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GRASWURZELREVOLUTION/1126: "Der Mensch is, was die Eltern draus machen" ... Für Alice Miller


graswurzelrevolution 352, Oktober 2010
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

NACHRUF
"Der Mensch is, was die Eltern draus machen"
... - oder doch mehr? Für Alice Miller

Ein Essay basierend auf Gedanken zu ihren Büchern DAS DRAMA DES BEGABTEN KINDES, AM ANFANG WAR ERZIEHUNG und DU SOLLST NICHT MERKEN


In Janoschs Roman CHOLONEK ODER DER LIEBE GOTT AUS LEHM sagt die Frau Schwientek, das literarische Alter Ego von Janoschs Oma Glodny: "Der Mensch ist, was die Eltern draus machen." Sie weiß genau, von was sie spricht. Man muss dem Kind Manieren beibringen, die Regeln des Glaubens und vor allem Ehrfurcht. Vor Gott, vor dem Teufel, vor dem Vater. Mit eiserner Disziplin, mit Strafen und auch mit Schlägen und Prügeln. Hier war Janoschs Mutter noch rigider als die Oma, denn sie prügelte Janosch die Ehrfurcht unbarmherzig ein. "Ehrfurcht", sagt Janosch, "ist Furcht."

Ist also Angst. Man muss dem Kind also Angst anerziehen, damit es im Leben zu was werden kann. Dann pariert es, dann verliert es seinen Trotz und seinen Eigensinn, was wichtig ist, weil einem das Kind sonst auf der Nase herumtanzt.

Ungezogene Kinder, hieß es damals, sind Kinder, bei denen die Eltern zu lax waren. "Wer die Rute schont, verzieht das Kind", lautete ein vielzitiertes Sprichwort dieser Zeit. Schon so früh wie möglich muss mit der Erziehung begonnen werden, damit das Kind gar nicht erst ungezogen werden könne. Sagt die Frau Schwientek und sagten die meisten damaligen Erziehungsratgeber.


Er-Ziehung, ungezogen, verzogen - ziehen, zerren, länger machen, besser machen ...

Und dann? Was wird dann aus den Kindern, die hauptsächlich Angst mitbekamen? Sie werden zu dem, was ihre Eltern aus ihnen gemacht haben: entweder zu unsicheren Hühnchen oder zu brutalen Arschlöchern. Oder zu beidem. Auf jeden Fall zu Wracks.

Denn die Angst, das war die wichtigste Emotion der "schwarzen Pädagogik" und in den meisten Fällen die einzige, die die so Erzogenen überhaupt noch spürten. Je intensiver die "Gehirnwäsche Erziehung" in frühester Kindheit war (und damit sind nicht nur Prügel gemeint!), desto widerstandsloser passte sich der Mensch später allen möglichen Normen und Ideologien an.

Das Einbläuen der Ehrfurcht war gleichzeitig das Austreiben des Urvertrauens, und wem das abgeht, der hat, wie der SPIEGEL mal schrieb, den "Knacks der Knackse" weg, der ist sein Leben lang auf der Suche nach Surrogaten und hat es schwer, das indoktrinierte Opfer-oder-Täter-, Gut-oder-Böse-Schema zu überwinden.

Die am 14. April 2010 verstorbene Psychotherapeutin Alice Miller hat diese Prozesse 1979 in ihrem Buch AM ANFANG WAR ERZIEHUNG festgehalten, zu einer Zeit also, zu der Prügel und Ohrfeigen noch relativ gang und gäbe waren. Sicher, in den Schulen war die Prügelstrafe inzwischen verboten worden, aber zuhause war es immer noch üblich, dass einem der Vater gelegentlich "eine langte".

Eine Umfrage in Schweden 1977 ergab, dass nur 20% der Meinung waren, auf körperliche Züchtigung bei der Erziehung komplett verzichten zu können - 1997 waren es 90%, die für eine gewaltfreie Erziehung plädierten.

