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GRUNDRISSE/021: zeitschrift für linke theorie & debatte, frühling 2009


grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
nr. 29, frühling 2009


INHALT

Editorial

Robert Foltin:
Wir sind die Krise des Kapitalismus, oder:
DIE WELT steht auf kein Fall mehr lang. (Nestroy)

John Holloway:
Die andere Politik, die Politik der Wut der Würde

Karl Reitter:
Argumentationsstrukturen und Begründungsfiguren um den Krieg gegen Gaza

Georg Gangl:
Space, Place and Gender -
Raum als soziale Kategorie. Ein Überblick

Torsten Bewernitz:
Das Sein verstimmt das Bewusstsein

Dieter A. Behr:
mehr fragen -
Rezensionsessay zu Gerhard Hanlosers Rezension von "gestern morgen"

Detlef Georgia Schulze:
Von der Ausschließung zum Klassenkampf?

Slave Cubela:
Krise und sozialer Kampf -
Über ein kompliziertes Verhältnis aus aktuellem Anlass

BUCHBESPRECHUNGEN:

Theodor W. Adorno:
Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft.
Nachgelassene Schriften, Vorlesungen Band 12
(Besprechung von Katherina Kinzel)

Christoph Jünke:
Der lange Schatten des Stalinismus.
Sozialismus und Demokratie gestern und heute.
(Besprechung von Phillippe Kellermann)

Subcomandante Marcos:
Kassensturz
Interviews mit Laura Castellanos
(Besprechung von Dorothea Härlin)

Raute

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser!

Vorweg müssen wir uns für einen Layout Fehler in der Nummer 28 entschuldigen. Im Artikel "Finanzkrise: Chronologie, Ursachen und wirtschaftspolitische Reaktionen" von Engelbert Stockhammer fehlten in der Printausgabe irrtümlich die letzten beiden Schlusssätze. Diese seien hiermit nachgeholt: "Lohnzurückhaltung darf nicht Teil dieser Nachfragepolitik sein. Eine (weiterhin) sinkende Lohnquote dämpft die Nachfrage und würde deflationären Tendenzen Vorschub leisten."

In der vorliegenden Nummer schreibt Robert Foltin in "Wir sind die Krise des Kapitalismus" über den Zusammenhang zwischen Produktion und Reproduktion, die sozialen Bewegungen und die Entwicklung der Krise. Der Titel ist übrigens von John Holloway entwendet, der eine ähnliche Perspektive über eine "andere Politik der Wut der Würde" bietet. Eine andere Sichtweise entwirft Slave Cubela in "Krise und sozialer Kampf", indem er davon ausgeht, dass die Klasse alleine durch die Verrichtung ihrer Arbeit objektiv die Krise produzieren muss. In allen diesen Beiträgen wird die Krise jedoch als Chance für eine revolutionäre Entwicklung gesehen.

Ein ganz anderes Thema spricht Karl Reitter in seinem Beitrag "Argumentationsstrukturen und Begründungsfiguren um den Krieg gegen Gaza" an. Wie der Titel besagt, geht es um eine Reihe höchst problematischer Argumentationsfiguren, wie sie (wahrscheinlich nicht nur) in der deutschsprachigen Linken sehr verbreitet sind. Diese Sichtweise ermöglicht es hoffentlich manche Fragen, die heute beinahe ein Tabu sind - wie Israel / Palästina -, in der Linken wieder zu diskutieren.

Georg Gangl fasst in "Space, Place und Gender" die sich in den letzten Jahren entwickelnden Diskussionen um politische Raumtheorien, die sich mit der gesellschaftlichen Produziertheit von Raum im Kapitalismus beschäftigen, zusammen, während sich Torsten Bewernitz in "Das Sein verstimmt das Bewusstsein" mit der Wechselwirkung zwischen revolutionärem Bewusstsein und gesellschaftlicher Realität auseinandersetzt.

Dieter A. Behr findet, dass die Besprechung von Bini Adamczac' "Gestern, Morgen" in der letzten Nummer dem Buch nicht gerecht wird und versucht in "mehr fragen" einiges zurechtzurücken. Detlef Georgia Schultze kommentiert eine Veranstaltung am Internationalen Forschungszentrum für Kulturwissenschaft "Das Drama der Exklusion" und zeigt, dass die gebotenen unterschiedlichen Perspektiven den herrschenden Rahmen nicht verlassen.

Die Zusammensetzung der AutorInnen dieser Nummer ist mal wieder sehr männerlastig geraten. Das Problem der Männerdominiertheit - sei es nun in der Gruppenzusammensetzung, sei es in der Repräsentation nach außen - teilen wir mit vielen anderen linken Projekten, was unserer Meinung nach immer noch zu selten thematisiert wird. Auch kann sich frau des Eindrucks nicht erwehren, dass Kontakte linker Gruppen untereinander oftmals nach dem Muster von Männerseilschaften funktionieren. Wir freuen uns daher sehr, dass von 20. bis 22. März 2009 in 1090 Wien, Kolpinghaus, Liechtensteinstraße 100, eine Frauenkonferenz unter dem Titel: Wie feministisch ist die Linke - wie links ist der Feminismus? stattfindet. Themen dieser Konferenz, an der sich Frauen aus unterschiedlichen europäischen Ländern beteiligen, werden u.a. sein: Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse; Geschlechterdifferenz versus Marxismen? Rassismus, Klassismus, Sexismus; Postsozialismus und die Frauenfrage; Marxismen - Feminismen; Workshops zu Theoriebildung und Erfahrungsaustausch. Frauen, die sich anmelden oder auch einfach nur mehr über das Programm erfahren wollen, wenden sich bitte an hilde.grammel@aon.at. Auf dass vielfältige Kontakte unter Frauen entstehen, denen die Verknüpfung von Feminismus und linker Theorie und Politik ein Anliegen ist! Ferner freuen wir uns, an dieser Stelle das Autonom-Feministische europaweite FrauenLesbenTreffen ankündigen zu können, das von 9. bis 14. April 2009 im FrauenLesbenMädchenZentrum [1] in 1090 Wien, Währinger Straße 59 / Stiege 6, stattfinden wird!

Wir können jedoch bereits jetzt versprechen, dass das Geschlechterverhältnis bei den AutorInnen der Nummer 30 anders ausfallen wird. Anders als gewohnt wird auch das Layout bei dieser kleinen Jubiläumsnummer sein, die als solche merklich mehr Seiten umfassen wird. Sie ist als Schwerpunktnummer zur Türkei konzipiert und wird einen thematisch breiten Bogen spannen. Von der Binnenarbeitsmigration in den 1950er Jahren bis zu ArbeiterInnenkämpfen heute. Von der Rezension von türkischen Romanen bis zur neoliberalen Wirtschaftspolitik in der Türkei und nicht-nationalistischen Strategien dagegen. Von der Situation militanter türkischer Linker im europäischen Exil nach dem Militärputsch im September 1980 bis zu Wehrdienstverweigerung heute. Von der Geschichte und Aktualität der türkischen Frauenbewegung bis zur Rolle der europäischen Grenzschutzagentur Frontex in der Türkei, von Kampagnen gegen die Privatisierung von Wasser bis zum Krieg gegen Kurdistan ... und, und, und ... Angedacht ist auch eine Release-Party - mehr sei jedoch jetzt noch nicht verraten. Watch out for Flyers!

Zu guter Letzt wollen wir auch noch auf die Demonstration am 28. März 2009 unter dem Motto: "Eure Krise zahlen wir nicht! Kapitalismus brauchen wir nicht!" aufmerksam machen. (Siehe Kasten auf der Seite 3) Kommet zahlreich! Unsere Veranstaltungsreihe "Stop making capitalism" wird am 20. März mit einer Veranstaltung zum aktuellen Thema: "Klassen, Krisen & Kämpfe" fortgesetzt. Dieses Mal geht es um ein Buch der Gruppe "Blauer Montag" aus Hamburg mit Peter Birke, Aktivist dieser Gruppe.

Eure Grundrisse - Redaktion

Raute

Eure Krise zahlen wir nicht! Kapitalismus brauchen wir nicht!

Antikapitalistischer Block auf der Demonstration "Wir zahlen nicht für eure Krise!"
28. März 2009, 13 Uhr, Wien-Westbahnof

Die gegenwärtige Krise ist keine Finanzkrise, sondern eine Krise des Kapitalismus. Dieser produziert immer schon auf der einen Seite unermesslichen Reichtum und auf der anderen Elend, Rassismus und Unterdrückung. In Krisenzeiten wird dies besonders deutlich, es bieten sich aber auch Chancen einer emanzipatorischen antikapitalistischen Perspektive - nicht zuletzt, da die Krise die Irrationalität des Profitsystems deutlich vor Augen führt. Im Kapitalismus kann es kein gutes Leben für alle geben! Frauen, insbesondere Migrantinnen, sind besonders von der Krise betroffen. Sie verdienen schon "ohne Krise" ein Drittel weniger als Männer, nun soll ihre "natürliche" Rolle - als Hausfrau und Mutter - die Krisenfolgen abmildern. Und ganz nebenbei fügt sich dies vorzüglich in die verstärkte reaktionäre Propaganda der Rechten. Wir sagen: Nein Danke! Im Patriarchat kann es kein gutes Leben für alle geben!

Aktuell wird gerne nach dem Staat als Krisenbeseitiger gerufen. Noch mehr Geld - also letztlich von uns produzierter Reichtum - soll in die kapitalistische Maschinerie gepumpt werden, um diese auf unsere Kosten zu sanieren. Wir aber sind gegen alle "Reformen" auf Kosten der Ausgebeuteten und Unterdrückten. Runter mit den Lebenshaltungskosten! Der Staat ist kein Gegenspieler zum Kapital, sondern dessen notwendige Ergänzung, mit ihm ist keine emanzipatorische Entwicklung zu machen. Mit Staaten kann es kein gutes Leben für alle geben!

Nicht die staatliche Regulierung der Krisenfolgen, sondern Strategien zur Überwindung des naturgemäß krisenhaften und umweltzerstörenden Kapitalismus sind gefragt! Die Krise ist unsere Chance: Es ist an der Zeit, ernsthaft über die kollektive Aneignung und Vergesellschaftung von Betrieben, Versorgungseinrichtungen und öffentlicher Verwaltung nachzudenken, damit diese den Bedürfnissen der Menschen dienen - und nicht umgekehrt!

Nachdenken alleine aber wird nicht reichen, es bedarf auch der wirksamen Organisierung unseres Widerstandes. Der Antikapitalistische Block soll einen Anstoß geben, gemeinsam für ein Ende von Kapitalismus, Patriarchat und Staat zu kämpfen.

Am 28.3. und danach: Alle auf die Straße für ein gutes Leben für alle!

Raute

Wie schaut der denn aus? ...
Oder: Nix Staatsbürgerschaft, nix reden!

Der öffentliche Raum nimmt für verschiedene Menschen in unterschiedlicher Weise Gestalt an. Für die Beutemenschen der Schengenkontrolleure wird schon eine U-Bahnfahrt zum existenzgefährdenden Abenteuertrip:

- "Ausweis, Papiere!"
- "Darf ich wissen, warum Sie mich kontrollieren?"
- "Red net! Oder hast du Staatsbürgerschaft? Na eben!
  Solang du nix Staatbürgerschaft, nix reden. Vastehst?"

Solche Dialoge sind inzwischen fast täglich im Wiener Untergrund zu hören. In Zivil, bewaffnet mit einem Laptop stehen zwei oder drei Beamte des Innenministeriums in den Zwischenetagen der U-Bahnstationen und scannen die Ströme der vorbei eilenden Menschen auf wahrnehmbare Zeichen von Differenz, die die so als anders Klassifizierten in den Genuss von Personalienkontrollen kommen lassen.

Manche wie etwa Herr D., der mit einer Österreicherin verheiratet ist, haben Glück: Zwar akzeptierten die Beamten die von ihm vorgezeigten Photokopien seines Reisepasses und seiner Heiratsurkunde nicht, aber er konnte telefonisch seine Ehefrau erreichen, die ihn nach einer Stunde des Wartens im U-Bahn-Zwischengeschoss mit seinem Originalreisedokument auslöste.

Ganz anders gestaltete sich die Situation für Herrn B.: Sein Asylverfahren wurde nach einer fünfjährigen Wartezeit negativ entschieden, weshalb er vorsichtshalber schon seinen Wohnsitz an eine andere Meldeadresse verlegt hatte. Während dieser fünf Jahre konnte Herr B. immerhin die Existenz seiner Großfamilie sichern - als illegal im Gastronomiebetrieb eines Landsmanns Beschäftigter mit einem Stundenlohn von 4 Euro.

Menschen wie Herr B. sind die Beute, nach der die Polizeibeamten angeln: Aus der U-Bahn gefischt, wurde Herr B. in Schubhaft genommen. Die erste Station seiner langen, von permanenter Angst vor solchen Aufgriffen begleiteten Reise ist monatelange Schubhaft, eine Haftstrafe, die er wegen seines illegalisierten Aufenthalts absitzen muss und die mit der Abschiebung in sein Herkunftsland, in dem er sich schon längst nicht mehr zuhause fühlt, ihr vorübergehendes Ende finden wird.

Herr V. wiederum erlebte folgendes:

- "Papiere. Ausweis!"
- "Na, dös is aba ned ihr Ernst, oda? Woins mi papierln?"
- "Entschuldigung, sie sehen so ausländisch aus."

In diesem Fall wog der gediegene Wiener Dialekt schwerer als die Merkmale, die ihn auffällig und für die Beamten zum "Ausländer" werden ließen: Herr V., dessen familiärer Hintergrund sich in Ungarn verläuft, musste keinen Ausweis vorzeigen - er ging als "Hiesiger" durch.

"Schengenkontrolle" nennt sich das hier beschriebene Spiel mit durchaus existenzbedrohenden Konsequenzen. Schengenkontrolle bedeutet die Verlagerung der Sicherung nationaler Außengrenzen (Grenzkontrolle an den Landesgrenzen) ins Innere des Landes oder der Gesellschaft: neue Grenzen werden gezogen und bestehende vervielfältigt, Kontrollen können jederzeit und nahezu überall stattfinden. Grundlage dieser Kontrollen ist jedoch nicht mehr das Überschreiten der Landesgrenzen, sondern die selektive Filterung der Menschenströme am Karlsplatz oder Schwedenplatz. Doch längst nicht alle Kunden der Wiener Linien werden kontrolliert; vielmehr scannen die Beamten des Innenministeriums die Vorübereilenden mit ihren rassifizierenden Wahrnehmungsrastern und wer nicht ihren Vorstellungen eines "echten Bio-Österreichers" entspricht, wird aufgehalten und kontrolliert. Diese Kontrollen sind eine auf rassistischen Kriterien beruhende Selektion, die aufgrund der Verschärfungen im Fremdenrecht für viele zu einer existenzbedrohenden Gefahr werden.

Diese skandalöse Manifestation eines rassistischen Überwachungsstaates lässt sich historisch erzählen lässt und als Erinnerung auffrischen: Wien ist eine Stadt, in der die Bevölkerung vor 70 Jahren zusah, wie als jüdisch klassifizierte und wahrgenommene MitbürgerInnen den Boden putzen mussten. Es ist einfach unerträglich, dass die Polizei heute Menschen nach rassistischen Kriterien selektieren, kontrollieren und schikanieren kann - legitimiert durch die Vorgehensweise des "racial profiling".

Es ist an der Zeit, auf diese skandalöse, rassistische Polizeipraxis aufmerksam zu machen und Initiativen dagegen zu ergreifen - in Form von Websites, Öffentlichkeitsarbeit etc. -, um so die Leute zu ermutigen, sich zu empören, einzumischen, die Kontrollen zu hinterfragen, mit den Polizisten zu diskutieren und ihnen den Spaß an der Demütigung von Menschen, die ihren Kriterien eines "echten Österreichers" nicht entsprechen, zu verderben. Wer das auch findet, möge ein Email schicken an: stehenbleiben@gmail.com.

Anna Unmöglich

Raute

Robert Foltin

Wir sind die Krise des Kapitalismus, oder:

DIE WELT steht auf kein Fall mehr lang. (Nestroy)

"Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!"

(Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte)


Aus der Krise der 1960er und 1970er flüchtete das Kapital in neue Produktionen vor allem im globalen Süden und in eine massive Zunahme von Konsum und Dienstleistungen im Norden. Verbunden wurde dieses Ungleichgewicht durch den sich ausdehnenden Finanzsektor. Aufgebaut als Antwort auf eine Krise, ist diese Konstruktion jetzt zusammengebrochen.


Krise als Fall der Profitrate

Die Profitrate ist das Verhältnis zwischen dem Profit, genauer dem Mehrwert und dem von den Unternehmen eingesetzten Kapital. Der Mehrwert ist jener Wert, der den Arbeiter_innen als Mehrarbeit abgepresst wird: jener Teil des Arbeitstages, der über die Zeit hinausgeht, die für die Reproduktion der Arbeitskraft notwendig ist (und ihren Lohn darstellt). Das eingesetzte Kapital sind die bezahlte Arbeit, die Rohstoffe und die eingesetzten Fabriken, Maschinen etc. Da immer mehr herauskommen muss als hineingesteckt wird, es müssen Gewinne gemacht werden und diese müssen Profit bringend investiert werden, muss sich der Kapitalismus permanent ausdehnen. Stillstand bedeutet Krise - ein gleichbleiben oder sinken der Profitrate.

Wodurch werden Krisen (das Sinken der Profitrate) verursacht? Erstens durch Überakkumulation: Es werden zu viele Produkte erzeugt, um am Markt abgesetzt zu werden (Überproduktion)[1]. Eine Antwort des Kapitals darauf ist die Ausschaltung unprofitabel arbeitender Konkurrent_innen und dadurch eine Verringerung der angebotenen Waren. Im 19. Jahrhundert wurden regelmäßig solche Krisen zur Bereinigung produziert, ohne dass der Kapitalismus als Gesamtes je gefährdet gewesen wäre. Diese Krisen waren typischerweise mit Deflation verbunden, dem Sinken der Preise, da die Waren nicht abgesetzt werden konnten.

Längerfristige Antworten waren nationalstaatliche Maßnahmen, um die "eigenen" Unternehmen und Industrien zu schützen. Einerseits werden Zölle auf ausländische Waren eingehoben, andererseits wird die Nachfrage gestützt, indem den Arbeiter_innen höhere Löhne gezahlt werden oder durch die Schaffung sozialer Absicherungen, um Konsument_innen zu produzieren. Zu einem funktionierenden System entwickelt wurden diese Strategien durch den New Deal in den USA - und nach dem zweiten Weltkrieg in allen Industriestaaten durch verschiedene Formen der staatlichen Interventionen, die unterschiedlichen Formen des Wohlfahrtsstaats (vgl. Griesser 2008). Strategisches Ziel war die Einbeziehung der Arbeiter_innenklasse als konsumierendes Subjekt in das Kapital. Die Produktivität (Produktion in einer bestimmten Arbeitszeit) musste immer weiter steigen und (in einem geringeren Ausmaß) auch die Löhne (und Sozialleistungen). Der Staat funktionierte dabei als Gesamtkapitalist, auch gegen Einzelunternehmen. Unternehmen wurden zu Innovationen gezwungen, damit die Arbeit trotz steigender Löhne profitabel bleibt. Dazu war eine durch linke Parteien und Gewerkschaften disziplinierte Arbeiter_innenklasse notwendig, die die Steigerung der Löhne im "richtigen Maß" hielt.

Ein positiver Nebeneffekt war damit die Befriedung der Arbeiter_innen. Es war nicht nur die Erkenntnis über die Weltwirtschaftskrise der 1930er, die solchen keynesianischen Modellen zum Durchbruch verhalf, sondern auch die Angst vor revolutionären Bewegungen, vor der "kommunistischen" Bedrohung durch die Staaten des "realen Sozialismus".

Damit kommen wir zur zweiten Ursache, die zu einem Fall der Profitrate führt, nämlich die Kämpfe und Forderungen der Arbeiter_innen: Der Mehrwert wird zugunsten des variablen Kapitals in Form von Löhnen oder sonstigen Zuwendungen verringert. Das passiert in Einzelfirmen, in Branchen oder auch in Regionen durch Streiks und Kampfmaßnahmen, unter bestimmten Bedingungen aber auch durch individuellen Widerstand und Verhandlungen. Direkte Antworten darauf sind die Repression, die Disziplinierung durch die Gewerkschaften oder die Veränderung der Klassenzusammensetzung durch die Einbeziehung neuer Arbeiter_innen, oft unter Ausnützung rassistischer oder geschlechtlicher Spaltungen. Innovationen fördern die Umstrukturierung der Arbeit durch neue Maschinen, die den Anteil des variablen Kapitals verringern und die Produktivität der einzelnen Arbeiter_innen steigert. Da es um die Reproduktion durch Löhne und Einkommen (Sozialleistungen und allgemeine Grundversorgung) geht, wird auf nationalstaatlicher Ebene die Inflation eingesetzt: als Preiserhöhungen durch die Unternehmer_innen und / oder durch die Geldpolitik der Staaten.

Längerfristig wird versucht, die Profitrate durch die Flucht des Kapitals aus den betroffenen Betrieben / Regionen wieder herzustellen (Silver 2005). So werden neue Produktionsstandorte gefunden, Silver (2005, S. 69ff) beschreibt so die Verschiebung der Zentren der Autoindustrie von den USA nach Westeuropa, dann nach Brasilien und Südafrika und schließlich nach Ostasien, getrieben von immer neuen Wellen von Arbeiter_innenunruhen. Auch Innovationen und neue Produkte versprechen größere Profite - zumindest so lange, bis die Konkurrenz nachgezogen ist. Und nicht zuletzt ist die Flucht aus der Produktion: in Dienstleistungen, aber auch in den Finanzsektor eine Strategie, die Profitraten wiederherzustellen.[2]

In national abgegrenzten Volkswirtschaften können Veränderungen der Außenbeziehungen, etwa die Förderung von Exporten durch Währungspolitik das Sinken der Profitrate verhindern (zu Lasten anderer Regionen). Eine niedrig bewertete Währung erschwert (dadurch teure) Importe, während billige Waren in Hartwährungsländern abgesetzt werden können. Durch solche direkt politischen Eingriffe wurde das Krisenstakkato seit Ende der 1980er regional begrenzt (auf einzelne Staaten wie Mexiko und die Türkei 1994 oder Ostasien 1997 / 1998). Aufschwünge in anderen Regionen erlaubten dann die Fortsetzung der Expansion und eine neuerliche Erholung.


Der keynesianisch-fordistische Aufschwung

Marx war kein Keynesianer. Er erklärt, dass die Nachfrage der Arbeiter_innen nie eine Lösung für das Problem der Überproduktion sein könne, weil sich dann unweigerlich der Wert der Mehrarbeit verringert (Grundrisse S. 321ff). Wie konnte also das nachfrageorientierte Regime der Nachkriegszeit funktionieren? Immer wieder wurden Arbeiter_innen überausgebeutet und geringer bezahlt, typischerweise Migrant_innen, die dann aber wieder höhere Löhne verlangten. Profitabel war dieses Regime nur durch die Zeitverschiebung zwischen Proletarisierung und der Erhöhung von Lohn- und Sozialleistungen. Ein Teil der Arbeiter_innen muss weniger bekommen, mit der Erhöhung dieser Einkommen muss wieder neues ("billigeres") Proletariat dem Kapitalismus unterworfen werden.

Oberflächlich ist das fordistische Regime auf die Produktion beschränkt, die Reproduktion allein durch die Höhe der Löhne bestimmt. Das macht die entsprechende Alimentierung der Produktion und die Stabilisierung von Leben durch unbezahlte Hausarbeit in der Institution der Familie unsichtbar (der adäquate "Familienlohn" hat nichts mit der weiblichen Arbeitsleistung zu tun, sondern nur mit der Reproduktion zusätzlicher Personen). Die Organisation des Lebens findet außerhalb der Arbeitszeit statt, die Kosten dafür kann sich die Unternehmer_in sparen. Das änderte sich trotz feministischer Kämpfe nur wenig, auch wenn ein Teil der unbezahlten Arbeit in bezahlte Dienstleistungen umgewandelt wurde[3]. Auch ein Teil der Rohstoffe und Nahrungsmittel ("Cash crops") muss im Trikont billig produziert werden, damit durch billige Reproduktion das expansive System mit steigenden Löhnen funktionieren kann. Die Unterentwicklung des Südens war also notwendig für den Fortschritt der entwickelten Länder.


Die Krise der Produktion

Zur Zeit des Kalten Krieges schien die Bedrohung der westlichen Regime nur von außen zu kommen: durch den "Kommunismus", vor allem in der "Dritten Welt". Tatsächlich stieß der Fordismus um und nach 1968 auch an innere Grenzen. Trotz beschleunigter Neuzusammensetzung der Arbeiter_innenklasse durch die Migration, gelang es nicht, die Lohnsteigerungen unter den Produktivitätssteigerungen zu halten. Waren es in Italien oder Frankreich offene Kämpfe, so schafften das die Arbeiter_innen in anderen Ländern zur Zeit der Vollbeschäftigung durch die Drohung des Arbeitsplatzwechsels oder durch den Ausstieg aus der Produktion (etwa durch die Aufnahme eines Studiums). Auch der Einsatz von Maschinen konnte die Produktivität nur begrenzt steigern, nicht zuletzt weil die Arbeiter_innen Widerstand leisteten, sich "Disziplinlosigkeit" durchsetzte ("1968" stellte die Fabriken genauso in Frage wie Schulen, Gefängnisse und Psychiatrien).

Die "Fabrik" wurde aber auch von außen angegriffen. Was als Bürger_inneninitiative in vielen lokalen Bereichen als Kampf um "Lebensqualität" begann, wurde zur "Ökologiebewegung", die kostenintensive Umweltschutzmaßnahmen durchsetzen konnte und die grenzenlose Ausdehnung des Fabrikregimes (zumindest in den Metropolen) beschränkte. Durch den Feminismus wurde die Geschlechterordnung angegriffen, und damit auch die Gratisarbeit der Frauen und die Institution der Familie[4].

Durch die Kosten des Vietnamkriegs, aber auch durch steigende Sozialleistungen wurden die USA Anfang der 1970er gezwungen, den starken Dollar aufzugeben. Das System von Bretton Woods, die Bindung des Dollar an die Goldreserven, verhinderte bis dahin die Begünstigung der US-Volkswirtschaft durch Währungsmaßnahmen. Der Dollar wurde 1971 abgewertet und dadurch Importe insbesondere aus der BRD und aus Japan erschwert.


Die Antworten des Kapitals

Nach dem politisch ausgelösten Erdölschock 1973 begann eine bisher unbekannte Veränderung des Kapitalismus. Die Arbeitslosigkeit stieg und zugleich auch die Inflation (Stagflation). Das widersprach den meisten Wirtschaftstheorien, die wirtschaftliche Konjunktur mit steigenden Preisen verbinden, während doch in der "Krise" die Preise fallen sollten. Da diese Krise aber nicht allein eine Überproduktionskrise war - der Zyklus der langlebigen Konsumgüter, besonders des Autos, gelangte an sein Ende, der Markt war gesättigt, nur noch die Erneuerung konnte eine Nachfrage gewährleisten, sondern auch durch die Lohn- und Einkommensforderungen produziert wurde, wurden sowohl Erwerbsarbeitslosigkeit wie auch steigende Preise gegen die Arbeitenden und die Konsument_innen eingesetzt. Ein gleichzeitiger Angriff auf produzierende und Reproduzierende also.

An den Frontlinien des Kalten Krieges entwickelten sich die Grundstrukturen für neue kapitalistische Entwicklungen. War die "Dritte Welt" bisher hauptsächlich Rohstoffproduzentin, so wurden jetzt immer mehr Fabriken dorthin verlegt: in Staaten, die "westlich" orientiert waren und gute Bedingungen für die Unternehmer_innen boten, nämlich kaum Steuern und billige, rechtlose Arbeitskräfte. Begonnen wurde das schon in den 1950ern in den ostasiatischen Frontstaaten zu China (den späteren "Tigern": Südkorea, Taiwan, Hongkong, Singapur), aber wirklich forciert erst ab den 1970ern. In Asien, Afrika und Lateinamerika entstanden "Weltmarktfabriken" und "freie Produktionszonen". War das Ziel der Befreiungsbewegungen und des "realen Sozialismus" eine Industrialisierung zur Importsubstitution, um von den Fertigprodukten der Industriestaaten unabhängig zu werden, so ging es jetzt darum, nicht für einen heimischen Markt zu produzieren, sondern exportorientiert: zu Billiglöhnen für die Metropolen (vgl. Fröbel et. al. 1977).

In den USA wurde die "Stagflation" Anfang der 1980er durch eine Hochzinspolitik beendet, der Dollar wurde wieder stärker und auch der Zufluss an Kapital nahm zu, Investitionen aber blieben aus. So wurde eine Rezession durch die Geldpolitik bewirkt. Dadurch, aber auch mittels direkter Repression wurden die Gewerkschaften in den USA und Großbritannien maßgeblich geschwächt. Jene Politik, die dann als "Neoliberalismus" bezeichnet wurde, setzte sich durch. Diese "Krise" bewirkte zwar keine Erhöhung der Profitrate, aber eine Einschränkung der Einkommen der Bevölkerung. In dieser Zeit wurde die Grundlage für die wirtschaftliche Entwicklung der nächsten Jahrzehnte gelegt: der Erhalt des Konsums und ein Boom an Dienstleistungen, eine sich beschleunigende exportorientierte Industrialisierung des globalen Südens[5] sowie die Vermittlung dieser ungleichen Entwicklung durch eine steigende Finanzialisierung. Ab Mitte der 1980er Jahre setzte der Aktienboom ein, der sich - trotz einiger Einbrüche - bis 2007 immer weiter steigerte.


Dienstleistungen

Wenn von einem neuen kapitalistischen Regime, dem Postfordismus, die Rede ist, taucht oft der Begriff der Dienstleistungsgesellschaft auf. Diese Dienstleistungen sind keine neuen Arbeiten, aber sie haben in den letzten Jahrzehnten massiv zugenommen. Wie "produktiv" sind diese Dienstleistungen? Steigt die Produktivität stark an (was Marx im Kapitel über den "relativen Mehrwert" beschreibt, MEW 23, S. 331ff), so wird dadurch die massive Zunahme sogenannter "unproduktiver" Sektoren befördert:

"Endlich erlaubt die außerordentlich erhöhte Produktivkraft in den Sphären der großen Industrie, begleitet, wie sie ist, von intensiv und extensiv gesteigerter Ausbeutung der Arbeitskraft in allen übrigen Produktionssphären, einen stets größren Teil der Arbeiterklasse unproduktiv verwenden und so namentlich die alten Haussklaven unter dem Namen der 'dienenden Klasse' wie Bediente, Mägde, Lakaien" (MEW 23, S. 469)[6].

Das bezieht sich für die damalige Zeit auf den individuellen Konsum der herrschenden Klassen. Die aktuelle Phase des Kapitalismus ist aber auch durch den Konsum der "Massen" geprägt. Und tatsächlich hat auch die Zunahme der Dienstleistungen mit einer Zunahme des individuellen Konsums zu tun: von Freizeit- und Kulturindustrie bis hin zu Pflege, Kinderbetreuung und Putzen. Tendenziell werden sämtliche sozialen Beziehungen (das ganze Leben) der kapitalistischen Verwertung unterworfen.

Der Kapitalismus stößt dabei allerdings auf Probleme: Persönliche Dienstleistungen sind als individueller Konsum unproduktiv, nur als Konsument_innen sind diese Dienstleister_innen in den Verwertungszyklus eingebunden. Dienstleistungen sind aber auch in einem anderen Sinne "unproduktiv". Da sie konstitutiv mit persönlichen Beziehungen verbunden sind, mit dem Körper, den Emotionen, den Beziehungen der Arbeitenden, ist eine Rationalisierung nur sehr begrenzt möglich. Ein gequälter und verärgerter Mensch kann Kund_innen schlecht zufrieden stellen. Ein bestimmtes Niveau der Reproduktion, Arbeitsbedingungen und Bezahlung, muss auch ohne Kämpfe und Widerständigkeiten aufrecht erhalten werden.

Pflege und Versorgung von Alten, Kranken und Kindern (den "Unproduktiven"), das Lächeln der Verkäufer_innen, Kellner_innen, andere Formen der "affektiven Arbeit" wurden als Antwort auf die feministischen Kämpfe (teilweise) kommodifiziert. Viele dieser, auch heute noch weiblichen Arbeiten wurden vorher unbezahlt (nicht nur) in den Familien ausgeführt. Was als Prekarisierung und Flexibilisierung diskutiert wird, bedeutet das flüssig Werden der Grenzen zwischen "Arbeit" und Nicht-Arbeit": die Feminisierung oder Hausfrauisierung der Arbeit.

Aber auch am anderen, oberen Ende der Dienstleistungen, in den neuen Technologien, bei der Verwertung von Wissen, Kommunikation und Information, "immaterieller Arbeit" (vgl. Hardt / Negri 2000, S. 289ff), stößt der Kapitalismus an Grenzen. Da sich Computerprogramme oder zu konsumierende Musikstücke nach der Herstellung fast grenzenlos reproduzieren lassen (im Gegensatz zu Konsumgütern kann ein immaterielles Produkt potentiell zur gleichen Zeit von unbegrenzt vielen Konsument_innen benutzt werden), lässt sich nur durch künstliche Grenzen - etwa durch Copyright-Gesetze - ein "vernünftiger" Preis erzielen. Neue Profite für weitere Investitionen sind in der Dienstleistungsgesellschaft nur in Nischen oder durch Monopolisierung möglich (ein Beispiel dafür sind Copyright-Gesetze).

In den Metropolen, und besonders stark in den USA bedeutete die Zunahme der Dienstleistungen ein massives Einbeziehen immer größerer Teile der Bevölkerung in bezahlte Jobs, einerseits durch die Reduzierung der Zahl der Nur-Hausfrauen, aber auch durch fortgesetzte Migration. Die Jobs wurden sowohl ethnisiert wie geschlechtlich geteilt, Dienstleistungen zu einem wesentlich größeren Teil von Migrant_innen und Frauen ausgeführt als von weißen Männern.


Produktion

Die Flucht des Kapitals vor Unruhen und steigenden Löhnen führte zu einer steigenden Industrialisierung des globalen Südens. Zuerst wurden hauptsächlich arbeitsintensive Bereiche, etwa der Textil- und Spielzeugindustrie verlagert, später auch die modernisierten Fabriken der fordistischen Produktion wie die Autoindustrie (vgl. Silver 2005, S. 69ff). Auch die neuen Kommunikations- und Informationstechnologien werden, zuerst wieder die arbeitsintensiven Teile, im globalen Süden produziert. Und wie meistens zu Beginn einer Phase der Industrialisierung / Proletarisierung sind die Arbeitenden hauptsächlich weiblich (vgl. Pun 2008). Diese Proletarisierung in großen Teilen der Welt führt dazu, dass Hobsbawm (1994, 290ff) feststellen kann, dass erstmals nach der neolithischen Revolution die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr in der Landwirtschaft beschäftigt ist (zu diesem Zeitpunkt war noch nicht einmal die massive Zunahme der Produktion in China und in Indien berücksichtigt).


Finanzialisierung

Die Produktion im Süden und der steigende Konsum des Nordens werden durch das "Finanzkapital" verbunden und gestützt. In der verzweifelten Suche nach Profitmöglichkeiten wird jede Möglichkeit ausgenützt. Dienstleistungen sind "unproduktiv" für das Kapital, sehr wohl aber bedeutend für die Organisation des Lebens ("Gebrauchswerte"). Der Finanzbereich ist dies nicht, aber er ist das notwendige "Schmiermittel" für den Kapitalismus: Unternehmen müssen flüssiges Kapital (in Form von Geld) haben, um ihre Anlagen und Maschinen sowie die Löhne vorzufinanzieren, um Waren und Dienstleistungen zu erzeugen, durch deren Verkauf Profit realisiert werden kann. Die Finanzierung läuft über den Finanzmarkt, der auf der einen Seite gewonnenes Geld für Investitionen auf der anderen Seite vorstreckt. Der Zeitunterschied zwischen Investitionen und (erhofften) Gewinnen schafft dann die Basis für Spekulation.

Durch die Einschränkungen der Profite in den Bereichen von Produktion und Dienstleistungen entsteht die Verlockung, auf zukünftige Gewinne zu spekulieren. Steigende Erwartungen im Aktienmarkt haben nur noch begrenzt mit Waren und Dienstleistungen zu tun hat. Der Warenkreislauf G - W - G' (ich kaufe eine Ware, um sie um mehr Geld zu verkaufen) wird zu G - G'. Die jetzt so häufig beschworenen Blasen entstehen in Erwartung von Preissteigerungen von Waren (etwa Aktien oder Immobilien), wobei dann die Nachfrage den Preis hinauf treibt und somit eine "Wertsteigerung" verursacht - die allerdings nur noch im Abstrakten stattfindet, loslöst von den eigentlich zu Grunde liegenden Waren und Dienstleistungen.

Ab den 1980ern wurden in den USA die Spekulationsgesetze gelockert. Eine erste Blase wurde in der "Sparkassenkrise" sichtbar: Anfang der 1980er Jahre wurden die Beschränkungen der Aktivitäten von Banken auf Spareinlagen aufgehoben. Es war der Versuch, die Nachfrage nicht durch steigende Löhne zu fördern, sondern durch Verschuldung. Bei hohen Zinsen und steigenden Immobilienpreisen funktionierte das sehr gut, nachdem aber die Immobilienpreise zu sinken begannen, brach 1985 die erste Sparkasse zusammen - und in den nächsten Jahren über 1000 weitere. Der Staat musste 124 Mrd. Dollar aufwenden, um die Gläubiger_innen zu schützen[7].


Schuldenkrisen

Die Industrialisierung des Südens wurde in den 1970ern nicht zuletzt durch die dortigen Militärdiktaturen, besonders in Lateinamerika befördert. Sie importierten nicht nur Kapital und Waffen, sondern auch Arbeiter_innenunruhen (vgl. Silver 2005, S 77ff über Brasilien in den 1970ern), die zu gewerkschaftlicher Organisierung führten. Die 1970er und 1980er Jahre waren im Süden geprägt von Kämpfen im Reproduktionsbereich (Hungerrevolten, Brotrevolten, Anti-IWF-Revolten, mit einem Höhepunkt in der iranischen Revolution 1979). Zur Eingrenzung der Revolten wurden Kriege forciert (so wurde der Irak Saddam Husseins vom Westen ermutigt, den revolutionären Iran anzugreifen und die Kontras wurden durch die USA gegen die nicaraguanische Revolution bewaffnet). Viele Diktaturen waren durch die Unruhen gezwungen, die Lebensbedingungen zu verbessern und eine zaghafte Demokratisierung zuzulassen.

