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GRASWURZELREVOLUTION/1066: Staatsterror in Griechenland - Letzte Revolte vor dem Staatsbankrott?


graswurzelrevolution 345, Januar 2010
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Staatsterror in Griechenland
Letzte Revolte vor dem Staatsbankrott?

Ralf Dreis


Polizeigewalt, Korruption, Klientelwirtschaft, ein marodes Bildungs- und Gesundheitssystem - in Griechenland protestiert eine ganze Generation gegen dieses politische System ohne Zukunft. Die herrschende Elite versucht, das Aufbegehren mit Gewalt zu zerschlagen.


Vor einem Jahr wurde der 15-jährige Anarchist Aléxandros Grigorópoulos von Polizeibeamten in Athen erschossen. Das war der Auslöser für die schwersten Unruhen in Griechenland seit dem Ende der Militärdiktatur 1974.

Nun ist es erneut zu mehrtägigen schweren Krawallen gekommen. Mehrere zehntausend Menschen beteiligten sich überall im Land an Gedenkdemonstrationen. In Pátras, Vólos, Lárisa, Xánthi, Ioánina, Agrínio, Kórinthos, Iráklion, Chaniá und vor allem in Thessaloníki und Athen kam es hierbei zu heftigen Auseinandersetzungen und teilweise stundenlangen Straßenschlachten mit den Polizeitruppen.

Im Vorfeld des Jahrestages hatte die seit zwei Monaten regierende sozialdemokratische Pasok unter Ministerpräsident Giórgos Papandréou versucht, die Bevölkerung mit dem Trugbild des politischen Neubeginns einzulullen. Wer trotzdem keine Ruhe gab - streikende ArbeiterInnen, AnarchistInnen, UmweltschützerInnen - bekam den Knüppel zu spüren. Die Rolle des Bluthundes übernahm hierbei der für die Polizei zuständige "Bürgerschutz-Minister", Michális Chrysochoidis. Durch harte Repressionsmaßnahmen gegen potentiell widerständische Bevölkerungsgruppen versucht er, die seit dem Dezemberaufstand 2008 verloren gegangene staatliche Normalität mit Gewalt wiederherzustellen. Dieser Versuch ist gescheitert. Die Verhängung eines nicht erklärten Ausnahmezustands durch die wochenlange Besetzung des Athener Szenestadtteils Exárchia durch Polizeitruppen hat nicht zu "Sicherheit und Ordnung", sondern zu andauernden Provokationen, Demonstrationen, Festnahmen, Verletzungen, Tränengaseinsätzen und ständigen Auseinandersetzungen mit der als Besatzungsmacht auftretenden Polizeiarmada geführt.

Bei den erneuten Zusammenstößen rund um den 6.12.2009 geht es jedoch um einiges mehr als um den Protest gegen die Polizeigewalt, auch nicht allein um das Andenken an den erschossenen Aléxandros. Was bei den Straßenschlachten aufbricht, ist die Wut und Verzweiflung einer ganzen Generation, die sich um ihre Zukunft betrogen fühlt.

Griechenland gibt ganze 2,5% des Bruttoinlandsprodukts für die Bildung aus - weniger als jedes andere Land der Europäischen Union. Eines der rückständigsten Erziehungssysteme Europas produziert Massen von Arbeitslosen. Jede/r fünfte Schulabgängerin findet keinen Job. Nirgendwo sonst in der EU sind so viele 16- bis 25-Jährige arbeitslos. Wer doch eine Stelle ergattert, verdient selten mehr als 600 Euro. Aber auch die Missstände im Bildungswesen und die materiellen Nöte reichen nicht als Erklärung für die wachsende Unruhe unter Jugendlichen und weiten Teilen der griechischen Gesellschaft.

Immer mehr Menschen fühlen sich zunehmend fremd und unterdrückt in einem politischen System, das unübersehbare Anzeichen des Niedergangs zeigt. Seit Jahren jagte ein Skandal den nächsten. Großkapital, Massenmedien und Politik haben sich zu einem undurchdringlichen, sich gegenseitig stützenden und bereichernden Geflecht der Macht entwickelt. Der Staat, das Land, seine Menschen und die geschundene Natur als Selbstbedienungsladen, der hemmungslos ausgeplündert wird.

