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GRASWURZELREVOLUTION/1040: "Den Alltag widerständig gestalten"


graswurzelrevolution 342, Oktober 2009
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft
- beilage libertäre buchseiten -

"Den Alltag widerständig gestalten"

Ein Interview mit den Autorinnen Hanna Poddig und Silvia Hable


GRASWURZELREVOLUTION: Ihr lebt beide ungewöhnlich und habt Bücher darüber verfasst. Wer hat euch auf die Idee gebracht?

HANNA: Ich kam nicht selber auf die Idee zu schreiben, sondern wurde vom Verlag darauf angesprochen. Zuvor bin ich in einer Dokumentation des WDR porträtiert worden. Daraufhin nahm der Rotbuch-Verlag Kontakt zu mir auf. Ich war mir am Anfang nicht so sicher, ob ich mir zutraue zu schreiben, aber der Gedanke, über ein Buch Menschen zu erreichen und ihnen politischen Aktivismus näher zu bringen, hat mich gereizt.

SILVIA: Bei mir war es auch eine Dokumentation. "Ich war das perfekte Kind" hieß das Porträt, das mich als Punkerin mit Abitur, meine Gedichte, Gedanken, mein politisches und künstlerisches Engagement beleuchtete. Die "Deutsche Verlagsanstalt" - damals noch nicht in der Hand des Bertelsmann-Konzerns - nahm daraufhin Kontakt zu mir auf. Ich fand die Idee super, da ich den Film als zu unpolitisch empfand und im Buch noch mehr auf diesen Aspekt eingehen wollte.

GRASWURZELREVOLUTION: Es geht ja um Dinge, die ihr erlebt habt. Würdet ihr eure Bücher als "autobiografisch" bezeichnen?

HANNA: Ich erzähle in dem Buch von Aktionen, an denen ich beteiligt war - insofern hat das Buch autobiografische Züge. Es ist aber keine Biografie im engeren Sinne, es ist mehr so etwas wie eine Anleitung für kreativen Straßenprotest, verpackt in kurze Geschichten aus meinem Leben. Es geht in dem Buch nicht darum, wie ich aufgewachsen bin, wo ich herkomme, wer mich geprägt hat oder wo ich gewohnt habe. Darüber wollte ich nicht schreiben.

SILVIA: Ich habe ein Jahr lang an einem politischen Roman geschrieben, in dem meine eigenen Erlebnisse, die meiner Freunde, aber auch viel Fantasie im Spiel waren. Ich war von der Idee, mein Leben und meine intimsten Gedanken plötzlich als Biografie "verkaufen" zu müssen daher überhaupt nicht angetan. Letztlich habe ich Mittel und Wege gefunden, eine authentische Autobiografie zu schreiben, in der ich m.E. meiner Identität und der meiner WeggenossInnen ausreichend Privatsphäre bieten konnte.

GRASWURZELREVOLUTION: Worum geht es in den Büchern? Wen möchtet ihr erreichen? Was möchtet ihr euren LeserInnen zeigen?

HANNA: Ich hoffe, dass Menschen ihr eigenes Verhalten kritisch reflektieren und sich nach der Lektüre weniger ohnmächtig fühlen. Ich glaube, dass es möglich ist, den eigenen Alltag widerständig zu gestalten. Und ich hoffe, dass sich mehr Menschen zutrauen, Normalitäten zu hinterfragen und aus Gewohnheiten auszubrechen. Wie das dann konkret aussieht, muss jede_r für sich entscheiden.

SILVIA: Bislang politisch unbedarfte LeserInnen bekommen Infos, wie es um Flüchtlingsrechte und um die angeblich freiheitlich-demokratische Grundordnung bestellt ist. Außerdem werden gelebte Alternativen zum Bestehenden dargestellt. "Szeneangehörige" wiederum dürften sich mit einer gehörigen Portion Ironie und Kritik an der eigenen Praxis konfrontiert sehen, sich aber auch hier und da selbst wiedererkennen. Eine Art alternative Geschichtsschreibung, die sich auch für Eltern von "rebellierenden" Teenies eignet, genauso wie als Anregung zum widerständigen Leben und dem kritischen Hinterfragen.

GRASWURZELREVOLUTION: Wollt ihr in Zukunft weiter schreiben? Wenn ja, über welche Themen?

HANNA: Ich habe v.a. im Winter geschrieben. Da war es kalt und eklig draußen. Das ist die Zeit im Jahr, wo Aktionen draußen weniger Spaß machen, ideal also für Schreibtischkram. Aber jetzt mache ich wieder mehr Aktionen. Ich bin und bleibe in erster Linie Aktivistin, nicht Buchautorin.

SILVIA: Ich will auf jeden Fall ein weiteres Buch schreiben. Es wird sich um den Komplex Schwangerschaft, Geburt und Babyzeit in unserer Kultur drehen. Ferner wird es um Schulzwang, Antipädagogik und politische Aktivitäten mit Kindern gehen. Da ich eine 14 Monate alte Tochter habe, liegt mein Fokus gerade auf diesen Themen.