Der Auslöser der lateinamerikanischen Schuldenkrise war die Politik der "Reaganomics" in den USA. Hohe Zinsen produzierten einerseits die Rezession in den USA, förderten den Kapitalfluss zurück in die USA, von Lateinamerika wurde die Begleichung der Schulden verlangt. Der IWF stellte nur Geld zur Verfügung, wenn nicht mehr die Inflation gegen die Bedürfnisse der Bevölkerung eingesetzt wird, sondern die sozialen Bedingungen insgesamt verschlechtert werden: Repression gegen die Arbeiter_innen, besonders aber die Einschränkung staatlicher Maßnahmen zur Sicherung des Überlebensniveaus der Armen. Die Schuldenkrise führte in das "verlorene Jahrzehnt" der 1980er, den Rückfall der sozialen Standards und die Stagnation der industriellen Entwicklung. Teile des Kapitals zogen weiter in andere Regionen, etwa nach Südafrika (Autoindustrie), aber auch nach Ostasien. Arbeiter_innenkämpfe und städtische Revolten wurden jedoch dadurch nicht beendet und gegen Ende des Jahrzehnts konnten sich fast überall Demokratien durchsetzten.

Der Zusammenbruch der "realsozialistischen" Staaten zeigt Ähnlichkeiten mit der Schuldenkrise in Lateinamerika. Polen nach den Arbeiter_innenkämpfen 1980 / 1981 und Ungarn (der "Gulaschkommunismus") waren von allen realsozialistischen Staaten am höchsten im Westen verschuldet und so als erste gezwungen, zaghafte Demokratisierungsversuche ("runde Tische" und schließlich die Grenzöffnung) durchzuführen. Das ganze System der staatlichen Planwirtschaft stagnierte ökonomisch, es gab geringere Produktivitätssteigerungen: auf der einen Seite, weil kein Druck zu Profitabilität bestand, andererseits weil die Arbeiter_innen nicht "effizient" arbeiteten. Ab 1989 brachte dann der Exodus in den Westen den kleinen Stoß, der die Regime zum implodieren brachte.

Die Integration der ehemals "realsozialistischen" Staaten in den westlichen Kapitalismus führte zur Zerstörung der veralteten Industrien, die auf dem kapitalistischen Markt nicht konkurrenzfähig waren[8]. Es entwickelte sich nur eine kleine Schicht zu Konsument_innen und erst mit einiger Verzögerung wurden - ähnlich wie im globalen Süden - exportorientierte Strukturen aufgebaut (wie etwa die Autoindustrie in der Slowakei).

Nach den vier ostasiatischen Tigern suchte das Kapital nach neuen Investitionsmöglichkeiten und Staaten wie Thailand, Malaysia und Indonesien wurden Ziel einer forcierten Proletarisierung. Schon in den 1980er Jahren brachten soziale Bewegungen in Verbindung mit Streiks in den großen Betrieben die Diktatur in Südkorea zu Fall. Mitte der 1990er spitzten sich die Auseinandersetzungen um die gewerkschaftliche Organisierung dort neuerlich zu. Aber auch in Thailand stellten die Arbeiter_innen Forderungen nach höheren Löhnen: Da der Bath, die thailändische Währung, an den Dollar gebunden war, konnte seitens des Kapitals die Inflation nicht gegen die Arbeiter_innen eingesetzt werden. Die Unternehmen mussten um ihre Profite fürchten (vgl. Wildcat 1998). Als im Sommer 1997 die Währung abgewertet wurde, löste das eine Kettenreaktion in der Region aus. Kapital wurde abgezogen, Währungen und Aktien verloren an Wert, viele Fabriken wurden geschlossen[9]. Den ostasiatischen Staaten wurden in der Folge Maßnahmen vom IWF aufgedrängt (Abbau von Staatsschulden und Inflationsbekämpfung), Löhne und Sozialleistungen wurden gekürzt.

Nachdem durch den Aufschwung in den USA die Produktion wieder zu laufen begann, änderten die ostasiatischen Staaten ihre Politik: jede neuerliche Staatsverschuldung wurde vermieden; im Gegenteil, es wurden US-Staatsanleihen und Dollar gekauft, obwohl die Gewinne wegen der sinkenden Zinsen während der dotcom-Krise nicht sehr hoch waren. Jetzt waren es nicht nur Japan und die Ölstaaten, die Devisen horteten, sondern auch die kleineren Tiger wie Thailand und Südkorea sammelten Kapital. Diese finanzierten dann die steigende Verschuldung der USA und einiger anderer Metropolen.

Diese Krise beschleunigte noch einmal die Suche nach neuen Regionen für Investitionen, besonders China, wo schon Anfang der 1990er eine massive Industrialisierung und Proletarisierung begonnen hatte, aber auch Indien, bekamen einen neuen Anschub. In jeder Krise werden neue Regionen zum Aufbau von Fabriken gesucht, die bestehenden aber nicht zerstört, sondern nur produktiver gemacht. Die Masse der abzusetzenden Waren stieg weiter an.


Die Krise eines neuen Produktzyklus

Wenngleich oft aus spekulativem Wert entstanden, wurde das Kapital auch produktiv investiert. Auch die neuen Technologien, insbesondere das Internet, zogen Investitionen an. Die Weltwirtschaft baute die zwei Säulen aus, den Konsum in den USA und die Produktion in Ostasien. Verbunden war das durch einen finanziellen Überbau: Kapital, abstrakter Wert, das nach Anlagemöglichkeiten suchte, in den Dienstleistungen in den USA, in den aus den Boden schießenden Fabriken, aber auch in der spekulativen Selbstvermehrung.

Gegen Ende des Jahrhunderts trafen mehrere Entwicklungen zusammen: Einige Rohstoffproduzent_innen, insbesondere die OPEC-Staaten, aber auch Venezuela konnten ihre Finanzen als Machtfaktor einsetzen. Soziale Unruhen und die Linksentwicklung in Lateinamerika setzten sich fort, auch in Ost- und Südostasien nahm die Unrast kein Ende. Die globale Protestbewegung, in der sich Demonstrationen in den Metropolen mit Unruhen im globalen Süden verbanden, fiel zusammen mit Konflikten zwischen den Industriestaaten, die für sich protektionistische Privilegien beanspruchten und den Staaten des Südens, denen der Freihandel aufgezwungen werden sollte. Ein Teil der internationalen Konferenzen, besonders die WTO-Konferenz in Seattle im November 1999 scheiterten (nicht nur an den massiven Protesten, sondern auch an internen Widersprüchen). In den USA organisierten sich die niedrig bezahlten Dienstleister_innen mit gewissen Erfolgen, etwa die Reinigunsarbeiter_innen in der Kampagne "Justice for Janitors", denn die Dienstleistungen konnten schlecht in Billigregionen verlegt werden, was die Arbeiter_innen stark gegenüber den Unternehmen machte.

Dauerte es im Fordismus noch zwei bis drei Jahrzehnte, bis alle Konsument_innen (die es sich leisten konnten) langlebige Konsumgüter wie Autos oder Waschmaschinen erstehen konnten, so brauchte es für Handys, Computer und das Internet nur einige Jahre. Dann aber wurden die hohen Gewinne, die in einer beginnenden Phase auch an die Arbeiter_innen weitergegeben wurden, zu einer Belastung für die Profite. Im Überschwang waren auch völlig wertlose Firmen durch Aktien finanziert worden. Ab März 2000 begann dies sichtbar zu werden und die Luft entwich der nächsten Blase.

Die Krisen in den 1980er und 90er Jahren ließen sich noch auf periphere Regionen beschränken. Aber die dotcom-Krise war in den Metropolen angekommen: es war eine Krise verursacht durch die Lohnforderungen in den Produzentenländern des Süden, die Begrenzung der Lohnkürzungen und Einschränkungen der Sozialleistungen in den USA (aber auch in Westeuropa). Aber auch die spekulative Geldvermehrung, die Kapital für Konsum und Investitionen zur Verfügung stellte, geriet in die Krise. Aktien stürzen ab, einige Firmenriesen (Enron, Worldcom) gingen unter, der Kapitalismus schien am Boden zu liegen.


Die Finanzierung der Reproduktion

Wieso wurde noch einmal ein Aufschwung möglich? Der Anschlag auf das World Trade Center am 11.9.2001 erlaubte die Zustimmung der Bevölkerung für den "Krieg gegen den Terror" (vgl. Arrighi 2007, S. 224). Die Bush-Regierung konnte durch ihre Militäreinsätze in Afghanistan und Irak eine neuerliche Verschuldung des Staates in Gang zu setzen (vgl. Brenner 2004, S. 72ff). Weil der Dollar (trotz Euro-Einführung) noch immer als Weltgeld fungierte und durch ein niedriges Zinsniveau konnte sich der US-amerikanische Staat zu geringen Zinsen verschulden. Der Bevölkerung wurde die gleiche Möglichkeit geboten: die Ersetzung von Lohnerhöhungen und Sozialleistungen durch Hypotheken. Noch einmal konnte der spekulative Reigen der Geldvermehrung in Gang gesetzt werden, verbunden mit einer beschleunigten exportorientierten Produktionsausweitung in China und in anderen Staaten im Süden und Osten (seit einigen Jahren wird von den aufstrebenden BRIC-Staaten - Brasilien, Russland, Indien, China - gesprochen).

Durch die Steigerung der Produktion in den Fabriken der Welt und durch die Steigerung der Produktivität gibt es zu viele Produkte, die immer schwerer verkauft werden können (Überproduktion). Dazu gibt es einen Überschuss an Kapital, der investiert werden will und zwar gewinnbringend. Durch die "Überhitzung" in China mangelte es trotz der massiven Mobilisierung der Wanderarbeiter_innen an Arbeitskraft: die Menschen konnten sich Arbeitsplätze mit höheren Löhnen und besseren Bedingungen aussuchen (oder mussten gezwungen werden zu bleiben). Auch die Dienstleistungssektoren ließen sich nicht mehr stärker ausbeuten. Blieb nur der Finanzbereich selbst, das Wetten auf die in Zukunft zu erwartenden Gewinne, die vermeintlich ins Grenzenlose steigenden Aktienkurse und alle möglichen "innovativen Finanzprodukte". Die Massen wurden (zumindest im Norden) in das Risikogeschäft der Finanzialisierung einbezogen (durch Verschuldung, aber auch durch private Pensionsvorsorgen), das Risiko der zukünftigen Wertsteigerungen an die "kleinen Männer und Frauen" ausgelagert. Dieser "Markt- oder Börsen-Keynesiansimus" ("Stock-market Keynesianism" Brenner 2004, S. 60) rettete gemeinsam mit dem "Kriegskeynesianismus" von Bush die Wirtschaft der USA für die nächsten Jahre. Noch einmal wurden Produktion und Konsum / Dienstleistung vermehrt.


Die Krise ist da

In den letzten Jahren wurde oft davon gesprochen, dass der Konsum in den USA die Wirtschaftslokomotive ist, und es war bekannt, dass diese auf Verschuldung beruhte. Aber kaum jemand wollte sich vorstellen, dass diese Blase einmal platzen könnte. Über den Verlauf der Krise, dass ein verhältnismäßig kleiner Sektor (Sub-prime) die größte Krise seit 1929 auslöste, ist schon genug geschrieben worden (vgl. Stockhammer 2008a, 2008b), hier sollen nur die grundsätzlichen Ursachen erläutert werden.

Um 1970 ruhte der Kapitalismus auf mehreren Säulen: dem Konsum und der Produktion in den Metropolen und der günstigen Alimentierung durch die Gratisarbeit der Hausfrauen und dem ungleichen Tausch mit den Regionen des Trikont. Die Krise entstand durch die Forderungen der Arbeiter_innen in der Produktion und der Kritik des Konsums, aber auch durch die Grenzen des Imperialismus, durch die Befreiungsbewegungen und die Kämpfe der neuen Frauenbewegung. Die Produktion wurde in den globalen Süden verschoben, die Steigerung des Konsums in den Industrieländern fortgesetzt. Immer wieder neue Kämpfe beschleunigten die Zunahme der Fabriken im Süden, wie oft bei beginnender Kapitalisierung hauptsächlich durch weibliche Arbeit.

Anfang der 1970er schien eine revolutionäre Umwälzung vor der Tür zu stehen, manche Umstände sind heute ähnlich, andere sind unterschiedlich: Stieß damals der Kapitalismus durch Klassenkämpfe und soziale Bewegungen ökonomisch an Grenzen, im Süden (Vietnam) aber auch politisch und militärisch, so gilt das auch für das unilaterale militärische Vorgehen der USA in den Kriegen gegen den Irak und in Afghanistan. Gab es damals eine starke Linke, reformistisch wie revolutionär, aber häufig staatsorientiert, so beschränkt sich diese heute auf Lateinamerika und einige Regionen der Welt wie etwa Nepal.

Damals entstanden die ölfördernden Länder als ökonomische Macht innerhalb des Kapitalismus, die durch ihre Politik des "Boykotts" dem Westen die Einsetzung der Inflation gegen die Arbeiter_innen in den Metropolen "erlaubten". Heute haben die Öl und Rohstoffe produzierenden Länder eine stärkere Machtposition als je zuvor (zumindest bis Mitte 2008, weil bis dahin die Rohstoffpreise massiv anstiegen). Damals war die USA stark verschuldet, allerdings hauptsächlich bei Westdeutschland und Japan (und einigen OPEC-Staaten), die heutigen Gläubiger sind die gleichen, ergänzt durch neue Aufsteiger, besondere China (aber auch Südkorea). Damals war es nur der Staat, der verschuldet war, heute sind es auch die Privaten - und zwar nicht nur Firmen, sondern auch die vielen Konsument_innen, die den Wirtschaftskreislauf der letzten Jahre am Leben hielten.

War in den 1970er der Zyklus der langlebigen Konsumgüter, besonders des Autos, zu Ende, so endete bereits um 2000 der Zyklus der "neuen Technologien". Die Märkte, die große Teile der Bevölkerung in den Metropolen erfassten und eine zunehmende Mittelschicht im globalen Süden, waren gesättigt, die großen Profite durch neue Produkte konnten nicht mehr eingefahren werden, es ging nur noch um die möglichst schnelle Ersetzung der (gar nicht so) alten Produkte.

Es gibt aber einen großen Unterschied: konnten ab den 1970ern die internationalen Organisationen, die vom Norden dominiert wurden, etwa der IWF, relativ frei agieren und Forderungen an die Länder und Regionen des globalen Südens stellen, so sind heute Teile des globalen Südens in einer Gläubigerposition. Andere Staaten, etwa in Lateinamerika, haben sich von den Krediten des IWF unabhängig gemacht, so dass dieser auf Grund mangelnder Zinszahlungen nicht mehr so liquid ist wie früher. Bezeichnenderweise sind nach dem Ausbruch der Krise nicht nur Staaten des Südens (und des europäischen Ostens) vom Bankrott bedroht, sondern erstmals auch reiche Staaten des Nordens wie Island (Österreich?).

Die Krise der 1970er wurde durch das Ungleichgewicht zwischen Produktion und Konsum aufgelöst, zusammengehalten durch fiktives und spekulatives KapitalWurde 1968 die Revolution vertagt und ein unsicherer Aufschwung eingeleitet, so stehen wir jetzt wieder vor einer revolutionären Chance - oder aber dem Absturz in Krieg und Barbarei.


Die Krise als revolutionäre Chance

"Wir bewegen uns in eine weltgeschichtliche Situation hinein, in der alle Weichen des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Lebens neu gestellt werden. Für meine Generation wird es nach den Jahren 1967 bis 1973 der zweite Epochenumbruch sein." (Karl Heinz Roth 2008)

Kapitalistische Krisen entstehen im Gegensatz zu Krisen anderer Produktionsverhältnisse nicht aus Mangel, sondern aus Überfluss: Die Produkte und Dienstleistungen lassen sich nicht mehr gewinnbringend absetzen. So waren die bisherigen großen Krisen auch mit Deflation verbunden. Um die überschüssigen Produkte abzusetzen, wurden immer wieder die Preise gesenkt. Nach den 1960ern waren im globalen Süden und auch in den Metropolen die Krisen mit Stagflation verbunden: die Produktion stagnierte, trotzdem stiegen die Preise. Das zeigt, dass die Arbeiter_innen, die Bevölkerungen, die Multitude als Subjekte zu stark waren, massive Lohnsenkungen waren nicht möglich (wenn, dann ging es um wenige Prozente und nicht um den Verlust der ganzen Existenz, wie in früheren Krisen). Diese Stärke kann eine Grundlage sein für zukünftige Kämpfe. In den Metropolen wird es kaum möglich sein, größere Teile der Bevölkerung "auszusteuern" - außer in einer Diktatur.

Das kapitalistische Regime steht vor dem Problem, dass es auf der einen Seite zu wenig Waren (und Dienstleistungen) absetzen kann, auf der anderen Seite Löhne und Sozialleistungen die Möglichkeiten für die Profite einschränken. Die Produktivitätsentwicklung durch neue Technologien steigert zwar den Output, kann aber die Löhne nicht genug senken, um die Profitrate aufrecht zu erhalten. Der Kapitalismus steht vor der Wahl zwischen Pest und Cholera: entweder die Nachfrage einschränken oder die Mehrwertrate. Es gibt genug für alle (wenngleich auch viele sinnlose Waren), nur nicht Profit bringend verwertbar. Wieso den Reichtum nicht für die Bevölkerungen fordern, für uns, anstatt dem Kapital zu neuer Verwertung und Ausbeutung zu verhelfen. Auch anderes provoziert geradezu nicht-kapitalistische Aneignung: Steigt etwa die Wohnungsnot zugleich mit einem steigenden Leerstand von Wohnungen, so ist das geradezu eine Aufforderung, diese zu besetzen. Es wird notwendig sein, unsere Reproduktion, unser Leben selbst zu organisieren, und zwar gerade jene "unproduktiven" Sektoren, die vom Kapital als unverwertbar gesehen werden.

Unzweifelhaft werden Kämpfe ausbrechen, die darauf beharren, die eigenen Lebensbedingungen aufrechtzuerhalten und sie werden nicht nur emanzipatorisch sein. Die Teilung entlang rassistischer und sexistischer Grenzen war immer ein wichtiger Faktor zur (Re)Stabilisierung des Kapitalismus. Eine revolutionäre Umwälzung hingegen muss den Kriegen zuvor kommen, die sich schon in protektionistischen Maßnahmen und antisemitischen und rassistischen (anti-islamischen) Feindbildern abzeichnen.

Auch historische Vergleiche lassen nicht nur pessimistische Schlüsse zu. Nach der Weltwirtschaftskrise 1929 gab es nicht nur Faschismus, Nationalsozialismus und Krieg, sondern auch Massenstreiks und die Volksfront in Frankreich, die spanische Revolution, aber auch erfolgreichen Kämpfe der Arbeiter_innen in den USA und den New Deal als Antwort auf die Forderungen der Bevölkerung.

Ein Zusammenbruch durch den Abfluss von Kapital, wie er uns in vielen Regionen erwartet, ereignete sich bereits 2001/2 in Argentinien. Der Zusammenbruch des wirtschaftlichen Lebens führte nicht nur zu Verzweiflung, sondern auch zu mannigfaltigen Versuchen der nicht-kapitalistischen Organisation des Lebens (von besetzten Fabriken über die Selbstorganisation der Arbeitslosen bis hin zu Nachbarschaftskomitees, in denen sich die Menschen ihr Leben selbst organisierten). Auch wenn die Integration in den Kapitalismus wieder gelang, diese Erfahrungen können sie uns nicht mehr nehmen (vgl. Colectivo Situaciones 2003).

Die aktuellen Auseinandersetzungen haben bereits vor der Krise begonnen: (wilde) Streiks um Lohnforderungen in Deutschland, im Frühjahr und Sommer 2008 provozierten Preissteigerungen Hungerrevolten in über 60 Regionen und Ländern. Diese fanden im Herbst ihre Fortsetzung in Revolten der Schüler_innen und Studierenden in Italien, Frankreich, Spanien und Griechenland. Anfang Dezember 2008 provozierte der Todesschuss eines Polizisten Aufstände in Griechenland, die sich nicht nur in Krawallen ausdrückten, sondern auch durch Selbstorganisationsstrukturen in besetzten Schulen, Universitäten und Gemeindehäusern. Überall, wo die kapitalistische Krise Institutionen in Frage stellt, wie in Island oder Lettland, geht es schnell ums ganze System.

Wenn die Kämpfe um die Wiederaneignung der Reproduktion, jene der Arbeiter_innen in Produktion und Dienstleistung, aber auch die weltweiten revoltierende Massenarmut miteinander kommunizieren, sich von unten koordinieren und Selbstverwaltungsstrukturen außerhalb und gegen die kapitalistische Verwertung organisieren (auch als Projekte der "Solidarischen Ökonomie" bezeichnet), dann kann sich die Krise zu eine Chance für eine revolutionäre Umwälzung entwickeln[10].

Mit anderen Worten: Es geht um die Verbindung von Anarchismus, Kommunismus und Sozialismus. Massimo de Angelis (2007, S. 245, Übersetzung von mir): "Anarchistische Praxen ohne kommunistische sind individualistisch oder gettoisiert. Kommunismus ohne Anarchismus ist hierarchisch und repressiv."[11] Der Anarchismus bietet die lebendige Perspektive der Selbstorganisation, der Kommunismus die Fähigkeit zur Organisation.


Danke an Martin Birkner für Anmerkungen und Ergänzungen.

E-mail: r.foltin@aon.at


Anmerkungen:

[1] Zugleich Unterkonsumtion: Es gibt zu viel Kapital, weil es sich nicht gewinnbringend anlegen lässt.

[2] Bei Marx (MEW 25, S. 221ff) wird außerdem der "tendenzielle Fall der Profitrate" auf Grund der steigenden "organischen Zusammensetzung des Kapitals" (immer mehr Maschinen ersetzen die Arbeitskraft) diskutiert.
Profitrate: r = m / v + K. Ausbeutungsrate: m / v (m = Mehrwert, v = variables Kapital / Arbeitskraft, K = konstantes Kapital / Fabriken, Maschinen, Rohstoffe)
Steigt das konstante Kapital an, muss auch die Ausbeutungsrate um ein ähnliches Maß ansteigen, damit es zu keinem Fall der Profitrate kommt.

[3] Madörin 1999, S. 135, weist für die Schweiz 1997 eine Wertschöpfung von fast 200 Mrd. Franken für Haus- und Familienarbeit aus, doppelt so viel als in der Industrie.

[4] Die "Niederlage" des Feminismus erfolgte nicht allein durch einen backlash, sondern auch durch eine Umstrukturierung des Systems. Weibliche Gratisarbeit ist immer noch notwendig für den Kapitalismus, wenn auch immer weniger in der Institution "Kleinfamilie" organisiert.

[5] Die Lokalisierung der Dienstleistungen im globalen Norden und von Produktion im Süden ist natürlich eine Vereinfachung: es gibt Dienstleistungszentren im Süden, etwa in Singapur, und auch die industrielle Produktion ist aus den industrialisierten Staaten nicht verschwunden. Selbst innerhalb von Firmen gibt es die Produktion auf der einen Seite und "unproduktiven" Sektoren wie Werbung, Marketing etc. auf der anderen.

[6] An anderer Stelle ist die Produktivität für den Kapitalismus davon abhängig, dass Mehrwert durch Mehrarbeit gewonnen wird und nicht nur dem individuellen Konsum dient. "Nur der Arbeiter ist produktiv, der Mehrwert für das Kapital produziert oder zur Selbstverwertung des Kapitals dient. Steht es frei, ein Beispiel außerhalb der Sphäre der materiellen Produktion zu wählen, so ist ein Schulmeister produktiver Arbeiter, wenn er nicht nur Kindsköpfe bearbeitet, sondern sich selbst abarbeitet zur Bereicherung des Unternehmers. Dass letzterer sein Kapital in einer Lehrfabrik angelegt hat, statt in einer Wurstfabrik, ändert nichts an dem Verhältnis." (MEW 23, S. 532).

[7] Der Börsencrash von 1987 war ein kurzfristiges Einbrechen der Aktienmärkte, der keine sichtbaren Auswirkungen auf die "Realwirtschaft" hatte. Die Blase war die Übertreibung des Aufschwungs, der durch die Eindämmung der Inflation und die Hoffnung auf neue Produktionen gebracht wurde. Nach zwei Jahren wurde an den Aktienmärkten das hohe Niveau von vorher erreicht.

[8] Selbst eine massive Finanzierung durch den Westen brachte keinen Aufschwung, wie am Beispiel der DDR zu sehen ist (vgl. Kurz 1991).

[9] Ähnliche Krisen durch die Flucht des Kapitals und spekulative Angriffe auf Währungen (und damit einer Eingrenzung der Krise) gab es 1994 in der Türkei und in Mexiko. Die Krise in Japan ab 1990 hatte einen anderen Charakter, sie war nicht mit sozialen Bewegungen verbunden. Es ging darum, das korporatistische System aufzulösen, das den Arbeiter_innen halbwegs annehmbare Arbeitsbedingungen erlaubte.

[10] Auch in Wien gibt es erste Ansätze neuer Formen der Koordination. Die Plattform "Eure Krise zahlen wir nicht" versucht revolutionäre Antworten auf die Krise zu finden und am globalen Aktionstag am 28. März 2009 ruft in Wien ein breites Bündnis zu einem "Antikapitalistischen Block" auf, der sich nicht in der Teilnahme an der Demonstration erschöpfen soll.

[11] De Angelis setzt dann fort: "Anarchismus und Kommunismus ohne Sozialismus, ohne Kampf innerhalb und gegen den Staat sowie darüber hinaus, das bedeutet reine Fantasie. [...] Sozialismus ohne Kommunismus und Anarchismus ist neoliberal." Er bezieht sich dabei auf die widersprüchlichen Prozesse im Venezuela des Hugo Chavez, wo der Staat Selbstorganisation von unten zulässt und zumindest teilweise fördert.


Literatur:

Arrighi, Giovanni (2007): Adam Smith in Bejing. Die Genealogie des 21. Jahrhunderts. Hamburg: VSA-Verlag.

Brenner, Robert (2002): Boom & Bubble. Die USA in der Weltwirtschaft. Hamburg: VSA-Verlag.

Brenner, Robert (2004): New Boom or New Bubble. The Trajectory of the US Economy. In: New Left Review 25, S. 57-100.

Colectivo Situaciones (2003): Que se vayan todos. Berlin, Hamburg: Assoziation A

De Angelis, Massimo (2007): The Beginning of History. Value Struggles and Global Capital. London, Ann Arbor, Mi: Pluto Press.

Fröbel, Folker / Heinrichs, Jürgen / Keye, Otto (1983): Die neue internationale Arbeitsteilung. Strukturelle Arbeitslosigkeit in den Industrieländern und die Industrialisierung der Entwicklungsländer. Reinbek: Rowohlt.

Griesser, Markus (2008): Farewell to the welfare state? Staatstheoretische Konzepte zu Genese und Wandel des Sozialstaats. In: grundrisse Nr. 25, S. 39-52.

Hardt, Michael / Negri, Antonio (2000): Empire. Cambridge (Mass): Harvard University Press.

Hobsbawm, Eric (1994): Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914-1991. London: Abacus.

Madörin, Mascha (1999): Robinson Crusoe und der Rest der Welt. In: Boudry, Pauline / Kuster, Brigitte / Lorenz, Renate: Reproduktionskosten fälschen! Berlin: b_books S. 132-155.

Kurz, Robert (1991): Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie. Frankfurt am Main: Eichborn.

Marx, Karl (1953): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf). Berlin: Dietz Verlag.

Marx, Karl (1976): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Frankfurt am Main: Verlag Marxistische Blätter. (MEW 23)

Marx, Karl (1972): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Frankfurt am Main: Verlag Marxistische Blätter. (MEW 25)

Pun, Ngai (2008): Interview mit Pun Ngai: "Deshalb spreche ich immer von Arbeit und Körper, denn mit dem Körper kommt mehr Subjektivität ins Spiel...". In: grundrisse Nr. 28, S. 4-12.

Roth, Karl Heinz (2008): Globale Krise - Globale Proletarisierung - Gegenperspektiven. http://www.wildcat-www.de/aktuell/a068_khroth_krise.htm

Sablowski, Thomas (2008): Kapital, Kredit, Krise. Zur Kritik der finanzdominierten Akkumulation und Regulation. In: analyse & kritik Nr. 533.

Silver, Beverly (2005): Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. Berlin, Hamburg: Assoziation A.

Stockhammer, Engelbert (2008a): Anatomie und Auswirkungen der US-Immobilienkrise. Von der sub-prime Krise zur Wirtschaftskrise? In: grundrisse Nr. 25, S. 21-24.

Stockhammer, Engelbert (2008b): Finanzkrise: Chronologie, Ursachen und wirtschaftspolitische Reaktionen. Kasinokapitalismus mit staatlichen Fremdheilungskräften. In: grundrisse Nr. 28, S. 13-22.

Wildcat (1998): Das Kapital schlägt zurück, oder: "Beten und hoffen". In: Wildcat-Zirkular Nr. 44, S. 21-38.

Raute

John Holloway

Die andere Politik, die Politik der Wut der Würde [1][2]

Übersetzt von Lars Stubbe

1.

Wut, Wut, Wut. Wut, wie die der jungen Menschen in Griechenland in den letzten Wochen. Wut über Polizeigewalt, Wut über niedrige Löhne und Mangel an Chancen.

Wut heute über das Massaker der israelischen Armee an den Palästinensern im Gazastreifen. Wut über die fünf Jahre Ermordung und Zerstörung im Irak. Wut, Wut hier, jeden Tag. Wut über die Repression in Atenco und die 112 Jahre Gefängnis für Ignacio del Valle[3]. Wut über die Vergewaltigung von Genossinnen, die für ein Leben der Würde kämpfen. Wut über die alltägliche Gewalt der Polizei. Wut über die Zerstörung der Wälder. Wut über den Rassismus, Wut über die obszöne Kluft zwischen den Einkommen der Reichen und dem Elend der Armen, Wut über die Arroganz der Mächtigen. Wut, weil sie ein schönes Land in ein verfaulendes Land verwandeln, ein Land, in dem man mit Angst lebt.

Wut, denn nicht nur Mexiko verfault, sondern die ganze Welt verfault, zerstört sich selbst. Wut, denn wir leben in einer Welt, die auf der Negation der Menschheit basiert, der Negation der Würde. Wut, denn wir können nur überleben, indem wir uns selbst verkaufen.


2.

Wut, Wut, Wut. Wut zerbricht. Wut zerbricht das Opfer. Vor der Explosion der Wut sind wir Opfer, Opfer des kapitalistischen Systems. Das einzige, was wir als Opfer machen können, ist zu leiden, um Veränderungen zu bitten, Forderungen vorzubringen. Als Opfer brauchen wir einen Anführer, eine Partei. Als Opfer hoffen wir auf Veränderung in der Zukunft, eine Revolution in der Zukunft.

Mit dem Schrei der Wut zerbrechen wir das, wir sagen: "Nein, wir sind keine Opfer, wir sind Menschen, es reicht, so zu leben, es reicht mit dem Leiden. Wir werden nicht länger irgendjemanden um etwas bitten, wir werden nicht länger Forderungen vorbringen, wir werden nicht länger auf die Revolution in der Zukunft hoffen, denn die Zukunft kommt niemals. Wir werden die Dinge hier und jetzt ändern."

Wut, gerechte, gerechte Wut: Wut der Würde. Die antikapitalistische Wut ist eine Wut der Würde, denn sie bricht mit dem Zustand des Opfer-Seins, denn sie begehrt bereits etwas anderes, eine andere Welt, denn hinter den Schreien und den Barrikaden befindet sich etwas anderes, die Anlage neuer gesellschaftlicher Verhältnisse, die Erschaffung eines anderen Tuns, einer anderen Liebe.


3.

Die Wut ist die Schwelle der Würde. Bloße Wut reicht nicht aus, denn noch erschafft sie nicht die Grundlagen einer anderen Welt, sie erschafft noch nicht die Basis, um der Reintegration in den Kapitalismus Widerstand zu leisten. Sie öffnet die Tür für eine radikal andere Politik, ein radikal verschiedenes Tun, aber die vollständige Entwicklung der Wut der Würde bedeutet nicht nur den Schrei des "Nein, wir werden nicht gehorchen, wir werden nicht hinnehmen, wir werden uns nicht unterordnen." Dazu gehört auch: "Wir werden etwas anderes machen, wir werden auf eine Weise leben, die mit dem Kapital nicht vereinbar ist". Nicht nur mit Demonstrationen und Steinen kämpfen wir gegen den Kapitalismus, sondern auch (und vielleicht sogar zuvörderst), indem wir etwas anderes aufbauen. Wir kämpfen gegen den Kapitalismus, indem wir die Welt leben, die wir erbauen wollen.

Es reicht! Es reicht mit diesem Leben, es reicht, jeden Tag ein System zu erschaffen, das uns ermordet. Aber hinter dem "Es reicht!" der ZapatistInnen befindet sich etwas anderes, ohne das der Zapatismus nicht über die Kraft verfügen würde, die er hat. Hinter der Dringlichkeit der "¡Ya Basta!" steht eine andere Zeitlichkeit, die Zeitlichkeit des "Wir gehen, wir rennen nicht, denn wir gehen sehr weit." Der Kern des Zapatismus besteht im geduldigen Aufbau einer anderen Welt, der Erschaffung anderer gesellschaftlicher Verhältnisse hier und jetzt. Die zapatistischen Gemeinschaften kämpfen gegen den Kapitalismus, indem sie die andere Welt leben, die sie (und wir) erschaffen wollen. Sie kämpfen gegen den Kapitalismus, indem sie über ihn hinausgehen. Dies ist die Wut der Würde.

Natürlich nicht nur die ZapatistInnen. Die Wut der Würde existiert an allen Orten und in jedem Moment, in dem Menschen sagen: "Nein, wir werden die Herrschaft des Kapitals oder des Geldes nicht hinnehmen, wir werden etwas anderes tun". Manchmal wird das NEIN betont, manchmal der Aufbau von etwas anderem. Manchmal herrscht die Wut vor, manchmal die Würde, aber es ist wichtig, die Einheit anzuerkennen, die Kontinuitätslinien zwischen den zwei Formen des Kampfes. Deshalb müssen Solidarität und die Ablehnung des Sektierertums zentrale Bestandteile jeder Politik der Wut der Würde sein. Wir wollen die beiden Seiten zusammenbringen, die Wut und die Würde und die einzige Weise, dies zu tun, besteht in dem Respekt vor den verschiedenen Formen des Kampfes.


4.

Würde ist nicht die Würde von Opfern, sondern die von aktiven Subjekten. Die Politik der Wut der Würde, das heißt, die andere Politik, ist ein Gehen, das die Politik des Opfer-Seins, die Politik der Forderungen, die Politik der ständigen Anklagen, die Politik der Anführer und Parteien und Staaten hinter sich lässt. Die Wut der Würde stellt uns ins Zentrum. Wir erschaffen die Welt mit unserer Kreativität, unserer Aktivität. Wir sind es auch, die den Kapitalismus, der uns tötet, erschaffen: deshalb wissen wir, dass wir aufhören können, ihn zu erschaffen. Es sind wir, die die gegenwärtige Krise des Kapitalismus erschaffen, oder besser: wir sind die Krise des Kapitalismus.

Es ist wichtig, hierauf zu beharren, denn die Krise stellt eine ernsthafte Bedrohung für die andere Politik dar. Die Krise zieht uns, wirklich und theoretisch, zu der alten Politik der Linken zurück, zu der Politik des Opfers, der Politik der Forderungen.

Es gibt grundsätzlich zwei Formen, über die Krise zu sprechen. Es liegt auf der Hand, die Kapitalisten und den Kapitalismus dafür verantwortlich zu machen. Die Krise zeigt das Versagen des Kapitalismus. Wir brauchen eine Revolution. Wir müssen die Revolution auf die effizienteste Art machen, die möglich ist. Und in der Zwischenzeit müssen wir mehr Beschäftigung einfordern, mehr Sozialausgaben, Subventionen nicht für die Reichen, sondern für die Armen. Diese Auffassung der Krise als "ihre" Krise führt uns zur Politik des Opfer-Seins, der Forderungen, der Revolution in der Zukunft zurück.

Der andere Weg besteht darin, zu sagen: "Nein, so ist es nicht: wir sind für die Krise verantwortlich und wir werden die Revolution nicht in der Zukunft machen müssen, da wir sie bereits machen und die Krise ist der sichtbare Ausdruck der Tatsache, dass wir sie bereits machen". Der Kapitalismus ist ein System der Herrschaft, der Unterordnung. Die Existenz des Kapitals hängt von unserer Unterordnung ab. Mehr noch, es hängt von einer zunehmend vollständigeren Unterordnung des Lebens unter die entfremdete Arbeit ab. Wenn es ihm nicht gelingt, diese vollständige Unterordnung durchzusetzen, kommt es in die offene Krise.

Wir sind die Aufsässigen, wir sind die Krise des Kapitals. Die große Krise von 1929 war das Ergebnis einer Welle der Aufsässigkeit, die sich in der Russischen Revolution Ausdruck verschaffte. Die Krise von heute ist das Ergebnis der Wellen der Aufsässigkeit der letzten vierzig Jahre. In beiden Fällen ist die Krise eine aufgeschobene Krise, aufgeschoben durch die Ausweitung des Kredits, die die Verbindung zwischen der Aufsässigkeit und ihren Auswirkungen verdeckt und der Krise der Unterordnung das Erscheinungsbild einer finanziellen Krise gibt. Die Ausweitung des Kredits ist eine Art Wette, eine Wette auf die zukünftige Ausbeutung der Arbeit, das heißt, auf die zukünftige Unterordnung unserer Aktivität, eine Wette, die das Kapital gerade verliert. Wir sind die Aufsässigkeit, das heißt die Krise des Kapitals, und wir werden uns nicht unterordnen lassen.

Es ist besser, wenn wir unsere Verantwortung annehmen. Sie hilft uns, unsere Stärke zu verstehen. Wir sind nicht die ständigen Verlierer: unser Rebellischsein, unsere Aufsässigkeit, unsere Würde, erschüttern das System. Die Krise des Kapitals ist ein Ausdruck der Stärke unserer Würde. Wir sollten uns die Krise nicht als Zusammenbruch des Kapitalismus vorstellen, sondern als Durchbruch unserer Würde, als Geburt von etwas anderem, von anderen gesellschaftlichen Verhältnissen, gesellschaftlichen Verhältnissen, die auf der Würde der Wut basieren.

Die Herausforderung der anderen Politik besteht in der Stärkung dieses Prozesses, dieses Durchbrechens einer anderen Welt. Es kann nicht bloß eine Frage der Forderung nach mehr Beschäftigung, nach mehr Staat sein, denn diese bedeuten die Erneuerung der Unterordnung unter das Kapital. Wir bitten niemandem um etwas, vielmehr erschaffen wir hier und jetzt unsere kreative Aufsässigkeit, indem wir so weit wie möglich die Momente und Räume ausweiten, in denen wir sagen: "Nein, wir beugen uns nicht den Anforderungen des Kapitals, wir werden etwas anderes machen, wir werden die Selbsthilfe fördern, die Kooperation, die Erschaffung gegen das Kapital". Es ist nicht leicht, es ist nicht offensichtlich, aber dies ist die Richtung, in die wir uns bewegen müssen, die wir erkunden müssen. Mit Wut, aber mit einer Wut, die andere Perspektiven eröffnet, die andere Dinge erschafft, eine Wut der Würde.

Fragend gehen wir voran...

E-Mail: johnholloway@prodigy.net.mx


Anmerkungen:

[1] Beitrag während der Teilnahme am Runden Tisch "Los Otros Caminos: OTRA HISTORIA, OTRA POLITICA" auf dem "Festival de la Digna Rabia" in Mexiko-Stadt am 28.12.08. Weitere Redner waren: Felipe Echenique (México), Francisco Pineda (México, Raúl Zibechi (Uruguay), Olivier Besacenot (Francia), Mónica Baltodano (Nicaragua), Sergio Rodríguez Lascano (México).

