte.

Du beziehst dich auf die "Kartoffelkrankheit", die den irischen Kartoffelanbau zwischen 1835 und 1842 zerstört hat?

Ja genau. Ein Drittel der Bevölkerung starb an Hunger und ein zweites Drittel emigrierte. Das war die letzte echte push-Emigration. Emigrieren war die einzige Form zu überleben. Natürlich war diese "große Flucht" möglich geworden, weil es bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine pull-Emigration in die USA gab.

Die Misere in Äthiopien oder in Bangladesh verursacht also nicht die internationale Emigration. Die Armut dort bewirkt eine starke Binnenmigration z. B. aus Bangladesh in die Assam-Region an der Grenze zu Indien, um so den Überschwemmungen und Hungersnöten zu entkommen, aber die internationale Emigration ist eine ganz andere Geschichte.

Die internationale Emigration hat zur Voraussetzung, dass die Gemeinschaft, die Community funktioniert. Es muss eine echte kommunitäre Organisation vorhanden sein, die es in der absoluten Armut nicht gibt, denn die produziert nicht Organisation, sondern zersetzt die Communities. Der Tod durch Hunger oder durch Epidemien nach einem dieser "Regionalkriege" in Afrika, das völlige Dahinsiechen ganzer Bevölkerungen hat eher ihren Grund in der Auflösung früherer kommunitärer Strukturen als in einer niedrigen Einkommenshöhe. Daher ist nicht das ökonomische Primat der Auslöser der Emigration, nicht die Ärmsten sind es, die am meisten emigrieren.

An dritter Stelle ist zu nennen, dass es wahrscheinlich die "Besten" sind, die weggehen, aber davon habe ich schon gesprochen.

Und noch eine vierte Anmerkung: Die internationale Emigration steht immer in einem ergänzenden Verhältnis zur Binnenmigration, d. h. zum Exodus vom Land in Richtung Stadt, verursacht durch Industrialisierung und Entwicklung. Wenn die Entwicklung beginnt und das Land Arbeitskraft für die Städte freisetzt und wenn trotz der Kämpfe die Löhne zu niedrig bleiben, wenn die von diesem Entwicklungstyp angebotenen Lebensverhältnisse allzu unbefriedigend sind, vor allem im Vergleich mit anderen, wenn die Zukunftsaussichten kaum vorhersehbar oder uninteressant sind, dann versucht diese neue Arbeitskraft den Weg in die internationale Emigration. Ich würde sagen, dass die Emigration eine Verweigerung ausdrückt, vor allem von ArbeiterInnen, die sich der nachholenden Entwicklung verweigern. Ich behaupte, dass diese Arbeitskraft, diese Subjektivität eine ganz klare Vorstellung davon hat, was eine "korrekte und ausgeglichene" Entwicklung sein könnte und sein müsste und was auf der anderen Seite ihre Ausbeutungsrealität ist.

Dabei könnte man erwähnen, wie die Migration auf Korsika verlaufen ist, als die Leute im 19. Jahrhundert anfingen, in die Städte zu ziehen. Zuvor hatten sie so gut sie konnten in den kleinen Bergdörfern ausgeharrt und manchmal ihr Einkommen mit dem Lohn aus drei- oder viermonatiger Saisonarbeit aufgebessert. Dann in der Stadt haben sie sich der Proletarisierung widersetzt. Sie haben nämlich versucht, kleine Stücke Land, manchmal auch außerhalb der Stadt, in Besitz zu halten und zu kultivieren. Als dann der Getreidepreis in der Stadt viel stärker absank als der des Kastanienmehls, das neben dem Gemüsegarten und den Haustieren die Grundlage zur Selbstversorgung bildete, gab es keine Möglichkeit mehr dem städtischen Prozess der absoluten Proletarisierung zu entfliehen. Anstatt nun in der Stadt als einfache ArbeiterInnen für Niedriglöhne zu arbeiten, haben es die Leute vorgezogen, dann gleich nach Frankreich zu gehen. Diese korsischen Bauern haben sich für eine Migrationsart entschieden, die in ihrer Entschiedenheit der internationalen Emigration stark ähnelt. Dieselbe Sache ist in Spanien etwa ebenso verlaufen, in der Sierra Nevada in Andalusien, wo Bauern und Bäuerinnen sowie HirtInnen solange sie konnten wohnen blieben und manchmal auch als LandarbeiterInnen auf den großen Haziendas arbeiteten. Als sie nicht mehr weiter so leben konnten, sind sie, anstatt ArbeiterInnen in Madrid oder Barcelona zu werden, nach Frankreich, in die Schweiz oder nach Deutschland gegangen.

Das beweist meiner Meinung nach, dass die internationale Emigration nicht so sehr ein passives Reservebecken darstellt, aus dem der Kapitalismus nach Gutdünken schöpfen kann, sondern eine "positive", aktive Sache ist und zwar stets eine Art Verweigerung gegenüber einem besonderen Entwicklungstyp. Es ist keine Entscheidung für die Nicht-Entwicklung, das wäre nämlich verrückt, sondern eine Entscheidung für ein anderes Entwicklungsmodell. Wenn man schon ProletarierIn und ArbeiterIn werden muss, dann besser im Norden unter anderen Bedingungen als im Süden, und besser ist es auch die kleinen Fabriken mit Niedriglöhnen zu meiden, denn das heisst keine soziale Sicherheit, keine Gewerkschaftsrechte.

Im Grunde sagst du, wenn jemand gezwungen ist, einen Sprung zu machen, wird er versuchen, so weit wie möglich zu springen.

Ja, so ist es. Auch wenn die Logik des längstmöglichen Sprungs höchstens für 10% der Emigranten gilt. Die Logik lautet, ich gehe viel weiter weg, aber für eine viel kürzere Zeit, dann kehre ich zurück, brauche nicht arbeiten zu gehen oder werde selber eine kleine UnternehmerIn. Für die anderen Emigranten bietet diese Logik des Weggehens nicht die erhofften Chancen.

So sieht der schmerzliche Mythos aus, den wohl jede MigrantIn beim Weggehen erfährt. Natürlich gehe ich weg, aber nur kurz, für ganz kurze Zeit, nach zwei, höchstens drei Jahren bin ich wieder da.

Wobei es einige gibt, die in der Zwischenzeit etwas auf die hohe Kante gelegt haben ...

Natürlich gibt es ein paar, die es schaffen. Für den Rest ist es die reine Illusion.

Und dass ihre Erwartungen Illusionen sind, haben Parteien und Gewerkschaften der ArbeiterInnenbewegung der EmigrantIn immer ins Gesicht geschrieen, sie wäre im Grunde genommen ein Dummkopf, ein Idiot ...

Tja. Da habe ich gewisse ExpertInnen vor Augen, WissenschaftlerInnen und ihre unglaublichen Behauptungen, die sagen doch: Nehmen wir eine ArbeiterIn, die in einem unterentwickelten Land lebt und wenig verdient, man gibt ihr dort 500 Franc im Monat, und davon lebt sie. Wenn dieser Mensch nun z. B. nach Frankreich emigriert um dort 5000 Franc im Monat zu verdienen, in der Überzeugung, dass sie dort groß sparen könnte, denn sie vergleicht natürlich die Löhne im Norden mit den Preisen im Süden und dann entdeckt sie, dass sie jetzt viel mehr Miete zahlen muss usw. Diese tollen WirtschaftsexpertInnen rechnen ihr dann haarklein vor: Sie verdiene 5000 und 5000 gebe sie wieder aus. Sie habe nichts gespart, sie habe nichts gewonnen. Sie vergessen schlicht und einfach, dass es einen Riesenunterschied macht, ob man 500 Franc in Dakar ausgibt oder 5000 in Paris. Und was für einen. Man muss da nur mal nachfragen.

Wir können also sagen, die EmigrantIn ist überhaupt kein Dummkopf und ihre Argumente wegzugehen, ihre kalkulierten Überlegungen klingen eher realistisch wie eine Bekräftigung seiner Würde und Identität, ja wie eine Art Verteidigung. Sie hält sich hier nicht für immer auf, sie ist nicht auf der Suche nach einem kleinen und bescheidenen Plätzchen in unserer Gesellschaft, sie hat keine Befürchtungen zu stören; ich habe mein Häuschen und meine Familie in meinem Heimatland, so stellt sie sich vor, und dahin will ich zurück. Das ist ein ganz normaler psychologischer Verteidigungsmechanismus, wohl der elementarste und spontanste, aber nach meiner Einschätzung wieß die Mehrheit der MigrantInnen ganz genau, dass es sich mit der Rückkehr verzögern wird, bis zur Rente oder ...

... Oder dass sie nie zurückkehrt!

Ja, oder nur in den Ferien, dann wird das so eine Art Feriendomizil; die Heimat für die Ferien und den Ort hier für die Arbeit!

So ist das den sizilianischen oder überhaupt den süditalienischen Metallarbeitern in den 50er und 60er Jahren ergangen, und so auch dem portugiesischen, spanischen und algerischen Arbeiter. Die ImmigrantIn lässt sich auf diese Kalkulation dann ein, aber auch die Ferienbeziehung verändert sich ebenfalls mit der Zeit. Die Integration in den Norden wird zum Hauptaspekt ihres Lebens. Es sollte auf keinen Fall vergessen werden, dass ein Teil der ImmigrantInnen durch Sparen "reicher" im Verhältnis zu ihrer Heimat geworden sind, weil sie etwas zurückgelegt haben, weil sie für die Familie ein Haus haben bauen lassen, das sie an TouristInnen vermieten können usw. Ohne hier große Analysen anzustellen, kann man doch sofort sehen, dass es sich hier um ein Spiel handelt, bei dem doch etwas herauskommt. Da läuft ein realer Prozess an der Basis, ein Prozess der Selbstwertsetzung, denn anders würde das nicht funktionieren. Wenn das nur ein Scheissspiel wäre, wie das die IdeologInnen der Linken behaupten, eine reine Fata Morgana, eine schlichte Illusion ...

Ich denke aber, dass das eine ganz verbreitete Argumentation ist, nicht nur bei der Staatslinken ...

Dann setzen wir uns doch mit diesem Diskurs auseinander, der auch ein gewisses Maß an Rassismus enthält. Haben etwa die Emigranten mit ihrem Exit "nichts gesagt"? Wenn man sich das Verhalten der Emigranten ansieht, wird die Emigration doch positiv erlebt, auch wenn der Preis dafür sehr hoch und das individuelle Leiden groß ist.

Für die Ausbeutung sieht es anders aus, aber man darf die Ausbeutung nicht mit der vollständigen Entfremdung der Individuen verwechseln. Das Leben ist hart für die EmigrantInnen, aber gleichzeitig haben sie eine unglaubliche gesellschaftliche Veränderung durchgemacht, was beispielsweise für ihre Kinder nicht mehr nachvollziehbar ist. Die Kinder können nicht mehr ähnliche große gesellschaftliche Veränderungen erleben, sie haben einfach nicht mehr solch eine Gelegenheit für diesen großen Sprung nach vorn. Für viele eröffnete die Auswanderung den Weg zunächst in die Arbeitsverhältnisse hinein, nach 15 bis 20 Jahren wurden sie dann TechnikerInnen, schließlich gingen sie in den Dienstleistungsbereich. Für ihre Kinder gilt das nicht mehr, sie haben keine Möglichkeiten, ganz andere neue Verhältnisse zu erfahren und häufig gelangen sie nicht mehr in die Arbeitsbereiche ihrer Eltern. Wenn man von den Auswanderungsursachen spricht, sollte man diese Faktoren nicht übergehen oder unterschätzen.

Schließlich möchte ich noch darauf kommen, dass die Auswanderung auch ein autonomer Fakt ist. Das heisst, es gibt eine Autonomie der Auswanderung gegenüber der Politik der Staaten und das gilt sowohl für die Emigration wie für die Immigration. Es handelt sich dabei nämlich um ein Fakt, der in der Gesellschaft ohnehin existiert, und erst im Nachhinein findet dieses Phänomen in der Regierungs- und Staatenpolitik entsprechende Beachtung.

Das ist anscheinend schwierig zu kapieren, aber trotzdem wichtig; auch wenn sich Myriaden von ExpertInnen und BeamtInnen in den Behörden und staatlichen und internationalen Einrichtungen mit der Emigration beschäftigen, haben sie keine Ahnung von dieser Selbständigkeit, dieser Autonomie der Migrationsflüsse. Sie haben vielmehr die Vorstellung, dass alle miteinander verbundenen Faktoren und Phänomene auf die Wirtschaftspolitik zurückzuführen und daher nur Gegenstand der verwaltungsmäßigen Regulierung wären. Natürlich wird bei diesem Denkansatz die Objektivität der Politik und speziell der Wirtschaftspolitik grotesk überschätzt, es wird völlig vergessen, dass es eine Eigendynamik der Auswanderung gibt. Man kann zwar der Emigration mit repressiven Mitteln begegnen, die Rückkehr der ImmigrantInnen "fördern", aber man kann nicht die Flüsse nach Programmierung und Dafürhalten öffnen und sperren. Schon Adam Smith sagte, dass von allen Waren die am schwierigsten zu verschiebende der Mensch sei ... Klar kann man den Leuten Anreize geben, damit sie weggehen, aber man kann das nicht so hinkriegen, dass jemand, der nicht weg will, doch geht, oder dass jemand bleibt, der unbedingt weg will. Es gibt also gewichtige Einschränkungen bei dieser Art von Regulierungsmaßnahmen.

Als mehrere Regierungen Nordwesteuropas glaubten, den ausländischen ArbeiterInnen Prämien anbieten zu können, damit sie in ihr Herkunftsland zurückgingen (z. B. in Frankreich mit einer Geldprämie, in Deutschland mit der Möglichkeit für die türkischen ArbeiterInnen, dass sie ihre Rente auf einen Schlag ausbezahlt bekommen, unter der Bedingung, dass sie damit nicht nur wegzögen, sondern auch auf jeden Rentenanspruch verzichteten, mit dem Risiko der Geldabwertung durch Inflation) hat diese Strategie so gut wie gar nicht funktioniert, und wenn, dann ganz anders, als von den Regierungen vorgesehen. Im Wesentlichen ist es so gelaufen, dass diejenige, die sich sowieso schon für den Wegzug entschieden hatte oder diese Möglichkeit gerade erwog, diese Gelegenheit beim Schopf ergriff und mit ein bisschen mehr Geld abgefahren ist. Aber damit wurde nicht das Regierungsziel erreicht, den ImmigrantInnenanteil zu reduzieren. Das ist mit "Anreizen" in der Wirtschaftspolitik gemeint, aber auf einem ganz anderen Blatt steht die tatsächlich sehr beschränkte Möglichkeit, Verhaltensweisen vorzuschreiben.