Es hat also ein Sinneswandel stattgefunden, zumindest was das Kapitel "physische Gewalt bei der Erziehung" betrifft, aber ob der auf Alice Miller zurückzuführen war, weiß ich nicht. Denn es war nicht unbedingt so, dass ihre Bücher damals einschlugen wie eine Bombe - vielmehr stand sie zwischen VertreterInnen der klassischen Psychoanalyse und VertreterInnen der antiautoritären Erziehung oft allein da.

Sie distanzierte sich von Freuds Psychoanalyse und seiner Triebtheorie, weil sie der Ansicht war, diese würde den Betroffenen nicht helfen, sondern ihnen lediglich ihre Thesen aufdrücken, wobei dieses Lehrgebäude seit Jahrzehnten gleichgeblieben sei.

Andererseits distanzierte sie sich aber auch von der zu dieser Zeit modernen antiautoritären Erziehung, die ja ein Gegenteil darstellen sollte zur "schwarzen Pädagogik" aber auch sie, so Alice Miller, ist eine Doktrin, nach der man Kinder nach seinen Vorstellungen formen will, und genau das ist das Verbrechen. Ehemalige Kinderladenkinder etwa erinnerten sich 2009 in der taz, dass dort demonstrativ genau das gemacht wurde, was früher verboten war, und dass man dann genauso totalitär abqualifiziert wurde wie früher, nur eben mit dem gegenteiligen Maßstab - früher beispielsweise durfte man nicht schreien, rumrennen und sich dreckig machen, und wer es dennoch tat, war "ungezogen"; im Kinderladen aber musste man das tun, und wer nicht mitmachte, war "verklemmt".

Dieses trotzige Andersrum-Kommandieren, das aber dennoch ein Kommandieren bleibt, ist das, was Alice Miller angreift, wenn sie die "antiautoritäre Erziehung" ablehnt; und aus diesem Grund wollte sie sich auch als "Antipädagogin" verstanden wissen.

Kinder werden nicht erst durch die Erziehung zu etwas, sie sind bereits etwas - und die Kunst besteht dann darin, dieses Etwas so zu respektieren, wie es ist, es zu fördern und zu unterstützen, aber nicht zu verbiegen, nicht kaputtzumachen.

Kinder, Babys vor allem, sind keine tauben, blinden, gefühllosen Fleischbrocken, die nichts merken ("züchtige dein Kind, damit es dir besser geht", steht beispielsweise in der Bibel - "dir" soll es besser gehen, nicht etwa dem Kind, auf das kommt's, scheint's, eh nicht an) - sie merken sehr wohl, sie teilen den Erwachsenen mit, was sie merken, und dass dies, das Schreien der Säuglinge nämlich, in den Rohrstock- und Ehrfurchtjahrhunderten ignoriert und zum Schweigen gebracht wurde mit dem Argument, das Kind müsse "lernen, daß Brüllen sich nicht gehört", war der fundamentale Fehler. Das Kind schreit nicht, weil es den Erwachsenen ärgern will, sondern weil ihm was weh tut, und es braucht dafür keine Strafe, sondern es möchte angehört werden.

Ich glaube, dass Alice Miller den Sinneswandel bezüglich Gewalt in der Erziehung dadurch vorweggenommen hat, dass sie einfach zu ergründen suchte, ohne sich dabei von dem Jargon einer bestimmten Schule bescheuklappen noch sich von irgendwelchen, v.a. auch sittlich-katholischen, Tabus aufhalten zu lassen.

In DU SOLLST NICHT MERKEN (1981) zeigt sie, wie Sigmund Freud genau dies unterlaufen war: 1896 war er beim Erforschen der Hysterie darauf gestoßen, dass alle untersuchten Probanden als Kinder sexuell missbraucht worden waren; doch da "nicht sein kann, was nicht sein darf", rückte er von diesem logischen Zusammenhang bald wieder ab und entwarf seine Triebtheorie, in der vor allem das Hauptprinzip der schwarzen Pädagogik beibehalten werden konnte: die Eltern wurden geschont und blieben unangetastet.