[2] Der Originaltitel lautet "The Other Politics, that of Dignified Rage". Er deutet auf die "Andere Kampagne" (kurz: La Otra) der Zapatisten hin. Es geht also schon um andere Politik, aber nicht im herkömmlichen Sinne verschiedener Parteipolitiken.

[3] Ignacio del Valle ist einer der Anführer der Bewegung gegen den Bau eines Flughafens im nahe Mexiko-Stadt gelegenen Atenco. Er wurde zu 112 Jahren Gefängnis verurteilt.

Raute

Karl Reitter

Argumentationsstrukturen und Begründungsfiguren um den Krieg gegen Gaza

Dieser Text stellt sich nicht zur Aufgabe, die historischen und aktuellen Ereignisse rund um den Krieg gegen die BewohnerInnen in Gaza zu analysieren und zu kommentieren. Für diese Aufgabe gibt es Kompetentere als den Verfasser; ich verweise gerne auf die Analysen von John Bunzl[1] oder Uri Avnery[2]. Diese Texte zeigen klar, dass der Krieg der Israelischen Militärmaschine eindeutig zu verurteilen ist. Dieser Artikel setzt sich hingegen mit Argumenten der falschen Freunde Israels auseinander. Warum sie als "falsch" bezeichnet werden können, sollte im Laufe des Textes klar werden. Methodisch möchte dieser Artikel einige zentrale Argumentationsfiguren auf ihre logische Struktur hin untersuchen, sozusagen das Skelett jener Argumente aufzeigen, die manchem und mancher als all zu einsichtig erscheinen. Diese Figuren erscheinen durchaus in verschiedenen Gewändern, in Postings und Kommentaren oft abgespeckt und karg, in Essays und Buchbeiträgen ausgeschmückt und überladen, in Erklärungen und Aufrufen haben sie oft ein wenig von beidem. Solange diese Figuren jedoch nicht als solche freigelegt werden, muss sich die Debatte endlos im Kreise drehen. Anzumerken wäre noch, dass diese Denkfiguren keineswegs spezifisch für den angesprochenen Diskurs sind, im Gegenteil, die Muster sind allgegenwärtig und in der einen oder anderen Variante in vielen öffentlich geführten Debatten zu finden. Allerdings sollten sie reflektiert und nach Möglichkeit überwunden werden.


1. Figur: A gegen C, B gegen C; also: A = B

Diese Figur ist in Argumentationen allgegenwärtig. Sie ist schematisch und simpel, und wird gerade deshalb oftmals verwendet, und nicht nur bezüglich des Konfliktes Israel/Palästina. Mit einer dieser Varianten war der Autor seinerzeit als junger Trotzkist in den frühen 70er Jahren konfrontiert. "Ihr seid gegen die UdSSR, die USA ist gegen die UdSSR, also seid ihr objektiv auf der Seite der USA" schallte es mir entgegen. Über das Niveau von Vorzeichen kommt dieses Denken nicht hinaus, plus oder minus, ja oder nein. Ein weiteres Beispiel: Als Margret Thatcher seinerzeit eine Armada nach den Falkland Inseln sendete, um in einem reinen Prestigekrieg um absolut bedeutungslose Inseln Menschen und Material zu opfern, opponierte nicht nur die Linke gegen diesen Ausbruch von Militarismus und Chauvinismus, sondern auch rechtsradikale Zirkel, wenn auch unter anderem Vorzeichen. Welche Schlüsse wären nun daraus zu ziehen gewesen? Im Falle des Krieges gegen Gaza musste nicht lange gesucht werden, um gemeinsame GegnerInnenschaft zu finden. Wenig überraschend opponierten auch rechtsradikale Kreise gegen die Zerstörungspolitik der Israelischen Militärmaschine. Wenn aber gilt A = B und A zurecht als reaktionär oder faschistoid bezeichnet werden muss, gibt es für B kein Entkommen. Die Identitätsbestimmung muss für beide gelten. Und so wiederholt sich seit "ewig" diese auf Identifikation beruhende Schlussfolgerung, schon ein kurzer Blick in Diskussionsforen beweist dies. Diese Schlussfigur ist schon deshalb so beliebt, weil sie keinerlei Analyse und Differenzierung bedarf. Jeder Hohlkopf kann sie anwenden, so er nur über die oberflächlichsten Informationen verfügt.

Wie jede abgeschmackte Figur ist sie natürlich auch umzudrehen. Gibt es irgendeine politische Kraft, irgendeine Bewegung, die nicht selbst mit reaktionären Kräften kooperierte, und sei es noch so vage? Gab es nicht zwischen der indischen Befreiungsbewegung und Nazideutschland während des Zweiten Weltkriegs Kontakte? Wenn wir durch die Geographie und die Weltgeschichte durch sind, verfügen wir über zahlreiche Konstellationen, die dann je nach polemischem Bedarf abgerufen werden können. Aber ein simples Argumentationsschema wird nicht deshalb besser, wenn es auch auf jene angewendet werden kann, die es selbst verwenden - was überdies bei all den hier analysierten Denkfiguren der Fall ist. Es ist bezeichnend, dass die falschen Freunde Israels, die sich aktuell eines rassistischen Antiislamismus befleißigen, viel Kopfzerbrechen darauf verwenden nachzuweisen, dass ihre Position mit dem gängigen Antiislamismus in allen Varianten nichts, aber schon absolut nichts gemeinsam hat. Diese Übungen sind schon deshalb nötig, um einerseits nach wie vor dieses simple Identifikationsschema anwenden zu können, andererseits aber der AnhängerInnenschaft glaubhaft versichern zu können, im eigenen, speziellen Fall könne es nie und nimmer gelten. Auf das Schema selbst können unsere falschen Freunde nicht verzichten, ein ganzer Flügel ihrer Argumentation, noch dazu einer der eingängigsten, würde wegbrechen.


2. Figur: Antisemitismus als selbstbezügliche Erklärung

Im Falle des Konfliktes Palästina und Israel stellt der Vorwurf des Antisemitismus die alles entscheidende Achse der Argumentation der falschen Freunde dar. Der Einsatz dieses Arguments ist etwas komplexer und erfordert zwei Schritte.

Der erste Schritt beruht auf einer an sich richtigen These. Antisemitismus zeichnet sich durch Grundlosigkeit aus. Ebenso wie Rassismus, Sexismus oder Antiislamismus bedarf es nie eines konkreten Verhaltens der Denunzierten, um diese Reaktionen auszulösen. Ja, oft werden jene Personen, die im unmittelbaren Umfeld agieren, davon ausgenommen. Wohl müssen alle diese Ressentiments Ursachen haben, nichts entsteht aus nichts, aber als strukturelles Vorurteil sind sie nicht im unmittelbaren Verhalten von Juden und Jüdinnen, Frauen oder Menschen mit islamischem Glauben zu suchen.

So weit, so klar. Die These der Entkopplung von Ressentiment und konkreter Interaktion begründet ja diese Begriffe. Umgekehrt beruht die alltägliche Kritik ja exakt darauf, die Grundlosigkeit der diversen Ismen zu bestreiten. Die RassistIn hält sein Urteil über z.B. TürkInnen für empirisch gesättigt, der Patriarch meint die allgemeine Natur der Frauen zu kennen, die AntiislamistIn phantasiert etwas über die Opfernatur der moslemischen Religion und die AntisemitIn erklärt alle Attacken auf jüdische MitbürgerInnen als durch diese provoziert. So weit, so schlecht. Und nun kommt aber der allerheikelste Punkt in dieser Thematik. Trotzdem finden wir in der Realität Verhalten von diskriminierten Gruppen, welches nicht unbegründet Kritik und Widerspruch auslöst. Verständlich ist es wohl, aber nicht akzeptabel, dass es nun die Tendenz geben kann, jedes eigene Fehlverhalten brüsk von sich zu weisen und durch eines dieser Ismen zu erklären. So wird die kritische Reflexion über das eigene Verhalten suspendiert. Was immer mensch auch tut oder lässt, die anderen müssten kritisieren und ablehnen, weil er oder sie eben Jüdin/Frau/Moslem/AfrikanerIn usw. ist. In Wahrheit ist die Sachlage oftmals komplex, in Konflikten wirken sowohl allgemeine strukturelle Ressentiments als auch durchaus zurecht kritisiertes Verhalten. In der Linken wird diese Verflechtung oft nur dann bewusst reflektiert, wenn es zu Überblendungen kommt. Etwa wenn Männer, die Objekt rassistischer oder antisemitischer Zuschreibungen sind, selbst sexistisches Verhalten an den Tag legen.

Das Entscheidende an all diesen Ismen sind verallgemeinerte Phantasmen, die als Phantasma in keiner Korrelation zu den konkreten Personen stehen. Wir können zwar über eine bestimmte Person, so wir sie gut kennen, sinnvoll Aussagen über Charakter und Verhalten treffen - auch diese können zutreffend oder unzutreffend sein -, je mehr wir aber ins Allgemeine fortschreiten, desto klischeehafter und unwirklicher müssen diese Aussagen werden. Im Falle Israels haben wir es jedoch nicht mit Personen in Alltagsvollzügen zu tun, sondern um einen expandierenden Staat. Jeder Staat ist ein Akteur mit zurechenbaren Taten. Das verändert grundlegend die Beziehung zwischen Stereotyp und Verhalten. Da es weder "den" Juden oder "die" Jüdin gibt, ebenso wenig wie "die" Frau oder "den" Moslem ist jede antisemitistische, rassistische oder sexistische Zuschreibung ein Überschreiben und Ersetzen des konkreten Verhaltens durch das Stereotyp. Es gibt aber den Israelischen Staat, dieses Objekt existiert nur im Singular. Wenn wir also Aussagen über "den" Israelischen Staat machen, können wir die Anführungsstriche ruhig weglassen, es gibt ihn, den Israelischen Staat. Dass die Israelische Gesellschaft als Mannigfaltigkeit gegeben ist, ändert nichts an der Singularität des Staates. Das will nur so viel besagen: Während also Aussagen über das Verhalten von JüdInnen/Frauen/Moslems usw. immer höchst problematische Verallgemeinerungen sein müssen, kann das Verhalten des Israelischen Staates ganz konkret beschrieben und analysiert werden.

Und nun kommt der entscheidende Punkt. Nach den Phantasmen unserer falschen Freunde Israels hat die konkrete Reaktion der PalästinenserInnen und ihrer unterschiedlichen Organisationen nichts, aber schon gar nichts mit den politischen, ökonomischen, juristischen und militärischen Taten des Staates Israel zu tun. Alle Formen der Opposition und des Widerstandes werden ausschließlich aus sich selbst, eben aus dem Antisemitismus der AkteurInnen erklärt. An die Stelle realer Interaktionen, Verhandlungen, Maßnahmen und Gegenmaßnahmen treten in der Idealwelt der falschen Freunde zwei logisch und kausal unabhängiger Verlaufsketten von Ereignissen. Was immer Israel tut und lässt, es sei in jedem Falle an den Reaktionen unschuldig und unbeteiligt. Umgekehrt: Der alles motivierende Antisemitismus der PalästinenserInnen sei von den Handlungen des Israelischen Staates ebenso strukturell unabhängig. Exakt diese Logik begründet das Signalwort Antisemitismus. Es liegt mir fern, antisemitische Tendenzen in arabischen Ländern zu leugnen. Ich räume auch ein, dass bestimmte Handlungen gegen den Staat Israel tatsächlich antisemitischen Ursprungs sein können. Aber wir dürfen die Radikalität dieser Argumentationslogik nicht unterschätzen. "Sie greifen euch an und hassen euch, weil ihr Juden seid", erklären unsere falschen Freunde; selbst massive Proteste in Israel beeindrucken sie dabei nicht. Antisemitismus steht in diesem Kontext also für die radikale Entkopplung des Verlaufs des palästinensischen Widerstandes und der Politik des Israelischen Staates und der Taten seiner Militärmaschine. Mit dem Wunderwort "Antisemitismus" wird der Zusammenhang zwischen Aktion und Reaktion, wird die kausale Verknüpfung von Prozessen zerschlagen und als nicht existent erklärt. Wenn dieses Dogma einmal verinnerlicht ist, ergibt sich der Rest von selbst. Da alle Aktionen des Widerstandes von palästinensischer Seite einfach auf Antisemitismus beruhen, sind sämtliche Militäraktionen legitimiert. Wer Kritik am Krieg gegen Gaza formuliert muss sich daher objektiv auf die Seite von AntisemitInnen stellen usw. usf.

Dieser Gebrauch des Terminus "Antisemitismus" setzt freilich die elementarsten Einsichten linken, materialistischen und marxistischen Denkens außer Kraft. Mentalitäten, Gesinnungen und Bewusstsein werden nicht mehr aus den konkreten sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnissen erklärt, sondern umgekehrt. Die sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse werden aus Mentalitäten und Gesinnung abgeleitet, konkret aus einer Kombination aus Antisemitismus und Islamismus. Das fügt sich fugenlos in simpelste bürgerliche Schemata. Warum ist der Gaza Streifen kein blühender Garten? Antwort: Weil die BewohnerInnen von schlechten Mentalitäten und Gesinnungen geprägt sein sollen. Solange wir in gesellschaftlichen Prozessen und sozialen Beziehungen denken, kann eine inzwischen zweiundsechzigjährige Konfliktgeschichte mit unendlichen Verstrickungen und Verbindungen nicht aus unabhängig voneinander, parallel laufenden Mentalitätsgeschichten erklärt werden. Exakt diese Sichtweise trägt jedoch ein Großteil der Argumentation unserer falschen Freunde.

Die Logik dieser Argumentationsfigur zu Ende gedacht ist freilich fatal. Denn im Grund ist es unerheblich, welche konkreten Taten der Israelische Staat tatsächlich setzt. Eine aktive Friedenspolitik ist unmöglich. Denn was immer Israel auch tut und lässt, nach dieser Logik werden die fanatischen AntisemitInnen stets nach Vernichtung streben. Ein kausales Einwirken ist so strukturell sinnlos und unmöglich. Was verbleibt? Eine radikale Sicherheitspolitik, die keine Mittel scheuen darf. Als auf der Konferenz "Stop the Bomb" ein Teilnehmer offen einen präventiven Atomschlag gegen den Iran forderte, brachte er das Theorem der Entkopplung auf den Punkt. Wenn die konkrete Politik Israels am tobenden Antisemitismus nicht, aber absolut nichts ändern kann - da ja das Aktion-Reaktionsschema so und so nicht gilt - kann nur noch in Abwehr und Prophylaxe gedacht werden. Da der antisemitische Mob so und so Vernichtung kreischt, warum ihm nicht alle Waffen mit allen Mitteln aus der Hand schlagen? Logisch konsequent... Die PalästinenserInnen werden nicht als Menschen anerkannt, die auf Maßnahmen reagieren, sondern als strukturell interaktionsunfähig denunziert. Die Rationalität von Konflikt und Dialog ist suspendiert, da die eine Seite, eben die PalästinenserInnen, dazu strukturell unfähig sein sollen. Uns sollte diese Logik bekannt vorkommen. Gibt es nicht im bürgerlichen Denken immer "jene", die "nur eine Sprache verstehen?" Die Sprache der Gewalt und der Züchtigung? "Jene", die jedes Nachgeben als Schwäche auslegen und sobald wir sie lassen, immer mehr und immer frecher fordern?

Diese Haltung ist vollkommen unverantwortlich. Sie spricht den Israelischen Staat schon jetzt für alle zukünftige Taten frei und suspendiert jedes vernünftiges Nachdenken über sinnvolle Maßnahmen, um den Konflikt politisch zu lösen.


3. Figur: Betrachtung der Akteure für sich nach moralischen Kriterien

Diese Figur ist mit der zweiten verbunden, besitzt jedoch eine eigene Logik. Sie beruht darauf, soziale Verhältnisse nicht als Verhältnisse zu denken. Denke ich in Verhältnissen, so sind AkteurInnen nur aus diesen Verhältnissen heraus begreifbar, ihre Positionierung und ihre Beurteilung können nicht für sich, sondern nur aus dem Verhältnis selbst heraus erfolgen. Um diese etwas abstrakten Worte zu konkretisieren: Marx bestimmt Bourgeoisie und Proletariat als zwei Pole ein und desselben Verhältnisses. Wenn er nun seine geschichtlichen Hoffnungen in das Proletariat setzt, so geschieht dies nicht, weil er dem Proletariat besondere für sich existierende Qualitäten andichtet. Im Gegenteil, dass das Proletariat besonders edel, großmütig, gebildet oder zartfühlend sei, wurde nie behauptet. (Andererseits prägt die soziale Konstellation wohl auch den Charakter.) Oder, um ein anders Bespiel zu bringen: Wenn in einem Streik das Streikkomitee gegen die Betriebsführung kämpft, so wird niemand behaupten, dass sich auf der einen Seite wahre Engel auf der anderen ausschließlich finstere Schurken versammeln. Wir sind mit den Streikenden aufgrund ihrer Positionierung im Konflikt, der wiederum dem sozialen Verhältnis entspringt, solidarisch. Und sollte sich einer der Streiksprecher als Sexist entpuppen, so werden wir deswegen nicht die Seiten wechseln, obwohl wir ihn deswegen scharf kritisieren werden. Um es also auf den Punkt zu bringen: Wir werden unsere Positionierung nicht von tatsächlichen oder vorgeblichen Qualitäten der Konfliktparteien abhängig machen.

Exakt diese Argumentationsfigur wird jedoch unablässig benützt. Dass bei der Zeichnung massiv in den Wunsch- und Manipulationstopf gegriffen wird, ist jetzt unwesentlich. Israel ist weder ein Juwel an Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde, noch die Hamas bloß ein mordender Haufen gurgelschneidender FanatikerInnen. Aber lassen wir es um des Arguments willen für einen Moment so sein. Selbst wenn wir diese Charakterisierungen akzeptieren, was wissen wir dann über das ökonomische, politische und soziale Verhältnis zwischen Gaza und Israel? Nichts. Wir haben auf Grund dieser Mentalitäts- und Charakterzuschreibungen keine Ahnung, wie sich das Verhältnis darstellt, wir wissen deswegen nicht, dass Gaza ein großes Freiluftgefängnis als Resultat der fortwährenden Expansions- und Vertreibungspolitik Israels ist, wir wissen nichts über die vollständige Abhängigkeit Gazas vom Wohlwollen seines Gefängniswärters. Es sind ökonomische, soziale und politische Relationen, die AkteurInnen positionieren. Asymmetrische Verhältnisse bleiben asymmetrische Verhältnisse, wie auch immer sich die politische und soziale Charakteristik der Beteiligten darstellt. Das schließt nun die permanente Kritik an den Formen und Methoden, in denen sich Widerstand und Organisierung ausdrückt nicht aus, sondern ein. Noch mehr, es wäre ja seltsam, wenn Unterdrückung keine negativen Resultate zeitigen würde. Würde in Gefängnissen freie kommunistische Gemeinwesen entstehen können, warum sollten wir sie abschaffen wollen? Würde uns der Kapitalismus nichts anhaben, warum ihn überwinden? Es gilt aber auch umgekehrt, auch Herrschaft prägt und wie Elias Canetti meinte, ist die Paranoia die Krankheit der Macht.

Die Figur der "Betrachtung der AkteurInnen für sich nach moralischen Kriterien" läuft nun auf die Pointe hinaus, die strukturellen Verhältnisse als solche durch diese Beurteilungen zu verleugnen. So, als ob Ausbeutung, Unterdrückung und Diskriminierung verschwinden würden, wenn wir nur oft genug aufzeigen, dass die Ausgebeuteten, Unterdrückten und Diskriminierten selbst negatives Verhalten und Ansichten an den Tag legen. (Was sie auch tun, obwohl nach meinen Beobachtungen die Bilanz für die Herrschenden weit negativer ausfällt.) Diese Sichtweise ist eine genuin bürgerliche. Es gibt keine Klassen, keine strukturellen Ungleichheiten regional und auf Weltebene mehr, es gibt keine Diskriminierungen, es gibt nur gute oder üble, sympathische und unsympathische individuelle und kollektive Charaktere. So konstituiert sich auch die bürgerliche Öffentlichkeit, insbesondere im Kontext des Parlamentarismus. Nach diesem Phantasma tauchen in der Öffentlichkeit für sich stehende Gruppierungen auf, deren RepräsentantInnen für sich allerlei Tugenden und für die KonkurrentInnen allerlei Defizite reklamieren. Dass diese medial reflektiert und bewertet werden, löscht die real existierenden Verhältnisse und Strukturen nochmals aus. In diesem Sinne werden dann die beteiligten Gruppen und politischen Kräfte (nicht nur) in Israel und Palästina bewertet. Fiktiv nach dem Katalog bürgerlicher Meinungsumfragen bewertet, - Halten sie Kandidat X für modern, aufgeschlossen, kompetent, sympathisch usw. ... - scheidet dann die Hamas eher schlecht ab. Die Unfähigkeit in Relationen zu denken wird von den falschen Freunden Israels auch auf die KritikerInnen des Krieges projiziert. Wer, so die fatale Logik, parteilich gegen den Angriffskrieg des Israelischen Staates Stellung nimmt, muss die Hamas sympathisch oder irgendwie sonst nett finden, denn sonst würde ja nicht Partei ergriffen werden. Da dieses Denken unfähig ist, zwischen den strukturellen Verhältnissen und der Physiognomie der beteiligten Gruppen zu unterscheiden, beurteilt es auch andere Positionen so, als ob sie der eigenen Logik folgen würden. Dieses Herunterbrechen von Urteilskraft auf die Ebene des Moralurteils ermöglicht allerdings die Anschlussfähigkeit an den öffentlich-medialen Diskurs. Diese Logik wird dort glänzend verstanden.


4. Figur: Wunschphantasien an die Stelle von kausalen Zusammenhängen

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die bisher genannten Argumentationsfiguren allesamt auf der Suspendierung sozialer Relationen und Interaktionsprozessen beruhen. Dass der Herr den Knecht und der Knecht den Herrn impliziert, dass soziale und politische Kräfte nur aus den Kontexten heraus verstehbar sind, alle diese grundlegenden Einsichten werden zugunsten einer Sichtweise aufgegeben, als ob die Beteiligten bereits fix und fertig in den Konflikt eintreten würden und dort nur ihren "immer schon" vorhandenen Charakter offenbaren würden. Auch diese Methode wird bis zum Ende gedacht. Anders ist die Parole: "Free Gaza from Hamas" nicht verständlich. "Free Gaza from Hamas" - durch den Krieg gegen Gaza?

Wenn wir nur die elementarsten Verknüpfungen von Ereignissen und Folgen annehmen, musste dieser Krieg, wie immer er sich auch weiter entwickelt, neue Generation von Menschen produzieren, die voll Wut, Hass und Rachegedanken gegen den Israelischen Staat sind. Kann ein denkender Mensch ernsthaft annehmen, dieser Krieg hätte dazu beitragen können, eine politische Kluft zwischen Hamas und anderen PalästinenserInnen zu schaffen oder zu vertiefen? Ich bezweifle, ob diese Position tatsächlich geglaubt wurde, ich bezweifle, ob denkende Menschen, die sich noch an die elementarsten Mechanismen des Sozialen erinnern können, ernsthaft meinen können, dieser Krieg hätte die Hamas moralisch diskreditieren und schwächen können. Nichts deutet darauf hin, im Gegenteil. So weit ich sehe, liegt auch keine Bilanz dieses Kalküls vor. Wo haben jene, die diese Parole hinausposaunten, untersucht, in wie weit der Krieg die Hamas moralisch und politisch geschwächt hat? Eine der elementarsten Grundsätze linken oder marxistischen Denkens besteht doch darin, das Gute nicht einfach zu wünschen, also einem schlechten Sein ein gutes Sollen entgegenzustellen, sondern reale Prozesse und Bedingungen zu suchen, die Emanzipation befördern und verstärken. (Wobei es nie im vorhinein ausgemacht ist, welche Resultate Prozesse tatsächlich bewirken.) Da ich den falschen Freunden Israels Vernunftgebrauch unterstelle, bleibt nur eine Konsequenz: Der Slogan "Free Gaza from Hamas" ist ausschließlich für den Gebrauch hierzulande produziert worden. Anknüpfend an die billig zu habende Einsicht, dass die Hamas in der derzeitigen Gestalt kaum eine Kraft sein kann, die die sozialistische Umwälzung der Gesellschaft vorantreibt (was immer wir jetzt auch unter Sozialismus denken), ist dieser Spruch bloß ein Signal an die Linke: Du kritisiert die Hamas, wir kritisieren die Hamas, also komm auf unsere Seite.

Welche Prozesse der Krieg Israels gegen Gaza in diesem Freiluftgefängnis tatsächlich auslöst, ob die Hamas gestärkt oder geschwächt wird, ist in Wirklichkeit völlig unerheblich und muss unerheblich sein. Die ausgesprochene Sorge um das Schicksal der PalästinenserInnen, die in Opposition zu Hamas stehen, ist nur ein Signal an die Linke hierzulande, die Sympathien für diese PalästinenserInnen empfindet.


5. Figur: Die wahre Bedeutung...

Unsere falschen Freunde Israels benützen eine ganze Reihe von Argumentationsstrukturen, die mit dem hegemonialen öffentlich-medialen Diskurs vollkommen kompatibel sind. Auf dieser Basis wird nun versucht, tatsächlich Realpolitik zu machen. Die vorgeblichen Interessen Israels werden dabei aus einer Perspektive gesehen, die von der israelischen Linken massiv kritisiert wird. Jenseits des unmittelbar für die Presse bestimmten Diskurses wirkt jedoch noch ein weiteres Argumentationsmoment, welches zum Abschluss ebenfalls kurz genannt werden soll. Es geht gar nicht um Israel und Palästina. WAS, ES GEHT NICHT UM ISRAEL? Doch, doch, natürlich geht es darum, aber es geht auch um mehr. Worum?

Stefan Grigat, dem das Verdienst zukommt, alle Plattitüden dieses Diskurses stets ungeschminkt zu verlautbaren, erklärt in einem seiner letzten Hirtenbriefe an die Gemeinde, dass es eben nicht nur darum ginge, Solidarität mit Israel zu bekunden und entsprechende Wimpel zu schwenken: "Unreflektierter Aktivismus und sinnentleertes Fahnenschwenken kann sich an keiner Stelle an der antideutschen Textproduktion orientieren, sondern steht im Widerspruch zu dieser und ihrer Kritik an Politkitsch und der Sehnsucht nach einer Bewegung."[3] Übersetzt in Prosa: Seht euch vor, ihr Novizen! Erst aus der aufmerksamen Lektüre unserer, vorzüglich meiner Schriften, erschließt sich die wahre Dimension dieses Konflikts. Worin besteht also die welthistorische und geschichtliche Bedeutung des Staates Israel wirklich? Darf ich das Geheimnis lüften? Nach dem Holocaust steht nämlich Israel für den Kommunismus und der Kampf gegen Israel für die Weltkonterrevolution. "Wer Israel nicht begriffen hat, wer den Haß auf diesen Staat, den Antizionismus, und wer den Antisemitismus, das heißt den Vernichtungswillen sowohl gegen die in diesem Staat lebenden als auch gegen die kosmopolitisch verstreuten Juden, nicht begriffen hat als das, was Antisemitismus wesentlich darstellt: den bedingungslosen Haß auf die Idee einer in freier Assoziation lebenden Gattung, der hat den Kommunismus nicht als das 'aufgelöste Rätsel der Geschichte' begriffen."[4] Wo sind wir hier? Im Jahre 2002 und lesen einen Einladungstext der "Initiative Sozialistisches Forum" aus dem schönen Freiburg. Welche Modifikationen dieses Statement inzwischen erfahren hat und wodurch die Argumentation aktuell verdichtet wird, entzieht sich meiner Kenntnis und meinem Interesse. Cafe Critique freut sich sicher über diesbezügliche Anfragen.

E-Mail: karl.reitter@univie.ac.at


Anmerkungen:

[1] John Bunzl: "Willkommen im Wahrheitsministerium Jerusalem", erschienen am 9.1.09
http://derstandard.at/?url=/?id=1231151481823

[2] Uri Avnery: "Geschmolzenes Blei: ein Wahlkampfkrieg", erschienen am 4.1.09
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/29/29466/1.html

[3] Stephan Grigat "Projektion - Überidentifikation - Philozionismus. Der Vorwurf des Philosemitismus an die antideutsche Linke"
Quelle: http://www.cafecritique.priv.at/Philozionismus.html

[4] http://www.isf-freiburg.org/isf/beitraege/isf-kommunismus.israel.html

Raute

Georg Gangl

Space, Place and Gender -
Raum als soziale Kategorie. Ein Überblick

Ich danke Karl Beyer, Martin Bartenberger, Elmar Flatschart, Christoph Wendler sowie insbesondere Fu Lo für ihre kritischen Kommentare zu vorhergehenden Versionen dieses Textes.


Raum als soziale Kategorie - Einleitung

Raum wird gemacht und ändert sich zum Teil rasant. Was an einem Tag noch die Prunkstraße des imperialen Wien war, kann am nächsten schon als Fanmeile ganz anderen Zwecken dienen - dem Konsum und der Beschwipsung an Trank und Nation. Was da diesen Sommer im Herzen Wiens, namentlich die Fußball-Europameisterschaft, von Statten ging, war eine der üblichen Raumnahmen im Kapitalismus. Was zuvor als öffentlich galt und allen Zutritt versprach, wird nun mit bewachten Eintrittsschleusen versehen, und schon hat sich der Charakter der Straße geändert: die Blechlawinen rollen jetzt anderswo, dafür darf auf der "Fanmeile" konsumiert werden - vorausgesetzt, das eigene Geldsäckle lässt ein solches auch zu.

Räumliche Restrukturierungsprozesse an sich finden im Kapitalismus andauernd statt. Boden als Ware bedeutet eben auch private Verfügbarkeit. Und so ist die Geschichte des Kapitalismus eine der mehr oder minder gewaltsamen äußeren wie inneren Landnahme im wörtlichen wie übertragenen Sinne. Gerade in den letzten Jahrzehnten hat aber die kritische Theoretisierung von Raum in breiterer Konzeption als sozial gemachter Kategorie deutlich zugenommen. Als Beginn dieser Entwicklung kann die so genannte "Radical Geography" (vgl. Belina/Michel 2007a; 25ff. sowie allgemein und sehr ausführlich Soja 2007) angesehen werden, welche seit den 1970er Jahren kontinuierlich versucht, Raum in kritisch-materialistischer Weise zu fassen[1]. Und insbesondere seit der Debatte um die Globalisierung gilt Raum als wichtige soziale Kategorie. Denn in dieser wird immer öfter eine so genannte "Time-Space Compression" (David Harvey) festgestellt, also eine "Vernichtung des Raums durch die Zeit" (Marx 1974a; MEW 42; 430). Viel ist darob heute auch schon von einem "spatial turn" die Rede - die materialistische Theoretisierung von Raum scheint also in sozialwissenschaftlichen Diskursen an Wichtigkeit zu gewinnen. Fest steht jedenfalls, dass die Theoretisierung von Raum, wohl angestoßen durch die Veränderungen des globalen Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten, an Terrain gewonnen hat und nun schön langsam auch schon im deutschsprachigen Kontext angekommen ist[2].

Allen diesen Theorien gemein ist dabei die folgende Prämisse: "Geographischer Raum wird als gesellschaftliches Produkt angesehen (...)" (Smith 2007; 62). Eine von der Gesellschaftlichkeit abstrahierende Ansichtsweise des Raumes, als abstraktes Koordinatensystem oder als zu befüllender Container, wird den verschiedenen Raum- wie Zeitkonzeptionen differierender gesellschaftlicher Verhältnisse einfach nicht gerecht. So sind abstrakte Fließzeit (vgl. Postone 2003; 287ff.) und abstrakter Raum Produkte der kapitalistischen Gesellschaft.

Dieser Text hat sich nun zur Aufgabe gemacht, ebenjenen Zusammenhang von Raum und Gesellschaft genauer zu ergründen. Im folgenden Kapitel wird zu diesem Zweck zuerst einmal genauer auf die physikalischen Eigenschaften von Objekten in raum-zeitlichen Verhältnissen eingegangen. Denn auch wenn Raum als Konzeption und in der Form unserer Perzeption desselbigen ein gesellschaftlich gemachter ist, so haben Dinge wie Menschen dennoch eine physische, ja räumliche Ausdehnung, welche relativ unabhängig von der je konkreten Gesellschaftlichkeit ist. Mit diesem Kapitel ist sodann die Grundlage dafür gelegt, sich genauer anzuschauen, wie "Space" and "Place", Raum und Ort, ja räumlich Globales und Lokales im Kapitalismus miteinander verstrickt sind und ineinander fließen. Es handelt sich jedenfalls, soviel sei vorweggenommen, um ein ziemlich vertracktes Verhältnis. Dieses Verhältnis korrespondiert wiederum mit einer gewissen geschlechtlichen "sozialgeographische[n] Konnotationsmatrix" (Strüver 2008; 135), wie Autorinnen wie Doreen Massey (vgl. Massey 1994) immer wieder betont haben. Auf diesen Kapiteln aufbauend, wird sodann die so genannte "Politics of Scale"-Debatte (vgl. Wissen/Röttger/Heeg 2008) genauer beleuchtet. Denn wenn Raum gesellschaftlich konstituiert ist, dann ist diese Konstitution im Kapitalismus immer auch eine herrschaftliche und von Kämpfen[3] begleitete. Verschiedene AkteurInnen versuchen ihre Anliegen nämlich auf verschiedenen "räumlichen Maßstabsebenen" (so die holprige deutsche Übersetzung von "scale") durchzuboxen, sei es nun eine BürgerInneninitiative für eine Umfahrungstraße auf der lokalen Scale, andere soziale Bewegungen wie z.B. Anti-Hartz IV-Bündnisse auf nationalstaatlicher Ebene, oder gar die globalisierungskritische "Bewegung der Bewegungen", die ja bekannterweise global denkt und (g)lokal[4] zu handeln vorgibt. Jedenfalls versuchen diese AkteurInnen die Scales durch ihr Handeln gerade auch zu verändern, um mehr Spielraum für ihre eigenen Interessen zu erhalten (vgl. Brand 2008; 173ff.). Emanzipatorische Kämpfe müssen sich also so oder so der Scale-Frage stellen. Zu guter Letzt soll in einem kleinen Exkurs noch das Marxsche Verständnis von Raum etwas erhellt werden. Denn, auch wenn Marx den räumlichen Veränderungen im Kapitalismus gegenüber, und gerade auch denjenigen, die zum Kapitalismus hingeführt haben - Stichwort "enclosures"[5] (vgl. MEW 23; 741ff.) - sehr hellhörig war, so fehlt in seinem Werk doch eine ausgearbeitete Theorie des Raumes. Ziel dieses Teils des Textes ist es, zumindest ansatzweise, die im Marxschen Werk verstreuten Anmerkungen zum Thema Raum zusammenzuführen. Am Ende dieser Arbeit finden sich auch noch Anmerkungen zu den möglichen Grenzen einer Theorie des Raumes, wie sie insbesondere von Andrew Sayer immer wieder benannt und betont worden sind (vgl. Sayer 2000; 161ff, sowie Sayer 2004; 262).

Aber was ist nun der kapitalistische Raum wirklich? Wir können uns hier zu anfangs dieses Textes vorläufig mit der folgenden überbordenden Definition zufrieden geben, die ein bissl was von jeder kritischen Raumdefinition enthält: "Als historisches Produkt von Staat, Kommodifizierung, disziplinärem rationalistischem Wissen und Phallozentrismus, verkörpert der abstrakte Raum die Widersprüche der verräumlichten, linearen Zeit des Kapitalismus (...)" (Kipfer 2008; 100, Fn. 5). So weit, so (un)klar.


Physikalische Voraussetzungen

Raum wird gesellschaftlich gemacht, so wurde bereits zu Anfang dieses Textes eingeleitet. Aber alle Dinge, die sich so im Raum breitmachen, haben eine physische Ausdehnung, jenseits der gesellschaftlichen Vermittlung; diese ist jener bereits vorausgesetzt. "All matter has spatial extension, possibly a certain capacity for mobility, and sometimes a particular shape or geometry as a necessary condition of it being that kind of thing" (Sayer 2000; 110). Dinge, Menschen inklusive, haben also gewisse "powers", "liabilities" and "properties", die sich aus ihrer physischen Konstitution als ebensolche speisen (vgl. Bhaskar 2008; 229ff., sowie Bhaskar 1998; 35ff.). Die Konsequenzen daraus sind einfach zu ziehen: auch wenn Raum gesellschaftlich produziert wird, so ist nicht alles an ihm eine "Konstruktion" (um einen Begriff zu wählen, der gerade sehr en vogue ist - auch wenn ich ihn für einen zwar schillernden, aber doch irreführenden Begriff halte); Dinge haben nun mal verschiedene eigene - materielle - Eigenschaften[6], und diese wirken restringierend wie ermöglichend auf die einzelnen Raumordnungen. Viel Konkreteres lässt sich auf dieser Ebene auch schon nicht mehr sagen, da verschiedenen Dingen eben grundverschiedene Eigenschaften zukommen, und in den konkreten geographisch-sozialen Settings deren physische "powers" zusammenkommen und kombiniert werden. "Die Integration eines einstmals isolierten Produktionsortes in eine nationale oder internationale Ökonomie ändert zum Beispiel nicht dessen absolute Verortung" (Smith 2007; 68), oder, daran anschließend, an den physischen Gegebenheiten desselbigen Produktionsortes. Dennoch wird diese Firma mit ihren "powers" - physischen wie gesellschaftlichen - dank dieser Integration nun besser an den (Welt-)Markt angeschlossen sein, und dementsprechend erhöhen sich ihre Chancen der Plusmacherei.

Nun gehört zu den physikalischen Voraussetzungen aber nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit. Raum und Zeit sind, der modernen (Einsteinschen) Physik gemäß, nur in Relation zueinander zu konzeptualisieren (vgl. Massey 1994; 260ff.[7]); sie, Raum und Zeit, sind "inextricably interwoven" - d.h. "both space and time must be constructed as the result of interrelations" (Massey 1994; 261). Auch wenn beide nun nur zusammen als "space time" auftreten, so sind Zeit und Raum dennoch auch unterschieden. Während Zeit immer, jenseits der gesellschaftlichen Bedingtheit der konkreten Zeitform, nur eine einzige Dimension hat (vorher - nachher), hat der Raum deren drei. Darob gilt: "[M]ovements are reversible in space, but time is irreversible; and while many things can exist at the same time, two things cannot exist in the same place at the same time (the property of physical exclusivity)" (Sayer 2000; 111). Die "physische Exklusivität" selbst ist also ein weiterer restringierender, sprich einschränkender Faktor der gesellschaftlichen Schaffung von Raum, und auch hier gilt natürlich, dass verschiedene "Dinge", Menschleins wiederum inklusive, verschiedene Formen der Exklusivität in ihrer materiellen Ausdehnung beinhalten (vgl. auch Giddens 1997; 162f.). "Alles gesellschaftliche Leben vollzieht sich in, und ist konstituiert durch, Überschneidungen von Gegenwärtigem und Abwesenden im Medium von Raum und Zeit. Die physischen Eigenschaften des Körpers und des Milieus, in dem er sich bewegt, geben dem gesellschaftlichen Leben unvermeidlich einen seriellen Charakter und begrenzen den Zugang zu räumlich abwesenden anderen" (Giddens 1997; 185, Hervorhebung i. O.).