Das ist dieselbe Geschichte, wie wenn man den Leuten Geld gibt, damit sie mehr Kinder zeugen. Wir haben gesehen, dass das in Frankreich nicht funktioniert. Es ist inzwischen klar, dass diejenigen, die sich entschieden haben, Kinder zu bekommen, dann auch diese Gelder mitnehmen, es kommt aber ganz selten vor, dass jemand Kinder bekommt, weil sie das finanziell interessant finden. Man bräuchte eine Riesensumme Geld, damit dieses Schema wirklich funktionierte.

Nochmals zu den politischen "Rückkehrmaßnahmen". In Frankreich wurden wahnsinnige Summen für Studien und Projekte ausgegeben, die ihre Untersuchungen auf ein paar Hundert Fälle im Jahr, eben die offiziell Zurückgekehrten, gestützt haben. Diese Projekte waren mindestens so idiotisch wie angeberhaft.

Denn es handelte sich dabei um ganz lächerliche Zahlen, wenn man sie auf die Tausende im Jahr bezieht, die nicht wegziehen wollten, auf die Tausende, die weiterhin hereinkommen, auf die Tausende, die sich für die nichtoffizielle, geheim gehaltene Rückkehr entscheiden, um nicht registriert zu werden und schon morgen wieder zurückkommen zu können. Es hat sich eine riesige Schere aufgetan, eine Art Nichtzusammenhang zwischen den angestrebten Zielen der Prämienpolitik und der Regulierungsmaßnahmen des Staates auf der einen Seite und den autonomen, sozialen Verhaltensweisen der Migrationsbewegungen und der Rückkehr auf der anderen Seite.

Ich möchte an dieser Stelle auf ein anderes großes Thema kommen, nämlich auf die push- und pull-Faktoren der Emigration.

Kannst du die Begriffe genauer erklären?

Also nach der angelsächsischen Terminologie meint push-Faktor den Druck in Richtung Emigration, ausgelöst durch Ereignisse wie Kriege, Hungersnöte, Naturkatastrophen usw. Außergewöhnliche Ereignisse sind das, wobei für uns hierbei der Hauptaspekt auf dem praktischen Zwang zur Emigration besteht. Es ist keine subjektive Entscheidung, keine individuelle Verhaltensweise und erst recht nicht marktorientiert; wenn überhaupt kommt das später hinzu, mit der Zeit. Als Beispiel für die push-Emigration können wir die Deportation der Schwarzen aus Afrika nehmen, ein Grenzfall sicherlich, aber hier wird ganz klar, dass push-Emigration Zwangsauswanderung heißt. Ganze Familien wurden auf den Nord- oder Südamerikanischen Kontinent deportiert.

Der Terminus pull-Emigration meint die Emigration, die vom gesellschaftlichen Reichtum, von den "Lichtern der Großstadt" angezogen wird. Hier kommt es zu autonomen Verhaltensweisen, hier gibt es die Subjektivität in der Entscheidung. Es handelt sich in gewisser Weise um eine freie Entscheidung, wie die der Lohnabhängigen im Vergleich zum Sklaven oder zum an die Scholle gebundenen Leibeigenen. Es ist wahr, dass die Lohnabhängige gezwungen ist, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und dass ihr nichts groß zur Auswahl steht, aber es ist eben auch wahr, dass die Lohnabhängigkeitsverhältnisse sich durchaus unterscheiden von denen der Sklaven oder Leibeigenen. Sie kann zumindest weggehen, sie kann wählen, wo sie sich so teuer wie möglich verkauft. Auf der anderen Seite ist es wahr, dass das Proletariat nicht sehr viel Auswahlmöglichkeiten hat. Man würde aber völlig von den Verhältnissen absehen, wenn man, wie häufig die neoklassischen WirtschaftswissenschaftlerInnen, von der Annahme ausgeht, dass das Migrationspotential rational die Alternativen kalkuliert, also ob man bleibt oder emigriert und sich dementsprechend entscheidet. Die Verhaltensweisen sind viel komplexer.

Die Emigration wird nur dann ein Massenphänomen, wenn die ersten "Pioniere" bereits den Weg geebnet haben, das führt dann zu einem fast automatischen Verhalten. Es wird zu einer Automatik, dass eine SizilianerIn nach Turin geht, dass eine GriechIn oder TürkIn nach Deutschland geht, das wird Teil der Existenz, der täglich gelebten Welt der ProletarierInnen.

Man hat also ein bestimmtes Maß an Organisation bei der Auswanderung vorauszusetzen, sowohl an dem Ort der Abfahrt wie am Ankunftsort?

Natürlich, das ist ganz wichtig. Der push-Faktor ist allzu häufig betont worden, so als ob das der Hauptaspekt des Migrationsphänomens wäre, man sollte dagegen korrekt beide Faktoren miteinander abwägen, push und pull bei der Auswanderung. Wenn wir von der Auswanderung als Massenbewegung sprechen, wenn sie ein solches Niveau erreicht hat, wir also die MassenemigrantIn [Wortbildung analog zum Massenarbeiter] vor uns haben, dann ist der bestimmende Faktor sicher die pull-Emigration.

Das bedeutet hauptsächlich zweierlei: Der individuelle Entschluss, die subjektive Verhaltensweise ist sicher wichtig, aber ebenfalls das Gewicht des "Zentrums", das heißt der Immigrationsländer des entwickelten Nordens. Deren Anziehungskraft ist entscheidend. Und was ist derart anziehend? Der Arbeitsmarkt.

Ohne die Zentralität, die der Arbeitsmarkt in den Industriedemokratien einnimmt, ohne die großen Arbeitsmöglichkeiten gäbe es die Emigration eben nicht, jedenfalls nicht als Massenphänomen, wie wir sie kennen gelernt haben und wie sie heute gängig ist. Dadurch kommen wir zu der Feststellung, dass die Analyse der dem produktiven Zyklus, dem Arbeitsmarkt und dem kapitalistischem Entwicklungsmodell innewohnenden Tendenz in den "reichen" Ländern uns erlaubt nachzuvollziehen, wie der große Anziehungsmechanismus verläuft, der hier Immigrationsländer par excellence schafft, der die große Mehrheit der Emigration anzieht.

Wie sieht denn der Arbeitsmarkt in den "reichen" Ländern aus, also in den typischen Immigrationsländern?

Ich meine, grundsätzlich ist der Arbeitsmarkt unserer Gesellschaften stark segmentiert. Es stimmt nicht, oder es stimmt nicht mehr, dass ein undifferenzierter Arbeitsmarkt existiert, auf dem der Preis der Arbeitskraft frei durch Konkurrenz und durch den Aufprall und durch die Beziehung zwischen Angebot und Nachfrage von Arbeit festgesetzt würde. Den Marktpreis gibt es zwar, aber nur im Inneren von separierten Zonen, von Sektoren, die extrem voneinander abgeschottet sind. Man könnte fast behaupten, dass es einen abgetrennten Arbeitsmarkt der LandarbeiterInnen gibt, der anders funktioniert als der in der Bauwirtschaft; dass es einen Markt für wenig Qualifizierte und einen für Hochqualifizierte gibt; dass es einen Markt für berufsbezogene FacharbeiterInnen und einen für die MassenarbeiterInnen gibt. Die Beziehungen verlaufen dort getrennt voneinander und die Preise schwanken im Innern eines jeden Sektors.

An dieser Stelle sollte man daran erinnern, dass in unserer Industriedemokratie die Arbeit, die Arbeitsorganisation und die Arbeitsteilung auf einen "historischen Kompromiss" gegründet sind sozusagen. Dieser "Kompromiss" sieht folgendermaßen aus: für die Arbeit wird die Garantie vergeben, dass der Lohn, der Preis der Arbeitskraft nicht streng dem Markt folgen muss, dass er z. B. in einer Depression, in Phasen starker wirtschaftlicher Rezession nicht ins Bodenlose absinkt. Darin liegt ein Stück ArbeiterInnenmacht seit den 30er Jahren und außerdem ein bestimmtes Maß an Würde der subalternen, der lohnabhängigen Arbeit ...

Du beziehst dich dabei auf die Lohndynamik als Gleichgewichtsmoment in einer Phase der Dialektik zwischen ArbeiterInnenkämpfen und kapitalistischer Entwicklung, auf der der Keynesianismus basierte, so wie es der operaistische Marxismus der 60er Jahre analysiert hat?

Genau, all das ist schon zu Genüge analysiert worden, aber dabei wurden andere Aspekte unterschlagen, wahrscheinlich hat man damals diese strikte Einheitslohnpolitik nie ausreichend analysiert. Heute wissen wir, dass es sich dabei nicht um den Reallohn handelte, sondern dass das eine rein nominale Rigidität war. Was konnte man tun, um die Kaufkraft zu garantieren, um ihre wenn auch begrenzte Progression zu gewährleisten, wo doch die Geldpolitik, die Kreditpolitik, die Inflation, alles Waffen der Regierung, der UnternehmerInnen sind? Welche Garantien gibt es für die ArbeiterInnenklasse, dass sie sich am Ende eines Inflationszyklus nicht auf den Ausgangspunkt zurückgeworfen sieht? Wie kann man zumindest eine geringe aber reale Lohnsteigerung festschreiben, die dann nicht hineingezogen werden könnte in instabile Verhältnisse der kapitalistischen und gesellschaftlichen Produktionsbeziehungen? Auf diesem Feld haben sich ja beachtliche Zyklen von ArbeiterInnenkämpfen abgespielt, besonders der MassenarbeiterInnen, die auf die Beziehung Lohn-Produktivität, Lohn-Inflation, automatische Lohnangleichung entsprechend der Inflationsrate setzten. Lohn wurde also als unabhängige Variable begriffen, auch wenn der Spielraum an Unabhängigkeit immer begrenzt geblieben ist. Das stimmt ja. Auf der anderen Seite ist aber auch wahr, dass fast schleichend in derselben Zeit einem viel substantielleren Kompromiss die Bahn gebrochen wurde.

Zu dem Zeitpunkt, in dem die entqualifiziertesten und prekärsten Tätigkeiten, die "schmutzigsten" und gesundheitsschädlichsten Arbeiten, die die ArbeiterInnenklasse gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert hat, einer anderen Kategorie von Arbeitskraft zugeordnet wurden, die sich nicht direkt in Konkurrenz mit jener ArbeiterInnenklasse befand, denn deren juristischer Status hinderte sie am Aufstieg zu den "höheren" und "qualifizierten" Tätigkeiten der Werksarbeit - zu dem Zeitpunkt also konnte so der "nationalen", autochthonen ArbeiterInnenklasse garantiert werden, dass mit der Rigidität des Einheitslohns eine weitere Rigidität aufgebaut wurde: die Abschottung der Arbeit der "nationalen" ArbeiterInnenklasse gegenüber den niedrigen Arbeiten. Praktisch hieß das für die nationale DurchschnittsarbeiterIn, dass sie vor dem Abstieg auf die unterste Stufe der sozialen Leiter, der sozialen ArbeiterInnenhierarchie bewahrt wurde.

Wie entwickelt sich in diesem Rahmen die Lohndynamik?

Die Lohngarantie verwandelte sich mehr und mehr von einer nominalen Lohnrate in eine substantielle Angelegenheit, in dem Sinne, dass mehr als der Nominallohn nun die Stellung auf der sozialen Stufenleiter zählte, in der sozialen Arbeitshierarchie, d. h. der Ort in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung.

In Italien registrieren wir in derselben Zeit die Abschaffung von Lohnkategorien und der scala mobile [der automatischen Lohnangleichung entsprechend der Inflationsrate].

Italien stellt tatsächlich einen einzigartigen Fall dar, mit der nationalen Mobilität von Süd- nach Norditalien, ohne dass es in dieser Zeit zu einer großen Immigration gekommen ist. Die scala mobile in Italien ist im Vergleich zum Rest Europas und zu den USA eine Ausnahme, wo von Anfang an dieser substantielle Kompromiss Wirkung zeigte, von dem ich vorher sprach. Für die nationale ArbeiterInnenklasse sah das alles nach einer Art Eroberung aus, nach einer gewissen Garantie, und teilweise war das ja auch so. Höchst selten kam es dazu, dass jemand zurück musste und wieder Bauer bzw. Bäuerin oder LandarbeiterIn werden musste, aber vor allem kam es kaum vor, dass man zu den schlimmsten, den gefährlichsten und gesundheitsgefährdendsten Arbeiten abstieg, mit den härtesten Arbeitszeiten, mit Nachtschicht und Feiertagsarbeit. Es war also nicht sehr wahrscheinlich, so tief zu fallen, aber das hatte enorme und bis dahin unvorstellbare Konsequenzen auf der Ebene des Arbeitsmarktes, der Arbeitsorganisation und der Arbeitsteilung.

Diese Abschottung wurde nötig, da die ImmigrantInnen gezeigt haben, dass man mit ihnen doch nicht alles machen kann. Ihre Bereitschaft, Arbeit auf den untersten Stufen der sozialen Leiter anzunehmen, dauert nicht ewig! Als Perspektive wird das nur kurzzeitig akzeptiert, sehr viel weniger mittelfristig und langfristig steht da die Verhandlung und Verweigerung.

Wie gesagt setzt sich die internationale Emigration nicht aus potentiellen SklavInnen oder DienerInnen zusammen. Natürlich kommt es immer wieder vor, dass die ausländischen und Nicht-EG-ImmigrantInnen bei ihrer Ankunft dort, wo diese ganz besondere Art von Arbeit auf sie wartet, sie die auch akzeptieren. Sie akzeptieren die Bedingungen, um hineinzukommen. Das ist ihr Pass, ihr Ticket. Denn um vor allem in Nordwesteuropa (das ist bis zu einem gewissen Grad anders gewesen als in den USA und in all den Ländern, die wie Australien, Neuseeland eine Einwanderungspolitik betrieben, so dass die dort Ankommenden vorhaben, ihr ganzes Leben dort zu verbringen) staatlich anerkannt hereinzukommen, muss man schon einen Arbeitsvertrag in der Tasche haben, die Arbeit und der Lohn sind also vorherbestimmt. So ist das z. B. für die ItalienerInnen in Frankreich oder in der Schweiz gewesen, für die TürkInnen in Deutschland, für die GriechInnen, SpanierInnen, SlawInnen usw.

Dieses System wollen sie jetzt gegenüber den Nicht-EG-ImmigrantInnen durchsetzen.

