Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

GRASWURZELREVOLUTION/1011: Soziale Revolution statt Krisenbewältigung


graswurzelrevolution 339, Mai 2009
für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft

Soziale Revolution statt Krisenbewältigung
Gedanken zur politischen Situation

Von Georg Fischer


Um aus dem zustande gekommenen und sich vergrößernden Schlamassel herauszukommen, möchte ich von der sozialen Revolution erzählen.


Sie ist möglich, weil durch unser gesellschaftliches Wissen und die entwickelten Produktionskräfte ein gutes Leben aller Menschen gewährleistet werden könnte. Sie ist nötig, weil ohne sie die reaktionären Mächte autoritäre Herrschaftsverhältnisse einführen würden. Sie ist notwendig, um die Beziehungen zwischen Menschen und mit der Natur langfristig lebensfähig zu gestalten. Die soziale Revolution erfolgt als Selbstbefreiung der Individuen, die sich schrittweise in freigewählten gemeinschaftlichen Bezügen vom "Joch der Lohnarbeit", von staatlicher Bevormundung und vom militärischen Gewaltapparat entfernen - und macht damit entfremdete Tätigkeit, Staat und Militär überflüssig.

Seit einem halben Jahr tönen verschiedenste Meinungen zur Finanzkrise, die längst zu einer Krise der bürgerlich-kapitalistischen Systeme "Demokratien" mitsamt der von ihnen betriebenen neoliberalistischen Globalisierung geworden ist. Nur selten, aber zunehmend wird in Analysen auf die zentrale Ursache "Profitstreben" hingewiesen, die jenseits von "Gier und Skrupellosigkeit" liegt. Gleichwohl bleiben (fast) alle Vorschläge zur Krisenbewältigung innerhalb der als unverrückbar angenommenen staatlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen des "Turbokapitalismus".

Auch überstaatliche Kontrollen des Finanzsektors dienen (wie auf anderer Ebene Umweltauflagen) lediglich dazu, die Ausbeutung von Menschen und Natur zu perfektionieren. Krisenbewältigung kann eben lediglich versuchen, zu reparieren und ins marode System Elemente einzubauen, damit es nicht so schlecht wie vorher läuft - sie bleibt dem Profitsystem verhaftet.

Die Empfehlungen aus der linken Ecke mögen Kapitalismuskritisches beinhalten, bleiben aber auf den tönernen Füßen des Systems. Von den Menschen wird gefordert, noch mehr Arbeitsfron zu leisten - sei es als Lohnarbeiter oder als prekär beschäftigte Intellektuelle - und eine Verarmung hinzunehmen. Alle bislang zur Diskussion stehenden Maßnahmen sollen von oben nach unten durchgesetzt werden und die meisten von ihnen werden die Umverteilung von unten nach oben verstärken. Dies wird als unvermeidlich hingestellt, weil in der globalisierten und komplexen Welt sonst alles noch schlimmer würde.

In der Tat kann eine Krisenbewältigung auch nichts anderes leisten - wir müssen uns schon zu einer sozialen Revolution aufmachen, sonst vergeben wir uns die historische Gelegenheit, wie dies z.B. die Sozialdemokratie (mit ihrer Machtbeteiligung) und die Bolschewiki (mit ihrem Staatskapitalismus) nach dem Ersten Weltkrieg getan haben.

Damals kam z.B. Pierre Ramus aufgrund der Analyse der Situation in Österreich zum Ergebnis, dass mit der "Neuschöpfung der Gesellschaft" der Menschheitsfrühling beginnen könne. Seine Prinzipien bedeuten heute einen "direkten Übergang von der bürgerlich-kapitalistischen Staatskratie zur freien Gesellschaft wahrhaft freier Individuen und Gemeinschaften" [1]. Er definierte auch das "wir" als revolutionäres Subjekt: jeder Mensch kann sofort beginnen, indem er, an seine derzeitige Existenzweise anknüpfend, die Schritte zu freien Gemeinschaften hin unternimmt.