Es hat dementsprechend keinen Sinn, Zeit gegen Raum auszuspielen, wie dies in manchen als postmodern verschrienen linken Theorien geschieht[8]. Weder ist das Räumliche die Arena der Unbeweglichkeit, in der nichts geht - schon gar keine (anti-)politisch emanzipatorischen Anstalten -, noch ist die Zeit das genaue Gegenteil - die Dynamik und damit die Form, in der Emanzipation von Statten gehen kann und soll[9]. Diese ideologischen Ansichten des starren Auseinanderdividierens haben ebenso ihre gewisse Grundierung in der Physik, nämlich der Newtonschen, auch wenn diese Physik bereits als überholt gilt. Denn in der Physik Newtonschen Paradigmas existieren Zeit und Raum genau als relativ getrennte Sphären, und Dinge existieren, zumindest im Popularverständnis, jenseits ihren Relationen zueinander (vgl. Bhaskar 2008; 79ff. Harvey 2006; 121ff.). "The ontology is one of atomistic (and independent) events (...). And causality is seen as the regular concomitance of such events (...)" (Bhaskar 2008; 80)[10].

Am Ende dieses Kapitels sei noch ein kleiner "Disclaimer" angebracht: physikalische Voraussetzungen sind rein solche, nicht mehr und nicht weniger. Dies sei deshalb gesagt, da momentan bestimmte Kritiken öfters vorgetragen werden, die vor jeder Form des so genannten Reduktionismus wie auch des Essentialismus warnen (vgl. kritisch dazu Sayer 2000; 81ff.). Hier wird aber keinem Reduktionismus das Wort geredet und nur für einen Essentialismus in einem sehr bestimmten und eingeschränkten Sinne plädiert. Die materielle Ausdehnung von physischen Dingen, Menschen inklusive, wenn eins so will, ihre "Essenz" mit ihren bestimmten und distinkten Eigenschaften, bleibt die Grundierung jedweder sozialen Theorie des Raumes; nicht weniger als das. Aber eben auch nicht mehr: die verschiedenen Strata der Realität (vgl. Bhaskar 2008; 181ff.), meint Schichten des "Aufbaus" der Materie, wie das Physikalische, das Chemische, das Biologische, aber auch das auf diesen aufruhende Soziale sind nicht auf einander reduzierbar (vgl. Bhaskar 1998; 97ff.). Das je einzelne Stratum, die je einzelne Schicht, hat jeweils so genannte emergente, meint überschießende Fähigkeiten dem Vorangegangenen gegenüber. Etwas aufgesetzt lässt sich hier der Spruch anbringen, dass das Ganze mehr sei als seine einzelnen Teile. Emergenz nun - "that is situations in which the conjunction of two or more features or aspects gives rise to new phenomena, which have properties which are irreducible to those of their constituents, even though the latter are necessary for their existence" (Sayer 2000; 12). Verliebte Duselei, oder menschliches Denken im Allgemeinen, beruht nun mal auf unserer Hirnaktivität, und besteht im Prinzip aus elektrischen Impulsen zwischen einzelnen Hirnzellen, ist aber keineswegs auf solche Aktivität reduzierbar. Oder um noch ein Beispiel für Emergenz zu bemühen, das der sozialen Realität näher ist und essentiell von der sozialen Struktur der Gesellschaft abhängt: eine einzelne Arbeiterin kann in ihrem Betrieb, sofern sie sich nicht freelancerisch selbst ausbeutet, kaum streiken. Viele ArbeiterInnen hingegen können, wenn ihnen etwas stinkt, aufgrund ihrer Positionierung, die sie durch die relationale Stellung in der gesellschaftlich fetischistischen Struktur innehaben (ArbeitskraftverkäuferIn - ArbeitskraftkäuferIn vulgo ArbeiterIn - KapitalistIn), streiken[11].

Nach dieser Darlegung der physikalisch-materiellen Voraussetzungen einer jeden Raumproduktion, können wir nun voranschreiten und uns ansehen, wie Raum und Ort, space and place, im Einzelnen im Kapitalismus konstituiert werden. Dies bereitet den Weg dafür, das Verhältnis von Raum und Gender genauer auszuleuchten.


Space, place...

Der Kapitalismus in seiner Akkumulation um der Akkumulation willen tendiert dazu, einen Weltmarkt zu schaffen, will meinen, in einer äußeren Landnahme sich die ganze Erde Untertan zu machen. Dies geschieht seit dem 19. Jahrhundert durch Imperialismus und (und auch schon davor durch) Kolonialismus[12], wie auch die so genannte innere Landnahme, also die Inwertsetzung immer größerer Teile der sozialen (Re-)Produktion kapitalistisch organisiert wird. Insbesondere Subsistenzproduktion ist auf diese Art und Weise in den kapitalistischen Zentren immer weiter abgeschmolzen. Ziel und gleichsam Voraussetzung des Kapitalismus ist dabei der Weltmarkt. "Der abstrakte Reichtum, Wert, Geld - hence die abstrakte Arbeit entwickelt sich in dem Maße, worin die konkrete Arbeit zu einer den Weltmarkt umfassenden Totalität verschiedener Arbeitsweisen entwickelt" (Marx 1974b, MEW 26.3; 250). Nun hat diese umfassende Weltmarktbewegung die Menschen aus ihren vormaligen Beziehungen gerissen und sie, der kapitalistischen Produktion entsprechend, als doppelt freie ArbeiterInnen, zurückgelassen. Diese mitunter gewaltsam organisierten Prozesse haben nun immer auch eine räumliche Seite. "Es ist nicht nur so, dass verschiedene Produktionsprozesse verschiedene 'Raumbedürfnisse' haben. Vielmehr wird in dem Maße, in dem die Produktivkräfte Teil der Umwelt werden, Raum gemäß den räumlichen Eigenschaften dieses Sets an Produktivkräften produziert" (Smith 2007; 72). Wichtig hierbei ist zuallererst die Überwindung räumlicher Barrieren selbst. Die kapitalistische Herstellung des Weltmarktes beinhaltet immer auch den Zugriff auf (beinahe) die ganze Welt, auch wenn weite Teile derselben im Endeffekt nicht kapitalistisch genutzt werden (können), da sie nicht unmittelbar verwertbar sind oder etwa infrastrukturelle Voraussetzungen der Verwertung fehlen. Zumindest müssen diese Teile aber prinzipiell der Plusmacherei offen stehen. Kapitalismus zeichnet sich in diesem Sinne immer als - imperialistisch induzierte - "accumulation through dispossession" (z.B. Harvey 2006; 90), also Akkumulation durch Enteignung, aus, wobei dieser Begriff ursprünglich bereits von Rosa Luxemburg zu Anfang des 20. Jahrhunderts, also im Zeitalter des klassischen Imperialismus, geprägt worden ist. Kapital auf der Suche nach Extramehrwert oder Extraprofiten jagt demgemäß um den gesamten Erdball, um immerfort ein Mehr auf neuer Stufenleiter akkumulieren zu können. Eine Voraussetzung dieses Herummarodierens ist eine ausreichende - großteils staatlich zur Verfügung gestellte - Infrastruktur (vgl. Harvey 1982; 404f.) genauso wie Transportindustrien (vgl. Marx 1963, MEW 24; 60f.), die, da Waren bekanntlich ja nicht selbst zu Markte marschieren können, diese auf die Märkte bringen. "The mobility of capital in commodity form is accomplished within a perpetually shifting framework of relative spaces since cost and time distances may be shifted out by the development of the means of transportation in a way that does not correspondent to geographical distances" (Harvey 1982; 377). Gleichzeitig ist es natürlich immer auch eine Frage nach der technischen wie der Wertzusammensetzung der Produkte selbst, ob und wie einzelne WarenproduzentInnen ihre Produktion verlagern können. Denn viele Industrien prozessieren mit einem hohen Einsatz an konstantem Kapital, welches sich zum einen erst nach längerer Zeit amortisiert und zum anderen nicht einfach so von A nach B transportiert werden kann. All diese, zum Teil gegensätzlichen Prozesse konstituieren in ihrem Zusammenspiel die räumliche Form des Kapitalismus.

Darüber hinaus ist Boden wiederum, der gar nicht "verlagert" oder gar "outgesourced" werden kann, nur in wenigen extraktiven Industrien sowie der Landwirtschaft ein Produktionsmittel selbst. Da dieser im Kapitalismus aber in Privatbesitz ist, kann er Renten abwerfen und ist natürlich den Fügungen der Rentiers selbst ausgesetzt. Die Produktion selbst ist also immerzu, mit Ausnahme der Transportindustrie, an einen bestimmten Boden gebunden - "the production of commodities is tied to a particular location for the duration of the labour process" (Harvey 1982; 388). Das Kapital ist somit beharrlich in einer gewissen Dialektik gefangen. Einerseits will es höchste Profite wo auch immer und am besten überall auf der Welt einfahren, in diesem Sinne ist es und war es immer schon ein "vaterlandsloser" Geselle; andererseits ist es aber auch auf - von ihm selbst kaum herstellbare - (räumliche) Voraussetzungen angewiesen, wie geeignetes Land, geeignete Zufuhr von Arbeitskräften, Infrastruktur und dergleichen mehr. Diese ganzen Imperative haben alle auch räumliche Auswirkungen, ja sind nur in ihrer räumlichen Form und als räumliche Rekonfigurationen denkbar. Ein Resultat dieser widersprüchlichen Bewegung des Kapitals, und diesem Resultat wurde mit Feuerkraft wie Weltordnungskriegen auf die Sprünge geholfen, ist die ungleichmäßige räumliche Entwicklung innerhalb des Kapitalismus[13] selbst. In neueren Zeiten oft als "Verslumung der Welt" (vgl. Davis 2007) bezeichnet, gehört diese Form der Entwicklung aber dem Kern des Kapitalismus an, wie schon alleinig seine Ausdifferenzierung in Zentrum und Peripherie zeigt. Nicht erst "gated communities" auf der einen Seite, und ghettohafte Slums auf der anderen in den westlichen Metropolen haben diese entfacht. Denn "[c]ompetition, we may conclude, simultaneously promotes shifts in spatial configurations of production, changes in technological mixes, the restructuring of value relations and temporal shifts in the overall dynamic of accumulation. The spatial aspect to competition is an active ingredient in this volatile mix of forces" (Harvey 1982; 393)[14].

Nun geht es aber auch darum, diese zusammenwirkenden Kräfte konkret zu bestimmen, wobei neben den globalen "forces of accumulation" wohl noch andere Elemente wichtig sein dürften. Grundsatz dabei ist weiterhin: "Simple physical distance per se does not make any difference: 100 kilometres has no effect in itself, for it depends on what kind of things constitute space (housing estates, farms, motorways, etc.) and are trying to move across it (Concorde, elderly legs, etc.)" (Sayer 2004; 259). Gerade auch deshalb, weil diese verschiedenen Dinge, die nun wirklich durch den Raum wandern, eben, wie bereits gesehen, bestimmte physikalische Eigenschaften ihr Eigen nennen können. Wie weiter oben bereits angerissen, müssen Zeit und Raum essentiell als Raum-Zeit verstanden werden - Bewegungen finden innerhalb von Räumen und in der Zeit statt. Diese Räume selbst sind nun bestimmt durch die sozialen Verhältnisse, die ebenda vorherrschen. Das Globale und das Lokale sind somit keine, gar durch den Nationalstaat, fein säuberlich getrennten Sphären. Die "forces of accumulation" wie auch andere Determinanten durchfurchen sie beide. Denn Räume bestehen "out of interrelations, as the simultaneous coexistence of social interrelations and interactions at all spatial scales, from the most local level to the most global" (Massey 1994; 264). Es kommt dann immer auf die je einzelne sozio-räumliche Konfiguration und die sie konstituierenden "powers" and "relations" an, wenn es darum geht, was als räumliche Konfiguration an einem bestimmten Ort auftritt (siehe auch das eben gebrachte Zitat von Andrew Sayer), wobei verschiedene "powers", wie diejenigen der kapitalistischen Wertverwertung, tendenziell sehr stark in diesen Prozess involviert sein werden. Räumliche Konfigurationen ergeben sich somit immer nur konkret aus dem sozioräumlichen Zusammenspiel, der in sie involvierten "powers" in ebenjenen bestimmten strukturellen Settings, wobei deren "Handeln" auch unvorgesehene Konsequenzen haben kann, welche dann - einmal getätigt - zu unhintergehbaren Voraussetzungen für weitere Handlungen werden (vgl. Sayer 2004; 262ff.). Somit ist eine jedwede räumliche Konfiguration zwar verursacht, denn sie ist ja durch ein Zusammenspiel von Ursachen eingetreten, gleichsam ist dem Raum aber auch eine "chaotische" Komponente eigen, da räumliches Aufeinandertreffen, gerade im parzellierten Raum der Warenproduktion, sehr zufällig sein kann und auch bornierten Partikularinteressen Folge leistet. D.h. "the chaos of the spatial results from the happenstance juxtapositions, the accidental separations, the often paradoxical nature of spatial arrangements which result, from the operation of all these causalities" (Massey 1994; 266)[15]. Auf den je konkret bestimmten Kontext kommt es also an. In konkreten Situationen kommen nämlich verschiedene gesellschaftliche Verhältnisse mit ihren "powers" zusammen und konstituieren das, was als konkreter Raum, als konkrete räumliche Konfiguration an einem gewissen Ort aufgefasst werden kann. Diese Konstitution ist mitnichten eine rein lokale Sache. Denn im Lokalen ist oftmals das Globale bereits enthalten. Die Gentrifizierung eines x-beliebigen Bezirkes einer europäischen Großstadt wird zwar wohl auch von semilokalen AkteurInnen vorangetrieben werden, genauso ergibt sich aber auch ein Zusammenhang mit größeren vom Weltmarkt diktierten Imperativen[16].

"Places" sind also keineswegs die unschuldigen Plätze der einsam-biederen Lokalität. Raum im Kapitalismus - reale Orte wie auch das Globale - ist aber auch zerfurcht von Machtrelationen, und verschiedene Individuen und Gruppen haben verschiedentliche Möglichkeiten, sich in diesen - sozial konstituierten - Räumen zu bewegen, in ihnen Anerkenntnis zu finden, was manchmal auch einfach nur meint, ebenda sichtbar zu sein[17]. Internationale Migrationsregime, wie dasjenige der Abschottung der EU, legen beredtes Zeugnis davon ab. Aber dies trifft auch auf kleinteiligere Arrangements zu, wie z.B. einzelne Firmen. Auch dort verdingen sich mehrere Menschen in einem Bürokomplex. Dass nun bei einer Investmentfirma ein Börsenbroker arbeitet, dürfte allgemein bekannt sein; dass dort im selben Gebäude und in denselben Räumlichkeiten auch die vielleicht bereits outgesourcte Putzfrau täglich ihren Dienst tut, erscheint jedoch nicht im Blickfeld oder gilt als allzu selbstverständlich (vgl. Allen 2003; 102ff.). Doreen Massey hat diese Verhältnisse von Macht und Ohnmacht, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit als "power geometry" (Massey 1994; 149) beschrieben.

Gerade diese "power geometries" stellen nun sehr gut das Ineinanderwirken von Globalem und Lokalem im globalisierten Kapitalismus dar. Massey bietet hier ein sehr instruktives Beispiel aus den brasilianischen Favelas: "[T]he people, who live in the favelas of Rio, who know global football like the back of their hand, and have produced some of its players; who have contributed massively to global music, who gave us the samba and produced the lambada that everyone was dancing to last year [der Text wurde 1991 verfasst; Anm. G.G.] in the clubs of Paris and London; and who have never, or hardly ever, been to Downtown Rio" (Massey 1994; 150, Hervorhebung i. O.). Wenn dieses Beispiel die so genannte "time space compression" David Harvey beschreibt - gerade auch was popkulturell und multimedial produzierte Bilder und Konsumgewohnheiten betrifft (vgl. Harvey 2007; 48ff.)[18] -, dann ist dieser Prozess ein durch und durch ambivalenter. So können die Kids aus den Favelas heutzutage vielleicht zu einem der seriell produzierten Pop-Sternchen wie Rihanna tanzen und mit dem Arsch wackeln, und vielleicht haben sie auch den Traum, sich aus diesen Verhältnissen hinauszudribbeln; eine Anbindung an den Stadtkern, an diejenigen Gebiete, die Rio oder andere Städte definieren und ihnen oft auch einen touristisch mondänen Glanz geben, haben sie trotz allem nicht. Diese Innenstädte bleiben trotz absoluter Nähe beinah unerreichbar; sind sozial ferner Raum[19].

Orte sind also durch und durch ebenso von globalen wie rein lokalen sozialen Beziehungen konstituiert. Da hilft auch kein reaktionäres Greinen darüber, dass Orte annodazumal einmal von homogenen Gemeinschaften bewohnt worden wären. Der Alptraum von der Scholle war - kapitalistisch besehen - schon immer reine Ideologie. Sozioräumlichen Verhältnissen ist immer eine gewisse Dynamik eigen, und diese ideologischen Aufwallungen wollen gerade diese Dynamik sistieren. Für sie bedeutet Örtlichkeit immer "Verwurzeltheit" und Fixierung an diesem einen Platz. Da mag draußen der raue Wind der Globalisierung noch so stark wehen, die Identität - des "mir san mir Platzls" im österreichischen Fall - soll gewahrt bleiben. Dabei zeigen gerade die obigen Beispiele, dass Orte "can be imagined as articulated moments in networks of social relations and understandings, but where a large proportion of those relations, experiences and understandings are constructed on a far larger scale than what we happen to define for that moment as the place itself, whether that be a street, or a region or even a continent" (Massey 1994; 154).

Nachdem wir nun den verzwickten Zusammenhang zwischen Globalem und Lokalem herausgestellt haben, gerade in seinem primären Ineinandergehen durch die Akkumulationsdynamiken des Kapitals, können wir sogleich damit fortfahren, räumliche Konfigurationen im Zusammenhang mit Gender genauer uns anzuschauen.


 ...and Gender

In der Einleitung dieses Textes ist davon die Rede, dass es eine gegenderte "sozialgeographische Konnotationsmatrix" (Strüver 2008; 135) gebe. In diesem Kapitel soll nun dargelegt werden, was mit diesem Wortungetüm gemeint ist. Feministische Kritik an materialistischen Ansätzen nicht nur des Raumes hat diese sehr oft dafür kritisiert, dass sie einem "dichotomischen Dualismus" verfallen wären (vgl. z.B. Strüver 2008; 125ff., oder Massey 1994; 175ff.). Dabei wurde und wird argumentiert, dass dichotomisches Denken im Allgemeinen eine geschlechtliche Konnotation aufweise, wobei es Dichotomien eigen sei, dass ein Teil dieser zumeist als der dynamische und superiore dargestellt wird; der Andere jeweils als dessen Gegenteil, Genderzuordnung ebenso gleich inklusive. "For within this kind of conceptualization, only one kind of terms (A) is defined positively. The other term (not-A) is conceived only in relation to A, and as lacking in A" (Massey 1994; 256). Diese dichotomische Struktur findet sich nun laut Massey auch bei den ideologischen Konzeptualisierungen von Zeit und Raum, die - wie wir bereits weiter oben gesehen haben - dazu tendieren, beide Kategorien auseinander zu reißen und starr gegenüber zu stellen. "There is a whole set of dualisms whose terms are commonly aligned with space and time. With time are aligned History, Progress, Civilisation, Science, Politics and Reason, portentous things with gravitas and capital letters. With space on the other hand are aligned the other poles of these concept: stasis, ('simple') reproduction, nostalgia, emotion, aesthetics, the body" (Massey 1994; 257). Diese Dichotomie mit ihren gerade eben aufgezählten Eigenschaften hat nun laut Massey ebenso einen ganz klaren Gender-Bias. Zeit als Bewegung, Dynamik, ja Transzendenz des Faktischen überhaupt, ist männlich konnotiert, während Raum in Ermangelung der oben genannten Eigenschaften Stasis und Unbeweglichkeit, reine Immanenz und konkrete Körperlichkeit darstellt und dem Weiblichen zugeordnet wird. Aber auch innerhalb des Räumlichen selbst tritt dieser Gender-Bias nochmals in gleicher Form zutage: Während das Globale hier den Platz der Zeit einnimmt und in vielen Diskursen als das Dynamische gilt, ist der "Ort", das Lokale, Frauen zugeordnet, wiederum mit Attributen wie: Heim, Nostalgie, Stabilität, Authentizität, Kleinod oder gar Scholle. All diesen Gender-Zuordnungen ist gemein, dass die dem Weiblichen zugeschriebenen Eigenschaften immer als "lack" (Mangel) des Männlichen und prinzipiell inferior gelten, wobei die männlichen Attribute sodann den Part des Aktiven einnehmen und die weiblichen als Passiva verbleiben. Die passiven Eigenschaften des Weiblichen sind demnach diejenigen des Lokalen oder auch der Natur[20]. Der Mann ist Kultur oder auch beinah gleichbedeutend Ratio, die Frau Natur oder Emotionalität, kurz: das Gegenbild zur Ratio. Der Mann geht hinaus in die Welt, ins räumlich Globale, und verändert sie auch als handelndes Individuum, die Frau bleibt zu Hause, räumlich gesehen also ans Lokale gebunden, und hütet Kind und Küche (früher auch noch verstärkt dank der ideologischen Schützenhilfe der Kirche - die berühmten 3 Ks.)[21] [22]. Dass nun das Globale keineswegs dem Lokalen in einer starren Differenz gegenübergesetzt werden kann, wurde hier schon argumentiert.

Und de facto gehen natürlich auch Frauen hinaus in die weite Welt, wenn auch immer wieder eingeschränkt von Männern. Die "power geometries" von Frauen sind nun mal ganz andere als diejenigen von Männern. Gesellschaftlich gemachte Räume können für die einen, in der absolut überwiegenden Mehrheit Frauen, von erheblicher Gefahr sein, für andere wiederum nicht (die so genannten Angstraumstudien haben dies auf beeindruckend und gleichsam erschreckende Weise veranschaulicht - vgl. dazu Strüver 2008; 132). "Occupying a particular space and time can be a way of claiming a gendered identity, as in the case of working class adolescent boys' claim to freedom of the streets. And being in the 'wrong' place or time can therefore challenge gender roles themselves (the lone woman in the pub)" (Sayer 2000; 116). So ist es auch ein anderes bekanntes Beispiel, dass Frauen aus ländlichen Gegenden in Städte migrieren, um den patriarchalischen und repressiven "power geometries" am platten Land - Räumen in denen sie eingeschränkt und überwacht werden - zu entfliehen. Die Stadt in ihrer Anonymität, trotz der ebenso hohen vielleicht sogar höheren potenziellen Gefahr Opfer von Gewalt zu werden, bietet einfach mehr Entfaltungsmöglichkeiten jenseits von repressiver Kontrolle (für weitere Beispiele vgl. Massey 1994; 185ff.).

An diesem Punkt angekommen können wir nur fortfahren mit einer Darstellung der "politics of scale" Debatte. Auf dieser Ebene nämlich, nachdem wir bereits die strukturellen wie physischen Bedingungen für die soziale Konstitution von Raum herausgearbeitet haben, lässt sich nun unser Augenmerk darauf richten, wie soziale AkteurInnen auf den verschiedenen "räumlichen Maßstabsebenen" (Scales) handeln, "power geometries" einsetzen und diese genauso wie die Scales selbst zu ändern trachten.


Politics of Scale

Räumliche Maßstabsebenen sind nun als sozial gemachte Kategorien keineswegs für alle Zeit hin fixiert. AkteurInnen mit verschiedenen Zielen und Interessen arbeiten daran, sich innerhalb der räumliche Maßstabsebenen in einer ihnen vorteilhaften Art und Weise zu bewegen. In Zeiten des Fordismus galt nun der Nationalstaat als die unhintergehbare Scale schlechthin[23]. Der Staat schien alles unter seinen Fittichen zu haben, soziale Bewegungen und andere AkteurInnen mussten sich auf dessen Ebene, der nationalen Scale[24], herumschlagen. Heutzutage in Zeiten der so genannten Globalisierung sind andere Scales wiederum von Bedeutung, insbesondere wird immer wieder das Globale herausgestrichen. Grundsätzlich geht es "um die Frage, welche Interessen wie auf welcher Maßstabsebene institutionalisiert werden" (Wissen 2008; 9).

Die Debatten um die "politics of scale" haben deshalb auch in den letzten Jahren sehr an Fahrt gewonnen. Gerade in solchen Diskussionen wie derjenigen der Globalisierung oder der Normierung der EU ist die Scale-Frage von essentieller Bedeutung. Wenn auch nicht direkt ausgesprochen und wohl auch verschwiemelt spielt die Scale auch in den Debatten um "Multi Level Governance" (vgl. Brand 2008; 170ff.) oder der Frage nach der Natur der EU - Stichwort Staatenverbund, Verdichtung zweiter Ordnung oder doch neuer Superstaat - eine erhebliche Rolle.

Nun sind räumliche Maßstabsebenen selbst nichts anderes als gesellschaftliche Produkte, auch wenn die einzelnen Scales nicht unmittelbar von den AkteurInnen in einem praktizistisch verstandenen "doing scale" gemacht, ja gar konstruiert werden[25]. Die AkteurInnen, die an der Veränderung von "scale" beteiligt sind, sind dennoch mannigfaltig. Nationalstaaten sind hier z.B. genauso involviert wie soziale Bewegungen oder mehr oder minder multinationale Konzerne. Sie alle versuchen, Entscheidungen auf denjenigen Maßstabsebenen zur Entscheidung zu bringen, auf denen sie am meisten Einfluss haben. "Scales [werden] durch eine Unzahl von - manchmal absichtlich, manchmal ziellos vollzogenen - sozialen, ökonomischen und kulturellen Handlungen gesellschaftlich produziert und reproduziert" (Mahon/Keil 2008; 39). Dieser Prozess wird auch "Scaling" genannt. Dieses Scaling wiederum entwickelt seine Dynamik nun tendenziell um gewisse "skalare Zentren" herum. Diese Zentren werden mit regulationstheoretischem Zungenschlag oft auch "scalar fixes" genannt. Diese "können entstehen, wenn interskalare Beziehungen vorübergehend um eine verhältnismäßig etablierte skalare Arbeitsteilung herum stabilisiert werden" (Brenner 2008; 76). Im Fordismus war eben nun der Nationalstaat die zentrale räumliche Maßstabsebene und damit in gewisser Weise "scalar fix"; heutzutage scheint sich hier ein "shift" zur globalen Maßstabsebene abzuzeichnen, und einen stabilen "fix" scheint es gar nicht mehr in der altbekannten Form zu geben. Dennoch kann hier die nationale Scale in diesem Prozess genauso wie alle anderen, etwa das Lokale, nicht völlig ins Abseits gedrängt werden, sondern eben nur an Relevanz verlieren. Der Staat spielt somit in der Institutionalisierung von Scales weiterhin eine pfundige Rolle. Viel ist deshalb insgesamt in letzter Zeit auch von einer "multiskalaren Perspektive" die Rede, welche die fordistische Fixierung auf den Nationalstaat hinter sich lässt, gleichsam aber die verschiedenen räumlichen Maßstabsebenen miteinander vermittelt, ohne notwendigerweise vom absoluten Primat einer einzigen Scale auszugehen. Der Neoliberalismus lässt sich in Fragen des gesellschaftlichen Raumes auch dahingehend verstehen, dass er die etablierten skalaren Beziehungen zugunsten von Kapitalmobilität und Standortkonkurrenz verschoben und den ziemlich stabilen "scalar fix" des Fordismus aufgebrochen hat.

Das Ineinandergreifen und Überlappen der unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen erlaubt es gewissen sozialen AkteurInnen auch, in emanzipatorischer Absicht oder auch nicht, in gewisser Weise zwischen den Scales hin- und her zu wechseln. "Jumping scale" (Neil Smith) ist hierbei das Zauberwort und meint nichts weniger, als dass "soziale Akteure, die die existierenden Kräfteverhältnisse herauszufordern trachten, oftmals 'Scale' in ihre strategischen Repertoires einbeziehen und räumliche und gesellschaftliche Dimensionen (nach oben oder nach unten) wechseln, um sich einen Vorteil zu verschaffen" (Mahon/Keil 2008; 52, Hervorhebung i. O.). In diesem Sinne kommt "scaling" und "scale jumping" eine wichtige Rolle in der fortwährenden "Regulation" der gesellschaftlichen Verhältnisse zu. Gegen ein unreflektiert-praktizistisches Verständnis von "doing scale" bleibt aber zu sagen, "dass die allermeisten Menschen und Kollektive solche [politics of scale; Anm. G.G,] nicht betreiben, sondern eher die Auswirkungen der Herstellung von Scales und des Agierens entlang verschiedener Handlungsebenen erleben" (Brand 2008; 182, Hervorhebung i. O.). Je nach Stellung in der gesamtgesellschaftlichen Struktur, und den einem/r dadurch zukommenden "powers" samt "geometries" gestaltet es sich als ungemein schwierig, überhaupt daran zu denken, räumliche Maßstabsebenen in irgendeiner Form zu verändern. Frauen, Minderheiten und Menschen aus dem globalen Süden sind in dieser Hinsicht besonders benachteiligt. Die Migrationsströme nach Europa, die nur allzu oft tödlich enden, legen davon Zeugnis ab. Dabei wird nun auch anschaulich, dass die Produktion räumlicher Maßstabsebenen - die skalare Praxis - ein gesamtgesellschaftliches Verhältnis darstellt. Es wird also Zeit sich - mit Hilfe Marxens - die gesamtgesellschaftlich fetischistische Konstitution der Gesellschaft anzusehen.


Skalare Praxis: Splitter zu Marx und Raum

Innerhalb materialistischer Raumtheorien gilt es als mehr oder minder klar, dass Marx (und Engels) räumliche Veränderungen zwar als wichtig anerkannten, Raum als soziale Kategorie in ihrer Theorie aber nicht in einer zureichenden Form Berücksichtigung gefunden hat (vgl. z.B. Belina/Michel 2007; 8). Vielmehr priorisierte Marx in seinen Schriften die (abstrakte) Zeit, weil diese ja als "gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit" (vgl. Marx 2005, MEW 23; 49ff.) das Wertmaß selbst bildet. Dennoch sind beide natürlich den räumlichen Veränderungen und Rekonfigurationen gegenüber, die der Kapitalismus ins Werk setzt, sensibel. Engels beschreibt bereits in der "Lage der arbeitenden Klasse in England" (Engels 1957, MEW 2; 225-506) das reale, gerade auch räumliche Elend, in welches das englische Proletariat durch die kapitalistische Ausbeutung gestoßen wurde. Dabei stößt er auch auf das Phänomen der raschen Urbanisierung[26], oder weniger blumig und mehr heutig formuliert, auf die Entstehung von verslumten (Vor-)Städten: "Oft freilich wohnt die Armut in versteckten Gässchen, aber im allgemeinen hat man ihr ein apartes Gebiet angewiesen, wo sie, aus den Augen der glücklichen Klassen verbannt, sich mit sich selbst durchschlagen mag, so gut es geht" (Engels 1957, MEW 2; 259, siehe insbesondere auch 284ff.).

Marx selbst widmet den elendigen Wohnbedingungen der ArbeiterInnen gelegentliche Randbemerkungen im Kapitel um den "Normalarbeitstag" (Marx 2005, MEW 23; 279-321) im ersten Band des Kapitals. Seine expliziten theoretischen Überlegungen zu räumlichen Settings finden sich dann aber im zweiten Band selbigen Werkes. Dort geht er auf die Notwendigkeit des Transports der Waren ein und der Frage nach der Wertzusetzung dieser "Transportarbeit" durch Ortsveränderung[27] (vgl. Marx 1963, MEW 24; 150-153) nach, da Waren nun mal einfach nicht selbst auf den Markt spazieren können. Marx erwähnt in dieser Erörterung auch, eigentlich nur en passant, dass verschiedene Dinge natürlich ihre "physikalischen Eigenheiten" haben; der Transport durch Raum und Zeit also auch auf diese Rücksicht zu nehmen hat (vgl. Marx 1963, MEW 24; 151). Schließlich spricht er in diesem Teil des zweiten Bandes des Kapitals die Zerfurchung und Vermüllung der Landschaft an, die durch eine entwickelte Transportindustrie vorangetrieben wird und gerade heutzutage in Zeiten von Globalisierung und überbordendem (Individual-)Automobilismus besonders frappant erscheint. Denn die kapitalistische Produktionsweise "vermehrt den Teil der gesellschaftlichen Arbeit, lebendiger und vergegenständlichter, der im Warentransport verausgabt wird, zuerst durch Verwandlung der großen Mehrzahl aller Produkte in Waren, und sodann durch die Ersetzung lokaler durch entfernte Märkte" (Marx 1963, MEW 24; 153). Der um die halbe Welt geschickte Joghurtbecher lässt grüßen[28].

Was Marx aber auch ganz klar macht, ist, welche Voraussetzungen es zur Schaffung des abstrakten kapitalistischen Raumes bedarf, der ja immer mehr von der Zeit aufgefressen oder eingesogen zu werden scheint. Raum muss nämlich unter privater Verfügungsgewalt stehen; er muss folglich Warenform annehmen. Dies geschah und geschieht partiell, großteils imperialistisch induziert, auch noch durch die so genannte "ursprüngliche Akkumulation" (vgl. Marx 2005, MEW 23; 741-792). Denn wenn Raum nicht als solcher abstrakt erfasst und unter private Verfügungsgewalt gestellt ist, gibt es keine ArbeiterInnen, die ihre Arbeitskraft bei Strafe des Untergangs verkaufen müssen. Marx macht genau dieses Faktum nochmals im wenig rezipierten 25sten und letzten Kapitel des ersten Bandes des Kapitals klar. Dort zeigt er nämlich am Beispiel der Kolonien, dass, sofern plattes Land nicht Warenform angenommen hat, es keinen (Überlebens-)Anreiz für ArbeiterInnen spendet, in die Fabrik zu gehen. "Anders in den Kolonien. Das kapitalistische Regiment stößt dort überall auf das Hindernis des Produzenten, welcher als Besitzer seiner eignen Arbeitsbedingungen sich selbst durch seine Arbeit bereichert statt den Kapitalisten" (Marx 2005, MEW 23; 792). Hier braucht es dann schon den Zwang des Staates, um die ArbeiterInnen und den Boden jeweils der Ware Untertan zu machen[29].

In Anschluss an Marx könnte eins nun die Schaffung der verschiedenen räumlichen Maßstabsebenen "skalare Praxis" (Belina 2008; 106) nennen. Dabei gilt es zu verstehen, dass es verschiedene Raumformen gibt, von denen manche, wie der reine physikalische Raum, relativ unabhängig sind von anderen, ja diesen sogar vorangehen. Denn die physikalische Ausdehnung von Dingen, Menschen inklusive, und andere nicht minder physikalische Eigenschaften dieser gehen - wie wir gesehen haben - der sozialen Raumproduktion in absolutem Sinne voraus. Diese physikalischen Eigenschaften sind grundsätzlich für die soziale Herstellung von Raum (vgl. grundlegend Bhaskar 2008; 12ff.), für skalare Praxis an sich, wiewohl ebenjene Produktion nicht auf diese Voraussetzungen reduziert werden kann. "Skalare Praxis" als Begriff legt nun nahe, dass sozialer Raum unmittelbar praktisch konstituiert, vielleicht sogar konstruiert würde. Dies wird er aber mitnichten in einer individualistischen Art und Weise, gar als unmittelbare Performanz oder ähnliches. Die meisten Leute betreiben nämlich gar keine "politics of scale"; ihre Handlungen werden vielmehr von diesen Maßstabsebenen selbst erst ermöglicht wie gleichzeitig restringiert, auch wenn die Ebenen selbst ohne ihr - gesamtgesellschaftliches - Handeln selbst nicht existieren würden (zur Erklärung des allgemeinen Verhältnisses von Struktur und Handlung vgl. Bhaskar 1998; 31ff.). Die Konstitution von räumlichen Maßstabsebenen, wie etwa der nationalen oder gar der globalen des Weltmarktes, ist immer ein gesamtgesellschaftlicher Prozess und nur als solcher zu begreifen und zu dechiffrieren. Wenn Belina (2008; 117) nun schreibt: "Räumliche Maßstabsebenen des Sozialen liegen nicht 'an sich' vor, sind aber auch nicht auf reine Blickwinkel zu reduzieren, sondern werden im sozialen Prozess als gesellschaftliche Wirklichkeiten produziert, die es zu erklären gilt" - dann trifft er damit aber nur die halbe Wahrheit. Denn natürlich gäbe es keine sozialen Scales, wenn diese nicht durch "die skalare Praxis" der Menschen hindurch (re-)produziert würden. Für die Einzelnen in diesem fetischistischen Prozess liegen die "scales" aber sehr wohl als Voraussetzung "an sich" vor. Die Reproduktion derselbigen ist nämlich eine gesamtgesellschaftliche und stellt sich gerade so dar, dass sie über die allermeisten Menschen als eine Art "Restriktion" hereinbricht. Dies zeigt schon an, worauf sich die Analyse zu richten hat. Handeln im Kapitalismus findet nämlich nicht alleinig so statt, dass eine "materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen", wo auch immer die Kräfte der Verhältnisse herstammen mögen, die sozialen Beziehungen alleinig konstituieren würde. Kurzum das Handeln ist zwar Ausgangspunkt aller Gesellschaftlichkeit; dieses Handeln geschieht aber unter unfreien und einschränkenden Bedingungen - "[d]ie Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen" (MEW 8; 115). Nun ist die Form von Unfreiheit im Kapitalismus aber eine spezifische - nämlich die der Herrschaft des Wertes und seiner Verwertung. Dies bedeutet gerade auf die Ebene der gesellschaftlichen Synthesis vorzudringen. Und diese bilden die Menschen im Kapitalismus eben in einer unbewussten gesamtgesellschaftlichen Handlungs- und Praxisform. "Solange die menschliche Gesellschaft nicht zum Selbstbewusstsein als 'Verein freier Individuen' gelangt ist, der die Bedingungen und Folgen seines gesellschaftlichen Handelns immer schon mitreflektiert und in freier, bewusster Entscheidung über die Realisierung seiner Möglichkeiten bestimmt, - solange verdichten sich die Verkettungszusammenhänge auch immer wieder zu blinden Handlungsmustern, zur Matrix einer 'zweiten Natur', die sich den Individuen gegenüber verselbstständigt und wie ein 'Ding da draußen' erscheint" (Kurz 2005; 206, Hervorhebung i. O.). Eine praktische Änderung der "scales" müsste sich gerade auch auf diese fetischistische Ebene konzentrieren und wohl auch in einem Prozess der allgemeinen Emanzipation dorthin vorkämpfen.

Dies bedeutet umgekehrt natürlich nicht, dass nicht auch das Handeln gewisser AkteurInnen in kleinerem Rahmen Auswirkungen zeitigen können. Das tun diese sehr wohl. Sie verändern die räumlichen Maßstabsebenen ja auch durch ihr Handeln - eins denke nur an die Globalisierung. Die Form ist diesen Veränderungen aber bereits vollends vorausgesetzt. Und diese Form bleibt eben durch diese Änderungen hindurch die gleiche, und Raum auf welcher räumlichen Maßstabsebene auch immer bleibt somit ein verdinglichter der unmittelbaren Praxis vorausgesetzter.