Wenn die ImmigrantIn den Arbeitsvertrag bricht, riskiert sie natürlich die Ausweisung. Sobald sie hier ist, bemerkt sie, dass das, was sie machen muss, eine Scheißarbeit ist, die "schmutzigste" und schlecht bezahlteste, und vor allem bemerkt sie, dass sie mehr Geld hätte bekommen können, wenn sie sich allein und frei auf dem Arbeitsmarkt bewegt hätte. Aber genau das kann sie nicht! Sonst würde sie die Aufenthaltsgenehmigung verlieren und zur Illegalen werden. Also jemand, der in jedem Moment entdeckt und zurückgeschickt werden kann. Deswegen wird die ImmigrantIn zu Beginn an die untersten Stufen der sozialen Arbeitsteilung rigide gefesselt, und zwar mittels der beschränkten Aufenthaltsrechte. So sieht grob skizziert das derzeit gültige System der legalen, staatlich geregelten Immigration aus.

Aber natürlich versucht die ImmigrantIn zu fliehen, genauso wie die SklavInnen, sie versucht sich auf dem Arbeitsmarkt zu befreien, während die staatlichen Behörden und das Bündel der Ausländergesetzgebung im Gegenteil zu verhindern versuchen, dass sie in der sozialen Leiter aufsteigt, weil das den oben erwähnten "historischen Kompromiss" brutal in die Krise stürzen würde. Da aber die industriellen Demokratien kein System totaler Sklaverei vertragen können, haben sie ein etwas schlaueres System ausgearbeitet, das eine gewisse Mobilität auf der sozialen Stufenleiter doch zulässt. So erklärt sich, dass die ImmigrantIn in Frankreich ein papier de travail [Arbeitserlaubnis] für eine bestimmte Anzahl von Jahren, normalerweise für drei, sieben oder zehn Jahre erhält. Somit ist sie für mindestens zehn Jahre an die untersten Ebenen gefesselt. Danach ist die Einbürgerung möglich, wodurch sie sich dann auf dem Arbeitsmarkt frei bewegen kann. Nun sind aber die ImmigrantInnen eine riesige Bevölkerungsgruppe, so dass für sie sofort Ersatz geschaffen wird von denen, die herein wollen, den Illegalen, die die fürchterlichsten Bedingungen haben akzeptieren müssen und die sich nun legalisieren lassen wollen. Daraus entsteht eine Segmentierung des Arbeitsmarktes. Der Ausdruck Segmentierung stammt aus den USA. Damit sollte ein Arbeitsmarkt beschrieben werden, der in feste Sektoren unterteilt ist, die nicht in Konkurrenz zueinander stehen und auf unterschiedlichen Preisniveaus angesiedelt sind. Bevor aber die Analyse des segmented labour market vertieft wurde, belegt durch eine bemerkenswerte Zahl an Studien auf diesem Gebiet, hatte ein amerikanischer Wissenschaftler, Kerr, von einer "Balkanisierung" des Arbeitsmarktes gesprochen und damit eine heute ganz aktuelle Debatte in großen Stücken schon vorweggenommen.[3]

Um ein Beispiel zu nennen: Je mehr du ein Weißer bist, ein "national" Dazugehöriger und - in Frankreich lange Zeit - auch katholisch bist, möglichst ein Mann, desto eher kannst du in der sozialen Arbeitshierarchie, der Arbeitsteilung nach oben kommen. Und je mehr du ein Immigrant bist, schwarz, coloured und auch noch eine Frau, desto tiefer wirst du angesiedelt werden! Das ist nach meiner Einschätzung die Ethnisierung des Arbeitsmarktes, im wahrsten Sinne des Wortes.

Wenn wir uns Begriffe vor Augen halten, wie Solidarität, ArbeiterInneneinheit, Klassenzusammensetzung, dann hat das Geschilderte natürlich ganz enorme Konsequenzen diesbezüglich. Im Schutze eines Kompromisses, den die nationale ArbeiterInnenklasse als Eroberung und als Möglichkeit zur Flucht aus den subalternsten ArbeiterInnenverhältnissen aufgefasst hat, hat sich ein System von Ausbeutung und permanenter Spaltung etabliert und institutionalisiert, und damit wurden die oben genannten Begriffe vollständig ihres Inhalts entleert. Nach meinem Dafürhalten fehlt uns an dieser Stelle ein wirklicher Kampf um die BürgerInnenrechte, um die berühmte Einheit der ArbeiterInnenklasse wieder zu erobern. Denn es kann keine Einheit unter ArbeiterInnen, die sich auf dem Arbeitsmarkt frei bewegen können und denen, die das nicht können, geben, weil die, die sich nicht frei bewegen können, vor allem darum kämpfen müssen, dass sie genau das können!

[...]

Die illegale Einwanderung erfolgt heute dadurch, dass sich die internationale Arbeitsmobilität beschleunigt, und auf der anderen Seite die Festung Europa entsteht ...

Es gibt überhaupt keinen natürlichen Hang der internationalen Wanderungen hin zur Illegalität. Auf den ersten Blick kommt es offensichtlich zu illegalen Migrationen von Arbeitskraft, wenn der Migrationsdruck, der von gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Faktoren abhängt, abgewürgt, niedergeschlagen, wenn Abschreckungs- oder Kanalisierungsversuche unternommen werden, die aber auf Grund der Umstände oder weil im Kern falsch konzipiert sind, ihr Ziel nicht erreichen und fehlschlagen.

Die internationale illegale Emigration gibt es weltweit, wenn es auf der einen Seite zwar ein international anerkanntes Recht auf Auswanderung gibt, auf der anderen Seite aber kein international anerkanntes Recht auf Einwanderung. Diese Asymmetrie in der Kodifizierung des Migrationsrechts und das Auseinanderklaffen zwischen personenbezogenen Rechten und Rechten des Menschen als Arbeitskraft - bei der internationalen EmigrantIn, dem "homo oeconomicus" ohne BürgerInnenrechte - haben die internationale Emigration in eine illegale Wanderung verwandelt.

Daraus folgt, dass die "Illegalen" nicht an sich schon Kandidaten für die Illegalität waren - je stärker in einem Einwanderungsland der Migrationsdruck ist und je heftiger eine Politik der geschlossenen Grenzen betrieben wird, desto mehr übersetzt sich dieser Fluss in illegale Migration. Man sollte also die Untersuchung der "Illegalen" nicht von der der Emigration im Allgemeinen trennen, vielmehr sollte man erstere als Fortsetzung der zweiten betrachten.

Wir sehen in Italien zum Beispiel, dass dort die "Illegalen" eine Vorreiterfunktion in der Einwanderung übernommen haben. Wie verträgt sich das mit dem, was du gerade gesagt hast?

In wirtschaftlicher Hinsicht weisen die "Illegalen" als Teil der internationalen Emigration dieselben Charakteristiken auf wie alle Wanderungsbewegungen. Gleichzeitig treten jedoch in konzentrierter Form die Anfangsmomente von Wanderungsbewegungen hervor. Das ist ja auch nur logisch. Vor dem Hintergrund von geschlossenen Grenzen und blockierten Zutritten findet sich der Teil der Erstmigration, der nicht auf den Wegen der Familienzusammenführung läuft, als brain drain oder als Asylsuchende im Strom der unterirdischen oder informellen Zugänge wieder.[4]

Wenn diese erste Phase jedoch abgeschlossen, ist verschwindet die "Illegale" nicht, sondern wird zu einem stabilen Element auf dem Arbeitsmarkt auch der "ältesten" Einwanderungsländer wie der USA, Britannien, Frankreich und Deutschland und das, obwohl es immer wieder beträchtliche Legalisierungswellen gegeben hat. Handelt es sich dabei nicht um ein strukturelles Problem?

Neben den allgemeinen Faktoren der Nachfrage nach einer dem Status nach minderwertigeren Arbeitskraft, völlig illegal und mit viel weniger Möglichkeiten, sich auf dem Arbeitsmarkt zu bewegen, stellt sich die Illegalität von EinwanderInnen dar als Antwort auf die spezifische Nachfrage von Arbeitskraft in bestimmten Sektoren, die große Flexibilität verlangen.

Aber dennoch ist in jedem Falle die Dynamik des Arbeitsmarkts unabhängig von der Dynamik der Migrationsflüsse: Es gibt sie ob mit oder ohne internationale Emigration, und sie wird zum bestimmenden Faktor, je mehr der Migrationsdruck der Ursprungsländer nicht mehr allein ausreicht, um die stabile und lang anhaltende Migrationsbewegung zu gewährleisten. Gewisse Unternehmen passen sich sicherlich an die per Statut minderwertigere Arbeitskraftskategorien an, aber das Ganze macht nur Sinn, wenn man sich den globalen Rahmen davon vor Augen hält. Die Tendenzen der Beschäftigungspolitik sind dabei ausschlaggebend. Wenn sich das glorreiche Maßnahmenbündel zur Gegensteuerung gegen die illegale Immigration als so wenig geeignet herausstellt, so liegt das ohne Zweifel daran, dass die unvergleichlich stärkeren Kräfte des Arbeitsmarkt und der Arbeitsorganisation mit ihrem strukturellen Bedarf an informeller Arbeitskraft durchschlagen.

Müsste deiner Meinung nach der Grund für die beständige Neuerzeugung von illegaler Immigration in der Flexibilisierung der Produktion gesucht werden, was du bereits als institutionalisierte Hierarchisierung des Arbeitsmarkts beschrieben hast? Wie und in welchen Sektoren werden diese Beziehungen deutlich?

Bestimmte Sektoren in den Einwanderungsländern beschäftigen konstant illegale Arbeitskraft. Das sind im Wesentlichen die Landwirtschaft, die Textilbranche, die Subunternehmen auf den Baustellen und in den Dienstleistungen für Unternehmen oder private Haushalte. In diesen Sektoren muss die Produktionsorganisation - ganz gleich, wie unterschiedlich sie im Einzelnen sein mag - auf eine kaum zu vermeidende Diskontinuität hin angelegt sein. Da sind natürliche Unregelmäßigkeiten wie im Falle der Landwirtschaft, also Saisonarbeit und Beschäftigungsintensivierung zu bestimmten Jahreszeiten, oder aber Schwankungen, die aus der Optimierung der Produktionsflüsse herrühren: Die Lagerhaltung soll auf Null gefahren werden, die Auslieferungszeiten verkürzen sich, so dass die Rückwirkung der Nachfrage auf Quantität und Qualität der produzierten Waren immer schneller wird.[5] Das Ergebnis ist eine beträchtliche Fluktuation beim Einsatz der Arbeitskraft, sowohl in Ausmaß wie in Intensität. Nachgefragt ist vor allem gewöhnliche, banale Arbeit, die sich insbesondere für den Einsatz jenseits der Norm des Arbeitsstundentags eignet, wie für pausenlosen wochenlangen Einsatz oder solchen mit unregelmäßigem Rhythmus.

Vor dem Hintergrund, dass sich in den letzten zwanzig Jahren die Produktionsformen technisch vereinheitlicht haben, dass sich die Normen der Industrieproduktion ausgeweitet und die Lohnarbeit mehr und mehr einheitlich geregelt worden ist, stellt die "Gelegenheits"-Arbeit für die Unternehmen einen lebensnotwendigen Randbereich dar. Die typische industrielle Arbeitsorganisation wird immer mehr in Frage gestellt, seitdem die Flexibilisierung der Produktion für die Unternehmen zu dem wichtigen Schlüssel der Lohnflexibilisierung geworden ist.[6] Je zentraler diese Sache wird, desto geringer das Interesse des jeweiligen Unternehmens, diese Arbeitskraft in genormte, geregelte Verhältnisse zu überführen.

[...]

Wenn ich richtig verstanden habe, heißt das, dass neben dem "informellen" Sektor ein weiterer Arbeitsmarkt oder besser ein Sekundärsektor existiert, der ebenso informell ist ...

Sekundär, aber keinesfalls randständig! Der Arbeitsmarkt aller Länder zeichnet sich zur Zeit dadurch aus, dass besondere Beschäftigungsverhältnisse derart massenhaft auftreten, dass sie nicht mehr ein randständiges Phänomen bei der Entwicklung der "nicht verwalteten" Wirtschaft darstellen. Inzwischen gehört ein Viertel bis ein Fünftel der Arbeitskraft zu diesem "Sekundärsegment". Von daher lässt sich das tendenziell als Abschaffung formaler Lohnverhältnisse bezeichnen.

Wir erleben einen immer häufigeren Übergang von Lohnverhältnissen zu Nichtlohnverhältnissen und umgekehrt, dabei werden dann die (familiären, ethnischen und sogar politischen) Gemeinschaftsbande in den Arbeitsbeziehungen aktiviert oder reaktiviert.

Diese grobe Skizzierung geht von einer wachsenden Balkanisierung des Arbeitsmarkts aus. Mit der zunehmenden Flexibilisierung der Produktion geht eine forcierte Hierarchisierung der Arbeitskraft einher, sie wird immer wieder erneuert, ist deswegen aber nicht weniger wirksam. In den großen Metropolen, sowohl in den "entwickelten" Ländern wie in denen, die sich auf dem Weg der "Entwicklung" befinden, muss man bereits nicht mehr nur von Ethnisierung der Arbeit sprechen, sondern auch von ihrer "Tribalisierung" [Aufsplitterung in Stämme].

[...]

Restrukturierung, Ausschluss von Arbeitskraft, Dezentralisierung der Produktion hatten Höhepunkte, in einem ununterbrochenen, seit 1975 forcierten Prozess. Parallel dazu hat sich eine "subjektive Strömung" entwickelt: Die Flucht der ArbeiterIn aus der taylorisierten Großfabrik und das Aufgreifen neuer Themen durch die jungen Generationen. Und doch geriet die Verweigerungshaltung mit anderen Elementen in Widerspruch, die deren positiven Aspekte in ihr Gegenteil verkehren ließen.