Freud hat sich nicht etwa bewusst von seinem ersten, richtigen Impuls abgewandt, sondern er war auch ein Kind seiner Zeit gewesen, der mit dem 4. Gebot sowie der Ehrfurcht großgeworden war; und Alice Miller griff nun diesen Faden wieder auf, und wenn ich dies "gesunden Menschenverstand" nenne, so meine ich damit, dass sie Dinge ansprach und bis in die (schmerzhaften) Kapillaren hinein untersuchte, die eigentlich jedem von uns auffallen, die wir aber entweder als Fragen gar nicht weiter zulassen oder hinter schicken Theorien verbrämt haben.

Warum schreit das Baby? Warum lassen es die Eltern schreien? Was soll "gesund" an Prügeln sein? Ist es nicht pervers, wenn man etwas als "Liebe" bezeichnen soll, was nur aus Macht, Rache und Druck besteht? Warum wird die Wahrheit zum Skandal? Warum nennen wir es "Fortschritt", wenn wir immer mehr und immer kompliziertere Maschinen entwickeln, wo wir doch nicht mal mit uns selbst klarkommen?

Was Alice Miller schreibt, fand ich euch in vielen anderen Büchern und bei vielen anderen AutorInnen, vor allem Hans Fallada und Janosch.

In seinem Roman SANDSTRAND schreibt Janosch auf die Frage, wie sich Eltern dem Kind gegenüber verhalten müssten: "Hilfestellung geben. Darüber froh sein, daß dieser neue Mensch diese ungeheuerliche Kraft hat, und nur rechts und links die Hände hinhalten, damit er nicht kippt, so lange er noch nicht selbst gehen und stehen kann. Und dann wachsen lassen, nicht mit Gewalt eingreifen. Sich über die Kraft freuen, und wenn diese manchmal die der Eltern übersteigt, das hinnehmen."

Das trifft es genau, was Alice Miller mit "Respekt" meint: weder Verwöhnung noch Drill, sondern einfach Zuhören. Dies ist natürlich nicht so einfach zu leisten für Eltern, die selbst noch autoritär erzogen wurden und nun das Gefühl haben, mit ihren Kindern etwas "beweisen", etwas "vorzeigen" zu müssen, oder die selbst narzisstisch veranlagt sind und das Kind zur Bestätigung des eigenen Egos brauchen.

In beiden Fällen ist das unvoreingenommene, offene Zuhören problematisch - im ersten Fall wird es verstellt von - oft unbewussten - Gedanken wie "Kommt ja gar nicht infrage, was sollen denn die Leute denken!", im zweiten Fall lernt das Kind sehr schnell, seine eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken, weil es den narzisstisch veranlagten Eltern nicht wehtun darf - es wird also zur Krankenschwester der eigenen Eltern und gibt sich selbst dafür preis (vgl. Alice Miller, DAS DRAMA DES BEGABTEN KINDES).

Wer das Bedürfnis hat, irgend etwas drillen und nach seinen eigenen Vorstellungen erziehen zu müssen, der soll Puppen spielen oder sich eine Töle zulegen. Der kann er dann "Sitz!" und "Platz!" und "Fass!" beibringen, Stöckchen holen und Männchen machen lassen und sich dafür von anderen Tölenhaltern auf die Schultern klopfen lassen. Die kann er dann fönen und färben und auf Hundeshows vorzeigen oder zu Hunderennen kutschieren und dann selbst den Preis dafür einsacken.

Aber wer so etwas mit Kindern tut, der handelt rücksichtslos, bevormundend, gegen die Würde des Kindes, auch wenn er sein Tun damit verbrämt, dass alles "nur zum Wohle des Kindes" geschehe - es ist mitnichten zum Wohl, sondern sehr zum Unwohl des Kindes. Im Extremfall wird so ein ganzes Menschenleben verbaut.

Die Kinder, die von den Eltern und Autoritätspersonen wie gefühllose Puppen oder wie Pawlowsche Hunde behandelt wurden, werden später leichter zu Marionetten autoritärer politischer Ideologien und zu Aufziehwauwaus der jeweiligen Machthaber.