Conclusio - Von den Grenzen des Raumes und durchsichtiger partizipatorischer Zugänglichkeit

In diesem Text wurde bisher immer darauf insistiert, dass Raum von Wichtigkeit sei. Soziale Prozesse haben unweigerlich auch eine räumliche Seite, und diese sollte bei Analysen kurzum nicht vergessen werden - "there is no such thing as non spatial processes" (Sayer 2000; 121). Besonders Andrew Sayer argumentiert nun, dass die Theoretisierung von Raum zwar essentiell sei, es aber dennoch so etwas gäbe wie eine "spatial flexibility or contingency" (Sayer 2000; 126). Damit ist gemeint, dass sich viele soziale Prozesse in mehreren räumlichen Konstellationen ausdrücken können. Räumlichkeit in diesem Sinne also keinen wirklichen Unterschied macht. Räume und Räumlichkeit an sich sind in vielen sozialen Prozessen nur von sekundärer Bedeutung. Im Prinzip ist Sayers Einwurf nur ein Plädoyer dafür, soziale Beziehungen als "powers" und "tendencies" zu konzeptualisieren (vgl. allgemein zu diesem Ansatz Bhaskar 1998; 1ff.). Denn die genaue räumlich-soziale Ausgestaltung, z.B. eines Grazer Randbezirks oder einer Wiener Einkaufsmeile, ist eben von vielen - kontingent verbundenen - Faktoren abhängig. Dennoch lassen sich eben bestimmte "powers", wie jene der kapitalistischen Produktion immanenten "forces of accumulation", auch in ihren räumlichen Auswirkungen benennen, und diese treten in konkreten Situationen dann auch mit Bestimmtheit auf - umgeben von anderen kontingenten Bedingungen. Wobei "[c]ontingent means 'neither necessary nor impossible'; it does not mean undetermined or uncaused. To say that two things are contingently related is to say that they could exist independently of one another, not that they could exist independently of everything (...). Contingency is also not to be confused with importance! Contingent may be unimportant or important" (Sayer 2000; 123f.). Sayer tritt also dafür ein, die verschiedenen "powers" auch in ihrer räumlichen Form zu untersuchen, und erst ex post lässt sich sodann sagen, ob diese auch wirklich eine Auswirkung auf die immer gegebene konkrete Situation haben, in welcher eben verschiedene "powers" real zusammenkommen (vgl. auch Sayer 2004; 262). Selbiges gilt natürlich auch für die hier im Text identifizierten Eigenschaften und kausalen Beziehungen.

Was dieser Text aber nun zeigen wollte, war, dass die räumlichen Konfigurationen des Kapitalismus vermachtete Herrschaftsverhältnisse darstellen. Strukturell durch die gerade auch räumlichen Zwänge der Akkumulation und der Warenform des Bodens wie auch auf subjektiver Ebene durch die ziseliert-hierarchischen "power geometries" einzelner Individuen und Gruppen. Die Produktion von Raum im Kapitalismus ist jedenfalls ein undurchsichtiger Prozess. Ziel müsste es nun sein, diesen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene durchsichtig zu machen, also als Zweck zu setzen, Menschen den Zugang zu Raum im hinreichenden Maße zu verschaffen - partizipatorische Zugänglichkeit zu gestalten. Jedem/jeder nach seinen/ihren Bedürfnissen bedeutet eben auch, Menschen überhaupt erst einmal räumlichen Zugang zu vielerlei Dingen zu verschaffen - eins denke nur an die Forderungen der vielgestaltigen migrantischen "freedom of movement"-Bewegungen; stets im Gedächtnis behaltend die natürlichen ökologischen Grenzen gewisser Formen von (Massen-)Mobilität, wie sie heutzutage immer deutlicher hervortreten. "We need to ask in other words, whether our relative mobility entrenches the spatial imprisonment of other groups" (Massey 1994; 151). Und da die Abschaffung der heutigen herrschaftlichen räumlichen Konfigurationen kein individueller Prozess sein kann, so sollte am Ende die allgemeine Zugänglichkeit und die Mobilität aller stehen, eingedenk ökologischer Machbarkeiten und physischer Voraussetzungen. Darunter sollten wir es eigentlich nicht geben.

E-Mail: georg.gangl@inode.at


Anmerkungen:

[1] Weitere zu nennende wichtige TheoretikerInnen, die in dem einen oder anderen Sinne Impulse für eine kritische Raumforschung gegeben haben, sind Henri Lefebvre, Michel Foucault, und David Harvey (vgl. dazu Belina/Michel 2007a; 14ff.). Besonders Letzterer, auf den sich auch Teile dieses Textes beziehen, ist für seine Theoretisierungen des Raumes in Bezug auf die sich ändernden Bedingungen kapitalistischer Akkumulation bekannt (vgl. z.B. unter anderen Harvey 1982 oder Harvey 1991).

[2] Gerade in den letzten Jahren sind in der Reihe "Raumproduktionen: Theorie und gesellschaftliche Praxis" des Dampfboot Verlages sehr brauchbare Sammelbände erschienen, die zum Teil auch Texte aus der angloamerikanischen Debatte zum ersten Mal auf Deutsch zugänglich machen (vgl. insbesondere Belina/Michel 2007 und Wissen/Röttger/Heeg 2008). Diese Arbeit fußt zu einem großen Teil auf diesen beiden Sammelbänden.

[3] Natürlich kann nicht im Vorhinein dekretiert werden, ob diese Kämpfe emanzipatorischen Charakters sind oder zumindest einen solchen Impuls haben.

[4] Anm. d. Red.: glokal/Glokalisierung - Kunstbegriff aus den beiden Adjektiven "global" und "lokal", der auf die Wechselwirkung zwischen globalen und lokalen Handlungen und Entwicklungen, Ideen und Entscheidungen verweist.Quelle: Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon. 4., aktual. Aufl. Bonn: Dietz 2006.

[5] Vgl. dazu Smith (2007; 71): "Im Übergang zum Kapitalismus stellen die Einhegungen (enclosures) [Klammersetzung i. O; Anm. G.G.] eine bemerkenswerte historische Schöpfung (...) dar. In dem Maße, in dem das Kapital seinen Einfluss ausdehnt, wird der gesamte Globus in rechtlich geschiedene Parzellen aufgeteilt, die durch echte oder imaginäre große weiße Zäune getrennt sind."

[6] Siehe auch Smith (2007; 68), der das Ganze in einem marxistischeren Vokabular auszudrücken weiß: "Die Form, in der der Gebrauchswert erscheint, seine räumliche Ausdehnung in einer, zwei oder drei Dimensionen und seine daraus resultierende Gestalt bilden seine räumlichen Eigenschaften."

[7] Der hier als Referenz geltende Artikel Doreen Masseys namens "Politics and Space/Time"(Massey 1994; 249-269) ist in dem von Belina und Michel (2007) herausgegeben Sammelband unter dem Titel "Politik und Raum/Zeit" in deutscher Übersetzung erschienen. Vgl. Massey 2007; 111-132.

[8] Ganz zu schweigen vom Gender-Bias dieser Dichotomie, in welcher die Zeit als das dynamische Element Männlichkeit repräsentieren soll und das Weibliche der angeblichen räumlichen Stasis gleichgesetzt wird. Auf diesen Punkt wird weiter unten noch genauer eingegangen werden.

[9] Doreen Massey erwähnt auch, dass einige andere postmoderne Ansätze, wie derjenige Frederic Jamesons, dieses Verhältnis genau auf den Kopf stellen, und -in Zeiten von Globalisierung und Weltmarktbeben allerorten - den Raum als das Dynamische schlechthin sehen (vgl. Massey 1994; 264ff.). Anyway, auch ein solcher Ansatz verfehlt die "Interwovenheit" von Zeit und Raum.

[10] Diese Konzeption kommt wohl nicht zufällig im 17. Jahrhundert auf. Ihr scharfer Mechanizismus und ordnender Gedanke des nicht würfelnden "Laplaceschen Dämon" begleiten die Ideologiebildung des Kapitalismus nicht umsonst für die nächsten Jahrhunderte, um dann im strikten Positivismus zu landen. All diesen Konzeptionen gemein ist (vgl. Bhaskar 2008; 79ff.), dass sie von einem atomistisch monadischen Erkenntnissubjekt ausgehen, das in einfacher Sinneserfahrung die Objekte in ihrer (immerwährenden) Regularität (Stichwort: Humesche Kausalität - vgl. Flatschart 2008; 48ff.) erkennt. Eine solche Vorstellung stinkt gewaltig nach dem "sinnfreien" abstrakten kapitalistischen Subjekt. Auf diese Diskussion kann hier aber nicht mehr genauer eingegangen werden. Siehe dazu auch Ortlieb/Ulrich 2007.

[11] Allgemeiner formuliert: "Where there are two or more objects in an internal relation, that is one in which the nature of each of the relata depends on the other(s) through their relationship itself, instead of merely being contingently or externally related, it is possible for them to develop emergent powers" (Sayer 2004; 266, Hervorhebung i. O.).

[12] Marx hat diesen Prozess wortgewaltig auf den Punkt gebracht: "Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute, bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation. Auf dem Fuß folgt der Handelskrieg der europäischen Nationen, mit dem Erdrund als Schauplatz" (Marx 2005, MEW 23; 779). Siehe auch Smith (2007; 69): "Der Prozess der Entdeckungsreisen, der dazu beitrug den Weltmarkt zusammenzufügen, wird historisch zunehmend vom Prozess des Kolonialismus überschattet".

[13] "Vast concentrations of productive power here contrast with relatively empty regions there. Tight concentrations of activity in one place contrast with sprawling far-flung development in another. All of this adds up to what we call the 'uneven geographical development' of capitalism." (Harvey 1982; 373)

[14] Harvey nennt (vgl. Harvey 1982; 373-412) noch andere durchwegs widersprüchliche Faktoren, die zum "spatial structuring" wie der ungleichen geographischen Entwicklung des Kapitalismus beitragen. Ich habe mich hier auf die meiner Ansicht nach wichtigsten Elemente beschränkt.

[15] Viele mehr oder minder trendige Stadtviertel mit Boboflair und Gentrifizierungsdruck ziehen ihren Charme gerade aus dieser chaotischen Komponente, diesem undurchsichtigen Ineinander von alt und neu, von abgewrackt und trendy.

[16] Es kommt eben immer auf die je einzelne soziale Beziehung selbst an: "Some of these relations [gemeint sind 'spatial relations', Anm. G.G.] will be, as it were, contained within the place; others will stretch beyond it, trying any particular locality into wider relations and processes in which other places are implicated too." (Massey 1994; 120)

[17] Auf den Genderaspekt dieser Relationen wird im nächsten Kapitel noch genauer eingegangen.

[18] Dieser Prozess wirkt sich, laut Harvey, auch auf die allgemeinen künstlerischen Darstellungsformen aus. Vor dem Hereinbrechen der globalisierten Welt galt in der Kunst der Geist des Modernismus: "Realist narrative structures assumed, after all, that a story could be told as if it was unfolding coherently, event after event, in time. Such structures were inconsistent with a reality in which two events in quite different spaces occurring at the same time could so intersect as to change how the world worked" (Harvey 1991; 265). Die neue postmoderne "reality" der Unübersichtlichkeit bedeutet nun in Harveys Worten: "Disruptive spatiality triumphs over the coherence of perspective and narrative in postmodern fiction, in exactly the same way that imported beers coexist with local brews, local employment collapses under the weight of foreign competition, and all the divergent spaces of the world are assembled nightly as a collage of images upon the television screen." (Harvey 1991: 302)

[19] Doreen Massey führt auch noch andere Beispiele der ziselierten "power geometries" des (globalisierten) Kapitalismus an: "Air Travel might enable businessmen to buzz across the ocean, but the concurrent decline in shipping has only increased the isolation of many island communities ... Pitcairn like many other pacific islands, has never felt so far from its neighbours" (Massey 1994; 148).

[20] Vgl. auch das bekannte Marx-Zitat aus dem Kapitel zur "trinitarischen Formel", das sich am Ende des 3. Bandes des Kapital findet: "[D]ie verzauberte, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt, wo Monsieur le Capital und Madame la Terre als soziale Charaktere, und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk treiben" (Marx 1965, MEW 25; 838). Auch in diesem Marxschen Satz, der die grundlegenden Fetischisierungen der kapitalistischen Produktionsweise polemisch anprangern möchte, findet sich die geschlechtliche Konnotation, dass das tendenziell Dynamische - das Kapital - männlich, und das tendenziell Statische - die Erde - weiblich sei. Tendenziell und nicht vollends gegeben ist diese Zuordnung hier allein deshalb, weil ja auch der Boden, den Fetischisierungen gemäß, die Marx in diesem Kapitel aufzeigen will, etwas Verwertbares aus sich heraus zu gebären scheint: nämlich Grundrente (vgl. Marx 1965; MEW 25; 790ff.); somit auch der weibliche Part nicht gänzlich als das Untätige oder gar Passive erscheint.

[21] Eine feministische Theorie, die all diese geschlechtlichen Konnotationen mit der fetischistischen Grundstruktur der kapitalistischen Gesellschaft zusammen zu denken versucht, ist diejenige von Roswitha Scholz. Vgl. Scholz 2000 bzw. Scholz 2005.

[22] Hier stellt sich natürlich auch die Frage, inwieweit Räume nicht nur gegendert, sondern auch "racialized" sind. Denn auch für gewisse "races" gilt ja, dass sie in ihrer Bewegungen eingeschränkt werden, sodass auch deren "power geometries" anders zu bestimmen wären. Speziell auch dann, wenn eins mit einbezieht, dass sich der "rationale" weiß-westliche Mann ja nicht nur in Abgrenzung zur irrational imaginierten, naturhaften Frau definiert hat, sondern auch in einer ebensolchen gegen den angeblich ebenso "naturwüchsigen Neger" wie auch den "frivolen, wenn nicht gleich schwulen, Orientalen bzw. Muselmann". Vgl. zum männlich-weiß-westlichen Subjekt allgemein Kurz 2003; 152ff.

[23] Nochmals zum Scale-Begriff selbst: "Für den Begriff Scale lässt sich im Deutschen nur schwer eine adäquate Übersetzung finden. (...). Er bezeichnet sowohl die einzelne räumliche Maßstabsebene (local scale, national scale, global scale etc.), als auch das Verhältnis verschiedener Maßstabsebenen zueinander - bzw. wie im Ausdruck Politics of Scale - die Maßstäblichkeit sozialer Prozesse" (Wissen 2008; 26, Fn. 4)

[24] Scales im Kapitalismus zeichnen sich wiederum, da sie herrschaftlichen Charakters sind, durch eine "strukturelle Selektivität" (Bob Jessop) aus. D.h. z.B. für die nationale Scale: "Particular forms of state privilege somes strategies over others, privilege the access of some forces over others, some interests over others, some time horizons over others, some coalition possible over others" (Jessop 1990; 10 zit. nach Wissen 2008; 27, Fn. 10).

[25] Allgemein zum Verhältnis von Struktur und Handeln vgl. Bhaskar 1998; 34f., 40ff., sowie zum Fetischgehalt dieser Konstitution Kurz 2005 bzw. Kurz 2007.

[26] Faktisch gehört eine rasche Urbanisierung ja zu den räumlichen Voraussetzungen gelingender kapitalistischer Akkumulation. Die ArbeiterInnen müssen den Betrieben ja in großer Zahl zur Verfügung stehen. In den Zeiten vor Automobilismus und öffentlichem Verkehr bedeutete dies natürlich auch, dass die Menschen in relativer Nähe ihrer Arbeitsstätten zu hausen hatten. Engels zur allgemeinen Urbanisierung und ihren Effekten: "Die kolossale Zentralisation, diese Anhäufung von dritthalb Millionen Menschen auf einem Punkt hat die Kraft dieser dritthalb Millionen verhundertfacht [die Rede ist von London, Anm. G.G.] (...). Die brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolierung jedes einzelnen tritt umso widerwärtiger und verletzender hervor, je mehr diese einzelnen auf den kleinen Raum zusammengedrängt sind; und wenn wir auch wissen, dass die Isolierung des einzelnen, diese bornierte Selbstsucht überall Grundprinzip unserer heutigen Gesellschaft ist, so tritt sie doch nirgends so schamlos unverhüllt, so selbstbewusst auf als in dem Gewühl der großen Stadt" (Engels 1957, MEW 2; 256f., Hervorhebung i. O.).

[27] "Was aber die Transportindustrie verkauft ist die Ortsveränderung selbst" (Marx 1963, MEW 24; 60).

[28] Anthony Giddens erwähnt noch einen Punkt, der gerade heutzutage in Zeiten von Digitalisierung und Mikroelektronisierung spannend ist - das Auseinandertreten von Kommunikations- und Transportmitteln: "Aber die radikalste Trennung, die in der modernen Geschichte von Bedeutung ist (und deren Implikationen heute noch lange nicht ausgeschöpft sind), ist die durch die Entwicklung des elektronischen Fernmeldewesens vollzogene Trennung der Kommunikations- von den Transportmitteln, die immer auf irgendeine Weise die Mobilität des menschliche Körpers vorausgesetzt haben" (Giddens 1997; 175).

[29] Die hier aufgezählten Bezüge Marxens und Engels zu Raum sind sicherlich nicht vollständig. Sie sollen nur exemplarisch darstellen, dass beide sich mit den räumlichen Umstrukturierungen des Kapitalismus beschäftigt haben, ohne eine explizite Theorie des Raumes, oder der räumlichen Formen der kapitalistischen "forces of accumulation", zu formulieren.


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Raute

Torsten Bewernitz

Das Sein verstimmt das Bewusstsein

Soundtrack: Daddy Longleg: "Crime"

"we never said we know a simple way
we never said that everything's okay
so fuckin governments shut up
so goddamn know-it-alls piss off

who the fuck knows what's going on
who brings the food, the streets, the goods
we are the workers, we know what's going on
we should know how to organize!"

(von "Barricadas", Falling Down Records 2007)


Um kaum einen Begriff ranken so viele linke Mythen wie um den des Bewusstseins. Ob Parteien, Gewerkschaften, NGOs (Nichtregierungsorganisationen) oder Autonome - unisono heißt es, um die Welt zu verändern, sei ein Bewusstsein der Verhältnisse notwendig.

Insbesondere unter Studierenden und Intellektuellen dominiert daher ein Verständnis von Bewusstsein, nach dem dieses durch Lesen und Lernen zu erwerben sei. Die Folge sind Seminare, Bücher, Abendveranstaltungen oder Beiträge wie dieser (wobei dieser, um es vorweg zu sagen, nicht Bewusstsein schaffen will, sonder in der Tat belehren). DozentInnen, AutorInnen und ReferentInnen fühlen sich folglich als VermittlerInnen dieses Bewusstseins. Sie haben sich ausführlich mit einem Thema beschäftigt, gelten als ExpertInnen für einen bestimmten Bereich und vermitteln dieses weiter. Dieses Verständnis von 'Bewusstsein' definiert den Begriff als 'politisch'. Unter den Tisch fällt das ökonomische Bewusstsein über die eigene Klassenlage. Das politische Bewusstsein kann sich als durchaus fatal erweisen, es muss keineswegs in ein Engagement führen, sondern es kann auch ein Bewusstsein sein, dass Neoliberalismus fördert oder sich als 'nationales Bewusstsein' artikuliert.

Für Intellektuelle und Studierende, die einmal Intellektuelle werden wollen (den Autoren eingeschlossen) und insbesondere für PolitikerInnen, die nicht nur in Parteien zu finden sind, ist es wichtig, sich als VermittlerInnen von 'Bewusstsein' zu verstehen, schließlich bestimmt diese Aufgabe ihr eigenes Bewusstsein: Wir haben viel Zeit damit verbracht, uns selber weiterzubilden, Spezialisten zu werden und wollen unser erworbenes Wissen nicht für uns behalten oder sind überzeugt, dass unsere 'Politik' für alle richtig ist. In diesem Punkt unterscheiden sich Autonome nur unwesentlich von Sozial- oder auch Christdemokraten.

Daran ist weniger falsch, als dieser Beitrag im Folgenden implizieren wird. Das erworbene und erarbeitete Wissen weiter zu geben ist moralische und oft auch ökonomische Rechtfertigung für die zeitliche Investition in die Bildung. Dieses nicht weiter zu vermitteln, würde die Idee der Bildung ad absurdum führen. Diese Aufgabe manifestiert das Bewusstsein der Intellektuellen.

Allein: Vorträge etwa über die 'Globalisierung', Bewegungen am anderen Ende der Welt oder Organisationsstrukturen neonazistischer Organisationen präsentieren nur angelesenes und angeeignetes Wissen. Sie sind sinnvoll, denn die Struktur der WTO oder der G8 zu begreifen, kann helfen, die eigenen Verhältnisse in einen größeren Zusammenhang zu stellen und etwa den eigenen Arbeitsvertrag anders zu sehen, die Struktur neonazistischer Organisationen erklärt evtl., warum eine Kameradschaft ein Dorffest ausrichtet, Nachhilfeunterricht organisiert o.ä. Um eine solche Veranstaltung zu besuchen oder einen Beitrag oder ein Buch zu solchen Themen zu lesen, muss ich aber bereits eine Form von Bewusstsein haben, das Verständnis, dass diese Themen etwas mit meinem Alltagsleben zu tun haben: Wenn ich eine Veranstaltung über Strukturen einer neonazistischen Organisation besuche, ist mir bereits bewusst, dass Neonazis ein Problem sind, wenn ich ein Buch über 'Globalisierung' lese, weiß ich bereits, dass diese Auswirkungen auf mein Leben hat. Solche Beiträge prägen also gar nicht das Bewusstsein, denn es ist bereits vorhanden. Sie erweitern maximal mein Wissen und fördern das Bewusstsein des anwesenden Experten. Sind die ExpertInnen mal zur Abwechslung keine SozialwissenschaftlerInnen, sondern z.B. JuristInnen, ist das für meinen Alltag sogar sehr praktisch. Aber auch dann habe ich die Veranstaltung besucht oder das Buch gelesen, weil ich bereits von der Notwendigkeit dieser Informationen überzeugt war. Oder aber ich besuche die Veranstaltung aufgrund meines eigenen Bewusstseins als Intellektueller, ich fühle mich aufgrund meiner Identität verpflichtet, mich fortzubilden oder meinen Senf zum Thema abzugeben. Vielleicht möchte ich das sogar in kritischer Absicht, weil ich anderer Meinung als die ReferentIn bin und das kundtun möchte. Ich fürchte dann, dass die ReferentIn den anderen Anwesenden ein 'falsches Bewusstsein' vermitteln könnte.

Das setzt voraus, dass wir unser Wissen für das bessere, kompetentere und letztendlich wahrere halten. Wenn die Gäste unserer Veranstaltung uns dann erzählen, dass der Nazi von nebenbei aber doch eigentlich ganz nett sei, weil er unsere Oma betreut oder unseren Sohn auf die Hüpfburg beim Stadtfest begleitet, wenn sie uns erklären, dass noch nie jemand von der WTO bei ihnen im Betrieb war, um eine neue Regelung einzuführen, dann halten wir das für ("notwendig falsches") Bewusstsein. Unser Sein als Intellektuelle hat unser Bewusstsein als BesserwisserInnen und KlugscheißerInnen bestimmt.

Vielleicht aber haben unsere Gäste recht: Der Nazi von nebenan ist möglicherweise wirklich ganz nett, hat Spaß an der Betreuung meiner Oma, beginnt deswegen demnächst sein freiwilliges soziales Jahr und ist danach längste Zeit Nazi gewesen. Wir haben Wissen über die Strukturen der neonazistischen Organisationen, aber keine Erfahrung mit dem Nazi von nebenan. Und darauf kommt es an, wenn es darum geht, Bewusstsein zu entwickeln. Was wir als Bewusstsein verkaufen, ist blanke Ideologie.

Das zeigt den Fehler an der ganzen Sache: Der Referent und ich haben genau das selbe Bewusstsein eines Intellektuellen, der Wissen angesammelt hat. Keiner von uns beiden kann mehr Bewusstsein schaffen als der oder die andere, wir präsentieren lediglich unser Wissen und unsere Meinungen. Die Übernahme dieses Wissens und dieser Meinungen halten wir dann für eine Erweiterung des Bewusstseins der weiteren Anwesenden.

Das ist schlichtweg arrogant. Und diese Arroganz ist das Dilemma der modernen Linken. Anstatt davon auszugehen, dass die Zuhörenden oder Lesenden eine andere Form von Wissen haben (das ja unbestreitbar sprachlich verwandt ist mit dem Bewusstsein) und dieses mit dem unseren austauschen, glauben wir, durch unser ExpertInnen-Wissen Bewusstsein schaffen zu können oder sogar zu müssen. Wir verwechseln Bewusstsein und Bildung. Dadurch, dass jemand überwiegend mit Menschen verkehrt, die studieren und mit Theorie umgehen, entwickelt man das eigene Bewusstsein. Wer mit Menschen verkehrt, die das nicht tun, kennt vielleicht dennoch Menschen, die ein beeindruckendes Klassenbewusstsein an den Tag legen: Nicht-Studis oder Nicht-Intellektuelle, die noch nicht Marx oder Kropotkin gelesen haben.

Die 'linken' Intellektuellen gehen davon aus, dass jedeR studiert, weil sie/er etwas wissen wollte, 'um Dinge umzusetzen'. Da liegt der Hase im Pfeffer: Sie wollten vorher schon etwas umsetzen, hatten bereits eine Idee - und die kam nicht aus dem Nichts. Sie kam aus der Schulzeit, aus der Familie, aus der Kultur, im besten Falle aus der Erkenntnis, dass das vorherige Arbeitsleben einen nicht erfüllte. Darüber hinaus vermuten 'linke Intellektuelle', alle würden deswegen studieren, sie schließen, völlig illegitim, von sich auf alle. Studieren nicht die Meisten eher, um entweder einen Arbeitsplatz zu bekommen oder aber einen besonders gut dotierten? Es geht, davon bin ich überzeugt, den wenigsten Studierenden um Wissen als solches, sondern, gerade in Zeiten des Bologna-Prozesses, bedeutet es einfach eine Ausbildung für etwas, was man später mal machen möchte - Lehrer, Manager, Professor oder leitender Angestellter. Oder aber autonomer Kommunenbewohner, der sich durch (Schein-)Selbständigkeit oder Hartz IV finanziert. Woher kommt die Idee, dass letzterer Lebensentwurf besser wäre als der einer 16jährigen Hauptschülerin, deren Zukunftsvision 'Hartz IV kriegen oder Superstar werden' ist?

Jener Hauptschülerin, die irgendwann einmal auf einem Privatsender auftauchte, wird das Bewusstsein abgesprochen, dass der autonome Kommunenbewohner in Scheinselbständigkeit haben soll. Sie basht Intellektuelle, argumentiert populistisch und wird vielleicht 'rechts'. Hat sie deswegen weniger Bewusstsein? Nein!

Wie viele ökonomische - und auf die kommt es an - linke Projekte scheitern genau daran? Weil Leute erst gar nicht mitmachen, weil der Scherbenhaufen ein Desaster nicht nur für eine Person, sondern für ein reales, ökonomisches Kollektiv - sei es eine Familie oder eine Kommune - ein Desaster darstellen könnte? Nicht umsonst betont z.B. die Streikforschung, dass über einen Streik nicht auf der Betriebsversammlung, sondern am Küchentisch entschieden wird, weil von einem ausbleibenden Lohn oder einer Entlassung nicht nur eine Person betroffen ist. Junge Linke, die vielleicht noch andere Finanzierungsquellen haben - sei es, dass sie immer wieder einen neuen Job finden oder aber Mama und Papa in der Hinterhand haben - spüren diese Bedrohung nicht dermaßen: Und darum ist die moderne Linke ein Jugendphänomen. Linke ökonomische Projekte scheitern oft genau an diesen verschiedenen Ansprüchen: Sobald eine ökonomisch attraktivere Lösung in Griffweite ist, ist das kollektive ökonomische Projekt von gestern: Man ist ja nicht weg, sondern immer noch in der Antifa, bei dem Anti-Atom- oder Kriegstreffen oder im Theoriezirkel und konstatiert dann am besten noch ein mangelndes Bewusstsein derjenigen, die dort nicht sind. Man ist enttäuscht von den GenossInnen, die bei der letzten Hausbesetzung oder Demo nicht dabei waren. Vielleicht waren sie ja arbeiten um sich oder ein Kollektiv zu ernähren? Erst kommt das Fressen, dann die Moral.

Deswegen muss die Frage erlaubt sein: Wie gehen die, die studiert haben, sich mit Theorie beschäftigen und eine 'politische' Alltagspraxis haben, mit denen um, die all das nicht haben? Sind das 'Spießer'? Oder - noch schlimmer - 'Prolls'? Mit denen man sich gar nicht auseinandersetzt? Die in der U-Bahn einfach nur nerven? Die andere Musik (Schlager) hören und Fußball besser als Yoga finden? Befinden wir uns in einer 'linken Szene', die prima miteinander klarkommt, weil da ja alle das richtige 'politische' Bewusstsein haben? Schmeißen wir Leute mit einer Deutschlandfahne auf dem Parker oder nach einem frauenfeindlichen Witz sofort aus dem autonomen Zentrum, damit wir nicht noch einmal Diskussionen führen müssen, über die wir doch schon vor 10 Jahren einen Konsens erreicht haben? Oder ganz polemisch: Haben wir unser gemütliches Plätzchen im Kapitalismus gefunden, in einer Wagenburg, einer Kommune oder einem besetzten Haus? Das alles sind Sachen, die ich durchaus gut finde, zu denen ich hin gehe, weil auch ich gerne Punk höre, mich mit Theorie auseinandersetze und auch glücklich bin, wenn ich nicht - wie am Arbeitsplatz - nach einer Kindesmisshandlung den nächsten Ruf nach der Todesstrafe hören muss oder rassistische Türkenwitze vor einem Fußballspiel. Aber das ist nicht das wahre Leben und oft langweilig. An dem Punkt wünsche ich manchmal, ich würde mich für Fußball interessieren und nicht nur für meine Arbeitsbedingungen.

Ein schönes Beispiel für das Missverständnis zwischen politischem und ökonomischem Bewusstsein sind die Studierendenproteste gegen die Erhebung von Studiengebühren: Die GegnerInnen von Studiengebühren argumentieren, dass alle Studierenden gegen Studiengebühren sein müssten, weil dadurch weniger Bildung für viele erhältlich sei. Das soll auch für Konzernbesitzertöchter und Politikersöhne gelten. Wenn diese nicht gegen Studiengebühren seien, sei das falsches Bewusstsein.

Das ist schlichtweg falsch. Das Kind des reichen Unternehmers hat ein immenses Bewusstsein davon, dass es selber keinen Schaden durch Studiengebühren hat, vielleicht sogar einen Nutzen, wenn weniger Arbeiterkinder studieren und die Lehrenden dadurch mehr Zeit für ihn oder sie. Notwendig falsch ist sein oder ihr Bewusstsein höchstens in dem Sinne, dass das Unternehmerkind automatisch davon ausgeht, später eine gehobene Position einzunehmen und keine ökonomischen Probleme zu haben. Hintergrund ist aber nicht, dass ihnen niemand erklärt hat, dass sie jederzeit plötzlich ArbeitnehmerInnen werden können, sondern, dass sie diese Erfahrung nie gemacht haben. Ihr Bewusstsein ist ihrer aktuellen Situation durchaus angemessen.

Ein ganz anderes Beispiel: Stellen wir uns eine Ärztin vor, die aufgrund massiver geschlechtlicher Diskriminierung entscheidet, ihren Job in einer Klinik aufzugeben und sich selbstständig zu machen, um nicht weiter vom mangelnden Wohlwollen alter männlicher Chefärzte abhängig zu sein, die der Meinung sind, das Frauen nicht operieren können. Sie kommt aus besserem Hause, hat 1968 studiert, setzt sich für Minderheiten ein und liest Marx und Sartre. Mit der neuen eigenen Praxis sieht sie sich der Situation ausgesetzt, Büro- und Reinigungskräfte einzustellen. Diese erwarten einen gewissen Lohn, Urlaub etc., keineswegs bahnbrechende Forderungen, sondern die arbeitsrechtlich garantierten Mindeststandards. Dennoch fühlt sich die Ärztin nach einer gewissen Zeit über den Tisch gezogen, entwickelt eine entsprechende Aversion gegen Gewerkschaften und Parteien, die Gewerkschaftsforderungen unterstützen. Sie hatte guten Grund, selbstständig zu werden, spendet jährlich an Greenpeace oder amnesty international. Obwohl sie diese Praxen weiterhin beibehält, entwickelt sie ein Bewusstsein dafür, dass sie ihre Angestellten ausbeuten muss. Sie entwickelt ein Klassenbewusstein - und zwar das für sie durchaus richtige. Kein Grund, sie zu verachten, denn ihre Handlungsmotivationen sind vollkommen nachvollziehbar.

Sie hat sich bei aller Sympathie für Befreiungsbewegungen und bei aller Empathie für soziale Gerechtigkeit durch ihr Leben und ihr Studium einen gewissen Lifestyle angeeignet (den Bourdieuschen Habitus), den sie nicht missen möchte und über den sie nicht hinaus denken kann. Darüber hinaus hat sie vielleicht Familie, die mit ernährt werden muss. Sie ist vielleicht mit den Ansprüchen in ihre Selbständigkeit hinein gegangen, eine Gemeinschaftspraxis mit egalitärer Bezahlung zu gründen. Es hat aber nicht gereicht, erstens, legitimer Weise, nicht für die Familie und zweitens, nicht so legitim, weil sie ihren Lebensstil nicht ändern wollte - zum Teil aber auch, folgt man dem Bourdieuschen Habitus-Begriff, weil sie nicht konnte. Ein kollektives Projekt, das so unsicher ist, dass es nach einigen Jahren scheitern könnte, kam gar nicht erst in Frage, denn das hätte das familiäre Kollektiv gefährdet. Ihre Klasseninteressen haben sich massiv verändert, und das war ökonomisch auch nicht anders möglich. Trotz dieses Verständnisses muss ich aber als Putzkraft in der selben Praxis gegen sie intervenieren, wenn ich auch nur einen Funken Bewusstsein habe.

Einige der ReferentInnen und BesucherInnen linker Veranstaltungen und LeserInnen linker Bücher und Zeitschriften werden sich genau so entwickeln wie in diesem fiktiven Beispiel. Das Wissen aus den Veranstaltungen und Büchern steht ihnen nach wie vor zur Verfügung, ebenso das T-Shirt mit dem roten Stern, das Palästinenser-Tuch, der Kapuzenpulli und die anderen Symbole vermeintlich 'linken' Bewusstseins. Am notwendigen Verhalten ändern diese Symbole gar nichts. Falsches Bewusstsein haben sie dann, wenn sie trotz ihrer ökonomischen Position weiterhin jeder Lohn- und Urlaubsforderung nachgeben, weil sie sie politisch richtig finden. Dann würden sie so falsch liegen wie Studierende, die für einen Minimallohn in der Kneipe schuften und ihren Urlaubsanspruch vergessen. Nach dem Studium wird sich womöglich. herausstellen, dass die einstmals Liberalen prima ArbeitsrechtlerInnen sind und die Linken vorbildliche Ausbeuter werden. Ob sie jemals Marx oder Friedman gelesen haben oder auch nur eine einzige linke Info-Veranstaltung besucht haben, ob sie während des Studiums klassische Musik oder Punkrock gehört haben, hat darauf keinen Einfluss.

Bewusstsein heißt eben nicht, zu wissen, was diese oder jene TheoretikerInnen mal gesagt haben oder wie die Weltwirtschaft funktioniert. Bewusstsein heißt, die eigene Lage zu erkennen und beurteilen zu können. Was sich heute Politik oder politisches Engagement schimpft, hat damit selten etwas zu tun. Im besten Falle wird sich der liberale Student einer Gewerkschaft anschließen und die linke Ärztin einem Arbeitgeberverband, um die entsprechenden Interessen besser durchsetzen zu können. In diesem Moment ist aus der Klasse an sich die Klasse für sich geworden. Es bestimmt eben nicht der/die (ideologische) TheoretikerIn das Bewusstsein, sondern allein das Sein, die blanken Rahmenbedingungen der eigenen Existenz. Wenn ökonomisch relevante Argumente mein Handeln motivieren, habe ich vielleicht ein schlechtes Gewissen, aber kein falsches Bewusstsein. Von jenen, die dieses Bewusstein haben, ein anderes Handeln einzufordern - und das ist das Geschäft linker Politik - kann keinen Erfolg haben. Wir sind auf uns selber gestellt. Notwendig ist nicht ein weiterer Vortrag, sondern ein Erfahrungsaustausch, damit wir nicht alleine da stehen.

Die Hauptschülerin, die Ärztin und der arbeitende Familienvater waren eben doch begrenzt determiniert. Menschen sind nicht frei in der Gesellschaft des Kapitalismus und es ist absolut nicht sozialistisch oder anarchistisch, das zu behaupten: Wenn dem so wäre, bräuchte es kein Engagement für einen Anarchismus. Keine Entscheidung ist undeterminiert - das zu behaupten, ist letztendlich Ideologie. Menschen, die entsprechend anders entscheiden, diese Entscheidungen vorzuwerfen, ist autoritär. Die Existenz einer solchen Freiheit vorauszusetzen, würde erstens bedeuten, dass der Neoliberalismus mit seinem Diktum 'Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied' recht hätte: Wenn ich leide, bin ich selber Schuld. Ich alleine kann das ja ändern. Zweitens verkennt es vollkommen die Struktur des Kapitalismus (der klassische Fehler des Anarchismus), wenn der Mensch so frei wäre, ist seine Rolle im Kapitalismus seine freie Entscheidung: Ich werde wie die zitierte Hartz IV-Hauptschülerin ALG II-Empfänger - wie es die US-amerikanischen 'Freegans', die sich für AnarchistInnen halten, ausdrücken: "Wer arm ist und darunter leidet, ist selber Schuld' - oder aber erfolgreicher Selbständiger: Dass das nicht funktioniert, merkt jedeR Arbeitslose sehr schnell. Wer nicht nur mit linken AnarchistInnen rumhängt, sondern auch mit (Schein-)Selbstständigen, Angestellten extrem kapitalistischer Firmen und Arbeitslosen, die nie studiert haben, merkt schnell, dass diese alle nie frei entschieden haben: Der Wunsch nach Freiheit und die philosophische Diagnose, der Mensch sei frei in seinen Entscheidungen, sind etwas sehr Unterschiedliches. Und nur den Wunsch braucht es, um Anarchist zu sein. Die Diagnose, es sei schon so, teilen die Ideologen des Neoliberalismus.

Aus der Erkenntnis, dass das 'Sein' nicht zu Erkennen ist, zu schließen, dass es nicht existiere, ist genau so fehlerhaft wie zu behaupten, es sei auf eine bestimmte Weise. Diese Version von Freiheit wird zu einem egomanen Individualismus und dieser ist ein Hauptproblem heutiger anarchistischer PraktikerInnen.