Begehrte Jobs im Staatsdienst werden an die Verwandtschaft und an Günstlinge verschachert. Politdynastien wie die Papandréous, Karamanlís und Mitsotákis (siehe GWR 344), die seit Jahrzehnten die griechische Politik beherrschen, stehen für eine politische Kultur, deren tragender Pfeiler ein Netzwerk aus Filz, Korruption, Gefälligkeiten, Unterdrückung und kriminellen Machenschaften ist und sich in Zeiten des Niedergangs auf eine immer brutaler um sich schlagende Polizei stützt.

Statistiken der Organisation Transparency International weisen Griechenland als den korruptesten Staat der EU aus. Egal ob es um eine dringend nötige Operation, um den Führerschein oder eine Baugenehmigung geht, wer ein fakeláki - einen Briefumschlag mit Geld rüberschiebt, kommt schneller zum Ziel.

Ein Indiz für die Stimmung in Teilen der Bevölkerung ist eine Demo in Athen, bei der am 4.12. über 1.000 Menschen aus Solidarität mit dem seit Jahren im Knast sitzenden Giánnis Dimitrákis auf die Straße gingen. Dimitrákis wurde nach einem Schusswechsel in Folge eines Banküberfalls schwer verwundet und später zu langer Haft verurteilt. Während des Verfahrens hatte er den Banküberfall als zwar private, aber nichtsdestotrotz revolutionäre "Enteignungsaktion" gegenüber einem verrotteten System gerechtfertigt. Da seine "Mitarbeiter" unerkannt entkamen und er sich über ihre Identität ausschweigt, ist er in großen Teilen der anarchistischen und linksradikalen Bewegung hoch angesehen.


Medienhetze und Angriffe auf die anarchistische Bewegung

Im Vorfeld des Jahrestages hatten griechische Politiker aller Couleur dazu aufgerufen, des am 6.12.2008 ermordeten Schülers friedlich zu gedenken. Chrysochoidis seinerseits besuchte am 4.12.2009 persönlich die Redaktionen großer griechischer Tageszeitungen, bat diese um Zurückhaltung in ihrer Berichterstattung gegenüber der Polizei in den kommenden Tagen und kündigte "null Toleranz gegenüber Gewalt und Gesetzlosigkeit" an. Wie sich herausstellte, ein Freibrief für wahllose Massenverhaftungen und ein Auftreten der Polizei, das an Brutalität schwer zu überbieten sein wird. Unterstützt durch eine bisher beispiellose Pressekampagne gegen "anarchistische und antiautoritäre Gewalttäter" kam es schon am 5.12.2009 zu über 200 Festnahmen in Piräus, Thessaloníki, Athen und Kórinthos. Die Lügenkampagne der staatstragenden griechischen Medien wurde in Deutschland von Frankfurter Rundschau, Tagesspiegel, Spiegel online u.a. fortgeführt. So hatten MAT-Sondereinheiten einen anarchistischen Infoladen in Keratsíni, einem Stadtteil von Piräus, während des Plenums am 5.12. gestürmt und die 23 Anwesenden verhaftet. Nicht nur in der FR vom 7.12. wurde aus dem Überfall eine "Polizeirazzia", bei der man eine "Werkstatt ausgehoben (habe), in der Anarchisten Brandbomben herstellten". Aus leeren Bierflaschen, Werkzeugen, der im letzten Jahr als Souvenir aufgesammelten Hülle einer der von der Polizei tausendfach verschossenen Blendschockgranaten und Gasmasken zum Schutz gegen das Tränengas wurden "Molotowcocktails, Beile, Blendgranaten und Gasmasken".

Das in der Folge von knapp 200 Menschen aus Protest besetzte Rathaus von Keratsíni wurde ebenfalls gestürmt, wobei es zu 42 weiteren Verhaftungen kam. Solche Polizeiaktionen und die (bewusst) falsche Berichterstattung sollen einschüchtern und spalten. Sie machen die verbogenen Appelle der Politiker zur Friedfertigkeit zur Makulatur.