Wenn man auf eigene Rechnung arbeitet, nach Dingen sucht, die man in einer Art Tauschhandel anbieten kann, um so die Steuern zu umgehen usw., dann sind darin ebenfalls Manifestationen der Flucht und der Verweigerungshaltung zu sehen, von der wir sprechen. Das Paradox liegt darin, dass diese Suche nach einer größeren Freiheit im Vergleich zur Großfabrik, zur tayloristischen Arbeitsteilung, etwas anderes enthüllt, ob man das will oder nicht: Sichtbar werden nämlich die wahren Netze der intensivierten Produktion, im Unterschied zur rein extensiven Erhöhung der Produktion.[7] Diese Intensivierung der Produktion heißt: Dezentralisierung der Produktion; Einbeziehung der intellektuellen Arbeit und eine immer größere Vergesellschaftung der Arbeitskraft; Homogenität des Arbeitskollektivs; Verinnerlichung der Hierarchie, die in der Wissenschaft immer stärker objektiviert wird, wo die Technisierung vor allem als Rationalisierung der Handgriffe und als Handhabbarmachung der Information verstanden wird; und weiter, zu den "Blüten" der Kreativität, die aus der "Schattenwirtschaft" erwächst und mit der Ausbeutung unterbezahlter Abhängiger, der illegalen ImmigrantInnen, gedüngt wird, hervorgezaubert in phantomartigen Handwerksbetrieben, oder von den Laufburschen des "Frei-Haus-Lieferservices", oder in den Firmen der Computerberatung, in den Kursen der beruflichen Fortbildung, in den "Laboratorien" der Auftragsforschung usw.

[...]


Anmerkungen

[1] Siehe auch Y. Moulier-Boutang, R. Silberman und J. P. Garson, Economie politique des migrations clandestines de main-d'oeuvre, Publisud, Paris 1986.

[2] A. O. Hirschman, "Exit, Voice and the State", in: Essays in Trepassing Economics to Politics and Beyond, Cambridge, Cambridge University Press, 1981.

[3] C. Kerr, Labour Markets and Wages Examination. The Balcanisation of Labour Market and Other Essays, University of California Press, Berkley 1977 (Der Aufsatz über die Balkanisierung des Arbeitsmarkts stammt aus dem Jahr 1955).

[4] Vgl. J. Brun, America, America, Gallimard, Paris 1980.

[5] Vgl. zu diesem Punkt F. Stankiewicz (Hrsg.), Les strategies d'entreprises face aux res-sources humaines, l'apres taylorisme, Paris, Economica 1988

[6] Dieser höchst wichtige Punkt ist Gegenstand in einem Beitrag von R. Byer, "New Directions in Management Practises and Work Organization. General Principes and National Trajectories", in OECD, Akten, Konferenz über Technical Change as a Social Process: Society, Entreprises and Individual, Helsinki, 11.-13. Dez. 1989.

[7] Antonio Negri, Le nouvel espace europeen des entreprises: les PME italiennes, l'example de Benetton, le nouveau chef d'entreprise en Europe. GRAMI (Gruppe Forschung u. Analyse internationaler Migrationen), Ecole Normale Superteure, Paris, Dez. 1989.

Raute

Tomasz Konisz

Athens Schuldenkrise ist nicht Ursache, sondern lediglich Auslöser der neuesten Etappe einer seit Jahrzehnten schwelenden Krise

[Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der Beitrag wurde nicht in den Schattenblick übernommen.]

Der Beitrag ist im Internet zu finden unter:
http://www.grundrisse.net/grundrisse34/Krisenmythos_Griechenland%20.htm

Raute

Robert Zion

Eine spinozianische Grundlegung der Linken II

Das ökonomische Tableau in Commonwealth.

(Zweiter Teil. Der erste Teil erschien in grundrisse # 33)


4. Die Konstitution des Common Wealth

Michael Hardt und Antonio Negri folgen in ihrem Unternehmen, "Ethik und Politik" [S. 194] in einer "realistischen politischen Anthropologie" [S. 191] zusammenzuführen, weitestgehend dem Aufbau von Spinozas Ethik, die für Negri bereits sehr früh eine "Metaphysik des Seins als Physik des Vermögens und Ethik der Konstitution"[1] darstellte:

(Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Grafik der Originalpublikation:)

"Wir starten mit einer typisch spinozianischen geometrischen Sequenz: Auf der Ebene der Empfindungen identifiziert er ein Streben (conatus) des Lebens für das Leben; dieses Streben ist aufgebaut auf dem und wird geleitet vom Begehren (cupiditas), welches durch die Affekte funktioniert: und umgekehrt ist das Begehren verstärkt und bejaht in Liebe (amor), die in der Vernunft tätig ist. Die Bewegung dieser Sequenz beinhaltet keine Negation - das Streben ist nicht negiert durch das Begehren, oder das Begehren durch die Liebe -, sondern eine progressive Akkumulation in der Art, dass Begehren und Liebe ein zunehmend machtvolleres Streben nach dem Leben sind. Und dieser Prozeß ist unmittelbar politisch, da das Objekt all dieser Begriffe dieser Sequenz die Formation des kollektiven sozialen Lebens ist und, allgemeiner gesprochen, die Konstitution des Gemeinsamen. 'Weil zudem allen Menschen die Furcht vor dem Alleinsein innewohnt', schreibt Spinoza, 'hat doch niemand, auf sich allein gestellt, die Kraft, sich selbst zu verteidigen und sich das zum Leben Notwendige zu besorgen, lässt sich folgern, dass die Menschen von Natur aus den staatlichen Zustand erstreben und diesen niemals gänzlich auflösen können.'[2] Diese Passage gleicht denen von anderen Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts, die die Aufhebung des Naturrechtszustandes in der Formierung der Gesellschaft gesehen haben, doch der entscheidende Unterschied ist, dass Spinoza dies als positive, kumulative Progression hinstellt: das Streben zur Freiheit und zum Gemeinsamen wohnt der grundlegendsten Basis des Lebens inne; dann setzt das Begehren die Konstruktion des Gemeinsamen in Bewegung; und zum Schluss konsolidiert die Liebe die gemeinsamen Institutionen, die die Gesellschaft formen. Die menschliche Natur ist in dieser Sequenz nicht negiert, sondern transformiert" [S. 192f.].


Die Konstitution des Gemeinsamen, der Gemeinschaft, ist ontologisch verankert, und Hardt und Negri drücken gleich zu Beginn von Commonwealth ihr Hoffnung aus, dass ihre Arbeit in Richtung "einer spinozianischen Lektüre oder eines Neuschreibens von Heideggers Sein und Zeit" weist und dabei dessen "Phänomenologie des Nihilismus" überwindet [S. xiii f.]. Anders als etwa Jean-Luc Nancy[3], suchen sie die Konstitution des Seins daher nicht entlang der Heideggerschen Ontologie[4], bei der für sie "die Kritik und Affirmation des Körpers... komplett verloren gegangen ist" [S. 30], sondern in der - produktiven - Positivität des Seins (der Substanz: Deus sive Natura) bei Spinoza[5] und dem Ineinanderwirken von natura naturans und natura naturata: "Die zweite Natur ist die von den Menschen geschaffene Welt", so Negri, sie "entspringt der kollektiven Imagination der Humanität: denn die Wissenschaft ist das produktive Ergebnis des aneignenden Geistes der Natur, den die menschliche Gemeinschaft besitzt und entwickelt. Die Gesittung ist eine Anhäufung von produktiver Fähigkeit."[6]

Der spinozianische Pantheismus der Ethik eröffnet die Welt aufs Neue, nicht trotz, sondern gerade wegen der konzeptionellen Abgeschlossenheit - als revolutionären Weg der Befreiung des Menschen und - immanenten - Möglichkeitsraum biopolitischer Produktion, der ontologische Konstitution, politische Komposition, soziale Konstruktion und Transformation der menschlichen Natur ist: "synthetisch, konstruktiv, progressiv."[7]

Die ökonomische Produktion ist nun ein soziales Vermögen (potentia), welches im Wachstum der Qualitäten des Gemeinsamen besteht, in Übereinstimmungen, der Reihe der von den Empfindungen der Lust begleiteten aktiven und freudvollen Affekte und entsprechenden sozialen Zusammensetzungsverhältnissen. Umgekehrt bedeutet Rezession nun soziale Dekomposition, Nichtübereinstimmung, die Reihe der von den Empfindungen der Unlust begleiteten passiven und traurigen Affekte, soziale Zersetzungsverhältnisse. Die politische Komposition des kollektiven sozialen Lebens der Multitude unterläuft gleichermaßen die alten Schemata politischer (den Staat)[8] wie kapitalistischer Repräsentation (das Eigentum) - als produktives "strategisches Wissen" einer "biopolitischen Vernunft" bzw. als "Erfahrung oder Praxis" (experientia sive praxis)[9] und als "Rationalität im Dienst des Lebens" [S. 125f.].

Der Kapitalismus selbst durchlebt dahingehend eine Metamorphose: "Ökonomische Produktion befindet sich in einer Periode des Übergangs, in der die Ergebnisse kapitalistischer Produktion in wachsenden Maße soziale Beziehungen und Lebensformen sind. Kapitalistische Produktion, in anderen Worten, wird biopolitisch" [S. 131]. Mit der ontologisch konstitutiven Transformation der menschlichen Natur und der damit einhergehenden politischen Komposition des kollektiven sozialen Lebens, wird die Arbeit selbst zur Produktion des Menschen durch den Menschen, von Wissen, Sprache, Codes, Informationen und Affekten. Die Arbeit wird "immateriell", zur "Arbeit des Kopfes und des Herzens", sie wird "feminisiert", d.h. flexibilisierte "affektive-, emotionale- und Beziehungsarbeit" und ihr Zusammensetzungsverhältnis verändert sich durch einen "konstanten Fluss legaler wie illegaler Arbeitsmigration" permanent [S. 123ff.]. Biopolitische Arbeit ist vor allem affektive Arbeit - als solche die "Arbeit" der Affektionen der Modi der natura naturans ausdrückend[10] -, aus der die Vermehrung unseres Betätigungsvermögens (agendi potentia) selbst entspringt[11], sie entsteht aus den spinozianischen Gemeinbegriffen (notiones communes), d. h. aus dem "Bestreben der Vernunft, Begegnungen zwischen bestehenden Modi unter Verhältnissen zu organisieren, die sich zusammensetzen, und die mal Doppelung, mal die Ersetzung der passiven Affekte durch die aktiven Affekte" (Deleuze) sind. Häufig verwenden Hardt und Negri den Begriff der - wohltuenden oder zuträglichen (beneficial) - Begegnung (encounter), der "Begegnungen von Singularitäten[12] im Gemeinsamen (common)" [S. 184].

Das Kapital kann keine produktiven Begegnungen organisieren, es wird diesen äußerlich, zum Kommando und beutet das soziale Vermögen (potentia) als enteignende Gewalt (potestas) nur aus: "Kapitalistische Akkumulation ist heute zunehmend außerhalb des Produktionsprozesses, so dass die Ausbeutung die Form der Enteignung des Gemeinsamen annimmt" [S. 137]. Die Biomacht des Kapitals als Macht über das Leben ist insofern "räuberisch..., als diese danach sucht, den autonom produzierten gemeinsamen Wohlstand (common wealth) einzufangen und zu enteignen" [S. 141].[13] Wie bereits bei den Physiokraten, "behält" auch der biopolitische Arbeiter "jenen natürlichen Vorrang physischer Art, der ihn zum ersten Motor der ganzen gesellschaftlichen Maschine macht" (Turgot). Doch nicht nur in der Spalte der Produktion gleicht das neue Tableau (Vgl. hier: S. 6) hierin dem der Physiokraten (Vgl. hier: S. 1), auch in der Spalte des Kapitals ist es ebenso eines der kapitalistischen Rente (statt des Profits), die das Eigentliche des heute bestimmend gewordenen Finanzkapitals[14] ausmacht. Dadurch wird das neue Tableau nicht nur eines der ökonomischen Qualitäten des Gemeinsamen, es wird auch eines von deren Verteidigung und der sozialen Kämpfe (ein solches ist das Tableau der Physiokraten nur implizit aber noch nicht explizit gewesen). Das, was für die herkömmliche politische Ökonomie den bisherigen Untersuchungsgegenstand ausmachte, die Erfassung und Messung quantitativer Werte und zählbarer Dinge - inklusive dem Wertgesetz der Arbeit -, rückt nun an die Peripherie des biopolitischen Produktionsprozesses und die bisher als unerfassbar geltenden "Externalitäten" in dessen Zentrum: "Die Kritik der politischen Ökonomie, auch die in marxistischer Tradition, hat ihren Fokus ebenfalls in der Regel auf die Messung und quantitative Methoden gelenkt, um den Mehrwert und die Ausbeutung zu verstehen. Biopolitische Produkte jedoch, tendieren dazu, jegliche quantitative Messung zu überschreiten und die Form von Gemeingütern anzunehmen, die leicht zu teilen, aber schwerer einzuzäunen sind als der Privatbesitz" [S. 135f.].

Biopolitische Produktion ist unmittelbar politisch, nicht nur als Verteidigung - und Neukonstitution - der Demokratie gegen die Biomacht und das Kommando des Kapitals, als Komposition des kollektiven sozialen Lebens, sondern vor allem als Konsolidierung der dann geschaffenen (natura naturata) gemeinsamen Institutionen der Gesellschaft durch die Liebe (amor). Dies ist vielleicht der provokanteste Moment in Michael Hardts und Antonio Negris Commonwealth, der das Buch in der Tat zu einer revolutionären Neulektüre von Heiderggers Sein und Zeit macht: "Liebe ist stärker als der Tod" [S. 198]. Es ist die spinozianische Liebe als "Freude, begleitet von der Idee einer äußeren Ursache" [Ethik, III, Def. d. Affekte 6] und nicht die institutionalisierte "Liebe" in ihren korrumpierenden Formen identitärer - d. h. vor allem privatisierter - oder vereinheitlichender - d. h. vor allem religiöser - Art, die nur die Wiederholung des "Selben" zulässt und gleichermaßen "die Konstitution des Gemeinsamen und die Komposition von Singularitäten" verhindert [S. 183f.].