Das Rezept, das ich dagegen setze, ist der Austausch von Erfahrungen in einem ökonomischen Sinne. Diese entstehen nicht in einem wissenschaftlichen Theorieaustausch, sondern in einem Austausch der ökonomischen Abhängigkeiten und einer gemeinsamen Wehrhaftigkeit. In einer halbwegs egalitären Gesellschaft determinieren uns Dein, mein, Annas und Peters Bewusstsein und nicht nur das meine - woher um Himmels Willen soll das kommen? Aus Büchern? Das eigene 'Bewusstsein', das schon mal gar keines ist, wenn es einzig und allein meines ist, weil es dann partikular ist, erschient arg beliebig. Es ist dem populistischen Begriff der 'Anarchie' als Chaos und Terror nicht besonders fern. Eine heutige Freiheit des einzelnen Menschen zu konstatieren, ist nicht Grundannahme jeder anarchistischen Theorie und Praxis, es ist das Gegenteil: Es ist von hinten bis vorne Neoliberalismus.

Solidarität entsteht nicht durch das Lesen von Büchern oder dem Hören von Musik. Das ist bestenfalls Mitleid. Wir können uns weder mit einem 'israelischen' noch einem 'palästinensischen' Volk noch mit einer indigenen Bewegung in Chiapas solidarisch erklären, weil Voraussetzung jeder Solidarität das Nachvollziehen der Ausbeutung anhand der eigenen Verhältnisse ist. Um uns mit Israel oder Palästina solidarisch zu erklären, müssten wir uns national definieren und entweder eine entsprechende Schuld oder eine entsprechende Situation erkennen. Allerdings können wir Ähnlichkeiten in staatlicher Repression und ökonomischer Ausbeutung erkennen, wenn wir mit den Menschen reden, und dort auch entsprechend solidarisch sein. Das ist das Faszinierende z.B. an der EZLN: Sie erzählen und machen Erfahrungen begreif- und vergleichbar. Die Ausbeutung in der Maquiladora mag intensiver sein als die im deutschen CallCenter: Nach einem Austausch erkenne ich gemeinsame Strukturen. Erst so kann ich solidarisch handeln. Für alles andere könnten wir auch in die Kirche gehen. Wenn Buch und Musik das Kriterium für Bewusstsein wären, dann täte es auch Die Bibel und der Choral - und dann täte es auch 'Mein Kampf' und Rammstein. Es ist klar, das so etwas fatal ist. Niemand bekommt von mir auch nur einen Hauch von Solidarität, weil er Bakunin liest und Slime hört.

Das Sein bestimmt (und verstimmt) das Bewusstsein. Etwas marxistische Theorie täte dem Anarchismus auch in diesem Punkt ganz gut.

e-Mail: bewernt@uni-muenster.de

Raute

Dieter A. Behr

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Rezensionsessay zu Gerhard Hanlosers Rezension von Bini Adamczaks "gestern morgen"

Gerhard Hanloser hat in der letzten Ausgabe der grundrisse Bini Adamczaks "gestern morgen - über die einsamkeit kommunistischer gespenster und die rekonstruktion der zukunft" rezensiert. Dieser Rezension mit vorliegendem Rezensionsessay zu entgegnen, hat mindestens zwei Gründe: Erstens, da das rezensierte Buch bemerkenswert ist und eine weitere, eine andere Betrachtung darüber so oder so nicht schaden kann. Zweitens, weil sich anhand der Kritik an vorangegangener Rezension einiges diskutieren lässt, was sich in den grundrissen - wiederum so oder so - ohnehin lohnt, zu diskutieren. Ein guter Anlass also, sich die Inhalte von Adamczaks' Buch in Erinnerung zu rufen.

Der Kommunismus hat das "historisch einklagbare Anrecht in die Welt gezwungen (...), keine Entmündigung hinnehmen, nicht eine einzige Erniedrigung mehr ertragen zu müssen. Seitdem ist noch das kleinste Unrecht größer und das größte schmerzt um ein Vielfaches mehr" schreibt Bini Adamczak in "gestern morgen" (Adamczak 2007, S 81). Gerade aus diesem Grund ist die Geschichte der russischen Revolution so besonders bedrückend. Der Stalinismus war laut Adamczak "nicht irgendeine, nicht bloß eine weitere Herrschaft, sondern Paradigma und erstes Glied in einer unabgebrochenen Reihe von Enttäuschungen, die so niederschmetternd nur hatten werden können, weil sie auf einer Hoffnung basieren, die früheren Generationen unbekannt war." (S. 81) Deshalb ist es notwendig, Erinnerungsarbeit in Form von Trauerarbeit zu leisten, ebenso wie es notwendig ist, Fragen an die Geschichte zu stellen, um der Zukunft willen, denn die Vergangenheit greift nach der Gegenwart wie die Gegenwart nach der Zukunft (vgl. S 76).

Ausgehend vom Hitler-Stalin Pakt wird die Geschichte der russischen Revolution zurückverfolgt bis zu ihrem Beginn. Eine zentrale Frage dabei ist die nach dem "point of no return", dem historischen Punkt, an dem die Konterrevolution eindeutig und entgültig die Überhand erlangte und die russische Revolution ihr erlag. Diese Frage wird allerdings nicht, wie tausendfach zuvor, anhand reduktionistischer Politikmuster - anarchistisch, trotzkistisch, "linientreu" - oder gemäß vermeintlich "objektiver" Geschichtswissenschaft beantwortet. Sie wird gar nicht beantwortet; die gestellten Fragen und mit ihnen die gewählte sprachliche Form bestimmen die Richtung, bestimmen einen Raum, in dem Antworten gefunden werden können.

Die Töne, die Hanloser in seiner Rezension des Buches in Bezug auf die Geschichte der russischen Revolution anschlägt sind politisch sehr sympathisch; es wird schnell klar, dass ein undogmatischer Linksradikaler schreibt. Der Rezensent bringt die Geschichte einer ganzen Reihe von Oppositionellen der russischen Revolution ein, in deren Tradition er sich stellt. Er schreibt so über viel Wissenswertes, doch widmet er sich kaum den Inhalten des Buches. Hanloser unterschlägt uns somit die Tragweite von Adamczaks Überlegungen.

Anstatt auf die aufgeworfenen Fragen einzugehen elitäres Namedropping, für den Klub der InsiderInnen, und gleichzeitig Weigerung und/oder Unvermögen, sich die Themen des Buches überhaupt genauer anzusehen: Adamczak würde "zwischen Benjaminschen Hass auf die Geschichte, die komplett falsch läuft, Derridascher obskurantistischer Gespensterlehre als Trauerarbeit und Foucaultschem Pessimismus hinsichtlich der Wünschbarkeit der Revolution hin und her pendeln." So leicht geht das, und alle Fragen sind futsch. Weg, verschluckt mit einem flapsigen Kommentar wie in einer langweiligen Diskussionsrunde einer langweiligen Mini-Theoriegruppe.

Was sind denn eigentlich die Fragen, die Adamczak stellt? - Zugegeben, es sind Fragen, die uns nicht neu sind, Fragen, die linke Praxis gestern genauso betreffen wie heute. Sie wurden millionenfach diskutiert, und die meisten kennen sie. Sie werden aber von Adamczak in eine Form destilliert, die die Möglichkeit eröffnet, anders, vielleicht genauer darüber nachzudenken.

"Die Revolution kann Revolution nur sein als (permanente) Konterkonterrevolution. Im Zwang der Entscheidung verdichtet sich die Frage, ob der Bürgerkrieg gewollt oder vorhergesehen wurde, zu einer Nuance. Aber bleibt die Revolution noch Revolution als Konterkonterrevolution, kann sie, unverändert dieselbe, ein zweites Mal auftreten?" (S 144, Hervorhebung Adamczak). Das Brechtsche Bild aus dem Gedicht "An die Nachgeborenen", dass "wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit nicht selber freundlich sein konnten", dass auch "der Hass gegen die Niedrigkeit die Züge verzerrt", potenziert sich in der Geschichte der russischen Revolution millionenfach und bis zum systematischen Terror, durchgeführt von KommunistInnen.

Adamczaks Buch ist deshalb so gut, weil sein Duktus nicht von einer mackerhaften Besserwisserei bestimmt ist. "Das Kriterium, das die revolutionäre von der reaktionären, von der konterrevolutionären Tat unterscheiden helfen soll, kann nicht scharf bestimmt werden. Denn es gibt historische Bedingungen, die die gezogene Grenze destabilisieren" (S 101).

Die Art der Durchführung der nachholenden Industrialisierung, der ursprünglichen Akkumulation im Agrarland Russland, die unzählige Tote forderte, wurde mit der Notwendigkeit der Aufrüstung gegen die Konterrevolution begründet. Ohne Letztere hätte die Revolution gegen die imperialistischen Mächte nicht bestanden und ein Krieg gegen Nazi-Deutschlands wäre von vornherein aussichtslos gewesen.[1] Das stimmt, doch gleichzeitig war eben diese nachholende Industrialisierung eine der wichtigsten Antriebsmotoren für die systematische Unterdrückung weiter Teile der Bevölkerung auf dem Land, wo der größte Teil der Menschen in Russland lebte.

In diesem Spannungsfeld bewegen sich die Fragen des Buches. Bini Adamczak stellt diese Fragen, ohne den Fehler zu begehen, sie außerhalb der Geschichte anzusiedeln, freihändig eine kommunistische Wunschliste zu erstellen und sich von vornherein auf die moralisch sichere Seite zu begeben: "Wie hoffnungslos naiv ist jede enthaltsame Kritik, die erneut die Wahrheit gegen die Macht in Stellung, eine abseitige Stellung bringt, so hoffnungsvoll, so voller Hoffnung auf eine bessere Welt diese Naivität auch sein mag." Es ist also keine ahistorische, moralische Kritik, die Adamzcak übt.

Das hindert die Autorin jedoch nicht, parteiisch zu sein. Sie ist nicht nur Anti-Stalinistin, sie kritisiert auch Lenin und den Gang der Revolution von 1917 an. Ein ganzes Kapitel widmet sie der Absurdität des Stalinschen Terrors, der neben seiner unglaublichen Grausamkeit auch noch höchst irrationale Züge trug. Ohne der oft zitierten "Kontinuitätsthese" (die davon ausgeht, dass die Stalinsche Herrschaft eine aus der Leninschen ableitbare wäre) zu erliegen, kritisiert sie die Taylorisierung und Militarisierung der Arbeit, die bereits wenige Jahre nach der Revolution einsetzen. Sie kritisiert Trotzki, der diese Politik mit klassisch antikommunistischen Argumentationsmustern zu unterstützen sucht, indem er beispielsweise behauptet, der Mensch neige von Natur aus zur Faulheit (vgl. S 137). Adamczak führt an, dass zur Niederschlagung bäuerlicher Aufstände Giftgas eingesetzt wurde (S 134). Und sie kritisiert Lenins Diktum "Von den Deutschen lernen!", das sich sowohl auf die Kriegsführung als auch auf die Arbeitsorganisation bezog.

Das Positive und wahrlich Fortschrittliche ist jedoch: Sie verfährt dabei nicht nach klassisch anarchistischem Muster (das wäre wiederum wie diejenigen, die immer schon alles über die russische Revolution gewusst haben - auf ihre Weise), sondern legt den notwendigen Ausgangspunkt ihrer antiautoritären Kritik offen: "An wen adressiert sich ein Text, der sich selbst in einem Außerhalb der Auseinandersetzung seiner Adressatinnen imaginiert, der nur im Raum eines imaginären Außerhalbs des 'danach' oder 'davor' reflektiert und - vielleicht - nur in ihm reflektieren kann? Nichts leichter als ein pazifistisches Programm zu verabschieden - in Zeiten des Friedens." Richtig ist folglich auch ihre materialistische Begründung der aktuell hohen Popularität moralischer Urteile über die Geschichte: "Es sollte (...) nicht verwundern, wenn die Ethisierung des Sozialen immer dann eine Wiederkehr erlebte, wenn die Möglichkeiten der Kritik, Einfluss zu nehmen auf die Geschichte, besonders gering erscheinen. So unter den Bedingungen des postsozialistischen Traumas, nach 1989." Und an anderer Stelle: "Zu schnell, zu einfach - obwohl notwendig - anhand eines heutigen kommunistischen Forderungskatalogs schlechte Noten in Sachen (sexistischer, rassistischer, antisemitischer) Ideologie zu verteilen. Worum es ginge, wäre etwas von dem zu bergen, was unter anderen Kräfteverhältnissen wünschbar war, jetzt mehrfach verschlossen ist."

Zu schnell, zu einfach und doch notwendig: Wir müssen, diese Kritik der libertären Kritik der Bolschewiki vor Augen habend, der Frage nachgehen, wie es anders hätte sein können. Und es gibt diese Möglichkeit: "Die Trümmer der Geschichte verstellen den Blick auf den Traum von ihr (der kommunistischen Begierde, Anm.) dennoch nicht gänzlich, es gibt Scharten, in denen der Traum der möglich gewesenen, unmöglich gemachten Zukunft aufblitzt"(S 117).

So an vielen Stellen des wunderbar zu lesenden Tagebuchs von Alexander Berkman, der Ende 1919 gemeinsam mit Emma Goldman und 247 anderen Radikalen aus den USA in die Sowjetunion deportiert wird. Berkman macht es sich nicht einfach - bekennender Anarchist und zu Beginn begeisterter Anhänger der Revolution und Mitarbeiter der Bolschewiki, wird er im Laufe des Buches gegenüber Letzteren kritischer und kritischer, aber nicht aus anarchistischer Eitelkeit oder Idealismus, sondern wegen der Probleme im revolutionären Prozess.

Berkman, der nach seiner Ankunft in Russland oft als Übersetzer für die Bolschewiki arbeitete, gibt folgende Anekdote über den Besuch einer englischen ArbeiterInnendelegation vom Mai 1920 wieder: "Anselowitsch, der Vorsitzende des Petrograder Gewerkschaftssowjet, verstieg sich sogar zu der Behauptung, dass es in Russland volle individuelle Freiheit gäbe - zumindest für die Arbeiter, wie er hinzufügte, als sei ihm die Gewagtheit seiner Aussage plötzlich bewusst geworden. Vielleicht tat ich Anselowitsch Unrecht, indem ich diese Unwahrheit in meiner Übersetzung seiner Rede ausließ. Aber ich konnte mich nicht vor die Delegierten hinstellen und ihnen etwas erzählen, von dem ich - genauso gut wie sie - wusste, dass es eine dreiste Lüge war, so dumm wie unnötig. (...) Sie wissen, dass es für niemanden in Sowjetrussland Meinungs- oder Pressefreiheit gibt, nicht einmal für Kommunisten, und dass die Unantastbarkeit der Person oder die Unverletzlichkeit der Wohnung unbekannte Worte sind. Die Erfordernisse des revolutionären Kampfes machen solche Zustände unerlässlich, das gibt Lenin auch offen zu. Es ist eine Beleidigung für die Intelligenz der Delegierten, etwas anderes zu behaupten." (Berkman 2004, S 97)

Berkman wird Ende Mai von Radek gebeten, Lenins "Der linke Radikalismus - die Kinderkrankheit des Kommunismus" ins Englische zu übersetzen. "Ich hatte schon von dem geplanten Werk gehört und wusste, dass es ein Angriff auf die dem Leninismus kritisch gegenüberstehenden linksrevolutionären Strömungen war. (...) 'Ich werde es machen, wenn ich ein Vorwort hinzufügen darf.' 'Das ist keine Sache zum Witzereißen, Berkman!', Radek war ehrlich empört. 'Ich meine es ernst. Dieses Pamphlet entstellt und besudelt all meine Ideale. Ich kann es nicht übersetzen, ohne wenigstens ein paar Worte der Verteidigung hinzuzufügen.' 'Andernfalls würden Sie ablehnen?' 'Genau das.' Radeks Benehmen mangelte es an Herzlichkeit, als ich mich verabschiedete." (ebenda, S 107)

Zu dieser Zeit ist der Raum noch offener, die russische Revolution ist noch wenig konsolidiert und es gibt noch die Vielfalt der Bewegungen; noch kann, noch darf gewünscht werden. Später ist das nicht mehr so. Einerseits wegen des Stalinschen Terrors, andererseits weil sich "die Flächen des Kampfes zu Fronten verdichten, flachen und glatten Linien der verfeindeten Seiten, die sich fugenlos gegeneinander schließen. Die dichotome Logik, die das Freund/Feind-Schema organisiert, zeitigt identitäre Effekte in zwei Richtungen, sie homogenisiert die Pole, wie sie den Raum zwischen ihnen nivelliert" (Adamczak 2007, S 43). Adamczak zitiert Manes Sperber: "Es gibt kein Niemandsland zwischen den Fronten; wendet man sein Gesicht gegen die einen, wird man, ohne es zu wollen und es verhindern zu können, zum Vortrupp der anderen, eben jener, die zu vernichten doch die vordringlichste Aufgabe bleibt." und weiter: "Zwischen den Barrikaden steht man nicht, da fällt man, zweimal getroffen, zweimal getötet" (ebenda).

Adamczak widmet sich den Reaktionen der Exil-KommunistInnen in Paris, die die Nachricht des Hitler-Stalin Pakts ereilt. Hier ist kein Raum mehr, und Adamczak erklärt es - ohne subjektiv nachvollziehen zu wollen, wie diese KommunistInnen denken, weil es unnachvollziehbar ist, schier unglaublich -: "Es ist nicht die Gewohnheit der Institution, die die Kommunistinnen an die Kommunistische Partei bindet. Denn sie wollen glauben. Sie wollen nicht aufhören zu glauben. Wollen nicht glauben, können nicht glauben, können nicht glauben wollen, dass falsch war, woran sie geglaubt haben. Denn mit der Vergangenheit, die sie in zweifel ziehen, wird auch die Zukunft zweifelhaft, der sie die Vergangenheit opferten."

Zudem: Hitler bedroht Europa und wird bald versuchen, es zu unterwerfen. Wer könnte ihm die Stirn bieten außer die Kommunistische Partei, außer Stalin? "Es geht darum, zu verstehen, welche Autorität, welche Immunität gegen Kritik der russischen Revolution und mit ihr der an sie gebundenen Institutionen nur aus der Tatsache ihres Sieges und ihrer - historisch erstmaligen - Verteidigung erwächst. Welche argumentative Kraft ihre bloße Existenz einer Materialistin bedeuten muss. Daran gemessen wird jede andere Argumentation, jede Rede, jeder Text vergeistigt, körperlos, kurz idealistisch erscheinen."

Das macht die Kritik so schwierig: Hätte Lenin die Revolution nicht mit starker Hand weitergeführt, wäre sie bereits in den ersten Jahren zerschlagen worden. Mag sein. Doch die russische Revolution ist, soviel steht fest, seit Langem verloren. Nicht vom imperialistischen, kapitalistischen Feind wurde sie zerschlagen, sondern von den eigenen, zur Konterrevolution gewordenen RevolutionärInnen.

Doch das ist noch nicht alles: "... es ist der Verlust selbst, der verloren gegangen sein wird. Den Nachfolgenden wird der Verlust bereits zur Voraussetzung ihrer Existenz geworden sein, zur Grundlage ihrer Erfahrung. Die revolutionäre Enttäuschung werden sie bei größter Anstrengung nicht mehr verstehen können, obwohl sie, obwohl wir - bis heute - streng genommen Kinder genau dieser Enttäuschung sind. Nicht wir haben die Erfahrung der Enttäuschung gemacht, sondern sie uns." (S 22)

Mit dieser Tatsache hat auch die "Bewegung der Bewegungen" in Zeiten nahezu ungebrochener kapitalistischer Hegemonie zu kämpfen. Diese kann nur überwunden werden, wenn es gelingt, die Enttäuschungen, die in der Geschichte so prägend waren, zu reflektieren und ein neues kommunistisches Begehren zu konstruieren. Ein Begehren, das zunächst die Vorstellung, dass ein ganz anderes Ganzes möglich ist, ans Tageslicht befördert.

Dann das Beispiel des Aufstands von Kronstadt, das Adamczak zitiert, nicht um sich zum tausendsten Mal darüber zu streiten, ob seine Niederschlagung durch die Bolschewiki den Wendepunkt der russischen Revolution markiert hat oder nicht[2], sondern um anhand dieses historischen Beispiels herauszufinden, wie revolutionäre Errungenschaften verteidigt werden können beziehungsweise ob sie verteidigt werden können: "Müssen die Kronstädterinnen der Zukunft nicht gegen die Leninistinnen der Zukunft die Waffen erheben, misstrauisch ihnen gegenüber, ihre Verhandlungsangebote ausschlagend, in die Offensive gehen und die Leninistinnen liquidieren, bevor diese sie liquidieren können? Müssen die Kronstädterinnen der Zukunft also Leninistinnen werden?" (S 147)

Das angesprochene dialektische Verhältnis ist verständlich. Und auch hier wieder: Es sind keine Gewissheiten, die ausgesprochen werden, sondern Fragen. Hanloser irrt mit seiner Unterstellung, dass es Adaczak darum gehe, zu beurteilen, ob es "der Mühe Wert" sei, die Revolution zu machen. Er irrt auch mit der Unterstellung, Adamczak würde sich kritiklos auf die Seite der Allende-Regierung stellen, die 1973 darauf verzichtet hat, zu den Waffen zu greifen, um die Revolution zu verteidigen. Denn nach der Ausführung des Chile-Beispiels schreibt die Autorin: "Stellt sich die Alternative historisch so, dann stellt sie sich als Aporie. Als Widerspruch zweier Sätze, die gleich wahr sind, als unauflösbarer Widerspruch. Zweimaliges Scheitern der Revolution, dem durch Resignation nur ein drittes hinzugefügt würde." Resignation bedeutet also selbstverständlich auch ein Scheitern der Revolution: nach dem Scheitern Lenins und dem Scheitern Allendes die dritte Variante. Doch die Frage, ob es "unter den Bedingungen der Dialektik der Konterrevolution nicht revolutionärer gewesen (wäre), die Revolution sein zu lassen", ist dennoch berechtigt. Sie ist keineswegs, wie implizit unterstellt wird, ein feiger Rückzug, eine Kapitulation.

"Wenn die faschistischen Machthaber die Bevölkerung ganzer Dörfer, die von Partisaninnen besucht wurden, um sich mit notwendigen Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen, als Geiseln nehmen und - zur Strafe, zur Abschreckung - ermorden lassen, müsste der antifaschistische Widerstand dann nicht sofort beendet werden? Das Mitleid der Revolutionäre hat seinen vorgesehenen Platz in der Strategie der Herrschenden, die nicht die Freiheit zu erobern haben, sondern ihre Herrschaft zu verlieren." Und weiter: "Wenn die Gutmütigkeit der Guten eine feste Größe im Kalkül der Konterrevolutionäre ist, was bleibt da anderes, als erpressbar zu bleiben? Das ist etwas anderes, als sich erpressen zu lassen."

Hanloser dagegen: "Und wenn eine Lehre aus dem 20. Jahrhundert mitgenommen werden sollte, dann doch folgende: Der Faschismus ist eine Konterrevolution gegen eine Revolution, die niemals stattgefunden hat. Er kommt als Strafe dafür, wenn mensch die Revolution nicht macht." Diese Aussage ist natürlich nicht falsch - aber wie die Revolution machen? Wie sie durchführen, wenn sie, wie Adamczak ausführt, als Konterkonterrevolution nicht notwendigerweise, aber zumindest nicht unwahrscheinlicher Weise Elemente der Konterrevolution annimmt?

Was können wir da tun? Adamczaks Buch ist keine schlechte Hilfe. Zwar kein Rezeptbuch, ganz im Gegenteil. Es ist ein "Fragen-Buch". Es geht um das "Was tun?", nur dass dieses "Was tun?" nicht ein leninistisches wissendes, sondern tatsächlich ein fragendes ist, ein fragendes einer wünschenswerten kollektiven Debatte.[3] Diese Frage stellt sich immer, es ist eine Frage, die die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse berücksichtigen muss und die jedes Mal von Neuem von den Subjekten der Geschichte aufgenommen wird. Es gibt dafür keine Formel.

Dass es immer wieder um die Konstruktion eines kommunistischen Begehrens geht, schreibt Adamczak in Epilog ihrer früheren Publikation: "... je weniger die Menschen machen können, was sie wollen, umso weniger wollen sie wollen (sich ernsthaft etwas wünschen). Und wie sollen die Menschen machen, was sie wollen, wenn sie gar nicht wissen (wollen), was sie wollen." (Adamczak 2006, S 79)

Das Begehren aber, das Wünschen und die Utopie ist der Wirklichkeit nicht einfach idealistisch entgegengestellt, sondern finden ihre Voraussetzungen - wie könnte es anders sein - in eben dieser Wirklichkeit (der historischen Konstellation, den herrschenden Kräfteverhältnissen etc.)

Die "Wünsche, Träume, Bedürfnisse" können zwar aus den "gesellschaftlichen Widersprüchen schöpfen, einen progressiven Überschuss entwickeln, aber sie können sich nie gänzlich emanzipieren, können nie vollkommen abheben von den materiellen Bedingungen, denen sie entstammen, es können nicht die Gedanken, Ideen, Bilder einer anderen Wirklichkeit, einer anderen gesellschaftlichen Organisation sein. Stattdessen sind es immer die Bedürfnisse der heutigen Subjekte, in all ihrer Beschränktheit, die die Bilder einer unbeschränkten Zukunft befriedigen sollen. Es ist immer die Vergangenheit, die nach der Zukunft greift." (Adamczak 2006, S 60f)

Aus den Fragen, die sich aus der Vergangenheit ergeben, folgen also Fragen für die Zukunft. Wenn wir voranschreiten wollen, kommen wir nicht umhin, zu fragen, wie wir voranschreiten wollen. Genau dieses fragende Voranschreiten ist es, das manchmal immer noch nicht gelingt, nicht in Hanlosers Rezension und in so vielen anderen politischen Versuchen auch nicht.

Hanloser vermisst in "gestern morgen" die "theoretische Klärung der angerissenen Fragen". Auch wenn die Autorin bei Lesungen selbst kritisiert, dass die Debatten aus der Zeit der russischen Revolution - beispielsweise über die NEP oder über die nachholenden Industrialisierung - in ihrem Buch nur holzschnittartig behandelt werden, so würde durch deren genauere Behandlung zunächst keine Klärung eintreten, sondern lediglich eine Vertiefung der Probleme. Eine Klärung gibt es möglicherweise in den angerissenen Fragen, aber es gibt keine dialektisch-materialistische Methode, keine noch so präzise Geschichtswissenschaft, die zu klären vermag, was die Revolution, ohne Konterrevolution zu werden, hätte tun sollen. Wirklich blöd, aber es ist so.

Aber es wäre falsch, und ich wiederhole mich, das Buch wegen dieser Grundannahme als pessimistisch einzuschätzen. Es ist nicht nur ein "Fragen-Buch", sondern auch ein Buch zur Konstruktion eines kommunistischen Begehrens sowie ein Buch des Aufbegehrens, denn "die Aporie ist nicht, wie das eine bestimmte Philosophie will, bereits Antwort auf ein Problem, sondern ist das nach Antwort verlangende Problem selbst. Alles begehrt auf, alles muss aufbegehren gegen diese Aporie, die zum Aufgeben überreden zu wollen scheint, weil sich in ihrer logischen Form die historische Ausweglosigkeit sedimentiert. Aber auf dem Terrain der Geschichte gibt es kein Gesetz, das länger gültig wäre als bis eben heute. Es gibt geschichtliche, gemachte Bedingungen, unter denen das Rätsel der Revolution sich lösen lassen muss. Aber das Lösen des Rätsels selbst ist zumindest eine Bedingung für das Gelingen der Revolution - der nächsten Revolution." (S 150)

Unumgänglich, gegen die beschriebene Aporie aufzubegehren: Zum Jahreswechsel 2008/2009 fand anlässlich des fünfzehnten Jahrestages der Erhebung in Chiapas das "primer festival mundial de la digna rabia" - das "world's first festival for dignified rage" statt. Aus dem Ankündigungs-Kommuniqué: "Let our rage grow and become hope. Let our dignity take root again and breed another world. If this world doesn't have a place for us, then another world must be made. With no other tool than our rage, no other material than our dignity." (http://dignarabia.ezln.org.mx/) Wir könnten auch sagen: "Wenn die letzten Revolutionen keinen Platz für uns hatten, müssen wir eben eine neue - sprich ganz andere! - Revolution machen!"

Zum Glück haben wir also nicht alles verpasst. Ganz im Gegenteil! Wir befinden uns heute im Spannungsfeld der Adamczakschen Fragen. Wie könnte es auch anders sein? Der Wunsch, diese ganz andere Revolution zu machen, muss sich nun mal mit den herrschenden Verhältnissen konfrontieren.

Griechenland, vor einigen Wochen. Eine Aktivistin postet: "Es ist eine große Frage, wie zu kämpfen. Das Ziel rechtfertigt nicht die Mittel. Wir können keine faschistischen Wege verwenden um Faschismus zu bekämpfen. Was ist mit Gewalt? Manche Dinge sind so spontan, dass sie uns übernehmen, und dann... Wir können nicht einfach zulassen, dass die Polizei uns verhaftet. Wir tun unser Bestes ... Wir machen Fehler ... Aber wir versuchen zu denken, Theorie zu benutzen, mit Aktionen. Manchmal schlägt es fehl, manchmal funktioniert es. Ich weiß, dass es danach (wann auch immer das meint) leicht sein wird, zu bewerten, zu verstehen und zu kritisieren, aber jetzt ist nicht viel Zeit. Es gibt Fragen: Kann die Utopie einen Platz finden? Kann das Chaos Freund der Ordnung werden? Ich muss jetzt gehen. Ich hoffe nur, dass wir euch stolz machen werden - dich und alle, die mit uns lächeln und unser 'Wir' verwenden können. - Grüße nach Berlin, A." (http://alexisg.blogsport.de/2008/12/10/8/) Aktualität der Fragen des Buches in den Kämpfen von heute ...

Unbestritten wird es in allen sozialen Kämpfen Momente geben, in denen es, um das Zuspitzen, Klarmachen und Polarisieren geht; in denen es ganz klare und einfache Wahrheiten gibt, wie z.B.: "Niemand wird abgeschoben!", "Bewegungsfreiheit für alle!" oder Ähnliches. Mit der Art von Gewissheit jedoch, die Hanlosers Text vermittelt, halte ich die kollektive Konstruktion eines kommunistischen Begehrens wie auch eine kollektive kommunistische Praxis für nur schwer möglich.

e-Mail: dieterbehr@yahoo.de


Anmerkungen:

[1] Ein Überlebender, der Kommunist Peter Gingold, sagte einmal: "Die Stalinorgel hat mir das Leben gerettet!"

[2] "Bis Mitte der 70er Jahre war die 'russische Frage' mit all ihren Konsequenzen das unausweichliche 'Paradigma' der politischen Perspektiven der Linken, in Europa und in den USA, und nur 15 Jahre später nimmt sie sich aus wie die älteste Vorgeschichte. Damals schien das minutiöse Studium jedes einzelnen Monats der Geschichte der russischen Revolution und der Komintern von 1917 bis 1928 der Schlüssel zum Universum des Ganzen zu sein. Wenn jemand die Niederlage der russischen Revolution 1919, 1921, 1923, 1927 oder 1936 oder (gar) 1953 ansetzte, hatte man eine ziemlich gute Vorstellung davon, was er über so ungefähr jede andere politische Frage auf der Welt dachte: das Wesen der Sowjetunion, China, das Wesen der KPen auf der Welt, das Wesen der Sozialdemokratie, das Wesen der Gewerkschaften, die Einheitsfront, die Volksfront, nationale Befreiungsbewegungen, Ästhetik und Philosophie, das Verhältnis von Partei und Klasse, die Bedeutung der Sowjets und der Arbeiterräte, und ob hinsichtlich des Imperialismus Luxemburg oder Bucharin recht hatte." (Goldner zit. bei Adamczak 2007, S 119)

[3] Das in St. Petersburg und Moskau beheimatete KünstlerInnenkollektiv "Chto Delat?" bezieht sich in seinem Namen auf die Schrift Lenins, aber auch, oder vielmehr in erster Linie, auf das gleichnamige Werk des Schriftstellers Nikolay Chernishevsky. Dmitry Vilensky von "Chto Delat?": "First I should say that it is quite a common misunderstanding in the West to link the question "Chto Delat?" directly and exclusively with Lenin. In Russia it is quite clear that apart from few revolutionary fanatics and ex-teachers of Marxism-Leninism very few remember this text, but everyone remembers the famous novel by Nikolay Chernishevsky from 1862 with the same title because it is still in the basic school reading program and it has influenced deeply the Russian culture and politics. And for us the reference to Chernishevsky is much more important because at a certain moment we found ourselves thrown back to the period of wild accumulation of capital and new forms of labour slavery. In this situation the development of left movements was in some paradoxical way comparable to the situation of the first Russian Marxist cells in mid-XIX century. And the novel of Chernishevsky actually was a brilliant attempt to write a sort of a manual how to construct emancipatory collectives and make them sustainable in a hostile society." Vilensky über den Namen seiner Gruppe: "Also it is important to emphasize that "What is to be done?" is the most clear question that represents a leftist approach. It means that we admit that this or that historical situation must be changed but before we act we ask questions and develop a field for intellectual action. The right wing politics on the other hand normally starts with the issue 'Who is guilty?'. And the last important thing for us is that the name of the group was a definite mark of representing our fidelity to a certain tradition - to show exactly which side you are standing on. And it made your position (and still makes) in a Russian and international situation clear to certain degree that helps to establish the space of common that can be shared by anyone who still is interested in these debates and practices."


Zitierte und im Text erwähnte Literatur:

Adamczak, Bini (2006). kommunismus - kleine geschichte wie endlich alles anders wird. Münster: Unrast

Adamczak, Bini (2007). gestern morgen - über die einsamkeit kommunistischer gespenster und die rekonstruktion der zukunft. Münster: Unrast

Berkman, Alexander (2004). Der bolschewistische Mythos - Tagebuch aus der russischen Revolution 1920 - 1922. Frankfurt/Main: Edition AV

Raute

Detlef Georgia Schulze

Von der Ausschließung zum Klassenkampf?

Wie können wir zumindest einen Teil der Auswirkungen der neoliberalen Umstrukturierung von Sozialstaat und Ökonomie auf den Begriff bringen, und was lässt sich dagegen vielleicht sogar tun? Mit der ersten Frage, deren Beantwortung auch die Beantwortung der zweiten Frage zumindest erleichtern dürfte, beschäftigte sich kürzlich das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaft in Wien. Geladen waren Heinz Bude, Prof. für Makrosoziologie an der Universität Kassel, die promovierte Sozialethikerin Michaela Moser von der österreichischen Armutskonferenz und dem European Anti-Poverty Network, der emeritierte Kriminalsoziologe Heinz Steinert (Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main) sowie Prof. Hilde Weiss vom Institut für Soziologie der Universität Wien. Bei der Tagung sollte es "um die Lage jener Bevölkerungsgruppen, die mit unscharfen Begriffen wie 'Prekariat', 'Unterschicht' oder 'ModernisierungsverliererInnen' bezeichnet werden" gehen.[1]

Die Arbeit an der Schärfung der Begriffe haben die geladenen SozialwissenschaftlerInnen und sozialpolitischen AkteurInnen (Heinz Bude bekannte sich als Schröderianer, der auch jetzt die von ihm beworbene Agenda 2010-Politik für richtig hält) weder den Kulturwissenschaften noch den sozialen Bewegungen abgenommen. Auch wenn Steinert dem (von ihm im übrigen kritisch behandelten) Ausschließungs-Begriff seinen "dynamischen" Charakter zugute hielt, so war bei der Tagung doch kaum von dem Prozess der Ausschließung (und, wenn doch, dann von vermeintlicher Selbst-Ausschließung) die Rede. Vielmehr wurde "Ausschließung" als Synonym für das Ergebnis "Ausschluss" und selbst für die Gruppe der vermeintlich "Ausgeschlossenen" verwendet. Was nicht gesehen wurde, ist, dass auch dieses Außen ein derridasches Außen, ein konstitutives Außen, ist. Die Gesellschaft ist weder ein Ding noch eine Ansammlung von Individuen, sondern ein Verhältnis - zwischen Gruppen in Bezug auf Dinge (Produktionsmittel)[2]. Und dieses Verhältnis sind Ausbeutungs- und Herrschaftsbeziehungen.

Von Ausbeutung und Herrschaft war freilich bei der Tagung nicht, ist auch ansonsten in der Diskussion über "soziale Ausschließung", "Unterschicht" etc. kaum die Rede. Das Podium in Wien war mit vier repräsentative Figuren dieser Diskussion besetzt: Dem Ideologiekritiker, der moralisch Betroffenen, der empirischen Sozialforscherin und dem, der sich im Blick nach unten selbst erhebt.

Letzteren part übernahm in Wien Heinz Bude. "Ausschließung" ist für ihn vor allem eine kulturalistisch-psychologistische Sache, ein Gefühlssache, wie er im ORF-Interview ergänzte[3]. Er erzählt süffisant Geschichten von Bildungsverweigerern, die ein aufregendes Leben in der Drogenökonomie der Langeweile des einen-Schulabschluss-machens vorzögen und von alleinerziehenden Müttern, denen das Selbstbewusstsein fehle, Krisensituationen durch Netzwerk-Knüpfung zu überbrücken: sie zögen sich aus ihren sozialen Netzwerken, die ihnen weiterhelfen könnten, zurück.[4]

Demgegenüber sprach Michaela Moser aus einer Position moralischer Betroffenheit heraus. Titel ihres Vortrages war ein Zitat von TeilnehmerInnen des ersten österreichweiten Treffens von Menschen mit Armutserfahrungen: "Wir sind keine Bittsteller, wir wollen Respekt!". Dabei erkannte die Referentin, dass wer/welche sich auf das Respekt wollen beschränkt (aber sich keinen verschafft, so sei hinzugefügt) von vornherein schon mal in einer schwachen diskursiven Position befindet: Was auf den ersten Blick offensiv klingt, erschöpft sich am Ende doch nur im Beklagen der Realität, wie BittstellerInnen behandelt zu werden. Moser berichtete dann über Selbstorganisierungs-Ansätze von Betroffenen und, wie sie von der österreichischen Armutskonferenz unterstützt werden: Reisen zu Treffen mit PolitikerInnen, die von der jeweiligen Frühjahrspräsidentschaft der Europäischen Union organisiert werden, Straßentheater, Saal-Theater, dieses und jenes. Alles sicherlich ehrenwert und mit der Bereitschaft, die Mühsal der Ebenen zu ertragen, aber eine politische Perspektive, die über den "Schnittpunkt von Lobbying, Forschung, Öffentlichkeits- und Empowermentarbeit" hinausweisen würde, war damit nicht formuliert.

Hilde Weiss übernahm den statistisch-beschreibenden part - empirische Soziologie: Arbeitslosenkurven, Kurven von SozialhilfeempfängerInnen und 'Armuts-Gefährdeten' - garniert mit einem nostalgischen Blick zurück auf den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat und der Hoffnung auf seine Regenerationsfähigkeit.

Gegenüber diesem Optimismus werden wir allerdings in Rechnung zu stellen haben, dass die Existenz einer industriellen Reservearmee der Normalzustand (in der Geschichte der Dominanz der kapitalistischen Produktionsweise) ist. Die Nachkriegs-Vollbeschäftigung + Sozialstaat im OECD-Raum war eine Ausnahmeepoche - geschuldet einer Ausnahmekonstellation: der Systemkonkurrenz mit dem 'Realsozialismus' (trotz dessen grundsätzlicher Fehlentwicklung nach dem Tod Lenins und der ungelösten Probleme, vor denen die Sowjetunion schon vor diesem Tag stand), der Erfolglosigkeit der faschistischen Option einiger europäischer Kapitalfraktionen, dem Wiederaufbaubedarf nach dem Krieg, einem bestimmten Geschlechterverhältnis (Familienernährer-Hausfrauen-Ehe) und einem zerstörerischen Naturverhältnis.

