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GRASWURZELREVOLUTION/1353: Oscar Wilde und der "Kuss der Anarchie"


graswurzelrevolution 382, Oktober 2013
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Oscar Wilde und der "Kuss der Anarchie" (1)
"Früher war ich Poet und Tyrann, heute bin ich Künstler und Anarchist"

Von Simon Schaupp



Seit Mitte Februar 2013 sorgt in Moskau eine Neuinterpretation des Stückes "Der ideale Gatte" von Oscar Wilde für Furore. Durch ein paar Änderungen wurde aus der beißenden Parodie der britischen High Society eine der Russischen Elite. Wildes Werk hat damit wieder einmal eine unerwartete politische Brisanz bewiesen.


Wer heute an Oscar Wilde denkt, hat vermutlich einen exzentrischen Dandy und dessen Männerliebe vor Augen. Ein Bild, das keineswegs falsch, jedoch von bemerkenswerter Unvollständigkeit ist. Es blendet einen wichtigen Aspekt von Wildes Werk und Leben aus: die Politik. Obwohl Wilde Essays und Gedichte verfasste, deren politische Radikalität der herrschenden Klasse Englands Kopfzerbrechen bereitete und sich durch fast alle seine Werke eine beißende Sozialkritik zieht, taucht dieser Aspekt in den zahlreichen Biographien und Filmen zu seiner Person kaum auf. Stattdessen wird sich meist auf das Skandalon seiner Homosexualität konzentriert.

Nichtsdestotrotz lohnt sich eine (Wieder-)Entdeckung des politischen Wilde ungemein.

Bereits in den 1880er Jahren kam Wilde in Kontakt mit sozialistischen Intellektuellen wie William Morris, dem Mitbegründer der britischen Socialist League, H.G. Wells, Eleanor Marx und dem Journalisten George Bernard Shaw, einer Führungspersönlichkeit der sozialistischen Fabian-Gesellschaft. Als letzterer eine Petition für die Freilassung der Anarchist_innen der Haymarket Riots in Chicago 1986 aufsetzte, war Wilde der einzige Literat, der diese unterzeichnete. Am prägendsten für sein politisches Denken war aber wohl Wildes Kontakt mit Pjotr Kropotkin, dessen Werk er studierte und den er mehrmals reden hörte. Gegen Ende seines Lebens bezeichnet er Kropotkins Leben und Werk als "eines der perfektesten, denen ich je begegnet bin". (2)

Schon Wildes erstes Theaterstück war zu politisch, um durch die britische Zensur zu gelangen, sodass ihm die Veröffentlichungslizenz in Großbritannien verweigert wurde.

Vielleicht sorgte dieser Dämpfer am Anfang von Wildes literarischer Karriere dafür, dass die Ironie seinen Stil wesentlich prägte. So konnte er sich stets, wenn seine scharfe Zunge ihn in Schwierigkeiten brachte, hinter die Entschuldigung zurückziehen, er habe es doch nicht so gemeint - was er auch mehrmals tat.

Wilde selbst behauptete immer wieder, dass sein Leben selbst sein wichtigstes Kunstwerk sei, hinter dem seine Literatur weit zurücktrete. So ist er als einer der wichtigsten Vertreter des Ästhetizismus, des Lebens um der Schönheit Willen bekannt geworden. Die Ambivalenz des Hedonismus und des Luxus ist auch ein Thema, das sich durch Wildes gesamtes Werk zieht. Besonders pointiert kommt dieses Verhältnis in seinem Roman "Das Bildnis des Dorian Gray" und in seiner Kurzgeschichte "Der junge König" zum Ausdruck. Der Roman erzählt schillernd die faustische Geschichte der Versuchungen von Lust und Luxus - mit dem großen Unterschied zum goetheschen Werk, dass hier der Hedonismus eine ernsthafte Option darstellt - und nicht bloße Sünde. Denn Wilde entlarvt den schockierten Moralismus, mit dem die Oberschicht im Roman auf die hedonistische Lebensphilosophie Dorians reagiert, als reine Heuchelei. Natürlich geht dieser aber nichtsdestotrotz am Ende des Romans fulminant an seinen Süchten und seiner Egomanie zugrunde.