Dabei habe ich Alice Millers Bücher aber nie so verstanden, dass sie von einem starren, unveränderlichen "Kern-Ich" ausginge oder dass sie glaubt, dass die Erfahrungen der frühen Kindheit jemanden so determinierten, dass ein Ausbruch daraus unmöglich sei. Dass der Mensch wirklich nicht mehr ist und sein soll, als was seine Eltern draus machen, gerade diese Auffassung kritisiert sie und prangert sie an.

Die Frau Schwientek, psychologisch ungebildet und selbst katholisch und autoritär aufgewachsen, versteht ihren Satz als Kompliment; immer wieder prahlt sie, was sie ihren Töchtern alles mitgegeben habe, so dass aus ihnen etwas werde - doch Janosch macht deutlich, dass das, was da mitgegeben wurde, nichts ist, worauf man stolz sein könnte: Angst, Vorurteilsbehaftetheit, Obrigkeitshörigkeit, Feigheit, Rassismus, Duckmäuserei. Aus Menschen mit diesen Eigenschaften wurden in den 30er Jahren brave Nazis, die nicht weiter darüber nachdenken, was der Führer anordnet, weil sie nie gelernt haben, über etwas nachzudenken oder etwas gar in Frage zu stellen, was von oben kommt - aber auch, und das ist das Wesentliche bei Alice Miller, das auch in Janoschs Romanen, bei Hans Fallada oder bei Franz-Josef Degenhardt deutlich wird, weil ihnen durch ihre Erziehung der Zugang zu ihren eigenen Gefühlen, ihrer eigenen Persönlichkeit verbaut wurde. Wie soll jemand, dem schon von früh auf eingetrichtert wurde, dass es nicht erwünscht sei, Gefühle zu zeigen und dass die eigene Psyche unwichtig sei, plötzlich Empathie aufbringen für die Psyche anderer?

Wie soll jemand, der als Säugling bereits zu spüren bekam, dass man nicht mucken darf, will man die Liebe der Eltern nicht verlieren ("children should be seen but not heard"), der dadurch die Ur-Maxime der schwarzen Pädagogik (Liebe muss man sich "erarbeiten" durch angemessenes Betragen, und wer das nicht leistet, ist "der Liebe nicht würdig") schon intus hatte, bevor er überhaupt bewusst denken konnte, und der dann als Kind vom Vater zu hören bekam, er sei ein Nichtsnutz und Taugenichts und dürfe sich glücklich schätzen, dass man sich überhaupt noch mit ihm befasse - wie soll so einer einen Unterschied feststellen, wenn der Führer später die Juden als Volksschädlinge und Ungeziefer bezeichnet und zur Ausrottung aufruft?

Wenn jemand das unschuldige, der hemmungslosen Willkür der Erwachsenen ausgesetzte Kind der schwarzen Pädagogik und die in den allermeisten Fällen genauso unschuldigen und der hemmungslosen Willkür der Nazis ausgesetzten Juden des III. Reiches gleichsetzen darf, so ist das Alice Miller, die 1923 als Alicja Rostowska, als polnische Jüdin, in Lemberg geboren wurde und somit weiß, wovon sie spricht.

Ihre Analyse von Hitlers Kindheit in AM ANFANG WAR ERZIEHUNG erschüttert vor allem, weil sie aufzeigt, wie aus blinder Angst blinder Hass wird, ein Hass auf alles Schwache, Weiche, Wehrlose; denn die eingeprügelten Lehrsätze wurden ja nicht infrage gestellt, sondern verinnerlicht, und wie Hitler später laut "Mein Kampf" seine Jugend haben wollte - hart, herrisch, unbarmherzig -, so war auch er selbst erzogen worden. Und mit ihm, und das ist Alice Millers springender Punkt, die Mehrheit der Deutschen, weshalb ihnen Hitlers cholerisches, menschenverachtendes Auftreten von den eigenen Vätern her bekannt war. Hitlers Methode, die Juden nicht als Religion zu verfolgen, sondern als "Rasse", was bedeutete, dass ein Mensch schon kraft seiner Abstammung "kriminell" und "Volksschädling" sein sollte, stieß vielen Menschen nicht weiter auf, denn sie waren ja als Kinder schon behandelt worden wie Schwerverbrecher, obwohl sie nichts weiter getan hatten als ihre infantilen Gefühle zu artikulieren, zu leben.