Als Tätigkeits-, Wirklichkeits- und Vollkommenheitsgrad entspricht die Liebe der dritten Erkenntnisgattung Spinozas, der Wesenserkenntnis als intellektuelle Liebe der Vernunft (amor Dei intellectualis). Die Gemeinbegriffe, obgleich kumulative Voraussetzung (Vgl. hier: S. 12, Anm. 3) und für Deleuze "Ursache des Werdens"[15] (causa fiendi) der Wesenserkenntnis, erfassen nur das Allgemeine der Attribute in allen Modi in ihrer Zufälligkeit und Mehrdeutigkeit[16], jedoch nicht das ihnen Gemeinsame, d. h. die Attribute der Substanz (Deus sive Natura) auf ihre gemeinsame Form hin in ihrer Notwendigkeit und Eindeutigkeit.[17] Die mit der Konstruktion des Gemeinsamen durch die Gemeinbegriffe geschaffenen Institutionen der Gesellschaft heißt das, werden allein durch die Liebe konsolidiert und der Mensch wird sich darin in einer Art Dreieck "seiner selbst und Gottes und der Dinge nach einer gewissen ewigen Notwendigkeit bewusst" [Ethik, V, 42, Anm.]: "Die Liebe der Natur als Ganzem, das Gemeinsame in seiner expansivsten Form" [S. 181]. Auch deshalb bestehen Hardt und Negri auf dem Begriff des - obwohl vom Marxismus-Leninismus historisch vollkommen desavouiert - Kommunismus als ontologisch begründete Gesellschaftsform.[18]


5. Anmerkungen zum neuen TABLEAU

"Aber alles Erhabene ist ebenso schwer wie selten" [Ethik, V, 42, Anm.], so klingt die Ethik aus, und auch die Konstitution des Common Wealth im neuen Tableau (3n) ist nicht in einer einfachen Reproduktion des kollektiven sozialen Lebens nach Art einer monokausalen, gar deterministischen Abfolge 31→32→33...3x→3n zu haben (Irrtum des Staatssozialismus), in anderen Worten: "Wahrheit wird von unten konstruiert" [S. 121]. Die ausgeschriebene "Formel"[19] des Tableaus ist komplizierter und dessen Spalten "auszufüllen, wird zur Tagesordnung werden" [S. 290], so Hardt und Negri. Daher an dieser Stelle einige Anmerkungen zum neuen Tableau anhand einer heute zentral gewordenen Aufgabe der Zeit: dem Klimawandel (politische Ökologie).[20]

Wie Martial Gueroult in seiner über sechshundertseitigen Untersuchung allein über Buch I der Ethik "Von Gott" gezeigt hat, stellt Spinoza darin keineswegs die Gleichung Gott = Natur auf, sondern vielmehr die Gleichung Gott = Substanz (alle Naturen gehören ein- und derselben Substanz an).[21] Der spinozianische Pantheismus darf daher nicht mit einem Naturalismus verwechselt werden. Gerade der immanente Zusammenhang von Schaffendem und Geschaffenem, von "naturender Natur" (natura naturans) und "genaturter Natur" (natura naturata), wäre ohne eine einzige identitäre Substanz als "Ursache ihrer selbst" (causa sui), die sich in ihren Attributen konstituiert und die "in sich ist und durch sich begriffen wird", nicht auszudrücken. Das Ökologische des spinozianischens Denken liegt also im immanenten Ineinanderwirken von natura naturans und natura naturata als zusammensetzende Affektionen der Modi der Substanz und ihrer Attribute, genauer, im Erkennen und der Aneignung dessen durch den Menschen, was für ihn das Gute (bonum) ist und mit seinem Streben (conatus) - "so viel es kann und so viel an ihm ist, in seinem Sein zu beharren"[22] - übereinstimmt. Oder, wie es Hardt und Negri ausdrücken: "Mit dem Ökologischen meinen wir nicht einfach nur Naturschutz, sondern die Entwicklung und Reproduktion von 'sozialen' Beziehungen... zwischen Menschen und Nicht-Menschen; sowie die Akkumulation des Wohlstands im Dienst des Gemeinsamen" [S. 125].

Zwar sagt Spinoza: "In der Natur der Dinge gibt es nichts Zufälliges, sondern alles ist Kraft der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt, auf gewisse Weise zu existieren und zu wirken" [Ethik, I, 29], doch wäre nichts falscher, als hierin einen Gott von der Art des christlichen Schöpfergottes sehen zu wollen, der, mit einem "freien Willen"[23] begabt, die Ordnung der Welt vorherbestimmte. Vielmehr ist das Denken Spinozas eine Philosophie der Wirkungen, die "Welt" demzufolge ein Wirkzusammenhang[24], ein Gefüge einer sich in ihren Attributen und Modi bis ins Unendliche affizierenden Substanz. Damit kann es so etwas wie eine "Bewahrung der Schöpfung" aus spinozianischer Sicht gar nicht geben, sondern nur das Erkennen von natürlichen Wirkungen gemäß der zweiten und dritten Erkenntnisgattung[25] und die dementsprechende Organisation der guten, aktiven sich mit den Wirkungen, die wir sind, wiederum zusammensetzenden Affektionen der Modi, anders ausgedrückt: politische Ökologie nach Spinoza besteht in der Vermehrung unseres Betätigungsvermögens und damit in der Konstruktion, Konstitution und Konsolidierung eines Gemeinsamen des Lebendigen mit dem Nicht-Lebendigen in der Art einer Selbstbejahung des Schaffenden (natura naturans) in dem Geschaffenen (natura naturata).

Für André Gorz droht der Klimawandel Verhältnisse für die menschlichen Gesellschaften hervorzubringen, unter denen "der Zusammenbruch nur mittels Restriktionen, Rationierungen, autoritären Zuteilungen von Ressourcen verhindert werden [könnte], wie sie für eine Kriegswirtschaft charakteristisch sind."[26] Als Maßstab für die "Beherrschbarkeit" des Klimawandels durch "den Menschen" gilt die Begrenzung der durchschnittlichen Erwärmung der Erdatmosphäre auf 2 Grad Celsius in Relation auf die vorindustrielle Zeit (das Jahr 1750). Dementsprechend werden von "der Wissenschaft" und "der Politik" Reduktionsziele für den anthropogenen Ausstoß von Treibhausgasen, die als Hauptverursacher des Klimawandels gelten und vor allem der Verbrennung fossiler Energieträger (Erdöl, Braun- und Steinkohle, Erdgas) zugerechnet werden, formuliert. Das Zusammenwirken der "Erdsysteme" mit den "menschlichen Systemen" im Klimawandel betrifft zudem laut IPCC[27] die sozioökonomische Entwicklung der "Menschheit" in ihrer ganzen Komplexität.

Der Klimawandel ist Realität, der hier eben dargestellte Zusammenhang in seiner allgemein akzeptierten Form sicherlich nicht falsch, allerdings verbleibt diese in einer Weise des "Vorstellens", die Spinoza "abstrakt und oberflächlich" [Ethik, I, 15, Anm.] vorgekommen wäre. Vielmehr gibt es in der Natur nichts als Zusammensetzungsverhältnisse, d. h. Affektionen der Substanz bis ins Unendliche, wobei jeder endliche Modus im unendlichen Gesamtgefüge einem bestimmten Vermögensgrad, seinem Affiziertseinkönnen, entspricht. In der Natur der Dinge, im unendlichen Zusammentreffen endlicher Modi im Gesamtgefüge, ist jedoch, "mag ein beliebiges Ding gegeben sein, stets ein anderes mächtigeres vorhanden, von dem jedes gegebene Ding zerstört werden kann" [Ethik, IV, Grundsatz] und zwar "sofern sie mit Beziehung auf eine gewisse Zeit und einen gewissen Ort betrachtet werden" [Ethik, V, 37, Anm.]. "Wenn wir allein die Ordnung der Zusammenhänge betrachten, sehen wir, dass sie eine reine Ordnung der Zusammensetzung ist. Wenn sie zugleich auch Zerstörungen bestimmt, dann weil die Körper nach einer Ordnung aufeinandertreffen, die nicht die der Zusammenhänge ist. Von daher erklärt sich die Komplexität der spinozistischen 'Ordnung der Natur'. In einer existierenden Welt müssen wir dreierlei unterscheiden: das Wesen als Grad an Vermögen; die Zusammenhänge, in denen es sich ausdrückt; die unter diesem Zusammenhang subsumierten extensiven Teile. Jeder dieser Ebenen entspricht eine Ordnung der Natur."[28]

Es ist einleuchtend, dass die "drei Ordnungen der Natur" mit den drei Erkenntnisgattungen koinzidieren: die Ordnung der Wesenheiten, d. h. der Vermögensgrade, die ohne "mindeste Beziehung auf die Zeit unter einer gewissen Art der Ewigkeit begriffen werden müssen" [Ethik, II, 44, Beweis]; die Ordnung der Zusammenhänge als Ordnung der Zusammensetzungen nach bestimmten Gesetzen in der Natur (z. B. Energieerhaltungssatz, Blutkreislauf usw.)[29], die die Gemeinbegriffe bilden; die Ordnung der Zusammentreffen (Begegnungen) der endlichen Modi, die uns nur eine inadäquate Erkenntnis liefern und unter den natürlichen Bedingungen unserer Existenz nur Zug um Zug aufeinandertreffen.[30] Der letzte Punkt ist der vielleicht alles entscheidende im spinozianischen Denken, aus ihm begründet sich nicht nur, dass in Spinozas Ethik die Untersuchung der Affekte den bei weitem größten Raum einnimmt[31], sondern auch dessen Materialismus[32] sowie Hardts und Negris Konzeption der biopolitischen Macht des Lebens als "Konstruktion der Wahrheit von unten". Im Aufeinandertreffen der endlichen Modi kann unser Zusammensetzungsverhältnis zerstört werden, doch um zu wissen, ob dies auch eintrifft, "muss man den Zusammenhang genau kennen, in dem beide Körper aufeinandertreffen, in welchem Zusammenhang sich die unzusammensetzbaren Zusammenhänge gegenüberstehen. Es erforderte ein unendlichen Wissen über die Natur, welches wir nicht haben."[33] Daher sind es einzig und allein die Affekte, die uns eine "Information", ein Wissen darüber geben, ob andere Körper mit unserer Natur übereinstimmen oder nicht übereinstimmen.[34]

Auch der Klimawandel ist aus spinozianischer Sichtweise zunächst einmal ein Gefüge von Wirkungen, der sich als ein sich veränderndes Zusammensetzungsverhältnis der Biosphäre der Erde darstellt, das sich in ein Zersetzungsverhältnis des dem Lebendigen und Nicht-Lebendigen Gemeinsamen umzuwandeln droht. Doch fänden die Zersetzungen nur in ihren Eintreffen statt, d.h. in den zerstörerischen Begegnungen der endlichen Modi "in einer existierenden Welt" (Deleuze), "sofern sie mit Beziehung auf eine gewisse Zeit und einen gewissen Ort betrachtet werden" (Spinoza). Das bloße Bewusstsein des Klimawandels führt lediglich zu einer Verdoppelung einer abstrakten Idee im Geist bis ins Unendliche, ohne dass der Geist die Ideen der Affektionen des Körpers als adäquate oder inadäquate Ursache der Zusammentreffen überhaupt erlangen könnte[35], und folglich zu einem an einer rein abstrakten "Beherrschung" ausgerichteten - negativen - Finalismus der Zweckursachen (causa finalis). Und "der Finalismus ist stets die Hypostase eines vorgefassten Entwurfs, ist die Projektion des Systems in der historischen Welt verfestigter Verhältnisse auf eine unauflösbare Naturordnung; er ist die Verteidigung von Ordnung und Kommando"[36] (darum auch das Scheitern des "Weltklimagipfels" in Kopenhagen). Was heißt das? Ein anderer Mensch? Eine andere Gesellschaft? Eine andere Welt? Ja.[37] Es geht darum, die Welt zu bauen, statt sie zu beherrschen[38], "Begegnungen zwischen bestehenden Modi unter Verhältnissen zu organisieren, die sich zusammensetzen" (Deleuze); das Tableau muss ausgeführt, die Revolution des Renaissancehumanismus, auf dessen Krise das spinozianische Denken eine erste Antwort geben hatte und die den eigentlichen Beginn unserer heutigen Krise markierte, vollendet werden - als Überwindung der Krise einer absoluten Organisation des Menschen in der Welt: die Konstitution eines omnino absolutum imperium, der Demokratie.

Nur wird die Konstitution des Common Wealth (3n) auch als politische Ökologie keinen Finalismus darstellen, das Ausführen des Tableaus besteht vielmehr in einer Art vollständigem Ausfüllen der Dichte der Natur[39], "da", nach Leibniz, "alles voll und somit die gesamte Materie in sich verbunden ist"[40] und der "Körper infolge des Zusammenhangs der gesamten Materie in dem Erfüllten die ganze Welt ausdrückt."[41] Gleichwohl wird ein Zeitpunkt (tx) der politischen Zusammensetzung des kollektiven sozialen Lebens (3x) zu erreichen sein, an dem das Kapital dessen Resultate nicht mehr zu enteignen (9) und zu repräsentieren (10) imstande sein und daher das Kommando (11) über das Gemeinsame verloren haben wird.[42] Doch muss dieser Zeitpunkt im Vorhinein unbestimmt bleiben. So wie die Modi in der Welt nur Zug um Zug aufeinandertreffen, so füllt sich auch die Dichte der Natur und damit das Tableau nur Zug um Zug aus. Für die politische Ökologie bedeutet dies in erster Linie die Konstruktion, Konstitution und Konsolidierung eines Gemeinsamen des Lebendigen mit dem Nicht-Lebendigen in der Art einer anderen Neuzusammensetzung des Ganzen als unter den Verhältnissen des Klimawandels und zwar auf der Ebene der Mannigfaltigkeiten, d. h. der Begegnungen der Modi - der Menschen mit den Dingen - unter den Bedingungen der je eigenen Natur (d. h. ihrem Affiziertseinkönnen) bis ins Unendliche. Für den Menschen heißt das: "Das, was den menschlichen Körper so beeinflußt, dass er auf mannigfache Weise affiziert werden kann, oder was ihn fähig macht, äußere Körper auf mannigfache Weisen zu affizieren, ist dem Menschen nützlich; und um so nützlicher, je fähiger dadurch der Körper gemacht wird, auf mannigfache Weisen sowohl affiziert zu werden, als auch andere Körper zu affizieren. Dagegen ist das schädlich, was den Körper hierzu minder fähig macht" [Ethik, IV, 38]. Die Begegnungen der Mannigfaltigkeiten (Modi) sind in Wirklichkeit ihre eigenen Vervielfältigungen - Multiplikationen[43] -, oder, noch einmal mit Leibniz gesprochen, die "Rückkehr in die Tiefe einer Welt."[44] Vermögensgrade sind Wirklichkeitsgrade, d. h. die produktive Komplexität der Welt selbst als das dem Lebendigen und Nicht-Lebendigen jeweils gemeinsame soziale Vermögen (40,1,2,...,n). Das Gemeinsame (common) ist folglich sowohl die Basis wie auch das jeweilige Produkt eines biopolitischen Produktionsprozesses, das es in allen drei Spalten des Tableaus daher - Zug um Zug - zu verteidigen (die Freiheit biopolitischer Arbeit, das soziale Leben, die Demokratie) wie zu produzieren gilt.[45] Und der Produktionsprozess als Vervielfältigungsprozess der Affektionen ist immer eine Transformationsprozess. Produzieren heißt, sich in der Dichte der Natur transformieren: "Du musst das verlieren, was du bist, um das zu entdecken, was du werden kannst" [S. 340].