Dem "jungen König" macht mehr die gesellschaftliche als die persönliche Kehrseite des Luxus zu schaffen als er die Produktionsbedingungen bemerkt, unter denen seine Reichtümer hergestellt werden. Entsetzt will er dem Luxus abschwören, doch ein Arbeiter hält ihm entgegen: "Durch euren Pomp werden wir ernährt und eure Laster geben uns Brot. Für einen Meister zu schuften ist bitter, aber keinen Meister zu haben, ist noch bitterer." Der junge König fragt ihn darauf erschüttert: "Sind nicht die Reichen und die Armen Brüder?", worauf der Arbeiter antwortet: "Jawohl, und der Name des reichen Bruders ist Kain." (3)

Seine Antwort auf dieses Dilemma gibt Wilde in seinem wichtigsten politischen Essay "Die Seele des Menschen im Sozialismus". Dort spricht er sich gleich zu Anfang gegen Spenden und Barmherzigkeit zur Linderung der Armut aus, denn diese "heilen die Krankheit nicht: sie verlängern sie nur". Außerdem gehen sie meist mit paternalistischen Attitüden der Spender_innen einher. Deshalb hält Wilde es für "unmoralisch, Privateigentum zu nutzen, um die schrecklichen Übel zu mindern, die aus ebendieser Institution des Privateigentums resultieren." Stattdessen müsse "die Gesellschaft auf einer Basis neu aufgebaut werden, die Armut unmöglich macht" (4), wofür die Überwindung des Privateigentums unerlässlich sei.


Sozialist

Wilde bekennt sich zum Sozialismus. Gleichzeitig distanziert er sich jedoch von jener autoritär-marxistischen Variante desselben, die in seiner Zeit zur dominanten wird, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. So schreibt er: "Wenn der Sozialismus ein autoritärer ist; wenn es Regierungen gibt, die mit ökonomischer Macht bewaffnet sind, so wie sie es jetzt mit politischer Macht sind; wenn wir, mit anderen Worten, eine industrielle Tyrannei haben werden, dann ist das letzte Stadium der Menschheit schlimmer als das erste." (5)

Unübersehbar ist hier auch der Seitenhieb auf die marxistische Vorstellung einer mechanistisch ablaufenden Entwicklung, die die Menschheit in verschiedenen Stadien zum Kommunismus führt.

Die freie Entfaltung der Individuen ist für Wilde das Hauptziel. Im Kapitalismus ließe sich diese aber nicht verwirklichen, denn "die Institution des Privateigentums hat dem Individualismus schweren Schaden zugefügt. Durch sie wird der Mensch verwechselt mit dem, was er besitzt. [...] Es hat einen Teil der Gesellschaft daran gehindert, Individuen zu werden, indem sie ihn aushungerte. Es hat den anderen Teil der Gesellschaft daran gehindert, Individuen zu werden, indem es ihn auf den falschen Weg geleitet und mit Eigentum belastet hat." (6)

Wilde macht aber auch unumwunden deutlich, dass er eine Entfaltung der Individuen in einer sozialistischen Diktatur für ebenso unmöglich hält: "Es ist traurig, dass ein Teil unserer Gesellschaft praktisch in Sklaverei lebt. Aber zu behaupten, dieses Problem könne dadurch gelöst werden, dass die gesamte Gesellschaft versklavt wird, ist kindisch. Jedem Menschen muss freigestellt sein, seine eigene Arbeit zu wählen. Keine Form von Zwang darf über den Menschen ausgeübt werden." (7) Diese und andere von Wildes anti-autoritären Passagen lesen sich wie eine Vorausahnung der Auswüchse des Bolschewismus mit seiner bürokratischen Zuweisung von Arbeitsplätzen und seinen Zwangsmaßnahmen gegen diejenigen, die den von ihnen verlangten Arbeiten nicht im geforderten Maß nachkamen.

Diese libertären Tendenzen drücken sich auch in Wildes Verhältnis zur Strafe aus. Für ihn ist "Hunger, nicht Sünde der Vater der modernen Kriminalität". Deshalb machen drakonische Strafen nicht nur keinen Sinn, sondern tragen außerdem mehr zur Verrohung der Gesellschaft bei als die Kriminalität selbst. Seine Schlussfolgerung: "Je weniger Strafe, desto weniger Verbrechen." (8)

Trotz seiner privilegierten Stellung hat Wilde die gesellschaftliche Kontrolle der Individuen ständig am eigenen Leib erfahren. In einem Brief schrieb er einmal, dass der Dandy nur eine Fassade sei und, dass in einer Gesellschaft wie der seinen jeder Mensch eine Maske bräuchte. Zweifellos ist dies aber nicht nur eine Anspielung auf politische Einstellungen, sondern auch auf seine Männerliebe. Tatsächlich wurde Wilde aufgrund seines exzentrischen Lebensstils permanent argwöhnisch beobachtet.