GRASWURZELREVOLUTION: Wie geht ihr mit der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit um, die auf euch zukommt?

HANNA: Ich glaube, dass jedes Interview auch eine Chance bedeutet, für mich wichtige Inhalte und meine Art zu leben Menschen näher zu bringen, mit denen ich nicht direkt zu tun habe. Ich bemühe mich, dabei nicht so sehr von mir als Person, sondern mehr von meinen Aktionen zu reden. Das ist schwer in einer Medienlandschaft, die persönliche Storys erzählen, aber keine widerständigen Perspektiven aufzeigen möchte. Wenn ich irgendwann vor Arroganz abhebe, werden mich hoffentlich nette Leute aus meinem Umfeld kidnappen und für ein Jahr auf einem Bauwagenplatz ans Lagerfeuer setzen und zum Rumgammeln anstiften.

SILVIA: Mir geht es da anders. Ich rede zwar auch von Aktionen und Projekten, aber meist mit persönlichem Bezug. Kann schon sein, dass da die Medien mehr drauf abfahren, aber solange ich meine Message rüber bekomme, gebe ich gerne auch etwas Preis von mir. Ich entscheide frei, was genau ich mit der Öffentlichkeit teilen will, auch wenn es scheint, als würde ich mit Buch, Blog (www.mutig-mutig.org) und Interviews mein ganzes Leben ausplaudern.

Interview: Franziska


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Hanna Poddig:
Radikal mutig - meine Anleitung zum Anderssein


Hanna Poddig:
Radikal mutig - meine Anleitung zum Anderssein
Rotbuch Verlag, Berlin 2009, ISBN: 978-3-86789-085-4, 14,90 Euro

Atom- und Kohlekraft, Militarismus, Gentechnik, Konsum und die damit einhergehende Ausbeutung, Greenwashing, ... - Hanna Poddig zeigt ihren LeserInnen in ihrem am 21. September 2009 erschienenen Buch viele Gründe, um für eine andere Welt zu streiten.


In ihrer "Anleitung zum Anderssein" erzählt sie von eigenen Erfahrungen und Methoden, subversiven Herangehensweisen, bewusster Alltagsgestaltung und kontinuierlichem Hinterfragen der Dinge. Hanna beschreibt direkte Aktionen, Kommunikationsguerilla, Kampagnen, alltägliche Veränderungen und vieles mehr aus eigener Anschauung. Sie greift dafür auf persönliche Erfahrungen aus verschiedenen "... - tja was eigentlich - Kreisen? Szenen? Subkulturen?" zurück und klammert auch unterschiedliche Ansichten über Wege und Ziele nicht aus. Sie legt darauf Wert, die verschiedenen Ansätze nicht gegeneinander auszuspielen, und legt dar, dass sie "verkopfte Kampagnen" für genauso wichtig hält wie "Kröten über die Straße tragen". Dennoch kommt auch die Kritik an rein symbolischen Großaktionen und Eliten, die ihrer Ansicht nach dazu beitragen, dass Bewegungsarbeit oft anstrengend sein kann, nicht zu kurz.

Hanna gibt einen Überblick über mehrere Jahre politischen Aktivismus und den Versuch eines möglichst konsequenten Lebens. Ob Containern, Trampen oder die Sichtbarmachung von Herrschaft - es geht immer auch um die alltäglichen Handlungsmöglichkeiten. Sie stiftet ihre LeserInnen an, sich beim Laden nebenan bei den Mülltonnen auf dem Parkplatz umzuschauen, lockt mit der Aussage, sie könne Schoko-Osterhasen nicht mehr sehen, und wünscht "Viel Spaß, Erfolg und guten Appetit!"

Auch klassische Aktionsformen bleiben nicht unerwähnt. Ob an Infoständen, auf Demos oder Aktionärsversammlungen: Kreide malen, Transparente hochhalten "und ein wenig jonglieren" gehören zu den Routinetätigkeiten einer Aktivistin. Hanna erzählt von Blockaden und Kletteraktionen und vom manchmal etwas eintönigen Flyer-Verteilen. Das Erstmal-nett-rüberkommen-Müssen gehört oft dazu. Doch Hanna Poddig ist nicht immer nett.

Sie greift Werbung aktiv an, um Greenwashing sichtbar zu machen, und kettet sich an Schienen, um Militärtransporte zu verhindern. Der Spruch "Geh doch ma arbeiten!" regt sie ähnlich auf wie Grenzwerte, die sich an der technischen Machbarkeit orientieren. Deshalb fordert die 23-Jährige ihre LeserInnen immer wieder auf, Betrachtungsweisen in Frage zu stellen. Ob Atomkraftwerke denn nicht die Landschaft "verschandeln" würden, fragt sie beispielsweise die WindkraftgegnerInnen. Wer sich überzeugen lässt, bekommt im Anhang eine Liste mit von der Autorin empfohlenen Internetseiten, Büchern und Musik serviert.