Auch wenn Hayek & Co. die Mont-Pèlerin-Gesellschaft (die kurz als Drahtzieher der "sozialen Ausschließung" durch die Diskussion geisterte) bereits 1947 gründeten, Pinochet 1973 für deren Ideen in Chile gegen Allendes Volksfront-Regierung putschte und Thatcher 1979 an die Macht kam - Reagan war nicht neo-liberal, sondern militärkeynesianisch, die Kohl-Regierung in Deutschland fuhr in den 80er Jahren keinen Frontalangriff gegen die Gewerkschaften, sondern verschob die Gewichte innerhalb des sozialpartnerschaftlichen Modells und betrieb in den 90er Jahren deficit spending für den Anschluss an die DDR. Der neo-liberale Durchbruch erfolgte erst als der Sieg über den 'Realsozialismus' konsolidiert war - unter Schröder, Clinton und Blair. Auch wenn Wörter, z.B. die der Mont-Pèlerin-Gesellschaft, eine Waffe sind[5] - die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen[6]. Nicht der Neo-Liberalismus siegte über den 'Realsozialismus', sondern der 'Realsozialismus' war weder ökonomisch noch ideologisch in der Lage, auf Pershing II und Cruise Missiles mit einem weiteren Dreh an Aufrüstungsschraube zu antworten. Und ohne den ökonomischen, militärischen und ideologischen Zusammenbruch des 'Realsozialismus' wäre der neo-liberale Durchmarsch jedenfalls sehr viel unwahrscheinlicher gewesen.

Aber kommen wir zurück zu den Tagungsreferaten: Heinz Steinert schließlich gab die Rolle des Ideologiekritikers: Der Begriff der sozialen Ausschließung sei mit einer Förderlinie des 4. EU-Forschungsrahmenprogramms (1994-98) aufgekommen, die diesen Ausdruck im Titel führte, weil die EU-PolitikerInnen nicht von "Armut" sprechen wollten. In Abgrenzung von diesem euphemistisch gemeinten Sprachgebrauch, plädierte Steinert einerseits für einen engen oder 'harten' Begriff von Ausschließung (bspw. in Bezug die Verweigerung des Wahlrechts für ArbeitsmigrantInnen sei er zutreffend) und andererseits sei wieder von Armut zu reden. Statt der 'horizontalen' Rede über drinnen und draußen, sei vertikal über oben und unten zu reden.

Die anti-euphemistische Intention in Ehren: Auch Armut ist ein Zustandsbegriff, kein Prozess- oder Verhältnisbegriff. Auch "oben" und "unten", das von Steinert bevorzugte "traditionelle hierarchische" Schichtungsmodell, sagt noch nichts darüber aus, ob es eine Beziehung zwischen oben und unten gibt oder ob es sich um getrennte Schichten handelt. Und das traditionelle Schichtungsmodell sagt auch nichts zu der Frage, warum die einen 'oben' und die anderen 'unten' sind; oder präziser: warum es überhaupt 'oben' und 'unten' gibt.

Die Kulturwissenschaften haben sich in den letzten 20, 30 Jahren der Kritik des Essentialismus gewidmet: gesellschaftliche Gruppen sind keine Gegebenheiten, sondern 'konstruiert' (wie mit subjektivistisch-idealistischer Konnotation gesagt wird) oder 'produziert' (wie vom post/strukturalistischen/Marxismus gesagt wird). Diese Kritik richtete sich - zurecht! - nicht nur gegen einen essentialistischen Differenz-Feminismus ('Frauen sind friedlich und emotional; Männer rationalistisch und gewalttätig') und essentialistische Konzepte von '(nationaler) Befreiung' als Rückkehr zu 'authentischen Ursprüngen', sondern auch gegen einen ouvrieristischen Marxismus, der um den Kult der "schwieligen Faust" (wogegen sich bereits Lenin in Was tun? wandte[7]) kreiste. Es dürfte freilich an der Zeit sein, zu erkennen, dass der historische Materialismus als Wissenschaft (anders als der Marxismus als Ideologie - mit allem, was dies an politischen Stärken und theoretischen Schwächen einschließt) im Gegensatz zu jedem Schichtungsdenken[8] die Klassen gerade nicht als Gegebenheiten denkt.

Die Klassen kommen, wie Althusser sagte, nicht vor dem Klassenkampf; die Klassen entstehen im Klassenkampf. Die Durchsetzung von Ausbeutungs- und Herrschaftspraxen ist bereits Klassenkampf[9]; ist doing class. Die 'Ausgeschlossenen' sind nicht außen; sie entstehen im Herzen der kapitalistischen Produktionsweise. Sie sind nicht nur der schmerzliche Preis, sondern die konstitutive Bedingung (s.o.: Derrida) des kapitalistischen Normalzustandes. Die 'Ausgeschlossenen' sind die Peitsche im Rücken der 'Eingeschlossenen' (bei der Tagung sprach dies Hilde Weiss mit einer kurzen Nebenbemerkung an). Wer/welche heute 'drinnen' ist, kann morgen 'draußen' sein; wer/welche heute 'oben' ist, kann sich morgen aus der Vorstandsetage einer Investmentbank stürzen und ganz 'unten' und am Ende sein. Und wer/welche heute ganz 'draußen' ist, kann morgen als 1-Euro-Jobber oder um Einkünfte aus den - von Bude erwähnten - Drogengeschäften zu 'waschen', wieder halb 'drin' sein. An der sozialen Struktur einer kapitalistischen Gesellschaft ändert diese unglaubliche soziale Mobilität nichts, sondern sie ist die nicht-identische Reproduktion dieses Verhältnisses. (Und wer/welche sein [weniges] Geld in der legalen Ökonomie ausgibt, ist als Mehrwert-, Tabak-, Alkohol- etc. SteuerzahlerIn ohnehin 'drinnen'.)

Wer von Ausbeutung und Herrschaft nicht sprechen mag, soll also von 'sozialer Ausschließung' und Armut schweigen! Und zur Analyse von Ausbeutungs- und Herrschaftspraxen, zur Analyse von doing class, doing gender[10] und doing race, könnten Kulturwissenschaften durchaus vieles nützliches beitragen, wenn sie nicht erneut / weiterhin verdrängen, dass kulturelle Produktionen nicht die einzigen Produktionen auf der Welt sind; dass kultureller Klassenkampf nicht der einzige Klassenkampf ist. Der zentrale Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise ist - nicht anders als zu Marx' Zeiten - die private Aneignung des in Lohnarbeit produzierten Mehrwertes durch Produktionsmittel-BesitzerInnen. Daß zahlreiche Individuen Einkünfte aus Lohnarbeit und Aktien (= anteiligem Produktionsmittel-Besitz) kombinieren, ändert an dieser Funktionsweise kapitalistischer Akkumulation nichts. Lohnarbeit ist Ausbeutung (auch wenn zahlreiche LohnarbeiterInnen einen Nebenverdienst als AktienbesitzerInnen haben). Und damit Lohnarbeit produktiv ist, nicht zu teuer wird und die Produktivität gesteigert werden kann, d.h. Mehrwert produziert und gesteigert werden kann, muss es eine industrielle Reservearmee im Rücken der (mit dem weitaus überwiegenden Teil ihres Einkommens) Lohnabhängigen geben. Und wenn schließlich das "Drama der Exklusion" (Tagungstitel) - das nach der Etymologie zunächst einmal eine Handlung ([drama] < [dráo] = tätig sein, tun, handeln, vollbringen) ist, bevor es ein Schauspiel auf der Bühne ist - ein Ende haben soll, dann wird es bei einer Analyse (selbst mit geschärften Begriffen) nicht bleiben können. Dann wird es notwendig sein, die Figur der Revolutionärin, die die reinigende [kata- strophe][11] organisiert, in dieses Drama wieder einzuführen. Diese Revolutionärin wird dann wahrscheinlich nicht mehr viel mit dem kommunistischen Funktionär des 20. Jh.s gemein haben, aber ihren Marx, Lenin, Mao und den Carl Schmitt[12] der Gegenseite gelesen haben.[13]

Email: DGSch@zedat.fu-berlin.de


Anmerkungen:

[1] http://www.ifk.ac.at/calendar.php?e=347.

[2] L. Althusser, Ideologie und Ideologische Staatsapparate, VSA: Hamburg/Westberlin, 1977, 51 - 88 (83); auf Engl. im internet unter:
http://www.marx2mao.com/Other/ESC76ii.html#s3, p. 201.

[3] http://science.orf.at/science/news/154126: "Menschen haben das Gefühl verloren, dass sie Herr oder Frau ihres eigenen Lebens sind. Es geht nicht vorwiegend darum, ob sie arm sind oder sonstwie benachteiligt sind, sondern um das Empfinden, Teil der Gesellschaft zu sein."

[4] B. Eder (Prekarität, Proletarität, 'neue Unterschicht', in: Kurswechsel 1/2008, 56 - 66 [57, 59, 60]) zeigt in ihrer Analyse der deutschen 'Unterschichts-Diskussion' des Jahres 2006, wie derartige vermeintlich bloß anschaulichen Beschreibungen in Bedrohungsszenarien für die 'Mehrheitsgesellschaft', die 'bürgerliche Leitkultur', übergehen und damit das repressive staatliche Eingreifen in Lebensbereiche, die bisher als 'privat' galten, rechtfertigen: "Das Aufrollen 'devianter Fälle' erfolgt zumeist mit einem definitiven Ziel: Die verstärkte staatliche Administration der 'Unterschichtler' stellt die ultima ratio einer Rettung der Resignierten dar. Jene Personen, die sich nicht 'gut regieren', müssen durch verstärkte Kontrolle aus ihrer Misere 'geholt' werden. [...]. Die Rede von 'chipsmümmelnden Kindern' [...] und anderen schwer 'verwahrlosten' Unterschichtsangehörigen lassen staatlich verordnete Diätmaßnahmen sowie andere Instruktionen zur Veränderung der Lebensweise plausibel erscheinen."

[5] L. Althusser, Für Marx, Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1968, 203 - 215 (213); auf Engl. im internet unter:
http://www.marx2mao.com/Other/LPOE70.html#s1, p. 21;
C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Duncker & Humblot: München/Leipzig, 1932, 7 - 65 (18 mit FN 16); online unter:
http://petradoom.stormpages.com/sch_beg.html, S. 31 f. mit FN 8.

[6] Mao Tsetung, Ausgewählte Werke, Bd. 2, Verlag für fremdsprachige Literatur: Peking 1968, 255 - 274 (261); online unter:
http://www.infopartisan.net/archive/maowerke/MaoAWII_255_274.htm.

[7] Werke. Bd. 5, 355 - 551 (478); online unter:
http://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1902/wastun/kap4c.htm.

[8] Vgl. die Kritik von G. Stedman Jones, Klassen, Politik und Sprache, Westfälisches Dampfboot: Münster, 1988, 43-59 (52-54); engl. Erstveröff.: British Journal of Sociology 1976, 295 - 305 (301 f.) und R. Johnson, Edward Thompson, Eugene Genovese, and Socialist-Humanist History, in: History Workshop. A Journal of Socialist Historians Iss. 6, 1978, 79 - 100 (90 f. mit FN 14 und 33 auf S. 99, 100); auch an der zitierten Stelle erheblich gekürzte dt. Übersetzung, in: Das Argument H. 119, Jan./Feb. 1980, 39 - 49 (43 f.).

[9] Vgl. die Kritik von G. Stedman Jones, Klassen, Politik und Sprache, Westfälisches Dampfboot: Münster, 1988, 43-59 (52-54); engl. Erstveröff.: British Journal of Sociology 1976, 295 - 305 (301 f.) und R. Johnson, Edward Thompson, Eugene Genovese, and Socialist-Humanist History, in: History Workshop. A Journal of Socialist Historians Iss. 6, 1978, 79 - 100 (90 f. mit FN 14 und 33 auf S. 99, 100); auch an der zitierten Stelle erheblich gekürzte dt. Übersetzung, in: Das Argument H. 119, Jan./Feb. 1980, 39 - 49 (43 f.).

[10] Regine Gildemeister / Angelika Wetter, Wie Geschlechter gemacht werden, in: Gudrun-Axeli Knapp / Angelika Wetterer (Hg.), Traditionen. Brüche, Kore: Freiburg i. Br., 1992, 201 - 254 (212 f.).

[11] = sowohl u.a. der Umsturz, die Zerstörung im Leben außerhalb des Theaters als auch der Wendepunkt, der letzte Akt, die letzte Drehung ([strophe]) des Dramas auf der Bühne.

[12] Vgl. M. Lauermann, Althusser und Carl Schmitt: "Vereinigung durch den Feind hindurch"?, in: kultuRRevolution, nr. 20, Dez. 1988, 32 - 35.

[13] Auch dazu könnte Kulturwissenschaft einen Beitrag leisten: Klassiker-Lektüren ist ja eine klassische Aufgabe der Kulturwissenschaften - nur daß es sich in diesem Fall um eine politikwissenschaftlich informierte Kulturwissenschaft handeln müßte: Marx, Lenin und Mao in der Geschichte des politischen Wissens / politisches Wissen und revolutionäre Handlungsfähigkeit (es müßte sich also um eine Lektüre handeln, die Marx, Lenin und Mao mal nicht als Ökonomen, Philosophen oder Historiker, sondern als Politikwissenschaftler liest). - Slavoj Äiptek hat in "Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin" (Suhrkamp: Frankfurt am Main, 2002) eine Neu-Lektüre Lenins begonnen und auch Jacques Rancières (Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Suhrkamp: Frankfurt am Main, 2002) Analyse und Gegenüberstellung der Revolte der Sklaven der Skythen (24 - 29) und der Sezession der römischen Plebejer (34 - 43) lesen sich wie ein impliziter Kommentar zu Lenins (a.a.O. [FN 7]) Unterscheidung zwischen spontanem, ökonomistischem sowie revolutionärem, politischem Bewußtsein (385 f., 396, 426, 436; online unter:
http://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1902/wastun/kap2a.htm#pa rta,
http://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1902/wastun/kap2b.htm,
http://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1902/wastun/kap3c.htm,
http://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1902/wastun/kap3e.htm).
Die römischen Plebejer "verschanzen nicht [... ihr] Lager nach Art der Sklaven der Skythen. Sie tun, was für jene undenkbar ist: sie errichten eine andere Ordnung" (Rancière, a.a.O., 36).

Raute

Slave Cubela

Krise und sozialer Kampf - Über ein kompliziertes Verhältnis aus aktuellem Anlass

Es ist noch nicht lange her, dass man in linken politischen Kreisen mit der Andeutung, dass eine schwere globale Wirtschaftskrise in naher Zukunft zu erwarten sei, kaum Gehör fand. Üblicher waren da abrupte Gegenreaktionen wie der Verweis darauf, dass solche Krisenprognostik mit Blick auf die Entwicklung des Kapitalismus längst überholt sei oder aber die Frage, welche Bedeutung denn eine solche Krise, wenn sie denn einträfe, für eine links-emanzipatorische Praxis überhaupt habe.

Inzwischen hat sich in dieser Hinsicht ohne Zweifel einiges verändert. Allein, auch wenn die Linke inzwischen die erstaunliche Krisendynamik des gegenwärtigen Kapitalismus breit diskutiert und auch wenn sie nach und nach bemerkt, dass beispielsweise durch die Konterkarierung der neoliberalen Diskurse neue Spielräume für die eigene Praxis entstehen, so herrscht doch innerhalb der Linken immer noch große Unsicherheit bezüglich der Interpretation der Krise. Ist das alles nicht doch nur eine Episode, d.h. wird der alte Schlawiner Kapitalismus nicht bald in neuer Festigkeit wieder vor uns stehen? Wird die Krise nicht nur der Linken, sondern auch womöglich der Rechten Zulauf geben? Und grundsätzlicher noch: in welchem Verhältnis steht diese Krise überhaupt zu den sozialen Kämpfen? Ist sie Produkt derselben und wenn ja, inwiefern? Oder ist es eher umgekehrt so, dass die Krise diese Kämpfe befeuern wird und wenn ja, ist diese letzte Vorstellung nicht zu mechanistisch, eindimensional, schematisch?

Zur Diskussion dieser Unsicherheiten ist es zunächst hilfreich uns zu vergegenwärtigen, dass aus verschiedenen Gründen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zwischen stabilen und instabilen Herrschaftsperioden unterschieden werden sollte. Erstens: wird diese Unterscheidung nicht getroffen, dann erscheint der Kapitalismus unweigerlich als eine Art beständige soziale Dauerkrise und es hätte den Anschein, als ob diese Gesellschaft keine goldenen Zeitalter gekannt hätte, in denen eine radikale Transformation dieser Gesellschaft außer Reichweite war.[1] Zweitens: wenn wir stabile Herrschaftsperioden innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft unterstellen, dann behaupten wir nicht, dass es innerhalb dieser Gesellschaft Phasen ohne soziale Kämpfe gegeben hätte, sondern wir wollen damit nur dem Umstand Rechnung tragen, dass in bestimmten Perioden diese Kämpfe durch ihre beschränkten Ziele oder ihre beschränkte Massenbasis keine Aufhebung des Kapitalismus greifbar machen können. Drittens schließlich: mit dieser Unterscheidung präzisiert sich das Problem des Verhältnisses von Krise und sozialem Kampf insofern, als es nun gilt zwei Fragen zu beantworten. Zunächst, wie stellen sich stabile Sozialverhältnisse innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft her? Und dann, wann und vor allem warum werden sie erschüttert, so dass der globale Kapitalismus immer wieder in Phasen der Instabilität übergeht?

Nimmt man sogleich die erste der beiden Fragen auf, dann kann mensch antworten: soziale Stabilität zeichnet die bürgerliche Gesellschaft immer dann aus, wenn die beherrschten Klassen entweder mit diesen Verhältnissen zufrieden sind oder aber sich ihnen gegenüber ohnmächtig fühlen. Auf der einen Seite also gelingt es der bürgerlichen Gesellschaft immer wieder - durch materielle Partizipation, verschiedene Fetischformen und durch geschickte Kommunikationsstrategien der herrschenden Klassen - dafür zu sorgen, dass in der Wahrnehmung der beherrschten Klassen die sozialen Verhältnisse mit ihren eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen, Hoffnungen und Träumen übereinzustimmen scheinen. Auf der anderen Seite wiederum gelingt es der bürgerlichen Gesellschaft diese Legitimitätsproduktion durch die Entwertung oder Verzerrung des sozialen Selbstbewusstseins der beherrschten Klassen zu flankieren, d.h. selbst wenn diese Klassen an den Verhältnissen zu zweifeln oder gar zu verzweifeln beginnen, so bleiben sie ohne für sie erkennbare subjektive oder objektive Potentiale zur Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft paralysiert. Schlimmer noch, es droht hiermit eine regelrechte Ohnmachtsspirale innerhalb der beherrschten Klassen, denn wenn die vorhandene Unzufriedenheit immer wieder lediglich in bürgerlichen Organisationsformen und Horizonten mündet, dann sind Kampferfolge zwar möglich, behalten jedoch einen provisorischen Charakter, da sie meist nach der Erschöpfung der Kämpfe - und mit dem Fortbestand der bürgerlichen Verhältnisse - kassiert werden.

Aber, und damit kommen wir zur zweiten Frage: warum und wie wird diese Legitimitäts- und Ohnmachtsproduktion innerhalb der beherrschten Klassen durchbrochen, warum und wie kommt es zu jenen Phasen instabiler Herrschaft, in denen der Kapitalismus wankt und eine Überwindung desselben in greifbare Nähe rückt? Werfen wir zur Beantwortung dieser Frage einen genauen Blick auf die Marxsche Theorie, dann scheint es, als ob wir einerseits feststellen müssen, dass eine ungeheure Vielzahl von Faktoren eine solche Instabilität zur Folge haben kann - sodass Marx nicht von ungefähr schreibt: "Die Weltgeschichte wäre allerdings sehr bequem zu machen, wenn der Kampf nur unter der Bedingung unfehlbar günstiger Chancen aufgenommen würde. Sie wäre andererseits sehr mystischer Natur, wenn 'Zufälligkeiten' keine Rolle spielten. Diese Zufälligkeiten fallen natürlich selbst in den allgemeinen Gang der Entwicklung und werden durch andere Zufälligkeiten kompensiert. Aber Beschleunigung und Verzögerung sind sehr von solchen "'Zufälligkeiten' abhängig - unter denen auch der 'Zufall' des Charakters der Leute, die zuerst an der Spitze der Bewegung stehen, figuriert."[2] Andererseits mündet, wenn nach Marx insbesondere historische Beschleunigungen und Verzögerungen vom Zufall abhängen, die Marxsche Gesellschaftskritik damit keineswegs in das Postulat einer abstrakten Vielgestaltigkeit und Offenheit des historischen Prozesses, sondern sie verweist jenseits des Zufalls zugleich auf einen zentralen Motor der Geschichte, der - vor allem langfristig betrachtet - die gesellschaftlichen Verhältnisse und damit auch die bürgerliche Gesellschaft immer wieder notwendig in Bewegung bringt: die menschliche Arbeit.

Betrachten wir deshalb aus der Marxschen Perspektive diesen Motor im Folgenden etwas genauer, dann fällt zweierlei auf. Zum einen, so betont Marx beharrlich, fußt die bürgerliche Gesellschaft auf der unablässigen Entwicklung der menschlichen Arbeit, und das impliziert, dass alle anderen ökonomischen Erscheinungsformen dieser Gesellschaft abhängige Variablen dieses bürgerlichen Zwangs zur dauernden Steigerung der Produktivkraft der Arbeit sind. Die Größe der industriellen Reservearmee etwa ist abhängig von der nachgefragten Arbeitskraft und damit ist zugleich auch die Lohnentwicklung entscheidend geprägt durch den jeweiligen Stand der Arbeitsproduktivität. Oder: die Ausweitung der Zirkulation, insbesondere durch die Expansion des Weltmarkts und des Kredits, hängt ebenso ab von der Arbeitsproduktivität, denn da diese kontinuierlich ansteigt, müssen auch entsprechende Absatzmärkte stets zur Verfügung stehen. Des weiteren sorgt die unaufhörliche Steigerung der Arbeitsproduktivität für eine immer stärker werdende Tendenz zur Überakkumulation des Kapitals und damit für eine verschärfte Krisenanfälligkeit der bürgerlichen Gesellschaft, denn zum einen ist dies Kapital letztlich nur aufgehäufte menschliche Arbeit, d.h. je produktiver diese Arbeit wird, desto größer werden auch die aufgehäuften Kapitalmengen; zum anderen wiederum sorgt die steigende Arbeitsproduktivität zugleich dafür, dass die rentable Reinvestition dieser Kapitalmengen immer schwieriger wird, da auf fortgeschrittenen Produktionsniveaus immer gewaltigere Kapitalmengen für immer kleinere Produktivitätsfortschritte nötig werden[3], sodass das Kapital schließlich die Internationalisierung der Produktion forcieren muss, es in soziale Bereiche eindringt, in denen es bisher keine oder kaum eine Rolle spielte und es immer häufiger zu Finanzkapital wird, das diverse Prozesse fiktiver Kapitalanhäufung durchläuft.

So sehr aber Marx um die stille, aber gewaltige Maulwurfsarbeit der menschlichen Arbeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft wusste und so sehr er sie in seiner Kritik der politischen Ökonomie uns allen zu Bewusstsein zu bringen suchte, eben so sehr sah er, wie schwierig, ja fast unmöglich es für die Subjekte der Arbeitsproduktivität, die LohnarbeiterInnen, sein muss, sich der allumfassenden sozialen Dimension ihrer Praxis bewusst zu sein. Der Arbeitslohn verbirgt das "Umsonstarbeiten des Lohnarbeiters"[4] zum Zwecke der Mehrwertgewinnung diesem selbst, so dass der Lohnarbeiterin ihre sich beständig dynamisierende Produktion des zusätzlichen gesellschaftlichen Reichtums letztlich als statischer Prozess, als im besten Fall durch Lohnerhöhungen veränderter gerechter Tauschkreislauf erscheint. Teilung der Arbeit in geistige und körperliche, ihre Kombination unter dem Kommando des Kapitals, die Degradierung der Arbeitskraft zum Anhängsel der Maschine und letztlich die Ersetzung der menschlichen Arbeitskraft durch Verwissenschaftlichung und Technologisierung der Produktion sorgen außerdem dafür, dass die eigene Produktivkraft als Produktivkraft des Kapitals erscheint. Zu guter Letzt ist die Komplexität der ökonomischen Erscheinungsformen der bürgerlichen Gesellschaft dafür entscheidend, dass ähnlich wie etwa in der Vulgärökonomie die ökonomische und gesellschaftliche Totalität im Bewusstsein der LohnarbeiterInnen in verschiedene, voneinander unabhängige Sphären zerfällt, die scheinbar alle miteinander in relativer Selbständigkeit und gegenseitiger Wechselwirkung stehen und deren schlussendliche Abhängigkeit von der menschlichen Arbeit völlig in den Hintergrund tritt.

Übertragen wir nun diese Marxschen Erkenntnisse auf unsere Frage nach der Entstehung von instabilen Herrschaftsphasen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, dann können wir das Ergebnis wie folgt auf den Punkt bringen: Auch wenn die ArbeiterInnen ihre tägliche Lohnarbeit als Wiederkehr des Ewiggleichen, als durch die Lohnzahlung scheinbare abgegoltene bloße Plackerei zum Zwecke der eigenen Reproduktion erfahren, ist es doch diese implizit produktiver werdende Arbeit, die unmerklich, still und leise die gesellschaftliche Totalität der bürgerlichen Gesellschaft instabiler werden lässt, indem sie mit naturnotwendiger Sicherheit jene Widersprüche entwickelt, die früher oder später in große Weltmarktkrisen münden müssen. Und, um Missverständnisse vorzubeugen: Hiermit wird nicht behauptet, dass nach Marx jede instabile Phase des Kapitalismus durch Arbeit produziert wird, aber indem die LohnarbeiterInnen in der bürgerlichen Gesellschaft arbeiten, wie sie arbeiten, sorgen sie nach Marx mit zyklischer Notwendigkeit dafür, dass sie sich selbst massenhaft die beschränkte Befriedigung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft verderben und dass auf jede Prosperitäts- die nächste Krisenepoche folgt.

Aber: wenn es der Umgang der Gesellschaft mit der menschlichen Arbeit ist, der zyklisch im Kapitalismus die Verhältnisse unaufhaltsam instabiler macht, dann langt dieser Hinweis nicht, um die Entstehung instabiler Herrschaftsperioden im Kapitalismus zu erklären, denn die ArbeiterInnen haben mit der Produktion der Krise keineswegs ihre eigene Ohnmacht überwunden. Wie kann sich also neben der selbst produzierten Unzufriedenheit über die sozialen Verhältnisse auch die Selbsterkenntnis der Macht der eigenen Arbeit einstellen?

Erneut ist es sinnvoll, den historischen Zufall im Hinterkopf zu behalten, dennoch können der Orientierung halber zwei idealtypische Wege zur Erlangung dieser Selbsterkenntnis und damit eines radikalen Machtbewusstseins der ArbeiterInnen umrissen werden, nämlich die kontinuierliche Genese dieses radikalen Machtbewusstseins sowie die nachholende Entwicklung hin zu selbigem. Die kontinuierliche Genese des radikalen Machtbewusstseins - bei Marx übrigens im Zentrum seiner Überlegungen zu diesem Thema - führt uns zunächst zurück in die stabile Phase kapitalistischer Herrschaft. Denn, da wie anfangs angemerkt auch in dieser Phase Kämpfe der ArbeiterInnen - zumeist als Lohnkämpfe - nicht ausbleiben, können die ArbeiterInnen in diesen Kämpfen Erfolge und damit erste Kostproben der eigenen Macht machen.[5] Gelingt es ihnen nun, diese Erfolge und die dabei gemachten Erfahrungen kritisch zu reflektieren, gelingt es wiederum diese Reflexionen zu tradieren und damit eine lebendige Kontinuität von Kampf- und Machterfahrungen innerhalb und außerhalb ihrer spezifischen Kampfformationen zu sichern[6], dann wird die Krise für diese ArbeiterInnen zwar ihren Schrecken nicht verlieren, aber neben den spezifischen Zutaten der Krise[7] sind somit auch innerhalb der ArbeiterInnenschaft sehr viele Ansatzpunkte vorhanden, um durch die Intensität der Kämpfe in der Krise über ihre bürgerlichen Beschränkungen hinausgehen.

Die nachholende Entwicklung hin zu einem radikalen ArbeiterInnenbewusstsein wiederum geht zunächst von einem umgekehrten Szenario aus. Die Kämpfe innerhalb der stabilen Periode blieben sporadisch, d.h. insbesondere Kampferfolge hatten keine weitergehenden Debatten und Tradierungen innerhalb der Lohnabhängigen zur Folge, so dass die Krise dann im Anfang auf eine zersplitterte und ängstliche ArbeiterInnenschaft trifft, die die Lösung der Krise von oben erhofft und die Krise ihrem äußeren Anschein nach lediglich als Geldkrise[8] versteht. Aber auch wenn damit zu Beginn der Krise keine radikale Praxis der ArbeiterInnen gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft möglich ist, so besteht doch in der Entfaltung der sozialen Widersprüche des Kapitalismus durch die Krise, in der plötzlichen Beschleunigung und ungeheuren Aufladung sozialer Prozesse für die ArbeiterInnen doch die Möglichkeit Kampf- und Erfolgserfahrungen in kurzer Zeit nachholend zu durchlaufen, sodass sich bald ein radikales Machtbewusstsein ausbilden kann.[9] Wohlgemerkt "kann" - denn die Krise ist zwar ein soziales Treibhaus, da sie wie von Geisterhand die Alltagsstrukturen sehr vieler Menschen infragestellt, bedroht und zerstört, sodass ein "ruhiges Leben" kaum mehr möglich ist und der soziale Kampf für die eigenen Interessen immer nahe liegender wird. Aber weder gibt die Krise den ArbeiterInnen damit spontane Einsichten, noch sollte unbemerkt bleiben, dass bloße Verzweiflung - die bei einer ängstlichen ArbeiterInnenschaft die Hauptmotivation der ersten Krisenkämpfe ist - voller Ambivalenzen steckt, da sie besonders schnell in Apathie umschlägt und da sie einfache Losungen von rechts für die ArbeiterInnen attraktiv macht.

Kehren wir zum Schluss in die Gegenwart und damit zu den Ausgangsproblemen der Linken heute zurück. Welchen aktuellen Mehrwert haben die obigen Überlegungen für die Linke? Erstens: Weder haben soziale Kämpfe diese Krise produziert, noch das Finanzkapital, so unlieb uns seine VertreterInnen auch erscheinen mögen, sondern nach einem langen Zyklus und trotz seit knapp drei Jahrzehnten erlahmender Kampfbereitschaft[10] haben die LohnarbeiterInnen - ohne es zu wollen, durch die schlichte Art, wie sie arbeiten (müssen?) - dafür gesorgt, dass der Kapitalismus instabiler geworden ist. Deshalb sollte die Linke folgern, dass die LohnarbeiterInnen als ProduzentInnen der Krise sind auch der Ausweg aus derselben sind. Zweitens: Die Hoffnung der Linken kann in dieser Krise nur in einer nachholenden Entwicklung hin zu einem radikalen ArbeiterInnenbewusstsein liegen, denn drei Jahrzehnte erlahmender Kämpfe sind, da wir uns erst im Anfang der Krise befinden, nicht auf die Schnelle kompensierbar. Damit ist dies aber auch eine vage Hoffnung, denn auf die großen Gefahren dieser nachholenden Entwicklung zu einem radikalen Machtbewusstsein der ArbeiterInnen haben wir hingewiesen. Trotzdem sollte die Linke ihre Praxis an dieser Hoffnung orientieren. Es gilt, eigene Versäumnisse auszubügeln und den sozialen Kontinent der ArbeiterInnenklasse für diese Linke wieder zu entdecken sowie sich dabei auf mehr als eine Enttäuschung bereit zu machen, denn tatsächlich sorgen die ungünstigen Voraussetzungen dreier verlorener Jahrzehnte, mit denen die LohnarbeiterInnen in diese Krise gehen, für die Anfälligkeit für politizistische und nationalistische Kurzschlüsse. Schließlich: Die Fähigkeit der bürgerlichen Gesellschaft, manifester werdende Schwierigkeiten hinauszuzögern, sollte weiterhin berücksichtigt werden, aber sie sollte nicht von der schlussendlichen Notwendigkeit der bürgerlichen Gesellschaft, schmerzvolle und langwierige Krisenphasen zu durchlaufen, ablenken. Es ist also nicht auszuschließen, dass massive Konjunkturprogramme, Nullzinspolitik und Verstaatlichungsstrategien der großen Industrieländer bald Erfolge zeitigen. Auch wenn dies nicht der Beginn einer großen Weltmarktkrise ist, so ist es mit Sicherheit der Vorbote einer solchen in den nächsten 10-20 Jahren und das bedeutet, wir stehen vor einer derart langen Zeit intensiver sozialer Kämpfe, das die Erneuerung eines stabilen Kapitalismus einstweilen aus dem Blick geraten wird. Ob wir deshalb als Linke dahin kommen, erneut eine instabile Phase kapitalistischer Herrschaft mit herzustellen, ja womöglich die Aufhebung derselben in greifbare Nähe rückt, werden wir sehen.

E-mail: cubie@web.de


Anmerkungen:

[1] Folgt man Eric J. Hobsbawm, dann gab es ein solch goldenes Zeitalter nicht nur zwischen 1945 und 1990 (E.J. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1998), sondern bereits vorher, denn er schreibt: "Für die Mehrzahl des Staaten des bürgerlichen und kapitalistischen Westens (...) war die Periode von 1875-1914 und ganz besonders die von 1900 bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs trotz aller Unruhen und Abweichungen von der Normalität eine Zeit der politischen Stabilität. Bewegungen, die das System ablehnten, wie der Sozialismus, waren in seinem Netz gefangen oder konnten sogar - wenn sie genügend machtlos blieben - als Katalysatoren für den Konsens der Mehrheit dienen." (E.J. Hobsbawm, Das imperiale Zeitalter 1875-1914, Frankfurt am Main 2004, S.141 f. vgl. ebd., auch S. 134, 153, 174.)

[2] MEW, Bd. 33, S.209.

[3] Wenn nach Marx Kapitalüberakkumulation und tendenzieller Fall der Profitrate Hand in Hand gehen, dann steckt in der These vom tendenziellen Fall der gesellschaftlichen Profitrate auch der Hinweis, "dass mit der relativen Abnahme des variablen Kapitals, also der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit eine wachsend größre Masse Gesamtkapital nötig ist, um dieselbe Arbeitskraft in Bewegung zu setzen und dieselbe Masse Mehrarbeit einzusaugen." (MEW, Bd.25, S.232) Dass diese These Marxens auch z.B. im Hinblick auf die sog. IT-Revolution Bestand hat, d.h. dass auch deren Produktivitätsfortschritte keine historische Ausnahme darstellen, zeigt Doug Henwood, After the New Economy, New York 2003, S. 39 ff.

[4] MEW, Bd.23, S.562.

[5] Diese "Kostprobenfunktion" aber auch der obige Hinweis, dass nach Marx instabile Phasen des Kapitalismus nicht ausschließlich durch Arbeit produziert werden, macht deutlich, warum emanzipative soziale Kämpfe stets und unabhängig von ihrem Inhalt ihre Berechtigung haben, d.h. die hier vertretene These, dass es eine Differenz zwischen stabilen und instabilen Phasen des Kapitalismus gibt, kann nie dazu dienen, Kämpfe durch Verweis auf die ungünstigen Umstände oder ihren Inhalt zu diskreditieren.

[6] Die kontinuierliche Genese eines radikalen Machtbewusstseins hat Marx im Blick, wenn er schreibt: "Während wir den Arbeitern sagen: Ihr habt 15, 20, 50 Jahre Bürgerkriege und Völkerkämpfe durchzumachen, nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um euch selbst zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen, sagt ihr im Gegenteil: ,Wir müssen gleich zur Herrschaft kommen, oder wir können uns schlafen legen.'" (MEW, Bd. 8, S.412) Die Bedeutung der Lohnkämpfe hebt er wiederum hervor, wenn er bemerkt: "Abgesehen davon, dass die Tatsache des industriellen Zyklus mit seinen verschiedenen Phasen alle solche Durchschnittslöhne unmöglich macht, bin ich ganz im Gegenteil davon überzeugt, dass das aufeinanderfolgende Steigen und Fallen der Löhne die ständigen daraus resultierenden Kämpfe zwischen Fabrikanten und Arbeitern in der gegenwärtigen Organisation der Produktion die unerläßlichen Mittel sind, den Kampfgeist der Arbeiterklasse lebendig zu halten, diese in einer einzigen großen Vereinigung gegen die Übergriffe der herrschenden Klasse zusammenzufassen und sie davon abzuhalten, zu Mitleid heischenden, gedankenlosen, mehr oder weniger gut ernährten Produktionsinstrumenten zu werden." (MEW, Bd. 9, S.170 f.)

[7] Bemerkenswert ist insbesondere die Totalitätsdimension der Krise, denn: "Es sind die Krisen, die diesem Schein der Selbständigkeit der verschiedenen Elemente, worin sich der Produktionsprozess beständig auflöst und die er beständig rückerzeugt, ein Ende machen." (MEW, 26.3., S.507)

[8] "In einem Produktionssystem, wo der ganze Zusammenhang des Reproduktionsprozesses auf dem Kredit beruht, wenn da der Kredit plötzlich aufhört und nur noch bare Zahlung gilt, muß augenscheinlich eine Krise eintreten, ein gewaltsamer Andrang nach Zahlungsmitteln. Auf den ersten Blick stellt sich daher die ganze Krise nur als Kreditkrise und Geldkrise dar." (MEW, Bd. 25, S.507)

[9] Die nachholende Entwicklung hin zu einem radikalen ArbeiterInnenbewusstsein wird von vielen Linken häufig schnell als "Verelendungstheorie" gebrandmarkt. Allein: zeigt z.B. das jüngste Beispiel Argentiniens nicht, dass Verelendung durchaus fortschrittliche soziale Kämpfe mitprovozieren kann? Außerdem: wie viele ernst zunehmende DenkerInnen haben tatsächlich die soziale Revolution einseitig allein von der Verelendung breiter sozialer Klassen abhängig gemacht?