So nutzte das homophobe britische Establishment die erste Gelegenheit, die sich bot, um Wildes fulminanter Karriere ein Ende zu bereiten: Lord Queensberry, der Vater von Wildes Geliebtem Alfred Douglas, hinterließ in einem von Wilde regelmäßig besuchten Club eine schriftliche Nachricht, in der er ihn als "Sodomit" bezeichnete. Wilde strengte einen Verleumdungsprozess an, der jedoch mit einem Freispruch für Queensberrys und zwei Jahren Zuchthaus mit schwerer Zwangsarbeit für Wilde selbst endete. Damit war Wildes Ruf für immer derart ruiniert, dass er sich genötigt sah, nach Paris auszuwandern und seine Frau und Kinder unter falschem Namen in Deutschland weiterlebten. Angeblich geht sogar das Stereotyp, dass Männer, die sich extravagant kleiden und eine Vorliebe für schöne Dinge haben, schwul seien, auf die Person Wildes zurück und die Betitelung als "Oscar" wurde zu einem homophoben Schimpfwort.

Vielleicht war es diese Erfahrung, die ihn von einem dogmatischen Ökonomismus abhielt, der das Denken vieler seiner sozialistischen Zeitgenoss_innen prägte. Auch hinsichtlich der Frage nach dem revolutionären Subjekt scheint Wilde eher skeptisch: "Die größte Tragödie der Französischen Revolution ist nicht die Tatsache, dass Marie Antoinette getötet wurde, weil sie eine Königin war, sondern, dass die verhungernden Bauern der Vendée freiwillig auszogen, um für die abscheuliche Sache des Feudalismus zu sterben." (9) Auf diesem Hintergrund verwahrte er sich vor einer Romantisierung des Proletariats und der Armen, was in Sätzen wie diesem deutlich wird: "Es gibt nur eine Klasse in der Gesellschaft, die mehr an Geld denkt als die Reichen und das sind die Armen. Die Armen können an nichts anderes denken. Das ist das Elend der Armut." (10) Wilde würde sich also vermutlich nicht in dem Motto "Krieg den Palästen, Friede den Hütten" wiederfinden, sondern eher in "Krieg den Hütten, Paläste für alle!" In seiner Utopie wird die notwendige Arbeit von Maschinen geleistet, die sich im Allgemeinbesitz befinden, während die Menschheit sich der Kunst und dem Genuss widmet.

Wildes Werk und Leben ist geprägt von Widersprüchen (11), doch zumindest der späte Wilde steht für einen Kampf um Gerechtigkeit, der sich nicht in Verbitterung, Moralismus und Askese ausdrückt, sondern sowohl in seiner Utopie als auch in seiner Praxis viel Raum für Genuss lässt.

Auf seine spezielle Weise lebte Wilde nach der von ihn aufgestellten Maxime, dass Ungehorsam die erste Tugend des Menschen sei. Doch dieser Ungehorsam gegenüber den gesellschaftlichen Normen kostete ihn schlussendlich nicht nur seinen Ruf, sondern auch sein Leben. Er starb im November 1900 an den Folgen einer Infektion, die er sich im Gefängnis zugezogen hatte. "Es ist der Ungehorsam, der Fortschritt ermöglicht", schreibt er. "Ungehorsam und Rebellion." (12)


Anmerkungen:

(1) Das erste Zitat von Wilde stammt aus einem Interview in einer französischen Zeitschrift, das Zweite aus einem Gedicht seiner Frühphase, in der er den "Kuss der Anarchie" noch für eine gefährliche Verführung hielt.

(2) Foreman, J.B. (Hg.): "The Complete Works of Oscar Wilde" 2001, Harper Collins, S. 934. Alle Übersetzungen stammen von mir.

(3) Ebd. S. 232

(4) Ebd. S. 1079

(5) Ebd. S. 1080

(6) Ebd. S. 1083

(7) Ebd. S. 1082

(8) Ebd. S. 1088

(9) Ebd. S. 1082

(10) Ebd. S. 1085

(11) Sein Leben lang stellte Wilde seinen materiellen Wohlstand unverhohlen zur Schau. Den Anarchismus verteufelte er in seinen frühen Werken noch als gefährliche Verführung der Massen und seine Aussagen über weniger Privilegierte haben oft etwas Gönnerhaftes.

(12) Ebd. S. 1081

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Quelle:
graswurzelrevolution, 42. Jahrgang, Nr. 382 Oktober 2013, S. 17
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Oktober 2013