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GRASWURZELREVOLUTION/1087: Camus lebt! - "Ich revoltiere, also sind wir"


graswurzelrevolution 347, März 2010
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Camus lebt!
"Ich revoltiere, also sind wir"

Von Ulrich Klan


Anlässlich seines 50. Todestages erinnerte im Januar 2010 ein internationales Festival in Wuppertal eine Woche lang an den Schriftsteller, Résistancekämpfer und Nobelpreisträger Albert Camus (1913-1960). Veranstaltet von der Armin T. Wegner-Gesellschaft (1) und der Stiftung W (2) in Kooperation mit den Wuppertaler Bühnen und anderen Partnern gab es eine Aufbruchsstimmung, wie sie lange nicht mehr zu erleben war: überfüllte Veranstaltungen, intensive Diskussionen um Camus' Aktualität und Bedeutung, bundesweites Echo und ein aktives Publikum, das u.a. aus Bremen, Hannover, Münster, Frankfurt, Hamm, Wiesbaden und Stuttgart angereist war.


Vor allem im legendären Wuppertaler Schauspielhaus, Ort der Entwicklung von Pina Bausch, der deutschen Erstaufführung von Camus' "Caligula", Else Lasker-Schülers anarchistischen Dramen und Heinrich Bölls Rede über die "Freiheit der Kunst" fanden die Camus-Veranstaltungen statt. Aber auch an anderen Orten der Stadt. Eine Woche pralles Leben im Theater, dessen drohende Schließung durch die kaputt gesparte Kommune zuvor bundesweite Schlagzeilen gemacht hat. Das Camus-Festival war Teil des überörtlichen Widerstandes, so dass die "Westdeutsche Zeitung" titelte: "Wuppertal feiert einen Rebellen - und protestiert!"

Es gab Filme, Vorträge mit ReferentInnen aus Frankreich, Spanien und Deutschland, Lesungen - u.a. aus Camus' nachgelassenem Roman "Der erste Mensch" und aus "Der Mensch in der Revolte" sowie ein Jazz-"Nachtfoyer" zu "Der Mythos des Sisyphos". Es gab ein "Forum der Initiativen" mit Publikumsgespräch und ein Konzert der Sponti-"Urgesteine" von "Fortschrott" - politische Musiksatire - unter dem Titel "Trotzdem". Und es gab Theateraufführungen ("Eine Billion Dollar") und im Theater die Ausstellung "Die Fremde": Bilder der Wuppertaler Künstlerin Ulle Hees zu Else Lasker-Schüler, der "Rebellin der Schönheit".

Das überwältigende Publikumsbedürfnis und die inhaltlichen Schwerpunkte gaben dem Motto der Veranstalter recht: "Camus lebt!".

Bis heute unbequem wirft der Autor der "Revolte" stets die Frage auf, wie mit ihm zu einem Datum wie diesem umzugehen sei? In Wuppertal wurde er befreit aus seiner Schattenexistenz als (angeblich) bloßer "Lektüre fürs Abitur", wie die taz schrieb.

Das Festival brach in seinen Formen und Themen die "Schubladen" auf, in denen Camus all zu oft reduziert, vereinnahmt oder einfach "wegsortiert" wurde. Es stellte sich der Beweglichkeit, welche dieser Autor verlangt. Umso lächerlicher erschien der - gescheiterte - Vereinnahmungsversuch von Nicolas Sarkozy: Der Präsident Frankreichs wollte Camus zum 50. Todestag exhumieren lassen, um ihn einzugemeinden im "Pantheon" des französischen Staates. Ihm geht es mehr um die Knochen des toten Camus als um die Lebendigkeit seines Denkens. Camus aber gehört am wenigsten einem Staat - er gehört der Menschheit.

Camus' Impulse spiegeln sich in vielen heutigen Ideen, Lebenshaltungen und zivilgesellachaftlichen Bewegungen weltweit. Die Integrität und positive humane Kraft seines Denkens ist gefragt - angesichts von Bildungskrise, Turbokapitalismus, Entsolidarisierung, Rassismus, Terror und Gewalt. Camus' Revolte bedeutet die (Wieder-)Herstellung der menschlichen Würde.

Die Erinnerung an Liebe und Solidarität unter heillos scheinenden, absurden Umständen. Camus ist hochaktuell. Und er ist wieder sichtbar: Denn der Blick auf ihn ist zwanzig Jahre nach dem Fall des "Eisernen Vorhangs" nicht mehr durch dogmatische Denkmuster und Modelle eines autoritären Staatssozialismus verstellt. Camus fördert das eigene kreative Denken. Seine freiheitliche Kritik an Unrecht und Ausbeutung war und ist immer zugleich eine klare Absage an jegliche Diktatur - auch an Diktaturen, die sich auf Marx, Lenin, Stalin oder Mao beriefen. Und an Diktaturen, die z.B. im Namen der "Sicherheit" oder der Datenkontrolle heute drohen. Camus selbst war im Widerstand gegen Faschismus, Kolonialismus und Rassismus aktiv. Er, der in Algerien geboren wurde, wandte sich gegen Islamfeindlichkeit und Antisemitismus. Bis heute zählt er zu den konsequentesten Vertretern universaler Menschenrechte.