Alice Miller sagt aber nicht, dass man die von den Eltern mitgegebenen Neurosen ein Leben lang mit sich rumschleppen und perpetuieren muss. Im Gegenteil, sie fordert immer wieder dazu auf, sich auf die Schmerzen einzulassen, um so den Knoten zu finden und zu lösen - "der Schmerz findet die Wahrheit". Was einem Stiche im Herzen verursacht, ganz egal, wie banal dies für andere sein mag, ist der Schlüssel zu seiner eigenen Geschichte, und wer diesen Schlüssel ignoriert, verdrängt oder verleugnet, der tut sich nichts Gutes.

Überhaupt geht es Alice Miller um das sogenannte "absurde Verhalten", um die oft unglaublich widersinnige Verdrehung von Richtig und Falsch, von Gut und Böse: das, was einem weh tut, ist nicht etwa böse, sondern gut, "zu deinem Besten" nämlich, und das, was einem gut tut, ist schlecht, verpönt, "unsittlich". "ungezogen".

Diese Verdrehung ist für Alice Miller die Ursache für Destruktivität und Selbstdestruktivität: dass sie nie gelernt haben, ihren Gefühlen zu vertrauen, oder im Extremfall, dass sie nie eigene Gefühle entwickelt haben. Sie wurden in der Kindheit verprügelt und zusammengeschrieen und sollten dann dem Vater dafür auch noch "dankbar" sein, weil dies "nötig" wäre, um sie auf den "rechten Weg" zu bringen, und dem Vater täten die Prügel ja genauso weh, aber was sein muss, muss sein... Und das, was das Kind erleichtern würde, etwa das Weinen und Schreien und später das An- und Aussprechen dessen, was es beschäftigt, v.a. auch des Sexuellen, wird ihm abgewöhnt, weil "es sich nicht gehört". Fragt das Kind "warum", hieß es höchstens: "Sei nicht so vorlaut, gehorch und halt den Mund!"

In der Erziehung gehört das absurde Verhalten inzwischen nicht mehr zur Norm - wenn es auftritt, wie z.B. in vielen Fällen der Kindesmisshandlung mit Todesfolge, die es groß in die Medien schaffen ("Fall Kevin" u.a., in denen die Eltern zu Protokoll geben, sie wollten dem Kind nur "Parieren beibringen"), wird es deutlich als "abnorm" und nicht richtig gekennzeichnet. Allerdings, und das ist wenig hilfreich, werden die Täter dann schnell mit "Monster" u.ä. bezeichnet, was die Distanzierung zu ihnen viel einfacher macht - "so einer", heißt es dann, "gehört weggesperrt!" Dass die Nazis auch ziemlich schnell als Nicht-Menschen verpackt wurden, als Monster, als Bestien, als blutrünstige Marsmännchen, die vom Himmel gefallen waren und ein Land terrorisiert hatten, war wohl die Hauptursache für die Verdrängung des III. Reiches hierzulande - dass "wir" so was heutzutage noch einmal machen würden, ist ja ganz ausgeschlossen" und überhaupt, "wir" wären damals ja auf jeden Fall im Widerstand gewesen! "Wir" wären nie so dumm gewesen, auf Hitler reinzufallen! Dabei geht es gar nicht um Dummheit. Es geht ums Fühlen. Es geht weniger darum, Parteiprogramme "objektiv" zu analysieren, sondern mehr darum, seinen eigenen Gefühlen vertrauen zu können. Das ist es, was uns sicher über die Gewässer des Lebens führt: Nicht das Denken allein.

