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GRASWURZELREVOLUTION/1509: Hundert Euro pro Person für jeden Kilometer


graswurzelrevolution 402, Oktober 2015
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Hundert Euro pro Person für jeden Kilometer
Geflüchtete, Helfer und Schlepper an der deutsch-dänischen Grenze. Ein Erlebnisbericht

Von Martin Baxmeyer


Flensburg hat einen kleinen Bahnhof. Zwei Bahnsteige mit insgesamt drei Gleisen. Mehr ist da nicht. Als wir aus dem Zug steigen, sind die einzigen Menschen, die wir sehen, Sicherheitsmitarbeiter der Bahn. Interessanterweise hat jeder von ihnen einen anderen nationalen oder, um es sachkorrekt auszudrücken, Migrationshintergrund.


Die Atmosphäre ist freundlich und relativ entspannt. Einer der Sicherheitsleute, der uns netterweise hilft, unsere tonnenschwer beladenen Räder aus dem Zug zu heben und den wir nach Übernachtungsmöglichkeiten in Flensburg fragen, verweist uns lächelnd in die Bahnhofshalle: "Da unten sind ganz, ganz viele Leute", sagt er mit hörbarem Akzent. Tatsächlich sind es dann doch nicht so viele, wie wir zunächst annehmen. Vielleicht dreißig oder vierzig insgesamt. Trotzdem sind es sicherlich mehr, als dieser Bahnhof seit langem gesehen hat an einem ganz normalen Werktag im September gegen 20 Uhr. Und es waren bis vor kurzem noch mehr. Sehr viel mehr.

Einreise erschwert

Als Dänemark seine Südgrenze schloss, wurde der Bahnhof Flensburg für hunderte von Geflüchteten aus Syrien und Eritrea zum Sackbahnhof. Wobei "schließen" ein zu starkes Wort ist. Sagen wir: Dänemark erschwerte die Einreise. Schon in den Wochen zuvor war uns aufgefallen, dass in dem (keineswegs zu Unrecht) als offen und liberal geltenden kleinen Land zwischen Nord- und Ostsee die Stimmung kippte. Wer auf die Titelseiten der (erschreckend zahlreichen) dänischen Boulevardzeitungen schaute oder einen der in Bussen, Zügen und Wartehallen in Endlosschleife wiederholten Nachrichtenspots ansehen musste, musste zwangsläufig den Eindruck bekommen, eine Lawine rolle auf Dänemark zu. Eine Flüchtlingslawine.

Dabei will kaum einer der Menschen, die durch Deutschland in den skandinavischen Norden weiter reisen, in Dänemark bleiben. Praktisch alle, so erfahren wir, wollen über Kopenhagen weiter nach Schweden. Viele sogar bis nach Norwegen, wo sie Freunde und Verwandte haben.

Weiter aber kommt seit der Verschärfung der Einreiseregeln nur noch, wer ein in Dänemark gültiges Zug- oder Busticket hat. Und das ist für Viele, nach tausenden von Kilometern Flucht, schlicht nicht mehr zu bezahlen.

Zwar steht eine Schlange von dänischen Reisebussen vor dem Bahnhof. Aber sie bleibt weitgehend leer. Die Flüchtlingspolitik ist der schwarze Fleck auf Dänemarks liberaler Weste, und das parteiübergreifend. Irrationale Ängste werden aus wahltaktischen Gründen geschürt, und die im Wesentlichen auf Konsens aufgebaute Innenpolitik des Landes sorgt dafür, dass Verschärfungen des Ausländerrechts fraktionsübergreifend beibehalten werden, auch nach einem Machtwechsel. 1997 verkündete der Sozialdemokrat Poul Nyrup Rasmussen: "Dänemark ist nicht multiethnisch und soll es auch nicht werden". Ein kurzer Bummel durch eine beliebige dänische Großstadt genügt, um sich zu verdeutlichen, wie absurd Rasmussens Behauptung ist. 2001 dann wurde die von der ehemaligen Altenpflegerin Pia Kjaersgaard gegründete, offen ausländerfeindliche Dansk Folkeparti ['Dänische Volkspartei'] zur drittstärksten politischen Kraft des Landes. Eine wirtschaftlich und sozialpolitisch überaus erfolgreiche sozialdemokratische Regierung stolperte gleichzeitig über ihre angeblich zu laxe Flüchtlingspolitik. Seither gibt es in der dänischen Politik so etwas wie einen "ausländerfeindlichen Konsens". Gewichtige Wortmeldungen anerkannter Schriftstellerinnen und Schriftsteller und sogar gelegentliche Ermahnungen durch die dänische Königin, sich allen Menschen gegenüber weltoffen und tolerant zu zeigen, ändern an diesem Zustand wenig.