[10] Legt man Beverly Silvers Zahlen über die Entwicklung der globalen Arbeiterkämpfe zugrunde, dann ist ab ca. 1980 eine deutliche Abnahme dieser Kämpfe bis in die Gegenwart zu konstatieren. (B. Silver, Forces of Labor: Workers' Movements and Globalization since 1870, Cambridge 2003)

Raute

Theodor W. Adorno: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft.
Nachgelassene Schriften, Vorlesungen Band 12

Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008, 277 Seiten, 26,80 Euro

Die Zeit der Kritik und die Spontaneität des Denkens

Adorno hat das Bild des kritischen Intellektuellen in der BRD nachhaltig wie kaum ein anderer Denker geprägt. Seit den 50er Jahren galt er als fester Bezugspunkt in Auseinandersetzungen um Ethik, Kultur, Ästhetik, sozialwissenschaftliche Methoden und Musiktheorie. Gegenwärtig scheint Adorno, wo er nicht nachträglich zu einer identitätsstiftenden Figur der BRD verklärt und in die Reihe deutscher Meisterdenker erhoben wird, hauptsächlich noch als linkskonservativer, moralisierender Kulturkritiker in Erinnerung geblieben zu sein: als Theoretiker, der im Pathos der Verneinung und oftmals mit elitärem Unterton die Unentrinnbarkeit des gesellschaftlichen Verdinglichungszusammenhangs anprangerte, Jazz unausstehlich fand und in einem schwierigen Verhältnis zu den Studentenprotesten seiner Zeit stand.

Das 2003 zu Adornos 100. Geburtstag in Frankfurt errichtete Denkmal, das seinen Arbeitsplatz darstellt - isoliert von der Außenwelt durch dicke Glasscheiben -, kann als symptomatisch dafür gelten, dass er eher als ein Philosoph, der sich in hermetischer Sprache verbarrikadierte, wahrgenommen wird, denn als Denker, dessen Texte auch heute noch zu lebendiger Aneignung einladen. Die Musealisierung Adornos aber macht uns die radikalen Implikationen seines Denkens unzugänglich. In Vergessenheit gerät, dass er in seiner intellektuellen Praxis Gesellschaftskritik nicht lediglich im Zeichen kulturpessimistischer Bestürztheit betrieb. Vielmehr galt ihm Kritik als Ort der Bewahrung eines emphatischen Vernunftbegriffs, welcher den Möglichkeitssinn schärfen und festhalten sollte, dass die bestehende Wirklichkeit nicht die einzig denkbare ist.

Mit dem diesen Jahres von Tobias ten Brink und Marc Phillip Nogueira herausgegebenen Band Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft liegt nun die achte von 15 Vorlesungsabschriften Adornos vor. Die 1964 gehaltene Vorlesung, in der Adorno bewusst unsystematische, dafür umso vielschichtigere Reflexionen über Möglichkeit und Charakter von Gesellschaftstheorie anstellt, legt Zeugnis über seine theoretische und politische Positionierung in der Debattenlandschaft seiner Zeit ab. Darüber hinaus aber werden Fragen angesprochen, die für eine Bestimmung des kritischen Potentials sozialwissenschaftlicher Forschung auch heute zentral sind: Warum bedarf Gesellschaftswissenschaft der Theorie, inwiefern sind Auseinandersetzungen um den Stellenwert von Theorie und sozialwissenschaftlichen Methoden mit politischen Positionen verknüpft und in welchem Verhältnis steht eine Theorie der Gesellschaft zu ihrem eigenen Gegenstand? Die Überlegungen, die Adorno in Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft zu diesen Zusammenhängen anstellt, könnten zum Anlass genommen werden, erneut die Anschlussfähigkeit und Fruchtbarkeit kritischer Theorie zu prüfen.

Adorno liest die kanonischen Texte der Philosophie und Soziologie als "Kraftfelder" und ist bestrebt, aus theoretischen Debatten einen Sinn herauszulesen, der über die Sphäre der Philosophie hinausweist und so über ihren Gesellschaftsbezug, ihren impliziten politischen Gehalt, aber auch über die Verfasstheit der Gesellschaft selbst Aufschluss gibt. So verbindet sich auch mit seinem eigenen Projekt der Anspruch, dass Theorie auf ihr Verhältnis zum eigenen gesellschaftlichen Kontext reflektieren und so eine kritische Haltung entwickeln soll. Kritische Haltung meint dabei nicht ein vorgefasstes Urteil, sondern soll aus der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand hervorgehen.

In der Vorlesung Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft wird dieses Selbstverständnis epistemologisch zugespitzt: Im Versuch, Philosophie und Soziologie gegen ihre disziplinäre Vereinseitigung miteinander zu verknüpfen, zeigt Adorno, dass Fragen über die Möglichkeit und das Wesen einer Theorie der Gesellschaft nicht lediglich abstrakt-erkenntnistheoretischer Art sind. Vielmehr müssen sie anhand materialer Problemstellungen verhandelt werden. Denn Methode und Inhalt sind nicht abstrakt voneinander zu trennen. Die in der Vorlesung angestellten Zeitdiagnosen werden von Adorno daher auch im Hinblick auf ihre wissenschaftsphilosophischen Implikationen befragt. Marx' Kritik der politischen Ökonomie zugleich historisierend und fortschreibend, entwickelt er "Elemente" einer Gesellschaftstheorie, also theoretische Modelle zur Analyse der gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen seiner Zeit, welche die Notwendigkeit dialektischen Denkens bekunden sollen. So problematisiert er etwa die These von der Integrationskraft des Kapitalismus und zeigt, dass unter der Oberfläche einer "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" der Klassenantagonismus in Form der Disproportion zwischen geballter gesellschaftlicher Macht und erfahrener Ohnmacht fortdauert. In den Verarbeitungsformen dieser Ohnmacht - "Konkretismus", Realitätsgerechtigkeit und Internalisierung gesellschaftlicher Zwänge - tritt Ideologie weniger als Verschleierung der Wirklichkeit, denn als bloße Verdoppelung des Faktischen unter dem Vorzeichen dessen Unveränderbarkeit auf.

Die angesichts dieser Entwicklungen diagnostizierte Schwierigkeit, Gesellschaft begrifflich zu durchdringen, gibt der Theorie die Aufgabe auf, sich durch Reflexion auf ihre eigenen Bedingungen, auf sich selbst zu besinnen: Gesellschaftstheorie muss also die Frage nach der Theoretisierbarkeit von Gesellschaft in sich aufnehmen. Die Konturen seines Theorieverständnisses entwickelt Adorno dabei in ständiger Kritik an der Wissenschaftsgesinnung des Positivismus. Indem dieser das Denken in ein rigides Regelwerk zwänge und Erkenntnis auf die registrierende Wiederholung des Bestehenden reduziere, reproduziere er gesellschaftliche Zwänge auf wissenschaftlicher Ebene. Ebenso skeptisch zeigt sich Adorno gegenüber Versuchen, die soziale Welt durch einstimmige theoretische Systeme zu erklären. Theorie muss zugleich System und Nicht-System sein, so Adorno: Sie soll die Einheit der Gesellschaft, deren wesentliche Strukturzusammenhänge aufzeigen, ohne dabei die Komplexität und Widersprüchlichkeit des Gegenstandes Gesellschaft zum Zwecke eindeutiger Erklärungen einzuebnen. Ihr herrschaftskritisches Potential entfaltet sie, wo sie jene Punkte zu benennen vermag, an denen Widersprüche aufscheinen und die Rationalität gesellschaftlicher Teilbereiche in die Irrationalität des Ganzen umschlägt. Adorno wird hier zugleich als Fürsprecher lebendigen Denkens erkennbar: Seine Kritik am "Methodenfetischismus" in der Soziologie einerseits, dem Identitätszwang philosophischer Systementwürfe andererseits, stellt auch ein Plädoyer für die Spontaneität des Denkens dar, für eine unreglementierte Erfahrung, die im Stande sein soll, anstelle festgefahrener Denkschemata eine primäre Beziehung zur Sache zu etablieren.

Die Vorlesung Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft trägt sicherlich zu einer Klärung des Selbstverständnisses kritischer Theorie bei. Wer sich jedoch eine einfache Antwort auf die Frage, was Gesellschaftheorie sei und wie sie auszusehen hätte, erwartet, wird enttäuscht werden. Stattdessen werden die Konturen eines Denkens sichtbar, das beständig danach strebt, das Herrschaftsmoment in den behandelten Phänomenen herauszuarbeiten, ohne den Anspruch zu stellen, einen archimedischen Punkt, von dem aus die soziale Wirklichkeit systematisch fassbar und vollends durchsichtig würde, festmachen zu können. Adorno gilt Theorie nicht als Hüterin einer einmal festgeschriebenen Wahrheit, sie ist kein politisches Programm und macht sich keines unverantwortlichen Utopismus, aber auch nicht des unverbesserlichen Pessimismus, der ihr oft nachgesagt wird, schuldig. Wenn Theorie einen "Zeitkern" hat, kann der Gefahr ihrer dogmatischen Erstarrung einzig durch ihre Aktualisierung abgeholfen werden. Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft zeigt, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, dass Gesellschaftswissenschaft Teil des von ihr analysierten historischen Zusammenhangs ist. So wird auch nachvollziehbar, warum Adorno die Emphase dessen, was es bedeutete, den gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang zu durchbrechen, in Gesellschaftskritik legt: Der historische Augenblick seines eigenen Schaffens sei einer der Kritik.

Am Ende der Vorlesung steht damit die Frage im Raum, welche Rolle kritischer Wissenschaft zu einem Zeitpunkt zukommen kann, da der direkte Übergang von der Theorie zur Praxis, überhaupt die Möglichkeit umfassender Veränderung der Gesellschaft, verbaut scheint. Trotz aller Nachrufe auf Versuche, eine umfassende und fundamentale Gesellschaftskritik zu formulieren, ist dies eine Frage, die ihrer weiteren Bearbeitung harrt.

Katherina Kinzel

Raute

Christoph Jünke: Der lange Schatten des Stalinismus. Sozialismus und Demokratie gestern und heute.

Köln: Neuer ISP Verlag, 2007, 207 Seiten, 19,80 Euro

Christoph Jünke eröffnet seine Aufsatzsammlung mit der Diagnose, dass nach dem "Epochenbruch der Jahre 1989-1991" nicht nur "von einem welthistorischen Sieg des Kapitalismus" die Rede sein kann, sondern auch von einem "posthume[n] Triumph des Stalinismus", da dieser es geschafft habe, den "authentischen Kommunismus, die gleichermaßen antikapitalistische wie antistalinistische Linke als eine historische Bewegung wesentlich desorganisiert und mitzerschlagen zu haben" (7).

Davon ausgehend, dass "uns" der Stalinismus "in Theorie und Praxis solange verfolgen" wird, "solange das kapitalistische Bürgertum nicht weltweit enteignet ist und sich die Kräfte eines emanzipativen Sozialismus unwiderruflich durchgesetzt haben" (14),[1] versucht Jünke einerseits zu klären, welche Stalinismusanalysen am tragfähigsten sind und wendet sich andererseits kritisch den neostalinistischen Diskursen innerhalb der Linken zu. Was die Analyse angeht, so verteidigt er Isaac Deutschers Ausführungen gegenüber den Analysen Werner Hoffmanns, dem Jünke nicht nur "strukturelle Widersprüche" nachweist (19), sondern auch eine Verklärung des Stalinismus "zu einer gleichsam bürgerlichen Modernisierungsdiktatur" vorwirft, die den Weg zum Sozialismus geebnet hätte (20). Deutscher hingegen hält Jünke zugute, dass dieser zwar auch von einer unvollendeten Revolution ausgehe, diese aber keineswegs als "Perspektive einer gesicherten oder harmonischen Transformationsperspektive zum möglichen Sozialismus" verstanden hätte (38). Nachdem sich der zweite Aufsatz mit Georg Lukàcs beschäftigt, dessen widersprüchliche Beurteilungen des Stalinismus kritisch herausgearbeitet werden, wendet sich Jünke mit Leo Kofler demjenigen zu, der ihm zufolge die beste Stalinismusanalyse, vor allem als Ideologiekritik am Stalinismus, bereitgestellt habe.[2] Ausgehend davon, dass der Stalinismus das "Produkt der Interessen der Bürokratie als einer gesellschaftlichen Schicht" und keineswegs eine historische Notwendigkeit (z.B. 77) sei, gehe Kofler über die Vorstellungen hinaus, die "in Kategorien bürokratischer Verschwörung" denken würden und betont, dass die "bürokratische Ideologie (...) nicht nur reiner Zynismus, sondern vielmehr objektive Selbsttäuschung, eben Ideologie" gewesen sei (72). Als die drei charakteristischen "Entstellungen des Marxismus" werden ausgemacht: die Eliminierung der Dialektik, die Reduzierung auf einen platten Ökonomismus und das Vergessen des marxistischen Humanismus (73). Dass es über Kofler hinaus zu denken gelte macht Jünke vor allem an dessen "nie wirklich reflektierter Leerstelle" deutlich, wie sich denn "diese sozialistisch-demokratisch selbst tragenden Menschen" - auf die Kofler setzt - "herausbilden und verstetigen können" (83). Die Antwort auf diese Problematik besteht Jünke, dies arbeitet er an verschiedenen Stellen seiner Aufsatzsammlung heraus, in einem Rückgriff auf Luxemburgs Vorstellungen einer sofort einzusetzenden sozialistischen Demokratie (40). In diesem Zusammenhang kommt er desöfteren auf den Abscheu vieler Linken vor der bürgerlichen Demokratie zu sprechen, wobei er diesen zugute hält, zwar deren verschleiernden (ökonomischen) Klassencharakter zu erkennen, aber auch vorwirft, dabei die positiven (politischen) Errungenschaften derselben zu übersehen. Auch wenn es deshalb an die emanzipatorischen Potentiale bürgerlicher Demokratie anzuknüpfen und diese auch (da ständig bedroht) einzufordern gelte (105), besteht Jünke darauf, dass der Übergang von bürgerlichen zu sozialistischen Verhältnissen, einen revolutionären "qualitativen Bruch" erfordere (138). "Die sozialistische Umwälzung kann," so Jünke, "anders als alle bisherigen Revolutionen in der Geschichte, nur als eine eminent bewusste und selbsttätige Tat der Bevölkerungsmehrheit gegen eine sie ausbeutende und erniedrigende Minderheit gelingen. Die moderne lohnarbeitende Klasse hat mehr zu verlieren als bloß ihre Ketten. Ihre Entscheidung zum Sozialismus ist nicht die »Freiheit von«, sondern die »Freiheit zu«. (...) Sozialismus stellt erstmals den aktiven, selbstbewussten Menschen in den Mittelpunkt von Arbeit und Leben, nicht als Objekt, sondern als Subjekt." (142)

Von besonderem (aktuellen) Interesse sind auch die Aufsätze zu Luciano Canforas Demokratieverständnis und Domenico Losurdos Neostalinismus (auch der Gastaufsatz von Manfred Behrend über die Weißenseer Irrwege), in denen gezeigt wird, wie erschreckend stark stalinistische Denkfiguren in der Teilen der gegenwärtigen 'Linken' vorhanden sind.

In seiner kritischen Stoßrichtung und in seinem Plädoyer für eine linkskommunistische, antistalinistische Politik, liegt zweifellos die Stärke des Buches von Jünke. Auch vielerlei theoretische Einblicke lassen sich auch ihm gewinnen. Nichtsdestotrotz bleibt vieles durchaus undeutlich und auch problematisch. So seine Behauptung, dass der Stalinismus den ihm unterworfenen Menschen (auf Kosten ihre politischen Freiheit) materielle Sicherheit garantiert habe (142). Dies sollte mal den Abertausenden gesagt werden, die bei den stalinschen - zum Großteil völlig unsinnigen - Großprojekten elendig zugrunde gegangen sind. Oder die seltsame Unentschiedenheit gegenüber der Rolle Lenins, bei dem er zwar eine durchaus vorhandene Gefahr erkennt, die Partei zu einer Apriori-Zentralinstanz der Vernunft zu verdinglichen (141), der aber andererseits (implizit) zu stark vom auf ihn folgenden Stalinismus durch Nichtbeachtung entlastet wird. In diesem Zusammenhang muss auch Jünkes Verteidigung eines "originären Marxismus" genannt werden, der blind für die Frage ist, inwieweit schon bei Marx selbst problematische Denkfiguren angelegt sind. All dies sind Fragen, die sich kritische MarxistInnen zu stellen haben und ja auch stellen. Schließlich kehrt er mit seiner Bemerkung, dass es eine Avantgarde geben müsse zu uralten und prinzipiellen Problemen zurück, die man nicht einfach nur mit dem Hinweis ad acta legen kann, dass deren Verselbständigung verhindert werden müsse (141). Ein ähnlich gelagertes Problem betrifft die Rolle der, von Jünke nicht hinterfragten "Übergangsphase" und der damit verbundenen Rolle des Staates. Warum gerade die Geschichte des "ehemaligen »Realsozialismus«" zeige, dass "selbst wenn wir jetzt mit dem Aufbau des Sozialismus beginnen könnten, noch lange politische Repräsentations- und Verwaltungsorgane brauchen - und damit auch eine Form des Staates" (206), wird nicht recht einsichtig. Fordert diese Geschichte stattdessen nicht vie1mehr, dass man sich auch mit anarchistischen Vorstellungen auseinandersetzen muss und diese nicht einfach nur überheblich abwehrt (104).[3] Völlig zu Recht fordert Jünke ein, eine "Ethik des Klassenkampfes" zu entwickeln (150). Und so heißt es: "Alle Mittel sind erlaubt, sofern sie die Ohnmacht und Bewusstlosigkeit der lohnarbeitenden Klasse überwinden, deren Klassensolidarität und Klassenautonomie befördern und die allgemeinmenschliche Emanzipation aller unterdrückten und ausgebeuteten Schichten, Ethnien und Geschlechter beflügeln." (140) Leider weist eine solche 'Ethik' keineswegs über die Leninsche hinaus[4] und wer nach dem letzten Jahrhundert einen Satz mit 'Alle Mittel sind erlaubt' beginnt, verfehlt m.E. nicht nur das eigentliche Problem einer sozialistischen Ethik, sondern verhält sich auch verantwortungslos gegenüber dem linken Erbe.[5]

Alles in allem ist das Buch dennoch zu empfehlen und als engagierte Kampfschrift für einen freiheitlichen und radikal-demokratischen Sozialismus zu würdigen. Gerade auch vor dem Hintergrund der publizistischen Probleme, die der Autor mit seinen Interventionen bekommen hat und den Verleumdungen, denen er ausgesetzt wurde und ist (vgl. 143ff.).

Wie es keine strategische, sondern eine ethische Anforderung an die Linke bleibt, sich mit dem Stalinismus kritisch auseinanderzusetzen (147), so auch der Kampf für eine andere, bessere Gesellschaft: "'Es ist unsere Pflicht als Sozialisten, dem Kapitalismus zu widerstehen und auch jene Kämpfe zu kämpfen, die besonders hoffnungslos erscheinen. Das ist der Kern unserer Aufgabe: Du kämpfst nicht nur, weil du gewinnen kannst, sondern weil du deine Prinzipien und Werte zu verteidigen hast.' (Boris Kargalitzki) Darum geht es - und um die Klärung, welchen Prinzipien und Werten wir uns verpflichtet fühlen." (207)

Phillippe Kellermann


Anmerkungen:

[1] "Gerade weil der Stalinismus mehr ist als ein geschichtliches Ereignis; weil er ein politisches Denken ausdrückt, das mit den spezifisch nationalen Bedingungen eines Sowjetrusslandes während der 1920er Jahre überhaupt nichts zu tun zu haben braucht; weil er eine spezifische Methodik politischer Theorie und Praxis zum Ausdruck bringt, die allzeit virulent wird, wenn es um Emanzipations- und Transformationsprozesse über den herrschenden Kapitalismus hinaus geht, werden wir das Thema nicht so schnell los." (88f.)

[2] Mit dem vor allem vom (ebenfalls heute zu unrecht vergessenen) Austromarxisten Max Adler beeinflussten Leo Kofler hat sich Christoph Jünke in seiner überaus lesenswerten Dissertation beschäftigt (Christoph Jünke: Sozialistisches Strandgut. Leo Kofler. Leben und Werk (1907-1995). VSA, 2007).

[3] Es ist bezeichnend für das historische Bewusstsein vieler Linker, wenn immer wieder auf die 'prophetische' Kritik von Luxemburg oder des frühen Trotzkis hingewiesen wird, dabei aber kein Wort darüber verloren wird, dass diese oftmals so wirkt, als sei sie bei Anarchisten des 19.Jhr. abgeschrieben.

[4] "Wir sagen: sittlich ist, was der Zerstörung der alten Ausbeutergesellschaft dient und dem Zusammenschluss aller Werktätigen um das Proletariat, das die neue kommunistische Gesellschaft errichtet." (Lenin zit.n. Fetscher, Marxismus, S.274)

[5] Welche brutalen Folgen jene Ethik, nach der der Zweck die Mittel heilige, nach sich zog und welche Rolle sie spielte, wird in so ziemlich jedem Buch ausgeführt, das sich kritisch mit dem Stalinismus beschäftigt.

Raute

Subcomandante Marcos: Kassensturz

Interviews mit Laura Castellanos

Hamburg: Edition Nautilus, 2008, 160 Seiten, 14.30 Euro

Die mexikanische Journalistin Laura Castellanos und der Fotograf Ricardo Trabulsi bieten dem Subcomandante Marcos, dem "Sub", wie ihn seine Freunde nennen, in dem neu bei Nautilus erschienenen Buch "Kassensturz" ein Forum zur Darstellung seiner Reflexionen über den Werdegang der EZLN und der zapatistischen Bewegung. Neben dem zentralen Interview wird der Blick auf die Zapatisten abgerundet durch eine kurzes vorausgegangenes Interview und dann auch die "Sechste Erklärung des EZLN aus dem lakandonischen Urwald" von 2005. Mindestens drei Lesarten machen das Buch höchst interessant.

Zum ersten ist da die Geschichte der Zapatisten selbst, die seit 10 Jahren fast in Vergessenheit geraten ist, sich in ihrer relativen und teils bewusst gewählten Isolation vom öffentlichen Diskurs[1] aber klar weiter entwickelten. Zum zweiten bieten die selbstkritischen Blicke von Marcos und der EZLN in ihrer 6. Erklärung Ansatzpunkte für unsere eigenen Reflexionen auf eine Bewegung, die durch ihre subjektbezogenen Sichtweise sich so sehr unterscheidet von allen traditionellen staatsbezogenen Ansätzen. Und zum dritten gelingt es Laura C. durch ihre hartnäckigen, gelegentlich impertinenten Fragen an Marcos, diese Person in einer bisher einmaligen Weise in seiner inneren Widersprüchlichkeit zu skizzieren: einerseits als Mythos, anfangs eher unbewusst und dann zunehmend bewusst als strategische Person benutzt und andererseits als ein fast normaler Mensch. Warum "fast"? Seine hohe Gefährdung als "Staatsfeind Nummer 1" macht ihn auch zu einem ewig gehetzten, ohne ein festes Zuhause, neben einigen wenigen Klamotten nur ein paar ihm besonders lieb gewordene Bücher im Gepäck. Vertraute Beziehungen bleiben somit größtenteils auf der Strecke bis hin zur Liebe.

Die Geschichte der Zapatisten verkommt damit nicht zu einem Scharz-Weiß-Gemälde, das stehen bliebt in der Mystifizierung einer Bewegung, die uns damit heute nur noch wenig zu sagen hätte: für die einen zu einem für uns unerreichbaren Ideal hochstilisiert, von den anderen als eine gescheiterte und damit nicht mehr interessante Episode in der Revolutionsgeschichte abgetan.

Gerade die selbstkritischen Reflexionen, zu denen Laura Castellanos Marcos verleitet, regen die Leser zu eigenen Gedanken an. Die Spannweite seiner Gedanken machen die beiden Interviews sehr lebendig: einerseits der Traum von der Organisation eines gemeinsamen mexikanischen Widerstands, hinter dem für mich ein eher traditioneller Hintergrund eines Linksintelektuellen hervorschimmert und andererseits der schlichten, aber sehr ehrlichen Bemerkung : "Kann sein, dass sich hinter dieser Ungewissheit" ... "nichts verbirgt". (s.S. 98). Hier spricht nicht ein weiser Revolutionär, der uns sagen könnte, wohin der Weg geht. Es berichtet uns ein ewig Lernender über sein Leben in einer für ihn vor mehr als 20 Jahren weitgehende fremden indigenen Gemeinschaft und ein Beobachter, der in der "Otra Campaña" (Andere Kampagne, 2006) als Zuhörender versuchte, die Realität des derzeitigen Mexikos zu erfassen.

Gegen Ende des Interviews spricht er mehr vom Aufbau eines neuen Netzwerks all der Rebellischen und unter unmenschlichen Bedingungen Lebenden, die er auf seiner Reise durch Mexiko kennen gelernt hatte (s.S. 98).Und doch betont er an anderer Stelle immer wieder die Autonomie der Bewegung, die regionalen und kulturellen Unterschiede, die es nicht erlauben, übertragbare Modelle zu entwickeln. Der auch für uns täglich quälende und doch unauflösbare Widerspruch zwischen Wunsch und Wirklichkeit zieht sich durch das ganze Buch. Dennoch geben die Interviews einen Einblick in das Besondere der zapatistischen Bewegung, wie die Autorin es in der Einleitung formuliert: "Ricardo und ich sind der Ansicht, dass der Zapatismus eine Lehre für die Menschheit ist ... Nach unserem Dafürhalten verbindet der Zapatismus universelle Sehnsüchte mit konkreten Praktiken" (s.S. 18).

Genau darin sehe ich auch die Einmaligkeit dieser Bewegung, war sie doch von Anfang an ein Traum[2] und zugleich eine Strategie, ganz konkret verbunden mit praktischen Schritten in ein anderes Leben in Würde schon jetzt, heraus aus einer Existenz in permanenter Demütigung, Armut und Entrechtung. Weit entfernt ist auch heute das Leben in den indigenen Gemeinden vom revolutionären Paradies. Manche fragen: Was hat das alles gebracht? Die zapatistischen Gemeinden sind heute mindestens so bedroht wie vor dem 12tägigen bewaffneten Aufstand im Januar 1994. Marcos berichtet, dass die indigenen Bauern gerade in letzter Zeit wieder verstärkt von Großgrundbesitzern und ihren Paramilitärs mit dem Tode bedroht werden, um sie von ihrem Land zu vertreiben. Und noch lange nicht beerdigt ist der Plan Puebla Panama, der das wunderschöne Natur- und Kulturerbe von Chiapas in eine profitträchtige Ressource für Wasserprivatisierer und Tourismuskonzerne verwandeln möchte.

In "Kassensturz" wird all das nicht beschönigt und doch gelingt es Marcos und seiner Interviewpartnerin uns einen Blick werfen zu lassen in das andere, lebenswertere und damit auch für uns attraktive Leben. Ich meine damit diese von der orthodoxen Linken so weit entfernte Sichtweise auf eine andere Welt, die es nach den Worten der Zaptististen nicht zu verändern, sondern neu zu erschaffen gilt. "Dass es ihnen über die Räte der guten Regierung gelungen sei, die Machtbeziehungen umzukehren", bezeichnete Marcos in dem zusammengefassten ersten Interview in Rincon Zapatista "als ein weltweit richtungsweisendes Beispiel. Denn sie hätten damit bewiesen, dass eine Gesellschaft ohne politische Parteien lebensfähig ist und dass es möglich ist, eine horizontale, einschließende und nicht-korrupte Politik zu betreiben"(s.S.105). Einen wichtigen Schritt in diese andere Welt bedeutet auch die vom mexikanischen statistischen Bundesamt festgestellte Tatsache, dass es heute in den zapatistischen Gemeinden weit weniger Alkoholismus, weniger Vergewaltigungen und Missbrauch von Frauen und weniger Schulabbrecher gibt als unter den Nicht-Zapatistischen (s.S. 106). Dieser Erfolg spricht gleichzeitig Bände über die veränderte, wenn auch noch lange nicht befriedigende Stellung der Frauen im zapatistischen Alltag. Und nicht zuletzt sei darauf hingewiesen, dass inzwischen viele Indigene aus nichtzapatistischen Gemeinden in Konfliktfällen lieber zur Schlichtungsstelle der Räte der guten Regierung gehen, da sie sich dort gerechter behandelt fühlen als von einem normalen mexikanischen Gericht (s. S.106).

Zeugnisse des anderen Denkens finden sich auch in der den beiden Interviews angehängten "Sechsten Erklärung der EZLN aus dem lakandonischen Urwald" vom Juni 2005 (S.121 ff). Wie sie selbst immer wieder an Hand ihrer Geschichte hervorheben, haben sie einen langen Weg auf der Suche nach gesetzlicher Anerkennung im Rahmen einer mehr oder weniger funktionierenden parlamentarischen Demokratie[3] hinter sich. Höhepunkt in der öffentlichen Sympathie und Anerkennung auf ihrem langen Weg in Richtung Parlament war 2001 ihre Ankunft in Mexiko Stadt nach dem "Langen Marsch der Farbe der Erde" (s.S. 45+55). Damals wurden sie und ihr Mythos Marcos von den Medien überrollt, Linksintellektuelle wie z.B. Danielle Mitterand, Manu Chao oder Chomsky suchten den direkten Kontakt zur Bewegung. Und doch endete dieser lange Marsch in Richtung Legalität und die unendlich vielen Dialogversuche mit VertreterInnen der politischen Eliten mit einer totalen Enttäuschung! 2003 strichen alle im Parlament vertretenen politischen Parteien[4] aus dem in langen Jahren in San Andrés ausgehandelten Verfassungsentwurf alle wesentlichen Punkte, welche die gesetzliche Gleichstellung der Indigenen in der mexikanischen Gesellschaft beinhaltetet hätten.

"Damals ist uns also klar geworden", so in der 6. Erklärung festgehalten, "dass der Dialog und die Verhandlung mit den schlechten Regierungen Mexikos umsonst gewesen sind. ... Denkt daran, damit ihr aus unserer Erfahrung lernt" (S. 126) und auch Marcos fragt selbst zweifelnd in dem Interview, ob sie damit nicht wertvolle Zeit verloren haben (s.S. 70). Als Reaktion darauf folgte ein zweijähriger totaler Rückzug in die Caracoles, wie sie von da an ihre Gemeinden nannten. Sie nutzten die Zeit zum Ausbau ihrer autonomen Verwaltungen in den "Räten der guten Regierungen". Von außen betrachtet führte diese Konzentration auf ein bessere Leben in Würde zu einer gewissen Isolation aus dem öffentlichen linken Diskurs, kaum ein linker "Promi" reiste mehr nach Chiapas, der Medienrummel endete im Desinteresse, "wir sind medial nicht mehr verkaufsträchtig" sagt Marcos (s.S. 96 + Fußnote 1).

"Kassensturz" ist als ein Versuch zu lesen, die Erfahrungen der zapatistischen Bewegung wieder in den öffentlichen Diskurs zurückzubringen, einen subjektbezogenen Ansatz einer Politik nachzuzeichnen, umgesetzt von Menschen, die nicht die Macht der politischen Eliten erobern wollen, sondern diese Machtstrukturen an sich in Frage stellen. Dazu ein Zitat aus der 6. Erklärung: "Hier stellte sich das Problem, dass der politisch-militärische Teil der EZLN nicht demokratisch ist, denn er ist eine Armee, und wir haben gesehen, dass es nicht gut ist, dass an der Spitze das Militärische steht und unten das Demokratische , denn das Demokratische darf nicht militärisch entschieden werden, sondern umgekehrt: ...deswegen sind die Zapatisten ja auch Soldaten, damit es keine Soldaten mehr gibt" (s.S.128). Im Alltag versuchen sie interne Machtstrukturen zu verändern und erste Schritte zu gehen in Richtung auf ein selbstbestimmtes Leben in Würde. Das mag für manche Politstrategen ein total unspektakulärer Vorgang und damit uninteressant sein. Für andere, die auch nicht werden wollen wie "die da oben", die Welt dieser politischen Eliten nicht erobern wollen, sondern eine neue Welt, ein Leben in Würde und in Respekt schon jetzt zu leben versuchen, bleiben die von Marcos hier vorgetragenen Erfahrungen ein "außerordentlicher Beitrag zu den libertären Kämpfen" unserer Zeit (s.S.18), wie Laura C. es in ihrer Einleitung ausrückt.

Gerne hätte ich bei diesem Interview mit am Tisch gesessen, um einige Fragen an alle am Buch Beteiligten, aber auch an uns selbst zu stellen. Hier nur das mir am meisten unter den Nägel Brennende. Laura Castellanos und Marcos selbst hinterfragen immer wieder seine besondere, hervorgehobene Rolle, obwohl er doch immer wieder die Horizontalität betont und Machtstrukturen hinterfragt. Welche Überlegungen führten dazu, hier dennoch den Subcomandante alleine zu interviewen, anstatt ihn im Kreis einer Gemeinde gemeinsam mit anderen ZapatistInnen zu Wort kommen zu lassen?

Der Fotograf Ricadro Trabulsi ließ Marcos sich einige Fotos auswählen, die der Fotograf in den zapatistischen Gemeinden gemacht hatte (s.S.99) Gerne hätte ich auch einige gesehen. Warum finden wir in dem Buch nur den Subcomandante in allen möglichen Posen? Laura C. fragt Marcos nach seiner Einschätzung über andere öffentlichen Persönlichkeiten wie Chavez, Castro oder Morales. Widerspricht das nicht dem eigenen Anspruch nach Abbau von Avantgardedenken? Die Antworten scheinen mir meine Zweifel zu bestätigen. Und warum sollte ein Mensch wie Marcos, der so bewusst in der Autonomie der indigenen Gemeinden lebt und dies immer wieder hervorheben, besonders viel wissen über eine Organisation wie ETA, die so meilenweit vom lakandonischen Urwald entfernt ist wie von seinem horizontalen, nicht militaristischen und selbstbestimmten politischen Ansatz?

Aber auch an uns stellt sich für mich nach der Lektüre dieses Buches erneut eine sehr grundlegende Frage: Ist unser Interesse an dieser so anderen Befreiungsbewegung verblasst, weil wir noch immer viel zu sehr auf die bestehenden Machtstrukturen starren in der Hoffnung, doch selbst am Rad der politischen Eliten mit drehen zu können? Und auch wenn wir zu der Einsicht gekommen sind, dass hierarchische Strukturen sich immer in Machtstrukturen verwandeln, die sich irgendwann gegen uns wenden, wie kann es uns gelingen, Erfahrungen zwischen horizontal orientierten Bewegungen wahrzunehmen, auszutauschen, also Horizontalität zu leben und über Grenzen hinweg voneinander zu lernen? Das Buch fordert uns damit aufs Neue zum "Preguntando caminamos" (Fragend schreiten wir voran) heraus, es macht Mut zu eigenen Reflexionen und zu neuem Tun.

Dorothea Härlin


Anmerkungen:

[1] Für Mexiko trifft das weniger zu und ein neuer Aufbruch scheint zum Jahresende 2008/9 mit dem "1. weltweiten Festival der würdigen Wut" gemacht zu sein.

[2] "Rebellion ist wie dieser Schmetterling, der auf das Meer ohne Insel oder Felsen zuhält. Er weiß, dass er keinen Platz zum landen hat. Doch zögert er nicht zu fliegen. Und nein, weder der Schmetterling noch die Rebellion sind dumm oder selbstmörderisch. Es ist nur so, dass sie wissen, dass sie doch etwas haben werden, wo sie landen können, weil es in dieser Richtung eine kleine Insel gibt, die noch kein Satellit entdeckt hat." Subcomandante Marcos im Dezember 2002

[3] Wohl unnötig zu erklären, dass in 70 Jahren Herrschaft der PRI (Partido Revolucionario Institucional) elementare formaldemokratische Regeln verloren gingen. Die Ablösung der PRI 2000 durch die konservative, noch neoliberalere PAN (Partido de Acción Nacional) brachte keine Veränderungen.

[4] Bis hin zur PDR (Partido de Revolución Democrática), die lange Zeit Sympathie für die Zapatisten bekundete.

Raute

Solidarität ist nötig!

In der 130.000-Einwohner-Stadt Zrenjanin, der Hauptstadt des serbischen Banat im Nordosten der Region Vojvodina hat sich im krisenhaften Verlauf des serbischen Typs der post-"sozialistischen" Privatisierung eine bemerkenswerte Situation herausgebildet, die sich nunmehr im Übergang zur Weltkrise der kapitalistischen Vergesellschaftung in so mancher Hinsicht als vorbildlich erweisen könnte. So haben die 300 ArbeiterInnen der Pharmafabrik Jugoremedija diese wieder übernehmen können: Sie sind maßgebende Mitaktionäre ihrer Fabrik. In der Schienenfahrzeugfabrik Sinvoz (500 Beschäftigte) spitzen sich die Auseinandersetzungen gerade entscheidend zu: Der Hauptaktionär Nebojsa Ivkovic hat die Firma 2007 in den Konkurs geführt, nachdem er den ArbeiterInnen zuvor bereits 3 Jahre (!) lang die Gehälter vorenthalten hat. Er spekuliert darauf, aus dem Bankrott der Firma als deren alleiniger Besitzer hervorzugehen und hat dabei jüngst von staatlicher Seite Unterstützung erfahren: Das Wirtschaftsgericht hat ihm am 2. Februar 2009 die Vollmacht erteilt, ein Reorganisationsprogramm in Angriff zu nehmen. Für ihre Forderungen: Aufhebung des Reorganisationsprogramms, Prüfung der Verträge, die Sinvoz in den Konkurs trieben, Rückgabe der Unternehmensanteile der ArbeiterInnen von Sinvoz an diese sowie die garantierte Rückkehr der ArbeiterInnen an ihre Arbeitsplätze suchen die ArbeiterInnen von Sinvoz dringend natürlich auch internationale Unterstützung.

Detailliertere Informationen und eine Soli-Unterschriftenliste zum downloaden finden sich auf der grundrisse-Homepage. Solierklärungen per E-Mail an kathrin@jurkat.de, Soli-Unterschriftenlisten an die Redaktionsadresse der grundrisse, Antonigasse 100/8, A-1180 Wien.

Raute

Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 15.03.09, Redaktionsschluß # 30: 15.04.09

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Die offenen Redaktionstreffen der Grundrisse finden jeden 2. und 4. Montag im Monat um 19 Uhr statt. Interessierte LeserInnen sind herzlich eingeladen.

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Impressum:
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Herausgeberin: Redaktion "grundrisse" (Dieter A. Behr, Martin Birkner, Bernhard Dorfer, Robert Foltin, Daniel Fuchs, Käthe Knittler, Minimol, Franz Naetar, Paul Pop, Karl Reitter, Lisl Steger)

MitarbeiterInnen dieser Nummer:
Thorsten Bewernitz, Slave Cubela, Georg Gangl, Dorothea Härlin, John Holloway, Philippe Kellermann, Katherina Kinzel, Detlef Georgia Schulze, Lars Stubbe, Anna Unmöglich

Graphikkonzept: Harald Mahrer, Layout: Karl Reitter, Umschlag: Andrea Salzmann

Erscheinungsort: Wien. Herstellerin: Digidruck, 1030 Wien

Offenlegung: Die Partei "grundrisse" ist zu 100% Eigentümerin der Zeitschrift "grundrisse".

Grundlegende Richtung: Förderung gesellschaftskritischer Diskussionen und Debatten.

Copyleft: Der Inhalt der "grundrisse" steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, außer wenn anders angegeben.

ISSN: 1814-3156, Key title: Grundrisse (Wien, Print)


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Quelle:
grundrisse - zeitschrift für linke theorie & debatte
frühling 2009, nr. 29
Herausgeberin: Redaktion "grundrisse"
Antonigasse 100/8, 1180 Wien
E-Mail: grundrisse@gmx.net
Internet: www.grundrisse.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. April 2009