Schon am 30.11. waren über 1.000 Menschen in Thessaloníki gegen einen faschistischen Bombenanschlag auf den anarchistischen Infoladen Buenaventura auf die Straße gegangen. Da die Verbindungen zwischen Polizei und faschistischen Organisationen in Griechenland ein offenes Geheimnis sind, gehen viele von einem parastaatlichen Hintergrund aus. Bei dem nächtlichen Anschlag, der den Eingangsbereich und das Schaufenster zerstörte, wurde niemand verletzt. Ebenfalls in Thessaloníki wurde der Anarchist Ilías Nikoláou am 2.12. zu siebeneinhalb Jahren Knast als angeblicher Täter eines Brandanschlags auf eine Polizeiwache im Januar 09 verurteilt. Nikoláou bestreitet den Anschlag und beschuldigt die Polizei, ihn als anarchistischen Aktivisten zu kriminalisieren.

Schon Ende November war in der Stadt ein neuer Fall von "Boss-Tenor" bekannt geworden. Auf den Wagen der Basisgewerkschafterin Venetía Monalopoúlou hatten Unbekannte einen Säureanschlag verübt. Monalopoúlou ist als Reinigungskraft im Flughafen von Thessaloníki tätig. Der Anschlag wird allgemein als Warnung für die kämpferische Aktivistin aufgefasst und erinnert fatal an den Mordanschlag auf Konstantína Koúneva Ende 2008. Koúneva war von beauftragten Schlägern mit Schwefelsäure überschüttet und gezwungen worden, diese auch zu schlucken. Wochenlang schwebte sie in Lebensgefahr, auf einem Auge ist sie erblindet und noch immer werden im Krankenhaus ihre inneren Verätzungen behandelt. Auch wegen ihrer kämpferischen Haltung, physischen und psychischen Stärke ist es im letzten Jahr zu verstärkten Arbeitskämpfen im prekären Arbeitsbereich gekommen. Vor allem der Kampf der (meist migrantischen) Putzfrauen erfährt hierbei viel Solidarität aus der anarchistischen Bewegung und Teilen der Arbeiterschaft.


"Gewalt gegen die Gewalt der Herrschenden"

Seit dem 2.12.09 hatten tausende SchülerInnen und Studis mehr als 400 Mittel- und Oberstufengymnasien und 42 Unifakultäten zur Mobilisierung für die Gedenkdemonstrationen im ganzen Land besetzt. Die Schließung der zentral gelegenen Wirtschaftsfakultät ASOEE in Athen "wegen Schweinegrippe" konnte am 4.12. erst nach Auseinandersetzungen mit den die Fakultät abriegelnden MAT-Sondereinheiten verhindert werden.

Am Morgen des 6.12. glich das Zentrum Athens dem einer besetzten Stadt. "Tenor" und "Junta" waren außer der Parole "Bullen, Mörder, Schweine" wohl die meistbenutzten Worte des Tages. Stärke Polizeikräfte an jeder Ecke, die versuchten, den Menschenstrom zur Großdemo um 13 Uhr am Verwaltungssitz der Unis, den Propylen, zu der diverse linke und anarchistische Gruppen aufgerufen hatten, zu filtern. Zum Versammlungsbeginn wurde das Verwaltungsgebäude besetzt und die griechische Nationalfahne durch die schwarzrote Fahne der Anarchie ersetzt. MAT-Einheiten, die dies verhindern wollten, stürmten auf den mit Tausenden besetzten Platz, worauf ein heftiger Kampf entbrannte. Wenn am Tag darauf die deutsche Mainstream-Presse über "300 Randalier" phantasiert, zeigt dies die Angst vor "griechischen Zuständen". Dass 3.000 bis 4.000 Menschen mit Steinen, Knüppeln und Barrikaden über anderthalb Stunden einen. Versammlungsplatz gegen Polizeiangriffe mit Tränengas, Blendschockgranaten und Knüppeleinsätzen verteidigen, um sich als Demo formieren zu können, scheint für deutsche JournalistInnen unvorstellbar. Wenn das dann sogar gelingt und 15.000 Menschen trotz ständiger Polizeiübergriffe demonstrieren, muss es der Alptraum schlechthin sein.

