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GRASWURZELREVOLUTION/1427: Pervertierter "Anarchismus"


graswurzelrevolution 392, Oktober 2014
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Pervertierter "Anarchismus"

von Bruno Mehrland



Einer der neuen Säulenheiligen der Verschwörungstheoretikergemeinde bezeichnet sich selbst als Anarchisten und propagiert den Libertarismus. Dahinter verbirgt sich das Konzept eines von allen Fesseln befreiten Kapitalismus.


Die andauernde ökonomische Weltkrise, in der sich herausstellt, dass die Versprechen des bürgerlich-kapitalistischen Systems von weltumspannender Prosperität auf Grundlage der Wertverwertung nicht einzulösen sind, führt zu Welterklärungen, die die Verantwortung für das Unerträgliche bei personalisierten oder institutionalisierten Schuldigen zu finden glauben.

Auf die Spitze getrieben wird derzeit die Realitätsverleugnung von Oliver Janich, in dessen Buch "Die Vereinigten Staaten von Europa" das ausgebreitete Halbwissen in der fieberwahnsinnigen These gipfelt, es gebe gar keinen Kapitalismus: "In Wahrheit ist der Kapitalismus gar kein 'Ismus' 'und hat auch nichts mit Kapital zu tun. Er ist gerade kein System. Diese Systeme (sic!) haben verschiedene Ausprägungen und Bezeichnungen: Kommunismus, Dirigismus, Sozialismus, Faschismus, aber auch soziale Marktwirtschaft, die in Wirklichkeit Sozialismus ist. All diese Systeme sind in Wahrheit eins: Kollektivismus. Das Recht der Masse wird über das Recht des Einzelnen gestellt." Deshalb müsse die Marktwirtschaft von allen staatlichen Regulierungen befreit werden, denn: "Den wenigsten ist bewusst, dass Kapitalismus eigentlich nur Freiheit bedeutet." Und Janich erklärt überdies "wie eine ungelernte Putzfrau ohne Sprachkenntnisse komfortabel leben kann und im Alter sogar Millionärin wäre, würde der Staat nicht eingreifen." Der Grund dafür, dass die Putzfrau nicht Millionärin wird, liegt laut Janich im staatlichen Geld- und Gewaltmonopol, die daher abgeschafft gehörten.

Dann aber wäre das kapitalistische Paradies erreicht: "In einer absolut freien Binnenwirtschaft" müsse es "zu einer Arbeitslosigkeit von null und in einer Exportnation sogar zu einem Arbeitskräftemangel kommen." Nun müsste ein solcher Hardcore-Liberalismus von vorgestern, der noch die feuchtesten Träume der Marktradikalen aller Generationen zwischen den Matratzen der Geschichte hervorkramt, nicht weiter interessieren, allerdings macht der Janichsche Opportunismus in seiner Buchverkaufswut vor nichts halt und um auch im "linken" Spektrum irgendwie ein paar Käufer zu finden, bezeichnet sich Janich offensiv als Anarchist und wird auch als solcher rezipiert.

So überschrieb zuletzt die "Huffington Post" ein Gespräch mit Janich als "Interview mit einem Anarchisten", worin dieser sich wiederum nicht nur zum Anarchismus, sondern mit noch größerem Nachdruck zur so genannten "Österreichischen Schule" bekennt, die selbst unter Ökonomen heute als veraltet gilt. Janich rekurriert nicht nur in besagtem Interview auf Friedrich August Hayek, der als einer der "Erfinder" des Neoliberalismus gilt.

Hayek war ein radikaler Antisozialist und, wie Robert Kurz im "Schwarzbuch Kapitalismus" konstatierte, der "wohl konsequenteste und doktrinärste aller liberalen Theoretiker (...) Wie alle realitätsblinden Doktrinäre (die stets um so energischer abstrakt jeglichen Dogmatismus zu bekämpfen vorgeben, je monomanischer sie ein eigenes Dogma vertreten) läßt auch Hayek von Anfang an nicht den geringsten Zweifel daran, daß sich für ihn die Welt verkehrt herum darstellt. Denn ihm erscheint es nicht etwa so, daß der in einem säkularen Prozeß zunehmende staatsökonomische Regulationsapparat die unvermeidliche Reaktion auf den krisenhaft prozessierenden kapitalistischen Selbstwiderspruch war, sondern genau umgekehrt sollen zumindest die großen Krisen, Zusammenbrüche und sozialen Verwerfungen einem sündhaften Abweichen der Menschheit von der 'reinen Lehre' des ursprünglichen Liberalismus geschuldet sein." Womit auch Janichs "Monomanie" hinreichend charakterisiert wäre.