Es ist wie mit Drogen: eine sachliche "objektive" medizinische Analyse, welche Organe "man" sich mit welchen Drogen kaputt macht, reicht nicht aus, um einen von den Drogen fernzuhalten. Emotionale, "subjektive" Gründe sind es, die einen in die Drogen hineinbringen, und sie sind es auch, die einen wieder herausbringen können. Es geht ja nicht um "man", es geht um mich. Nur dass man diese emotionalen Gründe nicht von außen willkürlich in den Menschen hineinpumpen kann, sondern dass er selbst drauf kommen muss. Und das muss er, wenn es ihm in der Kindheit abgewöhnt wurde, später lernen. Es ist mühsam, gewiss, aber es ist nicht unmöglich.

Insofern, kann das, was "die Eltern draus machen", auch positiv verstanden werden: wenn die Eltern das kleine Kind offen und respektvoll behandelten, ohne physische und psychische Terrormaßnahmen, ohne Machtausübung, lediglich unterstützend, fordernd, Möglichkeiten aufzeigend, aber nicht auf bestimmte Möglichkeiten reduzierend, dann wird der Erwachsene, der sich aus diesem Kind entwickelt, ein ehrlicher, aufmerksamer, mitmenschlicher Zeitgenosse, der zuhören kann und der vor allem künstliche Liebes- und Vertrauens-Surrogate wie Karriere, Ruhm, Macht und blinde Verehrung nicht nötig hat.

Er muss niemandem etwas beweisen, und er kennt keinen Hass, weil er keine existenzbedrohende Angst kennt. Nur: wie viele solcher Leute kennen wir? Eben. Das zeigt, dass immer noch viel im Argen liegt, auch wenn die Prügelstrafe inzwischen abgeschafft wurde.

Jemand, der unter der Verwöhnung und Bevormundung durch seine Mutter litt, der dann als Erwachsener den Kontakt zu ihr abbricht und sich grimmig aufmacht, "sein Leben" zu leben, der dann vielleicht ein philosophisches und psychologisches Studium macht, abschließt, weiterforscht, sich Wissen aneignet und bald auch seiner Mutter im dazugehörigen Jargon ihre Fehler kühl, sachlich und "objektiv" erläutern kann, der aber dennoch ein grimmiger, unlustiger Zeitgenosse ist, der sich mit Wein zuschütten muss und der nach wie vor gereizt und unwirsch klingt, wenn man ihn auf seine Mutter anspricht, der ist für mich ein trauriger Fall.

Gewiss, er hat sich "gebildet", er hat sein Hirn auf Vordermann gebracht, aber in der Kategorie Fühlen schmiert er nach wie vor jämmerlich ab, er hält sein Wissen vor sich wie ein Schutzschild, mit dem er etwas abwehren will. Sein Wissen ist sein Surrogat, er forscht und liest wie besessen, um sich nicht mit dem Augiasstall in sich selbst befassen zu müssen.

"Deine eigene Psyche", kann er dann sagen, "interessiert keinen, nur dich selbst. Sieh zu, dass du endlich an deiner Arbeit weiterkommst! Hör auf mit deiner Innenbeschau!"

Solche Haltungen sind eine Ursache für Auschwitz. Man denke an die Nazis, die mit ihrem Goethe, ihrem Schiller und ihrem Nietzsche prahlten, von "Kulturnation" sprachen und gleichzeitig Juden vergasten.