Kaum eine politische Partei in Dänemark will sich noch einmal an der Flüchtlingsfrage die Finger verbrennen. Vermittelbar ist die aus jeglicher sozialen Realität und ein wenig auch aus der Zeit gefallene Wagenburgmentalität in Dänemark relativ leicht. Denn viele Däninnen und Dänen begreifen sich, bei einer Gesamtbevölkerungszahl von gerade einmal 5,6 Millionen (in Hamburg und Schleswig-Holstein leben zusammengenommen schon mehr Menschen) eher als Clan oder Gemeinschaft denn als Gesellschaft. Und viele sagen das auch.

Die berühmte, den Dänen heilige Gemütlichkeit - hyggelig ist ein kaum ins Deutsche zu übersetzendes Wort, weil es ebenso sehr "gemütlich" wie "gemeinschaftlich" bedeutet - hat deutliche Grenzen nach außen. So kam es in der Vergangenheit schon häufiger vor, dass Dänemark unter den pikierten Augen der europäischen Großmächte in Zeiten vorgeblich grenzenloser Freizügigkeit plötzlich den Schlagbaum senkte. Die Folgen im Herbst 2015 können wir am Bahnhof von Flensburg bestaunen. Im guten wie im bösen Sinne.

Welcome

Im Tunnel nach draußen hängt ein großes Pappschild an der Wand, in einem sonderbaren Sprachmix: "Welcome, Flüchtlinge! Grenzen auf für alle!" Daneben kleben kleine Zettel mit arabischen Schriftzeichen und englischer Übersetzung.

Wegweiser in einem fremden Land. An einem fremden Bahnhof. In der Bahnhofshalle liegen Matratzen und Iso-Matten am Boden. Ein paar verstreute Spielsachen kullern zwischen Biertischen- und Bänken umher, an denen, in Gruppen oder einzeln, Menschen sitzen, die erkennbar nicht zu den Ärmsten der Armen gehören. Worte erzeugen Assoziationen. Wer beim Begriff "Flüchtling" an eine Migration des Elends denkt, sollte sich bewusst machen, dass die wirklich Armen aus dem sogenannten Trikont für gewöhnlich noch nicht einmal in die Nähe der europäischen Außengrenzen kommen. Die gegenwärtige Fluchtbewegung nach Europa hat einen ausgeprägten Klassencharakter.

Nur, wer sich teure Fahrkarten und die Tarife der verbrecherischen Schlepper leisten kann, hat überhaupt eine Chance, hier anzukommen. Dieser Umstand ist oft Teil des Problems: Denn viele, die die Mühen und Gefahren der Flucht auf sich genommen haben, haben dafür ihre letzten Ressourcen verausgabt. Nun sind sie tatsächlich arm und brauchen Unterstützung. Das sind sie nicht gewohnt. Die, denen wir in der Flensburger Bahnhofshalle begegnen, gehören (vor allem) zur syrischen Mittel- und Oberschicht. Junge Männer mit Baseball-Kappen und sündhaft teuren Turnschuhen tippen, Kopfhörer im Ohr, auf kaum weniger teuren Handys herum. Ein älterer Herr mit perfekt geschnittenem Bart würde sich auch auf dem Katheder einer Universität gut machen. Er lächelt uns freundlich zu. Junge Frauen spielen mit ihren Kindern am Boden.

Es ist eine Ironie des Schicksals. Ausgerechnet jene, deren Gegenwart in den Medien zu einer gesellschaftsbedrohenden "Flüchtlingskrise" aufgebauscht wird und die Dänemark ohne Ticket nicht über seine Grenze lassen will, sind Menschen, die in den letzten Jahren ausdrücklich auf dem Wunschzettel all derer standen, die Zuwanderung über den Bildungs- und Kontostand regulieren wollten: gut ausgebildet, eloquent, weltläufig, flexibel. Nur spielt das plötzlich alles keine Rolle mehr. Nun sind sie eben nur noch "Flüchtlinge". Allerdings nicht für alle.