Der "Truther-Anarchist" demonstriert dabei eindrucksvoll, wovor Adorno/Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung warnten: "Halbbildung, die im Gegensatz zur bloßen Unbildung das beschränkte Wissen als Wahrheit hypostasiert, kann den ins Unerträgliche gesteigerten Bruch von innen und außen, von individuellem Schicksal und gesellschaftlichem Gesetz, von Erscheinung und Wesen nicht aushalten." Janich kann nicht an sich halten, seine Ansichten unentwegt als "die Wahrheit", "logisch" bzw. "ein Naturgesetz" zu bezeichnen.

Nach der Blamage des Neoliberalismus im Zuge der weltweiten Finanzkrise seit 2008 und der Notwendigkeit eines gigantischen staatlichen Eingreifens, um die auf der Ausbeutung menschlicher Arbeit basierende Wertverwertung vor der Funktionsuntüchtigkeit zu bewahren, behauptet Janich allen Ernstes, eine Erhöhung der neoliberalen Dosis ins Extreme sei die Lösung aller Probleme.

Erst nach Totalprivatisierung und Abschaffung des Staates könne die Marktwirtschaft zum Wohle aller funktionieren, und begrifflich könne erst dann überhaupt von Kapitalismus gesprochen werden. Die Verbindung zwischen der neoliberalen Österreichischen Schule zum Anarchismus besteht dabei in der Ablehnung des Staates. Die Janichsche Antistaatlichkeit pervertiert allerdings den Gedanken der Freiheit von Hierarchien innerhalb einer Gesellschaftsorganisation in eine Freiheit von staatlicher Einmischung in die Belange des Marktes.

Die Folge wäre nicht die Abschaffung von Herrschaft, sondern die enthemmte Unterwerfung aller Lohnabhängigen unter die Gesetze des Marktes, der jedermann bei Strafe des eigenen Untergangs zur Erbringung von Arbeitsleistung zwingt.

Auf die Frage, auf welcher Grundlage denn soziale Hilfe in einem endgültig entfesselten Kapitalismus geleistet werden könne, erwidert Janich ohne mit der Wimper zu zucken: "Wie soll es denn jemandem gelingen, in Not zu geraten? Er kann sich ja gegen Unglücksfälle versichern." In Janichs brutaler Dystopie sollen Konflikte von privaten "Schlichtungsorganisation gelöst werden" die von beiden Parteien beauftragt werden", Polizei und Justiz werden von Versicherungskonzernen ersetzt, denn "wenn sich der Verlierer des Prozesses nicht an den Richterspruch hält, verliert er den Schutz durch seine Versicherung. Jeder könnte an ihm also das Urteil 'vollstrecken', weil es ja niemandem gäbe, der ihn verteidigt."

Janich unterliegt dabei grundsätzlich einem uralten Missverständnis. Es ist nicht der Staat, der die inneren Widersprüche der Wertverwertung verursacht, sondern das kapitalistische System selbst. Wie alle anderen Vertreter der reinen neoliberalen Lehre kann auch Janich nicht erklären, woher der (Mehr-)Wert, um den es bei jeder Handlung von Marktsubjekten immer geht, eigentlich kommen soll, wenn nicht aus der Anwendung menschlicher Arbeitskraft.

Weil aber diese simple Frage unbeantwortet bleibt, tritt an die Stelle von Analyse Fantasie. Das krisenhafte Ansteigen der Arbeitslosigkeit hat nichts mit staatlichen Eingriffen zu tun, ganz im Gegenteil konnte der weitgehend deregulierte Kapitalismus nur durch staatliche Subventionen wie etwa die Abwrackprämie überhaupt erhalten werden. Es liegt stattdessen im zentralen Widerspruch des Kapitalismus selbst begründet.

Die von Janich in besagtem Interview geäußerten These, "auch am Arbeitsmarkt gleichen sich Angebot und Nachfrage aus", ist blind dafür, dass die menschliche Arbeitskraft gerade nicht eine Ware wie alle anderen ist, sondern die einzige, die dem Unternehmer die Möglichkeit bietet, Mehrwert zu erzielen. Diese besondere Ware bildet also die Grundlage des kapitalistischen Funktionierens einerseits, während andererseits der Kapitalist immer bestrebt sein muss, möglichst wenig dieser für ihn überlebenswichtigen Ware einzukaufen, weil seine einzige Aufgabe in der konkurrenzvermittelten Aneignung möglichst großer Anteile der gesamtgesellschaftlichen Mehrwertmasse besteht. Und die Ware Arbeitskraft erscheint auf der Oberfläche des BWL-Verständnisses schlicht als Kosten. Auch hier: Wesen und Erscheinung müssen schon auseinandergehalten werden. Im Übrigen sind die Mechanismen von Angebot und Nachfrage grundsätzlich nur eine Technik zur Steuerung von Warenoutputs und gerade nicht wertbestimmend.