Bildung ist nicht alles. Herzensbildung ist wichtig. Die Vernunft ist nur ein kleiner Teil des Menschen. "Er nennt's Vernunft und braucht's allein / nur tierischer als jedes Tier zu sein", sagt Goethes Mephisto und könnte damit auch jenen oben beschriebenen fiktiven Jemand charakterisieren, denn jedes Tier hat das, was ihm, trotz seines immensen Wissens, abgeht: Selbstakzeptanz. Urvertrauen. Bildung ist zwar wichtig, aber sie kann nur verstanden werden, wenn das Denken mit dem Fühlen verbunden wird. "Imagination is more important than knowledge", sagte Albert Einstein, und mit "knowledge" meinte er das Horten, das Sammeln von Fakten sowie das sinnlose (richtig: ohne die Sinne getätigte) Einpauken von Wissen, wie es das Bildungssystem jahrhundertelang praktizierte. Damit wären wir wieder bei der Rohrstockpädagogik. Sind die Kinder hohle Nüsse, in die man Wissen nur hineinstopfen muss? Ist in ihnen nicht vorher schon was drin, Phantasie, Talente, Begabungen, Freude an gewissen Dingen, Mühe bei anderen, Kreativität, die Fähigkeit, ganz versunken spielen zu können und damit Glück zu empfinden? Zählt das alles wirklich nichts? Die Haltung "Innenbeschau wollen wir hier nicht" ist auch der Grund für die Selbstmorde von Robert Enke oder Kirsten Heisig; auch für die Burn-Out-Erkrankung von Miriam Meckel, um einige prominente Beispiele zu nennen.

"Deine Psyche interessiert niemanden, nur dich selbst, und für deine Arbeit ist sie nicht nur hinderlich, sondern sogar unerwünscht" - diese Einstellung bekam auch Alice Miller zu hören, der von der klassischen Psychoanalyse vorgeworfen wurde, sie sei zu wenig "objektiv". Aber kann man denn bei etwas, was einen auch selbst angeht, "objektiv" bleiben? Ist es nicht vielmehr gerade förderlich, seine eigenen "subjektiven" Erfahrungen mit einzubeziehen bei den Versuchen, sein Gegenüber zu verstehen? Wäre es nicht auch förderlicher, mehr auf die Psyche der Menschen zu achten als auf ihre äußerlichen Karrieren? "Wer sich und sein Innenleben vollständig objektiviert, behandelt auch die anderen nur als Objekte", schreibt Miller in DU SOLLST NICHT MERKEN, und ist diese "Objektivität" wirklich so wünschenswert?

Dass sich Leute wie der Nationaltorhüter Enke oder die Neuköllner Jugendrichterin Heisig, beide erfolgreich und geachtet, umbringen, weil hinter dem äußeren Schein ein tiefer Abgrund klafft, der nicht "rauskommen" darf, weil er angeblich "subjektiv" ist und niemanden zu interessieren habe - ist dies nicht ein Appell dafür, dass man allgemein offener, ehrlicher, toleranter miteinander umgehen sollte?

Denn Ehrlichkeit und der Versuch, "subjektiv" mit sich ins Reine zu kommen, ist ja kein "Ego-Trip", sondern färbt auch auf die Mitmenschen ab und macht damit Kritik möglich an diesen "Karrieren", in die man sich selbst angeblich nicht einbringen darf. Und wenn ich ein offeneres Thematisieren der Psyche anspreche, dann meine ich damit auch nicht das andere Extrem: das Tränendrüsen-Kitsch-TV, die Psycho-Vermarktung auf der BILD-Zeitung oder der Eso-Ratgeber-Boom. Wörter wie "Seele", "Herz", "Glück", "Gefühl" werden von den Medien inzwischen epidemieartig missbraucht, so dass ihnen kaum mehr zu trauen ist ("Das Halbfinal-Aus traf uns mitten ins Herz!", "Helfen Sie Ihren Frühlings-Gefühlen auf die Sprünge - mit neuen modischen Kleidern!" u.ä.), doch hinter dieser schal stinkenden Soße haben die Begriffe dennoch eine Essenz, die wir nicht unterschätzen sollten.

Das Wort "Seele" kommt von "See", und nur, wenn der Ur-See dicht ist, d.h. wenn man sich vertrauen kann und mag, kann was draus werden. Dann braucht man weder Gefühlssurrogate noch künstliche Gefühle in Dosen, d.h. Kitsch.

Dann kann der Mensch viel mehr werden, als seine Eltern je für möglich hielten.


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Quelle:
graswurzelrevolution, 39. Jahrgang, 352, Oktober 2010, S. 16-17
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Oktober 2010