Sicher: "Das Empire materialisiert sich unmittelbar vor unseren Augen"[46], aber dennoch wird es dem biopolitischen Produktionsprozess vollständig äußerlich, als Enteignung und Kommando, vor allem aber als von der produktiven Komplexität der Welt abstrahierende Repräsentation des Ganzen. Das Ganze aber, auch das Ganze des Klimawandels, ist immer nach dem Schema einer in sich abgeschlossenen transzendenten Ordnung konstruiert[47], während sich der immanente Prozess der sich vervielfältigenden Aufeinandertreffen der Modi überhaupt nur als ein offener denken lässt, indem er - in den in dem Erkenntnisprozess erlangten Wirklichkeitsgraden bis zur dritten Erkenntnisgattung - ohne "mindeste Beziehung auf die Zeit unter einer gewissen Art der Ewigkeit begriffen" werden kann.[48] So gilt nach dem Grundsatz des Parallelismus (eine Substanz für alle Attribute) das, was für die Vervielfältigungen der Affektionen der Körper gilt[49], ebenso für die Vervielfältigungen der Affektionen des Geistes: "Das Gut, was der Mensch für sich erstrebt und liebt, wird er beständiger lieben, wenn er sieht, dass andere eben das selbe lieben; und mithin wird er streben, dass die übrigen es gleichfalls lieben; und weil dies Gut allen gemein ist und alle sich dessen erfreuen können, so wird er folglich (aus dem selben Grunde) streben, dass alle sich dessen erfreuen, und zwar wird er danach um so mehr streben, je mehr er selber dieses Gut genießt" [Ethik, IV, 37, Beweis 2].

Politische Ökologie ist die "Rückkehr in die Tiefe einer Welt" (Leibniz), die sich produziert und dabei transformiert, indem sie die Dichte der Natur vervielfältigt (modifiziert) - materiell wie immateriell, körperlich wie geistig, ohne dass es dabei die Eminenz einer Reihe über die andere oder eine kausale Bestimmung der einen Reihe durch die andere gibt. So ist das Materielle wie Immaterielle nicht mehr zu teilen, zu zählen und zu messen, sondern nur noch als eine Qualität des Gemeinsamen zu modifizieren und nimmt so per se den Charakter eines Gemeinguts an. Das Wachstum wird zum Eindringen des Menschen in die ganze Dichte der Natur, in den ewigen Prozess ihrer immanenten Modifikation; es ist so nicht mehr die aus der bloßen - verworrenen und verstümmelten - Vorstellung bestehende Anhäufung materieller wie immaterieller Dinge, sondern die Qualität des Lebens (als gleicher ewiger Modus in allen Attributen) schlechthin als dessen Vermögensgrad. So ist das, was wir unter quantitativem Wachstum verstehen, lediglich eine Transformation der Natur, die vom Vorstellungsvermögen von vorneherein unter die beliebigen Hilfsvorstellungen des Zählens und Messens subsumiert wird.[50] Der Industriekapitalismus kann so materielle wie immaterielle Dinge folglich nicht "erfinden" bzw. modifizieren (d. h. die Natur vervielfältigen), sondern lediglich vorhandene Modi reproduzieren (und so von der produktiven Komplexität der Natur abstrahieren), indem er eine Ordnung der seriellen Wiederholung Desselben etabliert.[51]

Die Reproduktion Desselben ebenso wie die Repräsentation des Ganzen im Kapitalismus abstrahiert von der Natur, um sie so zu quantifizieren, zu hierarchisieren und zu finalisieren, d. h. um sie einzuteilen. Der Kapitalismus produziert nichts, er verteilt nichts, er teilt - die produktive Vervielfältigung der Natur - ein und zu, er reduziert deren Komplexität für die Enteignung und das Kommando.[52] Er ist damit ein uns von unserer Natur trennendes Prinzip und eine "Fessel" (fetter) [S. 143] für ihre produktiven Zusammenhänge. So kann das Wissen (als Modifikation des Geistes) sich nur vervielfältigen (andere Modi modifizieren), indem es geteilt wird, ebenso wie ein körperliches Ding (Modifikation der Ausdehnung) sich nur vervielfältigen kann, indem es sich mit anderen Dingen modifizierend zusammensetzt. Die "wirkliche" Reproduktion der Natur in der und durch die Natur ist also nicht die Wiederholung Desselben unter dem Gesichtspunkt der Repräsentation des Ganzen (Abgeschlossenheit), sondern die Produktion des Gemeinsamen unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit (Offenheit). Und da die Modifikationen nichts als die Affektionen der einen Substanz Deus sive Natura sind, einmal unter ihrem Attribut Ausdehnung und einmal unter ihrem Attritbut Denken, und die Affektionen des Geistes folglich nichts als der Ausdruck der Affektionen des Körpers, können wir die Natur tatsächlich unter dem Gesichtspunkt ihrer Ewigkeit (sub specie aeternitatis) erkennen. Die amor Dei intellectualis ist daher nicht so etwas wie eine weltferne, kontemplative Innenschau, sondern das Prinzip, in dem sich die Natur in sich und durch sich selbst begreift und bejaht. Wie Hardt und Negri betonen, ist die "Liebe der Natur" als Liebe "des Gemeinsamen in seiner expansivsten Form" politisch konstitutiv. Doch gerade im Klimawandel ist die Gattung nicht so etwas wie das Volk (natio) der Menschen in der Natur. Es ist eine sich vervielfältigende Menge (multitudo), die sich nur gegen Hobbes' Vorstellungen von "Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerli chen Staates", d. h. in Liebe als der "Freude, begleitet von der Idee einer äußeren Ursache"[53] und daher ganz "ohne die Furcht (metus) vor einer Macht, die ihre Befolgung veranlasst"[54], als solche konstituieren kann. Denn am Ende zeigt "die Furcht, durch die sie im Zaum gehalten werden sollen" [TPT, Vorrede, S. 6], den Menschen immer nur ein "Mangel an Erkenntnis und Ohnmacht des Geistes" [Ethik, IV, 47, Anm.] an. Daher wird es nur dort, wo Liebe ist, den Kapitalismus nicht mehr geben, und nur dort wird es diese geben, wo wir damit begonnen haben werden, das dem Menschen und der Natur Gemeinsame des Materiellen wie Immateriellen zu teilen, statt es weiterhin ein- und zuzuteilen. Nur dann, wenn es kein Eigentum an der Natur mehr gibt, werden wir begreifen können, dass wir als Einzel- und als Gattungswesen nichts als Wirkungen dieser Natur und von ihr bedingt sind und nur dann werden wir uns in unserem Dasein erhalten können.

E-Mail: zion@robert-zion.de


Anmerkungen

[1] Antonio Negri: Die wilde Anomalie, a.a.O., S. 246. "Gegen eine Ideologie, die die Organisation der Gesellschaft als Nachahmung des Marktes braucht, setzt Spinoza die Konstitution der Gesellschaft als Akt der Entwicklung der Produktivkraft. Die potentia." Ebda.: S. 246.

[2] PT, 6. Kap., § 1.

[3] Nancy entwickelt seine ontologische Fundierung der Gemeinschaft entlang von Heideggers "Mitsein". Vgl.: Jean-Luc Nancy: Die herausgeforderte Gemeinschaft, Zürich/Berlin: diaphanes 2007; sowie: Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer 1993, Erster Teil, 4. Kap., § 26, S. 117ff.

[4] Obwohl Negri bereits 1981 in seiner sehr tiefgehenden Untersuchung von Spinozas Ontologie analoge Schlussfolgerungen zieht: "Die Zeit ist Sein." Antonio Negri: Die wilde Anomalie, a.a.O., S. 256.

[5] "Alle Natur ist positiv." Gilles Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, a.a.O., S. 118.

[6] Antonio Negri: Die wilde Anomalie, a.a.O., S. 252.

[7] Gilles Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, a.a.O., S. 149.

[8] Ähnlich Giorgio Agamben in seiner ontologischen Herleitung der Gemeinschaft aus dem "beliebigen (quodlibet) Sein": "Denn die kommende Politik ist nicht mehr der Kampf um die Eroberung oder Kontrolle des Staates, sondern der Kampf zwischen dem Staat und dem Nicht-Staat (der Menschheit); sie ist die unüberwindbare Teilung in beliebige Singularitäten und staatliche Organisation." Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft, Berlin: Merve 2003, S. 79.

[9] PT, 1. Kap., § 3.

[10] In der Tat geht es für Spinoza auch darum, "nachzuweisen", so Gilles Deleuze, "dass der Körper die Erkenntnis übersteigt, die man von ihm hat, und daß ebenso das Denken das Bewußtsein übersteigt, das man von ihm hat." Spinozas Entdeckung ist die "des Unbewußten und eines Unbewußten des Denkens, nicht minder tiefgreifend als das Unbekannte des Körpers." Gilles Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, a.a.O., S. 28f.

[11] Vgl. die Definition des Affekts bei Spinoza: Ethik, III, Def. 3 (Hier: S. 10).

[12] D. h. spinozianisch ausgedrückt der Menschen mit den Dingen als - nicht-identitäre - Modi der Attribute Denken und Ausdehnung.

[13] Kapitalistische Ausbeutung nimmt tatsächlich wieder die Form von Marx' "ursprünglicher Akkumulation" an, als - statische - "Ausbeutung von Naturschätzen" und als - dynamische - "Ausbeutung des Gemeinsamen biopolitischer Arbeit." [S. 138ff.].

[14] Dieses organisiert für Negri "die Ausbeutung der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit", deren Kriterien zur Erfassung des "gesellschaftlichen Reichtums... die Börsenbewertungen, Bewertungen aufgrund von Finanzdaten" sind. "Eine Bewertung aufgrund von Finanzdaten allerdings hat... kein Maß, und dadurch ist die Krise eine umfassende, eine totale Krise, ohne Maß, die Blasen platzen, weil alles auf Spekulation beruht... Das Fehlen des Maßes, das heißt die Unmöglichkeit für das Finanzkapital, sich innerhalb des Prozesses zu positionieren." Antonio Negri/Raf Valvola Scelsi: Goodbye Mr. Socialism - Das Ungeheuer und die globale Linke, Berlin: Tiamat 2009, S. 226f.

[15] Gilles Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie, a.a.O., S. 80.

[16] Das, "worin alle, sofern der Körper von ihnen affiziert wird, übereinstimmen... Doch ist zu beachten, dass diese Begriffe nicht von allen auf die selbe Weise gebildet werden, sondern bei jedem sind sie wieder andere, je nach dem, was seinen Körper am häufigsten affiziert hat" [Ethik, II, 40, Anm. 1].

[17] "Nun ist aber diese Notwendigkeit der Dinge die Notwendigkeit der ewigen Natur Gottes selbst... Dazu kommt, dass die Grundlagen der Vernunft Begriffe sind, die das erklären, was allen Dingen gemeinsam ist und die nicht die Wesenheit irgendeines Einzeldinges erklären und die deswegen ohne die mindeste Beziehung auf die Zeit unter einer gewissen Art der Ewigkeit (sub specie aeternitatis) begriffen werden müssen" [Ethik, II, 44, Beweis].

[18] "Spinozas Erfindung ist in Wirklichkeit eine Philosophie des Kommunismus und Spinozas Ontologie ist nichts anderes als eine Genealogie des Kommunismus. Darum auch wird Benedictus weiterhin verflucht werden." Antonio Negri: Subversive Spinoza, a.a.O., S. 100.

[19] Ausgeschrieben: 40→31o(↑61||↓91101)o041||51o(↑7181||↓111)o32 o(↑62||↓92102)o42||52o(↑7282||↓112)o33...3x...3n Zur Erläuterung der Ziffern der Formel vgl. das neue Tableau (hier: S. 6). Zeichenerläuterung: o = Verkettung; || = ist parallel zu; ¬ = Negation; ↑ = Konstitution des Common Wealth durch die Multitude (linke Spalte des Tableaus); ↓ = Entgegenwirken des Empire durch das Kapital (rechte Spalte des Tableaus).

[20] Hier wird "Klimawandel" statt "Klimaschutz" geschrieben, um die Assoziation mit einfachem "Umweltschutz" zu vermeiden, da es hierbei, so Ludger Volmer, um eine "umfassende politische Ökologie" geht und "Ökologie und Umweltpolitik - das ist nicht dasselbe... Ökologie sollte eine politische Grundkategorie sein, die alle gesellschaftlichen Bereiche durchzieht. Eine Philosophie ganzheitlichen Denkens." Ludger Volmer: Die Grünen. Von der Protestbewegung zur etablierten Partei - Eine Bilanz, München: C. Bertelsmann 2009, S. 233. Vgl. hierzu auch: André Gorz: Auswege aus dem Kapitalismus. Beiträge zur politischen Ökologie, Zürich: Rotpunktverlag 2009, passim.

[21] Vgl.: Martial Gueroult: Spinoza I. Dieu, a.a.O., Anh. 6.

[22] Vgl.: Ethik, III, 6, Beweis.

[23] Spinoza schreibt unmissverständlich, "dass Gott nicht aus Freiheit des Willens handelt" [Ethik, I, 32, Folgesatz 1].

[24] Selbst die Einzeldinge ("Mensch", "Pferd", "Baum", "Stein") sind aus unendlichen vielen Individuen (als Modi der Attribute oder Modifikationen der Substanz) zusammengesetzt, die auf gewisse Weise übereinstimmen und so wiederum einen gemeinsamen Wirkzusammenhang bilden: "Wenn mehrere Individuen bei einer Handlung so zusammenwirken, das sie alle zugleich die Ursache einer Wirkung sind, betrachte ich sie insofern in ihrer Gesamtheit als ein Einzelding" [Ethik, II, Def. 7].

[25] Das christlich-konservative Diktum von der "Bewahrung der Schöpfung" hingegen wäre aus spinozianischer Sicht der ersten Erkenntnisgattung der "Meinung oder Vorstellung" zuzuordnen, der imperativen Zeichen ("Du sollst!"), die den inadäquaten und verworrenen Vorstellungsbildern und Erinnerungen entspringen, zu denen auch der Schöpfergott zählt: "So legt auch, wer die göttliche Natur mit der menschlichen verwirrt, Gott gar leicht menschliche Affekte bei, besonders solange ihm noch unbekannt ist, auf welche Weise die Affekte im Geist hervorgebracht werden" [Ethik, I, 8, Anm. 2]. Das Wesen jeglichen religiösen Glaubens ist für Spinoza daher allein der "Gehorsam" (oboedientia). TPT, 14. Kap., S. 215.

[26] André Gorz: Auswege aus dem Kapitalismus, a.a.O., S. 20.