Gelebte, solidarische Mitmenschlichkeit ist immer eine Handlungsoption, für jeden Menschen. Ihr Gegenteil allerdings auch.

Als immer mehr Menschen am Flensburger Bahnhof aus den Zügen stiegen und nicht weiter konnten, waren viele Bürgerinnen und Bürger der Stadt nicht bereit, deren Not tatenlos zuzusehen. Ohne jegliche institutionelle Anbindung und (vor allem) ohne Hilfe durch die Stadt organisierten sie selbstständig und spontan ein Hilfskomitee, dass die Geflüchteten nun am Bahnhof in Empfang nimmt, sie mit dem Nötigsten versorgt, sie informiert und orientiert und ihnen vor allem das Gefühl gibt, weder allein noch unwillkommen zu sein. Flensburger Sportvereine räumten ihre Turnhallen frei, um Übernachtungsmöglichkeiten zu schaffen. Eine linksgerichtete Gruppe, die schon vorher zur Flüchtlingspolitik gearbeitet hatte, spielt bei der Organisation interessanterweise nur eine untergeordnete Rolle. Was sich hier abspielt, ist Bürgerinitiative im besten Sinne. Wir haben die Möglichkeit, länger mit einigen der Helferinnen und Helfer zu sprechen.

Wir treffen auf Menschen aus praktisch allen Altersklassen und mit den unterschiedlichsten politischen und sozialen Hintergründen. Arbeitszeiten von bis zu 12 Stunden ohne Pause seien in den letzten Tagen keine Seltenheit gewesen, erzählen sie uns. Denn man könne ja nie wissen, wieviele Menschen wann ankommen würde. Mal seien es nur ein oder zwei Familien gewesen. Gestern dagegen hätten sie auf einen Schlag 350 Menschen zu betreuen gehabt.

Die Struktur der Gruppe und ihre Arbeitsweise verändern sich je nach den Notwendigkeiten. Was wir zu sehen und zu hören bekommen, ist kein Studierstubenhumanitarismus, sondern praktische, gelebte Hilfe in einer manchmal schmerzhaft wirklichen Welt mit all ihren Schattenseiten.

Viele Probleme, so berichten uns die Helferinnen und Helfer, zeigten sich ohnehin erst, wenn man längst bei der Arbeit sei. So hätten sie zum Beispiel zunächst um Sachspenden für die Geflüchteten gebeten, über soziale Medien oder im direkten Gespräch mit Freundinnen, Freunden und Bekannten.

Die Spendenbereitschaft in der Bevölkerung sei enorm gewesen. Auch wir bekommen einen Eindruck davon, als wir am nächsten Tag mit unseren Rädern wieder am Bahnhof auftauchen. Eine ältere Dame mustert uns misstrauisch und fragt mit gerunzelter Stirn: "Wollen Sie etwas abgeben?". Sie ist sichtlich erleichtert, als wir ihr lachend versichern: Nein, all unser Gepäck wollten wir wieder mit nach Hause nehmen.

Denn tatsächlich müssen die Helferinnen- und Helfer schon seit Tagen Sachspenden zurückweisen. Schlicht, weil sie sie nicht mehr brauchen. Weit wichtiger sind zurzeit Geldspenden, um den Menschen die Weiterreise zu ermöglichen. Zunächst Familien, dann Frauen mit Kindern, Schwangeren und erst dann den zahlreichen allein reisenden Männern.

Auch hier ist die Spendenbereitschaft groß. Wer nun allerdings tränenfeucht von unverschatteter menschlicher Barmherzigkeit träumt, sollte rasch wieder aufwachen. Denn viele (gerade) Kleiderspenden waren und sind in Flensburg kaum mehr als eine alternative Form der Müllentsorgung. Einer der Helfer, ein junger Mann und von Beruf Maler, erzählt uns, er würde Kleidersäcke nur noch mit Schutzhandschuhen öffnen: "Sie können sich nicht vorstellen, wie viele schmutzige Unterhosen ich da rausgeholt habe. Ich denke mal, das ist auch ein Statement, was die Spender von Flüchtlingen halten". Auch andere Leute helfen offenbar lieber sich selbst als anderen. So komme es durchaus vor, dass sich ganz normale Flensburgerinnen und Flensburger unter die Geflüchteten am Bahnhof mischten, um einen kostenlosen Kaffee, ein Mittagessen und einen Beutel mit Spenden abzugreifen. Dumm nur, lacht der Maler, dass in einer kleinen Stadt wie Flensburg viele Leute einander kennen. Die meisten Schnorrer könnten sie so relativ leicht vor die Türe setzen. Einmal erkannt und bloßgestellt, gingen sie ohnehin meist freiwillig. Weit schwieriger sei es mit den Schleppern. Sein Ton wird merklich ernster. "Mit den Schleppern?".