Im "utopischen Gedächtnis" der Menschheit ist Camus - wie etwa Gandhi oder Tolstoi - ein bleibendes Vorbild für eine Welt solidarischer, freier Menschen. Solche Vorbilder sind niemals "erledigt". Ihr Werk kann zur "Tradition" werden - aber im Sinne Gustav Mahlers, der bemerkte: "Tradition ist die Bewahrung des Feuers, nicht die Weitergabe der Ashe."

Auf dem Wuppertaler Camus-Festival sprach der spanische Philosoph und Bestseller-Autor Fernando Savater ("Tu was du willst") über "Die Herausforderung von Terrorismus und Gewalt - Ethik nach Camus". Er bezog sich auf Passagen zu Mord und Selbstmord in "Der Mensch in der Revolte" und betonte die wahrhaftige Sprache, die den Künstler Camus um so vieles authentischer, wirksamer und nachhaltiger macht als viele seiner "fachphilosophischen" oder marxistischen Kritiker. Er verglich Camus mit dem britischen Sozialisten George Orwell.

Die Journalistin und Philosophin Dr. Anne-Kathrin Reif erschloss den unbekannten Camus, der dem Absurden besonders im letzten Teil seines Werkes "eine andere Art von Liebe" entgegensetzte - "Liebesmöglichkeiten", die noch über die Solidarität hinausgehen.

Wie sie zeigte auch die Schauspielerin Ulrike Schloemer (Berlin) in ihrer Lesung "Vom Geist des Mittelmeeres" Camus als einen Suchenden in "Licht und Schatten", als zerbrechlichen Zeugen gegen Aufgeblasenheit und Gewalt und einen Autor, dessen reiche, freiheitliche Sprache aus der Armut und dem "Schweigen der Mutter" erwuchs: Der Analphabetin widmete er seinen letzten Roman mit den Worten: "Dir, die du dies nie wirst lesen können".

Lou Marin aus Marseille zeigte in seinem Vortrag "Ursprung der Revolte - Camus und der Anarchismus" die Nähe Camus zum anarchistischen und syndikalistischen Milieu.

Im Publikumsgespräch wurde deutliche Kritik daran laut, dass das journalistische Werk von Camus noch immer nicht in deutscher Übersetzung vorliegt. Wie überhaupt die Übersetzung und Betreuung seines Werkes hierzulande mehr als zu wünschen übrig lässt.


"Marschall-Pause" - Vom Schweigen der Strategen und vom Zur-Sprache-kommen

Kein Camus ohne Revolte, auch im ästhetischen Sinn: Diese wurde erlebbar nicht nur durch Skulptur und Zeichnungen der rebellischen Bildhauerin und Malerin Ulle Hees und durch die Visconti-Verfilmung von "Der Fremde" oder Louis Puenzos' "Die Pest". Sondern auch durch besondere Musikbeiträge zu Camus-Texten. Neben Jazz, der Musik der Freiheit, war das etwa die Uraufführung einer Musik zu Camus' Nobelpreisrede für das futuristische Antenneninstrument Theremin und Bassgitarre.

Und die Erstaufführung des ersten "komponierten Schweigens" der Musikgeschichte: Das Stück "In futurum" des Dada-Komponisten Erwin Schulhoff wurde "zu Gehör gebracht". Es besteht ausschließlich aus Pausen!

Der Clou dabei: Das Stück, im Ersten Weltkrieg geschrieben, verlangt über die in der Musik übliche "Generalpause" hinaus auch noch eine "Marschall-Pause"... In hörbaren Tönen erklang das meistverbotene Antikriegslied "Le deserteur" von Boris Vian sowie von Louis Llach, einem libertären katalanischen Sänger der Gegenwart, das Lied "Ithaka", die zeitlose "Hymne der Utopie".

Im Sinne Camus' gab es auch ein Forum von Basisinitiativen. Camus selbst sah ausdrücklich nicht Parteien, sondern vor allem Einzelne sowie kleine, freiheitliche und selbstorganisierte Bewegungen, Kommunen und Gewerkschaften als Träger der Revolte an, als gesellschaftliches Korrektiv und als Motor der Gesellschaft. In Wuppertal diskutierten Pastor Dr. Karl Wilhelm ter Horst von seiner zusammen mit Nina Hagen gegründeten Initiative für Deserteure und traumatisierte Soldat/inn/en, Vertreter/innen von "Bundeswehr wegtreten", von attac und amnesty international, vom Bündnis "Wuppertal wehrt sich", von der Initiative für Demokratie und Toleranz, von der Anti-Hartz IV-Initiative "Zahltag" sowie von der Stiftung W. Ein gelungener Gesprächsanfang miteinander und mit dem Publikum. Diese Veranstaltung brachte die Wahrnehmung auch weniger bekannter Initiativen voran und förderte die gegenseitige Vernetzung.


Fußnoten:
(1) www.armin-t-wegner.de
(2) www.stiftung-w.de

Weitere Infos und Pressespiegel auf:
www.camus-lebt.de

Kontakt:
Internationale Armin T. Wegner Gesellschaft e.V.
Else Lasker-Schüler Str. 45
42107 Wuppertal

www.armin-t-wegner.de
www.armin-t.wegner.us


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Quelle:
graswurzelrevolution, 39. Jahrgang, GWR 347, März 2010, S. 3
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. März 2010