Damit eine anarchistisch organisierte Gesellschaft funktionieren kann, müssen Waren-, Geld- und Tauschwirtschaft durch ein kooperatives Wirtschaften und das Privateigentum durch Gemeinschaftseigentum ersetzt werden, denn: "Eigentum bedeutet, über Dinge zu herrschen und andere daran zu hindern, diese Dinge zu benützen." (P. Kropotkin) Andernfalls wird aus der anarchistischen Freiheits-Utopie ein Janich-Alptraum des endgültigen "Jeder gegen jeden".

Das übrige "Werk" Janichs besteht aus dem bekannten Truthergebräu aus Klimawandelleugnung, der Behauptung, die FED sei eine private Bank, die Rockefellers schleusten überall Agenten ein, urigen Theorien zu John F. Kennedys Todesumständen und dem 11. September und so weiter und so fort.

Der selbst ernannte Anarchist verbreitet seine Texte heute fast ausschließlich auf den einschlägig bekannten rechtsesoterischen Verschwörungsportalen wie Kopp-online, in Jürgen Elsässers Compact-Magazin oder dem ultrarechten "Anarcho"-Kapitalisten-Blatt "eigentümlich frei", sowie bei dem Ufologen-TV-Sender "Alpenparlament" und auf seinem eigenen Blog.

Seine Bücher veröffentlicht der Finanzbuchverlag, der ansonsten vor allem Karrieretipps für Börsenzocker und ähnliches verlegt. Auch als Montagsmahnwachenredner ist Janich bereits in Erscheinung getreten.

Vor seiner Karriere als wahrheitsverkündender "Anarchist" war er Finanzautor unter anderem für "Focus Money" und die Süddeutsche Zeitung. Bei beiden Blättern wurde er aber zur persona non grata erklärt, nachdem im "Spiegel" Ende 2010 in einem Artikel von Ermittlungen gegen ihn berichtet wurde. Demnach habe Janich seine Position als Journalist ausgenutzt, um Börsenkurse zugunsten einiger "dicken Spezln" aus Unitagen zu manipulieren. Verurteilt wurde Janich nicht, Anfang 2012 geriet er laut Spiegel Online aber erneut im Zusammenhang mit Ermittlungen wegen Börsenmanipulationen ins Visier polizeilicher Ermittlungen.

Außerdem gründete er im Mai 2009 mit anderen Radikalkapitalisten die "Partei der Vernunft" (PDV). Im April 2013 wurde es offenbar selbst den Kapitalismusfans der PDV zu bunt und sie setzten ihren Bundesvorsitzenden vor die Tür, worüber dieser sich via Facebook bitterlich beklagte: "Ich bin nicht auf eigenen Wunsch zurückgetreten, sondern man hat mir das Messer auf die Brust gesetzt. Ich hätte noch nicht mal mehr über Bitcoins (!!!) schreiben dürfen (...)" Janich blieb aber in der Partei, offenbar um sich noch ein weiteres Mal blamieren zu können. So kündigte er großspurig einen "Plan M" (für "München") an, in dem er seine kruden Kapitalismusfantasien in konkrete Kommunalpolitik goss und er stellte in Aussicht, an der Bürgermeisterwahl 2014 als Kandidat anzutreten. Die Münchner Bevölkerung lehnte dankend ab, indem sie der Janich-Partei nicht einmal die nötigen Unterschriften spendierte, um überhaupt an der Wahl teilnehmen zu können.

Nach dem Scheitern des Staatssozialismus und mitten in der Krise des weltumspannenden Kapitalismus fantasieren sich Domestizierte, die nicht in der Lage sind, über Alternativen zu Geld- und Konkurrenzwirtschaft ernsthaft nachzudenken, ihr trauriges Dogma hübsch.

Ohne Begriff vom eigenen Gegenstand werden Begriffe in einem wild gewordenen Diskurs beliebig und der Begriff "Anarchismus" scheint sich dafür anzubieten, da er nicht von einer diktatorischen Vergangenheit belastet ist.

AnarchistInnen streben einen freiheitlichen Sozialismus an und lehnen jegliche Form der Herrschaft von Menschen über Menschen ab - Kapitalismus benötigt Herrschaft, um zu funktionieren. "Anarcho"-Kapitalismus hat also mit Anarchismus nichts zu tun.

Ist es notwendig, dass sich tatsächliche Anarchistinnen und Anarchisten mit der rechten Verdrehung des Anarchismus-Begriffs durch Janich und andere "Anarcho-Kapitalisten" auseinandersetzen? Die Antwort auf diese Frage gibt vielleicht die Amazon-Bestsellerliste in der Kategorie "Zeitgeschichte Europas". Bei GWR-Redaktionsschluss belegte Janichs Buch dort immer noch Platz 1.

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Quelle:
graswurzelrevolution, 43. Jahrgang, Nr. 392, Oktober 2014, S. 8
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Oktober 2014