Wir sind etwas verwirrt. Ja natürlich, erwidert er. Um sich mit den Geflüchteten verständigen zu können, hätten sie die Hilfe von Dolmetschern gebraucht. Vielen Dolmetschern.

Auch hier sei die Hilfsbereitschaft zunächst erfreulich hoch gewesen. Viele zweisprachige Flensburgerinnen und Flensburger hätten tagelang mit ihnen am Bahnhof gearbeitet. Sie hätten ihnen vertraut. Erst ganz allmählich sei klar geworden, dass einige von ihnen ganz andere Interessen verfolgten, als ihren geflüchteten Landsleuten kostenlos Hilfe zu leisten. Hinter dem Rücken der übrigen hätten sie den Geflüchteten angeboten, sie über die Grenze nach Dänemark zu bringen. Gegen Bezahlung, versteht sich: "200 Euro bis zur Grenze, dann hundert Euro pro Person für jeden weiteren Kilometer". Zur Kenntlichkeit: Flensburg liegt kaum einen Steinwurf von der dänischen Grenze entfernt. Den Flensburger Fjord teilen Dänemark und Deutschland sich sogar. Die Grenze verläuft mitten hindurch. Man könnte, wenn man wollte, gemütlich auf einer Luftmatratze an einem sonnigen Tag hinüberpaddeln. Kein Mensch braucht hier die Dienste eines Schleppers. Ein brauchbarer Stadtplan genügt. Die Ernüchterung war groß, und ungutes Misstrauen begann sich breit zu machen. Zumal das parasitäre Geschäftsmodell offenbar Schule machte.

Am Ende, berichtet unser Gesprächspartner, hätten sich bis zu vierzig Schlepper am Bahnhof herumgetrieben, die nun auch ganz offen agiert hätten. Den ehrlichen Helferinnen und Helfern platzte am Ende der Kragen. Sie riefen die Polizei, die die Schlepper verscheuchte. Die Bereitschaft, vom Elend anderer zu profitieren, und aufrichtige, selbstlose Hilfsbereitschaft standen sich gegenüber. Nicht nur am Bahnhof von Flensburg, vermuten wir im Stillen. Leider.

Fazit

Als wir wieder im Zug sitzen und nach Hause fahren, ist uns sonderbar zumute. Was in Flensburg gesehen und erlebt haben, hat uns beeindruckt.

Es hat uns verdeutlicht, dass eine ausländerfeindliche Stimmung geschaffen werden muss, und dass es selbst dann noch einen Unterschied macht, ob man einem flüchtenden Menschen tatsächlich gegenüber steht oder bequem und weitgehend wirklichkeitsfrei im Fernsehsessel über Flüchtlinge herzieht.

Gelebte, solidarische Mitmenschlichkeit ist immer eine Handlungsoption, für jeden Menschen. Ihr Gegenteil allerdings auch. Habgier, Egoismus und Rücksichtslosigkeit sind (Un-)Tugenden, die eine politisch und medial multiplizierte Dominanzkultur in Europa für erstrebenswert erklärt - immer und immer wieder.

Der homo oeconomicus der neoliberalen Ideologen verkörpert sich in den Schleppern von Flensburg. Deren Verurteilung durch die politisch Verantwortlichen ist nichts als Heuchelei. So gesehen ist das Engagement der Helferinnen und Helfer am Flensburger Bahnhof sogar noch mehr als das, was es für die unmittelbar von ihrer Hilfe Profitierenden bedeutet. Die Spontanität der Hilfe macht Hoffnung. Für die Gegenwart, und ein ganz kleines bisschen wohl auch für die Zukunft. Uns jedenfalls macht sie Hoffnung, während wir nachdenklich heimwärts rattern.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 44. Jahrgang, Nr. 402, Oktober 2015, S. 7
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. November 2015

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