[27] Intergovernmental Panel on Climate Change ("UN-Weltklimarat"). Vgl.: die IPCC-Berichte ("Reports") auf: http://www.ipcc.ch/publications_and_data/publications_and_data_reports.htm#1.

[28] Gilles Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a.a.O., S. 209.

[29] "Sie bestimmt die ewigen Bedingungen, unter denen die Modi in die Existenz übergehen und fortfahren zu existieren, sofern sie die Zusammensetzung ihres Zusammenhangs bewahren." Ebda.: S. 209.

[30] "Das ist eine Ordnung der teilweisen, örtlichen und zeitweisen Übereinstimmungen und Nicht-Übereinstimmungen." Ebda.: S. 209.

[31] Vgl.: Buch III: Von dem Ursprung und der Natur der Affekte; Buch IV: Von der menschlichen Knechtschaft oder von den Kräften der Affekte.

[32] Der es in der Tat auch erlaubt von einem "Spinozamarxismus" zu sprechen. "In seinem Atheismus, in seinem Materialismus, in seinem Konstruktivismus stellt er die verteufelte, wilde Philosophie dar, die Fortdauer des revolutionären Traums des Humanismus." Antonio Negri: Die wilde Anomalie, a.a.O., S. 150.

[33] Gilles Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a.a.O., S. 213.

[34] "Somit ist die Erkenntnis des Guten und des Schlechten nichts anderes, als die Idee der Freude oder Trauer, die aus dem Affekt der Freude oder Trauer selbst notwendig folgt. Diese Idee ist aber mit dem Affekt auf die selbe Weise vereinigt, wie der Geist mit dem Körper vereinigt ist, das heißt diese Idee unterscheidet sich von dem Affekt selbst oder von der Idee der Körperaffektion in Wahrheit nur durch den bloßen Begriff. Folglich ist diese Erkenntnis des Guten und des Schlechten nichts anderes, als der Affekt selbst, sofern wir uns seiner bewusst sind" [Ethik, IV, 8, Beweis].

[35] Doch ist gerade davon abhängig, ob der Geist den Affekt als Handlung (actio) oder Leidenschaft (passio) erfährt und entsprechend das Betätigungsvermögen (agendi potentia) vermehrt werden kann. Vgl. die Definition des Affekts: Ethik, III, Def. 3 (Hier: S. 11).

[36] Antonio Negri: Die wilde Anomalie, a.a.O., S.151. Ähnlich Gorz: "Es ist unmöglich, die Politik auf eine Notwendigkeit oder eine Wissenschaft zu gründen, ohne sie gleichzeitig in ihrer spezifischen Autonomie zu verleugnen und eine 'notwendige', 'wissenschaftliche' Diktatur zu errichten, die nicht weniger totalitär ist, wenn sie sich auf Forderungen des Ökosystems beruft, als wenn sie sich (wie der 'Diamat' es tat) auf die 'Gesetze des dialektischen Materialismus' beruft." André Gorz: Auswege aus dem Kapitalismus, a.a.O., S. 39f.

[37] So auch Gorz: "Eine andere Ökonomie, einen anderen Lebensstil, eine andere Zivilisation." Ebda.: S. 20. Insofern ist der Leitspruch der globalisierungskritischen Bewegung: "Eine andere Welt ist möglich", so er denn ontologisch verstanden wird, eine zutiefst spinozistische Aussage.

[38] Vgl.: Robert Zion: Vom Ethos einer werdenden Menschheit, in: Episteme - Online-Magazin für eine Philosophie der Praxis,
No. 5, Nov. 2008, http://www.episteme.de/htmls/Zion-Ethos-Menschheit.html.

[39] Nach Deleuze gibt der Begriff des immanenten Ausdrucks (der Substanzen in der Welt bei Spinoza und Leibniz) "der Natur die ihr eigene Dichte zurück und macht zugleich den Menschen fähig, in diese Dichte einzudringen." Gilles Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a.a.O., S. 286.

[40] Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, Stuttgart: Reclam 1979, § 61, S. 27. Die Bezugnahme auf Leibniz an dieser Stelle ist keineswegs willkürlich. Beide, Spinoza wie Leibniz, haben in ihren rationalistischen Systemen die absolute Organisation des Menschen in der Welt des Renaissancehumanismus gegenüber Descartes' "modernen" und hierin allzu relativistischen Schlussfolgerungen zu bewahren versucht, indem sie die Beziehungen zwischen dem Einen (Ganzen) und dem Mannigfaltigen als Zusammenhang entwarfen, der der Welt vollkommen immanent ist. Doch während Spinoza methodisch hierin als "Monist" (Substanz = Deus sive Natura) vorgegangen ist, ist Leibniz in seiner Beschreibung der unendlichen Vielfältigkeit individueller Einzelwesen (Substanzen = Monaden) als "Pluralist" vorgegangen. Zwischen Spinozas Ethik und Leibniz' Monadologie gibt es daher eine erstaunliche - wenn auch inverse - Strukturgleichheit der "Modi" mit den "Monaden" hinsichtlich ihrer "Ausfüllung" der Welt. (Vgl. auch vorhergehende Anm.).

[41] Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, a.a.O., § 62, S. 28.

[42] Als Formel des Tableaus ausgeschrieben: tx = [3xo(↑6n||¬9n10n)o4no↑8no3n||¬5n]. Zur Erläuterung der Ziffern und Zeichen der Formel vgl. hier: Anm. 19.

[43] Pli = franz.: "Falte". Vgl. auch: Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 11-28.

[44] Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Schriften und Briefe 1683 - 1687, Berlin: Akademie Verlag 1992, Brief an Antione Arnauld vom 30. April 1687, S. 325.

[45] Daher auch ist die Demokratie für Spinoza sowohl das Ziel als auch die Urform des staatlichen Zustands (status civilis). Vgl: TPT, 16. Kap., S. 237f. Vgl. auch die spinozianische Sequenz des Politischen (Hier: S. 7f.).

[46] Michael Hardt/Antonio Negri: Empire, a.a.O., S. 9.

[47] So stellt die Repräsentation des Ganzen nach dem Schema der Transzendenz überhaupt erst die Bedingung für die Enteignung und das Kommando des Kapitals her, vor allem in Begriffen einer schöpfungstheoretischen Theologie: Produktion = Wertschöpfung = Schöpfung; unsichtbare Hand des Marktes = die Gottes. Daher auch Negri: "Der Markt ist Aberglaube." Antonio Negri: Die wilde Anomalie, a.a.O., S. 246. Insofern tendiert das Repräsentationsschema einer in sich abgeschlossenen transzendenten Ordnung bezüglich des Klimawandels hin auf eine negative Eschatologie, auf ein das Weltgeschehen abschließendes göttlichen Gericht, dass immer kurz bevorsteht (zur Aufrechterhaltung von Repräsentation, Ordnung und Kommando).

[48] In einem Brief an Ludwig Meyer weist Spinoza nach, "dass weder Zahl noch Maß noch Zeit, die bloße Hilfsmittel des Vorstellungsvermögens sind, unendlich sein können". Vielmehr trennt das bloße Vorstellungsvermögen (erste Erkenntnisgattung) in seiner Bestimmung der Zeit (Dauer) und des Maßes (Quantität) hierin "die Affektionen der Substanz von der Substanz". So können wir "Dauer und Quantität beliebig bestimmen", insofern "wir sie von dem Modus, durch den sie von den ewigen Dingen herkommen, scheiden". [Vgl.: Briefe 12]. Dauer und Quantität sind folglich nur rein äußerliche Charakteristika der Einzeldinge (Modi), insofern das Vorstellungsvermögen diese aus dem Zählen und Messen abstrahiert. Auf die Substanz bezogen unterscheiden sich die Körper jedoch nur untereinander hinsichtlich von Bewegung, Ruhe, Geschwindigkeit und Langsamkeit. Vgl.: Ethik, II, 13 (Hier: S. 9). Auch daher verstand sich Albert Einstein als Spinozist.

[49] Vgl.: Ethik, IV, 38. (Hier: S. 22).

[50] Vgl. hier: Anm. 6 auf S. 22f.

[51] Daher bleibt die reproduktive Tätigkeit innerhalb des Kapitalismus in der Tat vom produktiven Tätigkeitsvermögen grundsätzlich getrennt (Begriff der "toten" oder "abstrakten Arbeit").

[52] Ähnlich Maurizio Lazzarato, wenn er im Anschluß an Deleuze/Guattari schreibt, "dass der Kapitalismus weder ein 'Produktionsmodus' noch ein System ist, sondern eine Anzahl von Dispositiven der maschinischen Indienstnahme und zugleich eine Anzahl von Dispositiven der sozialen Unterwerfung." Maurizio Lazzarato: Nachwort zu "Tausend Maschinen", in: Gerald Raunig: Tausend Maschinen. Eine kleine Philosophie der Maschine als soziale Bewegung, Wien: Turia + Kant 2008, S. 113-125, hier: S.113.

[53] Ethik, III, Def. d. Affekte 6. (Hier: S. 10, Anm. 3).

[54] Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1966, 17. Kap., S. 131. Zur Aktualität des Gegensatzes von Hobbes und Spinoza vgl. Paolo Virno: Grammatik der Multitude. Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen, Berlin: Id-Verlag 2005, S. 8ff.

Raute

Buchbesprechung von Robert Foltin

Dimitris Papadopoulos, Niamh Stephenson, Vassilis Tsianos:
Escape Routes. Control and Subversion in the Twenty-first Century

London: Pluto Press, 2008, 320 Seiten, Euro 24,99

Antonio Negri sieht in "Escape Routes" einen Werkzeugkasten in den Händen der Multitude (Klappentext). Ob das wirklich stimmt, müssen die zukünftigen "unwahrnehmbaren" Bewegungen zeigen. Auf jeden Fall ist es eine Beschreibung des postoperaistischen Konzepts des Exodus an Hand der konkreten Beispiele von Leben, Mobilität und Arbeit. Diese unwahrnehmbare Politik (imperceptible politics) unterscheidet sich dabei entscheidend von "Widerstand", weil sie sich der Repräsentation entzieht. Die Beschreibung dieser Aktivitäten lässt sich mit der "Entdeckung" der unsichtbaren Widerstandsformen wie "krankfeiern" und "langsam arbeiten" durch den Operaismus der 1960er vergleichen.

Im ersten Abschnitt geht es um die Entwicklung der kapitalistischen Souveränität der globalen nordatlantischen Gesellschaft (global North Atlantic society): Der nationale soziale Kompromiss des fordistischen Staates wird beschrieben, der auf Rechten und Repräsentationen aufbaut (double-R axiom), mit dem Schwerpunkt auf den sozialen Rechten. Die Körper werden diszipliniert, domestiziert und klassifiziert, um für das Regime produktiv gemacht zu werden. Als Antwort auf die Subversion dagegen entsteht ein Regime der transnationalen Gouvernementalität, das den Schwerpunkt Richtung Repräsentation verschiebt, das neoliberale Regime anerkennt Differenzen[1]. Die Subjektivitäten werden als unterschiedliche Identitäten anerkannt, es gibt nicht mehr eine von außen wirkende Beziehung zwischen Macht und Körper ("Disziplin"), sondern ein Netzwerk der Macht mit Knoten und Linien. Aus diesem Regime entwickelt sich das postliberale Regime, das das klassifizierende Gitter mit dem Netzwerk verbindet. Typisch sind flexible Grenzen, transnationales Regieren wird mit neuen Formen des Korporatismus (Fundamentalismen) verbunden, vertikale "Ballungen" (vertical aggregates) genannt.

Der nächste große Abschnitt ist mit escape überschrieben, was mit Flucht, Exodus oder Entkommen zu übersetzen wäre. Es wird gezeigt, dass zuerst die Mobilität der Subjekte in ihrer Flucht aus den feudalen Verhältnissen vorhanden war, woraus die mobilen Vagabund_innen entstanden, die erst dann diszipliniert wurden. Dadurch wurde es möglich, sie als Arbeitskraft zu vernutzen. Die Integration in die Fabrikarbeit war eine Antwort auf die vorher entstehenden Gemeinschaften des Exodus (communities of exodus).

Repräsentation wird als eine Form der Macht gesehen, das "Entkommen" (escape) ist nicht repräsentierbar und trotzdem das Herz der sozialen Konflikte. Die Flucht aus den Fabriken und anderen kapitalistischen Institutionen um und nach 1968 ist auch ein Entkommen, etwa der Arbeiter_innenklasse aus der Repräsentation durch Partei und Gewerkschaften. Auch die feministische Revolte ist eine Verweigerung der Repräsentation (vgl. Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist), die "Frauen" sind das nicht repräsentierbare Viele.

Unwahrnehmbare Politik (imperceptible politics) entgeht der Politik (policing) und ist eine Alternative zum repräsentierten Widerstand, der immer wieder in die herrschenden Systeme integriert wird und damit seine konstituierende Macht verliert. Das "Entkommen" (escape) ist nicht in Opposition zum System, es unterläuft und "betrügt" das System, insofern darf es auch nicht erkennbar sein, was nicht unbedingt heißt, dass es unsichtbar sein muss. Migrant_innen aus dem Süden können oft ihre Auffälligkeit nicht verbergen, sehr wohl aber eine vermeintlich wirkliche Identität. Diese Art der Politik will keine bessere Gesellschaft errichten, sondern konstruiert allein durch ihre Existenz materielle Realitäten. Diese un/an/geeigneten[2] Zustände der Existenz (ein Zustand der Aneignung, aber nicht angeeignet durch die herrschende Ordnung) werden durch den repräsentativen Diskurs zu kontrollierbaren Objekten, Körper werden zu Identitäten, Wünsche zu staatlich orientierten Forderungen.

Im ausführlicheren zweiten Teil, betitelt mit "zeitgenössische Abfolge des Entkommens", werden an Hand von Leben, Mobilität und Arbeit zuerst die herrschenden Regime beschrieben, anschließend die "Überschreitung" (excess), die sich nur teilweise fassen lässt und schließlich das "Entkommen" (escape), das sich als konstituierende Macht der postliberalen Kontrolle entzieht.