Der sich formierende anarchistische Block wurde allerdings schon an der ersten Kreuzung durch Prügelattacken der MAT-Einheiten gespalten, die Demo in mehrere Teile zersprengt. In der Folge kam es im Umkreis mehrerer besetzter Fakultäten und entlang der Demoroute über Stunden zu heftigen Straßenschlachten. Gegen Ende der Demo rasten Beamte der berüchtigten Delta-Motorradeinheit mit hoher Geschwindigkeit in eine Gruppe von DemonstrantInnen, die sich um zuvor Verletzte kümmerten. Dabei wurde Angelikí Koutsoumboú, eine Veteranin der trotzkischen Revolutionären Arbeiterpartei (EEK), schwer verletzt. Sie hatte bereits unter der Obristendiktatur im Gefängnis gesessen und liegt nun mit schweren Kopfverletzungen im Krankenhaus auf der Intensivstation. Während die Mainstream-Medien diesen brutalen Übergriff (Film auf www.youtube.com) ignorierten oder umlogen (FR. Tagesspiegel), versuchten sie, aus einem Herz-Kreislauf bedingten Schwächeanfall des Rektors der besetzten Uni einen Mordanschlag zu konstruieren. Auch die Demos am 7.12., dem Bildungsaktionstag, wurden in vielen Städten von der Polizei angegriffen. Erneut kam es zu Straßenschlachten, an denen sich viele 13- bis 15-Jährige aus den besetzten Schulen beteiligten. In Thessaloníki brachen Polizeieinheiten das Uniasyl, drangen ins Polytechnikum ein und schossen Tränengasgranaten in eine Vollversammlung mit über 1.000 Personen. Insgesamt wurden am 5.12., 6.12. und 7.12.2009 in Griechenland 859 Menschen vorläufig in Gewahrsam genommen. 177 davon wurden inhaftiert. Aus Protest gegen den staatlichen Tenor haben AktivistInnen im nordgriechischen Kozáni das Rathaus besetzt.


Entlarvende Filme

Private Filmaufnahmen entlarven die Polizei und bringen "Bürgerschützer" Chrysochoidis in Erklärungsnot. Ein in Thessaloníki von Beamten der Delta-Motorradeinheit am 6.12.09 verhafteter "Gewalttäter" musste am 8.12. aus der Haft entlassen werden. Ein ins Netz gestellter Film beweist, dass der junge Mann in Schlafanzughosen den Müll zur Mülltonne brachte, als er von den Beamten zu Boden gerissen wurde, die dann eine Tasche mit Molotowcocktails neben ihn stellten und eidesstattlich aussagten, ihn damit überwältigt zu haben. Eine beliebte Methode, um Menschen für Jahre in den Knast zu bringen.

Nach der Ausstrahlung eines anderen Videos aus Chaniá/Kreta vom 7.12.09, das Polizeieinheiten in gemeinsamer Front mit vermummten Faschisten zeigt, wurde eine "Untersuchung" angeordnet. Ebenfalls "untersucht" wird der Einsatz der Delta-Einheit in Athen am 6.12., nachdem Bilder auf www.youtube.com beweisen, wie die Beamten in eine Gruppe von DemonstrantInnen rasten, wobei die Antifaschistin Koutsoumboú schwer am Kopf verletzt wurde.

Als Lüge erwies sich auch die oben angeführte Pressemeldung, der Rektor der besetzten Athener Uni sei von Besetzern zusammengeschlagen worden und mit schweren Kopfverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Privatfotos beweisen, wie er unversehrt die Uni verlässt. Er hatte schlicht eine Herz-Kreislaufattacke auf Grund der Aufregung und mischt wieder kräftig in den Debatten um das Hochschulasyl mit.


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Quelle:
graswurzelrevolution, 39. Jahrgang, GWR 345, Januar 2010, S. 12
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Tel.: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net

Die "graswurzelrevolution" erscheint monatlich mit
einer Sommerpause im Juli/August.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2010