Viele der beschriebenen Aktionsformen können auch Repressionen nach sich ziehen. Deshalb ist es folgerichtig, dass sich dazu einiges im Buch wiederfindet: stundenlanges Fliesenzählen in Gewahrsamssituationen, Polizeiwillkür, Gerichtsverhandlungen und nicht zuletzt die Solidarität mit anderen Betroffenen.

Hanna Poddigs Versuch, dies alles nicht allzu persönlich werden zu lassen, gelingt nicht immer, führt jedoch zu einem gelungenen Überblick über die radikale umweltpolitische Protestbewegung hierzulande.

Franziska


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Punk und Protest
Silvia Hable: Augen zu gilt nicht.


Silvia Hable:
Augen zu gilt nicht.
Auf der Suche nach einer gerechten Welt
DVA Sachbuch, München, März 2009, 304 Seiten, ISBN 978-3-421-04308-5, 16,95 Euro

In "Augen zu gilt nicht" beschreibt Silvia Hable ihre Jugend in den späten neunziger Jahren.


Es geht um Punk, Revolte und den Ausbruch aus der Enge und den Zwängen des Elternhauses. Ausgehend von Ideen darüber, wie die Welt sein könnte, findet sie sich bald in der Nürnberger Punk-Szene wieder.

Zwischen Konzerten, Demos, regelmäßigen Besäufnissen und dem obligatorischen Schnorren muss sie sich selbst behaupten. Dazwischen liegen Liebeskummer, ein Aufenthalt in der Psychiatrie und immer wieder Streitigkeiten mit den Eltern. Auf einem Punkkonzert lernt sie Schlumpf kennen, die sie in Beziehungsdingen berät und politisch bestärkt. Aus dieser Begegnung entsteht eine langjährige Freundschaft.

Zwischen dem Besuch von Protestcamps und Punkertreffen zieht Silvia "das Abitur doch noch durch". Bis dahin macht sie Straßentheater, beteiligt sich an Pink- and Silver-Aktionen und gründet Aktionsgruppen. Kurz vor ihrem Abitur erlebt sie 2002 erste Gewahrsamnahmen während der Münchner NATO-Sicherheitskonferenz und des revolutionären ersten Mais in Berlin.

Ihr zukünftiges mobiles Zuhause wird ein gebraucht gekaufter, pannenanfälliger Bus. Mit diesem nimmt Silvia an einer Karawane für die Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen teil, macht einen durchgeknallten Ausflug nach Warschau und zieht schließlich nach Berlin. Dort versucht sie, Fuß zu fassen und sich durch vielfältige Freizeitaktivitäten in die Politszene zu integrieren.

Bei einem längeren Ausflug nach Barcelona entdeckt sie das "Macabra" - eine besetzte Fabrikanlage, die zum Wohnkollektiv und zu einer Zirkusschule umfunktioniert wurde. Zurück in Berlin schließt Silvia sich einer Gruppe Berliner Feuerjongleure an und beschließt, auf die Artistikschule zu gehen. Anfangs begeistert lässt sie sich auf einen geregelten Alltag und hartes körperliches Training ein. Doch der straff organisierte Unterricht und die oberflächliche Welt ihrer MitschülerInnen bremsen ihren Enthusiasmus schnell.

Dem durchorganisierten Alltag weicht erneut das Aktivistinnenleben: Silvia spielt Schlagzeug in einer neu gegründeten Band, jongliert auf Demonstrationen. Nach Abbruch der Artistikschule folgen Streitigkeiten mit den Eltern, die ihren Schulbesuch aus der Ferne unterstützt haben. Silvia fährt im Juli 2005 zum G8 in Gleneagles, um dort auf den Blockaden Samba zu spielen. Die Vielfältigkeit der Proteste begeistert sie. Sie fährt danach mehrere Wochen durch Großbritannien, bis sie ein Jobangebot zurück nach Deutschland holt.

Silvia nimmt an: ein FSJ bei einem Kinderzirkus im "sozialen Brennpunkt" Berlin Marzahn scheint zunächst das Richtige für sie zu sein. Doch Unzufriedenheit an diesem Arbeitsplatz sorgt zusammen mit anderen Problemen für ein Tief, das zur Jahreswende seinen Höhepunkt hat. Silvester begegnet Silvia zufällig ihrer alten Freundin Schlumpf.

Allerdings hat diese sich inzwischen von den gemeinsamen Träumen abgewandt und frönt dem Konsum.

Lange kämpft Silvia mit dieser Erkenntnis - letztendlich kündigt sie ihr soziales Jahr und schmiedet neue Reisepläne.

Silvia Hables Buch bietet einen Einblick in verschiedene Formen des widerständigen Lebens und beschreibt authentisch die Schwierigkeiten und Probleme, denen Menschen bei der Suche nach einer eigenen Kultur und Lebensform begegnen.

Franziska


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Quelle:
graswurzelrevolution, 38. Jahrgang, GWR 342, Oktober 2009
Beilage libertäre buchseiten, S. 7
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Tel.: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net

Die "graswurzelrevolution" erscheint 10 Mal im Jahr.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Oktober 2009