Um 1900 taucht das "Leben" als Objekt der Politik auf, das als Lebenskultursystem (life/culture system) jeden Aspekt des Lebens erfassen und planen möchte. Schließlich führt das zum Faschismus, weshalb die Idee einer Formbarkeit des Lebens in der Nachkriegszeit tabuisiert ist. Die vielfältigen Rebellionen um 1968 erfordern aber eine neuerliche Kontrolle des Lebens durch die herrschenden Regime. Als Beispiel für die Steuerung des sich verändernden auftauchenden Lebens (emergent life) werden die unkontrollierten Krankheiten beschrieben - wie AIDS und die (vermeintliche) Vogelgrippe-Pandemie. Die Maßnahmen der Institutionen lassen sich nicht auf Nationalstaaten beschränken, müssen sich aber trotzdem auf diese beziehen. Sie sind Ausdruck des postliberalen Regimes, in dem die Akteur_innen sowohl transnationale Konzerne wie auch Staaten sind. Die Ausbeutung der Medizinen aus den Regenwäldern oder die Nutzung der Gentechnik sind vom Kapitalismus produziertes Leben gegen das unkontrolliert auftauchende Leben (emergent life) der Krankheiten / Viren.

Gegenüber dem Kapitalismus besteht der Primat der alltäglichen Erfahrung, wobei diese in die herrschende Repräsentation eingepasst wird, von den Autor_innen "optisch" benannt, also sichtbar gemacht. Im Gegensatz dazu besteht das "Haptische", das "Fühlende", das sich dieser Kontrolle entzieht. Die Problematik der Sichtbarkeit wird an Strömungen des Feminismus und Antirassismus gezeigt, die auf Anerkennung und damit Sichtbarkeit hinarbeiten, dadurch aber in die herrschende Gesellschaft des Spektakels kooptiert werden. Im Gegensatz zur Brustkrebskampagne "Pink Ribbon", die von einem der größten Kosmetikkonzerne finanziert wird, wird am Beispiel der Beschreibung des Lebens einer Frau mit Eierstockkrebs und eines AIDS-Aktivisten gezeigt, wie das "Haptische" sich zumindest teilweise dem Spektakel entzieht. Das ist die Überschreitung (excess)[3], die Materialität des kranken Körpers liegt außerhalb der Wahrnehmbarkeit. Die Materialität des körperlichen Empfindens lässt sich zwar beschreiben, ist dann aber nicht das Empfundene, sondern kann höchsten Empathie hervorrufen, jedoch nicht die gleichen Gefühle. Außerdem steht es außerhalb eines Common Sense der herrschenden Gesellschaft.

Im postliberalen Kapitalismus entsteht ein System der Mobilitätskontrolle, das die Autor_innen "liminale porokratische Institutionen"[4] nennen. Die Schwelle zwischen Schengenland und außerhalb ist keine stabile Grenze mehr, sondern die Kontrollen finden über den gesamten Raum verteilt statt. Grenzen haben sich in den virtuellen Raum verschoben, in die Datensätze von ZAST, SIS, Eurodac und wie sie alle heißen. Für Flüchtlinge gilt der permanente Ausnahmezustand, und dadurch der Wunsch, möglichst nicht erfasst zu werden. Zugleich sind die Grenzen keine undurchlässigen Mauern. Ein Durchsickern ist möglich, im Sinne der Migrant_innen, in einem regulierten Ausmaß aber auch für den Kapitalismus. Am Beispiel des Ägäischen Transitraumes (der Grenze zwischen Griechenland, das innerhalb des Schengenraums liegt, und der Türkei) wird gezeigt, dass Mobilität nur funktioniert, weil die Wahrnehmbarkeit unterlaufen wird, Identitäten geändert, Biographien manipuliert werden. Die Lager sind nicht dazu gedacht, Migration zu verhindern, sondern in einen kontrollierbaren Rahmen zu bringen. Sie bedeuten die Entschleunigung der Mobilität, um sie dadurch der kapitalistischen Vernutzung anzupassen, als eine Form der "Porokratie". Die Autonomie der Migration ist das Gegenstück zu den liminalen porokratischen Institutionen, sie ist das lang andauernde Ankommen, das Jede-Werden (become everyone), ein Unwahrnehmbar-Werden. In der Organisation dieser Autonomie werden aber immer wieder materielle Realitäten produziert, alltägliche Lebensverhältnisse.

Prekäres Leben und Arbeiten unterliegt einem Regime der Arbeitskontrolle, das als verkörperter Kapitalismus (embodied capitalism) bezeichnet wird. In prekärer Arbeit wird die Zukunft bereits in der Gegenwart ausgebeutet (wie etwa Gratispraktika im Wissenschaftsbetrieb zeigen). Die Überschreitung in Richtung einer Veränderung der herrschenden Gesellschaft findet nicht mehr in (leninistischen) Parteien statt, nicht mehr in den Gewerkschaften, aber auch nicht mehr in der Mikropolitik, wie sie nach 1968 entwickelt wurde. Die letztere bleibt nämlich auf der Ebene einer integrierbaren Sichtbarkeit, der Suche nach Identität und Anerkennung. Während die Vielfältigkeit der mikropolitischen Widerstände ins kapitalistische Eigentumssystem eingepasst wird (Diversity Management, homosexuelle Konsument_innen etc), kann die prekäre Arbeit nur produktiv werden, indem sie gegen das kapitalistische Regime des Eigentums agiert. So sehen wir uns jetzt in einer Phase der vielfältigen Kämpfe um Eigentumsrechte, was rund um die Frage des Copyrights offensichtlich wird (welche prekär Lebende ist nicht darauf angewiesen, entweder Raubkopien von Programmen zu verwenden oder die technischen Möglichkeiten von Institutionen und Firmen auszunützen). Die prekären Arbeiter_innen produzieren nur im und durch das Gemeinsame, das der Kapitalismus verwerten und seinen Eigentumsrechten unterwerfen will. Der verkörperte Kapitalismus braucht für seine Ausbeutung den ganzen lebendigen Alltag, hat aber keine Kontrolle über dieses Leben. Die un/an/geeignete Sozialität (inappropriate/d sociability), das Zusammenleben, ist notwendig für die kapitalistische Produktion, findet aber außerhalb seiner Regulierung statt. Das alltägliche Leben wird angeeignet, indem es in die Produktion eingeht, ist aber zugleich außerhalb des Kapitalismus, es bleibt ein Überschuss an Kreativität, an konstituierender Macht. In den postliberalen Arbeitsverhältnissen entsteht die Subjektivität für einen historischen Wandel nicht mehr aus der Produktion, sondern aus dem, was zwar in die Produktion eingeht, aber das Produktionsregime überschreitet. Das alltägliche Leben ist wieder die unwahrnehmbare Politik (imperceptible politics).

Um die "unwahrnehmbare Politik" noch einmal zusammenzufassen, möchte ich noch einige Beispiele bringen. Körperliche Empfindungen (das "Haptische") der Krankheit lassen sich nur sehr begrenzt vermitteln, darum wird dort nur die Überschreitung beschrieben und nicht das "Entkommen". Anders ist es in der "Autonomie der Migration", wo die listige (cunning) Verwendung unterschiedlicher Pässe die "autentische" Identität zum Verschwinden bringt, aber keineswegs die Sichtbarkeit im rassistischen und antirassistischen Diskurs und erst recht nicht an öffentlichen Orten. Das prekäre Leben organisiert sich schließlich zwischen dem Bezug von Sozialleistungen, dem Verschleiern von Einkünften und dem Versuch des Überlebens außerhalb fixer Identitäten.

Die Autor_innen sehen die revolutionäre Potentialität des Exodus im Entzug der Wahrnehmbarkeit der körperlichen Kontrolle, in der unregulierbaren Mobilität der Migrant_innen und der un/an/geeigneten Gemeinsamkeit des prekären Lebens. Sie setzen die unwahrnehmbare Politik gegen das spektakuläre und dadurch repräsentierbare Ereignis des Widerstandes, des Aufstandes und der Revolution. Es ist schon richtig, dass der soziale Wandel, der auf dieser unwahrnehmbaren Ebene stattfindet, immer wieder vernachlässigt wurde. Aber genügen diese unsichtbaren Bewegungen, um das kapitalistische System entleeren? Meiner Ansicht nach müssen diese unsichtbaren Kämpfe durch Brüche (Ereignisse) ergänzt werden, die als soziale Bewegungen ebenso Formen konstituierender Macht bilden. Und ich habe keine Probleme damit, wenn es zu einer "Vermittlung" zwischen der sich verändernden Revolutionierung des Alltags und der Selbstorganisation in den kleinen und großen Revolten kommt.


Anmerkungen

[1] Der fordistische Staat ist eine Antwort auf die Arbeiter_innenbewegung, während das nachfolgende Regime die Antwort auf unterschiedliche Kämpfe um Anerkennung ist (unterdrückte Minderheiten, Feminismen etc.).

[2] Der Begriff inappropriate/d wurde von der feministischen Autorin Trin Minh-ha übernommen, der deutsche Begriff un/an/geeignet aus der Übersetzung von Donna Haraway (1995): Monströse Versprechen. Die Gender- und Technologie-Essays. Hamburg: Argument Verlag (S. 234).

[3] Bücher, die das Leben und Sterben mit/an Krankheiten beschreiben, sind natürlich Teil des herrschenden Spektakels. Aber es geht um die Überschreitung, die nur teilweise außerhalb des "Optischen" liegt (Rose G. 1997: Love's Work. London: Vintage; und Michaels, E. 1990: Unbecoming: An AIDS Diary. Rose Bay, NSW: Empress Publishing.)

[4] Die Erfindung neuer Begriffe führte in einem Artikel zu dem entsprechenden Thema zu Diskussionen über die "Unverständlichkeit": Tsianos, Vassilis (2008): Die Karte Europas und die Ströme der Migration. In: grundrisse 27, S. 29-33.

Raute

Buchbesprechung von Karl Reitter

Angelika Ebbinghaus, Max Henninger, Marcel van der Linden (Hg.):
1968 Ein Blick auf die Protestbewegungen 40 Jahre danach aus globaler Perspektive

Wien: Akademische Verlagsanstalt, 2009, 228 Seiten, 25 Euro

Dieser Sammelband ist aus einer HistorikerInnentagung in Linz im Jubiläumsjahr 2008 hervorgegangen. Er beinhaltet elf Artikel, die thematisch gruppiert sind. Die ersten vier stehen unter dem Vorzeichen von Fallstudien. Anhand der Ereignisse in China, aus der chinesischen Binnenperspektive abgehandelt, dem "Prager Frühling", den ArbeiterInnenkämpfen im norditalienischen Porto Marghera sowie der Studierendenbewegung in Pakistan wird das Phänomen 68 näher beleuchtet. In einem weiteren Abschnitt werden intellektuelle und aktivistische Netzwerke analysiert. Gegenstand dafür ist die Agitation unter den amerikanischen GIs in Europa im Kontext der Deserteursbewegung, die ArbeiterInnenselbstverwaltung in Jugoslawien sowie die Bedeutung und Ausstrahlung der Kubanischen Revolution. Nachwirkungen und Folgen werden anhand der neuen Frauenbewegung sowie der bewaffneten Gruppen in Deutschland und Italien untersucht. Im letzten Abschnitt soll der Bogen bis zur Gegenwart geschlagen werden. Wir lesen Reflexionen über den Zusammenhang zwischen "May 1968 and the Alternative Globalisation Movenemt" sowie einen Text von Peter Birke, der gängige Deutungsschemata der 68er Bewegung als "kulturelle Revolution" oder "Modernisierungsschub" einer Kritik unterzieht.

Der Sammelband wird von den HerausgeberInnen unter das Motto eines globalen Blicks auf 1968 gestellt. Sie plädieren für eine Eingrenzung des 68er Phänomens auf die Jahre 1967 bis 1969. Eine Sichtweise, die ich voll und ganz unterstütze. Ebenso, und das versteht sich aus dem Zusammenhang der Buchentstehung eigentlich von selbst, soll die 68er Bewegung als Gegenstand historischer Forschung und nicht als Objekt persönlicher Erinnerungen und kritischer oder affirmativer Polemiken entfaltet werden. Entscheidende Fragen werden formuliert: Wie ist die weltweite Gleichzeitigkeit der Revolten zu verstehen? "Was war für die 68er Bewegung charakteristisch?" Welche Ereignisse sollen zu 68 gezählt werden, welche doch nicht? "Macht es Sinn, beispielsweise die maoistischen Naxaliten in Indien oder eine leninistisch organisierte nationale Befreiungsbewegungen in Afrika" unter dem Label 68 zu subsumieren? Und nicht zuletzt: In wie weit und in welche Richtung hat die 68er Bewegung die Gesellschaft verändert? Werden diese Fragen im Buch beantwortet? Die Antwort lautet Jein. In vielen Beiträgen wurde sehr viel interessantes Material aufgearbeitet und über konkrete Ereignisse und Prozesse informiert, die nicht allgemein bekannt sind. Wer kennt z.B. schon die Entwicklung der Frauenbewegung in Japan so genau? Informativ ist das Buch in jedem Fall, auch für jene, die sich intensiv mit der 68er Bewegung beschäftigt haben. Die analytischen Fragen bleiben jedoch mehr oder minder offen. Ich denke, das liegt auch an der Charakteristik eines Sammelbandes. Eine umfassende Analyse und Einschätzung der 68er Bewegung kann nicht in einem kurzen Beitrag geleistet werden, zumal diese sich ja spezielle Themen vorgenommen haben.

Begleitend zur Tagung, so informiert das Vorwort, wurde auch das Thema "wer zu den GewinnerInnen und wer zu den VerliererInnen der 68er Bewegung" zu zählen sei, diskutiert. Ein Resümee dieser Debatte lautete: "Neben diesen GewinnerInnen habe es viele, heute vergessene VerliererInnen gegeben, die mit dem Zerfall der 68er Bewegung resigniert hätten oder selbst zerbrochen seien." Dass diese Tatsache klar ausgesprochen wurde, wenn auch nur kurz im Vorwort, ist wohltuend und lässt all jenen Gerechtigkeit angedeihen, die an der Niederlage der 68er Bewegung gescheitert sind.

Raute

IMPRESSUM

Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 31.5.2010,

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Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"

MitarbeiterInnen dieser Nummer: Dieter A. Behr, Martin Birkner,
Robert Foltin, Birgit Mennel, Minimol, Karl Reitter, Stephanie Weiss

Layoutkonzept & Layout: Lisa Bolyos

Erscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1030 Wien

Offenlegung: Die Partei "grundrisse" ist zu 100% Eigentümerin der Zeitschrift "grundrisse".

Grundlegende Richtung: Förderung gesellschaftskritischer Diskussionen und Debatten.

Copyleft: Der Inhalt der "grundrisse" steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, außer wenn anders angegeben.

ISSN: 1814-3156, Key title: Grundrisse (Wien, Print)


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Quelle:
grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
sommer 2010, nr. 34
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"
Antonigasse 100/8, 1180 Wien
E-Mail: grundrisse@gmx.net
Internet: www.grundrisse.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juli 2010