Die soziale Revolution stellt einen stetigen Umwandlungsprozess dar, nicht den Austausch der politischen Klasse beim Ausüben der Staatsmacht. Der Selbstbefreiungsprozess beginnt, indem die Individuen ihre bestehenden Beziehungen und Netzwerke daraufhin optimieren, dass sie unabhängiger vom kapitalistischen System werden. Als erster Schritt sind die eigenen Bedürfnisse aufzulisten und die Art, durch welche Arbeitseinkommen sie derzeit befriedigt werden können. Mit dem Ziel, weniger entfremdet arbeiten zu müssen, wird dann untersucht, wie weit Teile dieser Bedürfnisse außerhalb des jetzigen Systems befriedigt werden können. Damit entstehen "kleine Gemeinschaften", die nach dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe und des Tauschringes funktionieren: Geld hat darin nur noch die Funktion eines Äquivalents der Arbeitsleistung, es gibt keinen Zins und keine Kapitalanhäufung.

Die Menge und Qualität der Dienstleistungen und Produkte regelt nur der Bedarf Militärische Produkte (im Sinn der zur Unterdrückung anderer benutzbaren) sind ausgeschlossen. In einer ersten Zeitspanne können sich so die Abhängigkeiten der Individuen/Familien von Staat und Kapitalismus um etwa ein Drittel reduzieren.

Aus diesen Aktivitäten entwickeln sich Minoritätengruppen mit neuen Lebensformen, Genossenschaften und Siedlungen in Städten und Regionen, die durch ihre eigenen sozialen und ökonomischen Kreisläufe die Abhängigkeiten vom bürgerlich-kapitalistischen System so weit verringern, dass jeder Einzelne keine Existenzangst mehr hat. Pierre Ramus berechnete dies flur eine "kommunistische Gemeinde" mit 10.000 Menschen: Schon auf der Produktivitätsstufe von 1920 konnte durch weniger als zwei Stunden Arbeit von nur 7.000 ProduzentInnen in ihr die ökonomische Existenzgrundlage gesichert werden. Jede weitere Arbeitsleistung würde den Wohlstand erhöhen.

Ausgegangen wird von einem natürlichen Wunsch jedes Menschen nach Arbeit und Zusammensein. So werden auch alle notwendigen Arbeiten grundsätzlich freiwillig erbracht. Und zwar dort, wo sie sich dezentral und in Selbstorganisation ergeben. Die Eigenvernunft der Mitglieder entscheidet. Sie wird sich an den Prinzipen der Dezentralität und small-is-beautyful orientieren. Die dazu nötigen Kommunikationsprozesse befördern die Solidarität. Mit solchem "Gildensozialismus" könnte die häusliche Industrie und die Ernährungswirtschaft weitgehend unabhängig von Staat und Großkapital organisiert werden.

Wichtig dabei ist die Klärung der Eigentumsfrage. Jeder Mensch hat gemäß seinen Gebrauchsmöglichkeiten temporär Gegenstände (z.B. Wohnung) und Produktionsinstrumente in seinem Besitz, aber bekommt keine monopolistische Verfügungsmacht als Eigentümer zugesprochen. Entsprechend sind die Transportsysteme und industriellen Produktionsstätten im Besitz der BenutzerInnen (und kein Staatseigentum), die Gebrauch und Produktion bestimmen.

In der kommunalen Praxis von heute sind die Versorgungssysteme (Energie, Wasser und öffentliche Wohlfahrt) nach Maßgabe des Staats und des Kapitalismus geregelt. Im nationalen und internationalen Maßstab agieren heute alle Großindustrien und Multis. Das scheint eine soziale Revolution zu verunmöglichen. Doch werden sich diese Fragen im Verlauf nicht nur neu, sondern besser regeln, wenn keine Behörde, kein Staat und keine überstaatliche Organisation mehr bestimmen darf, sondern die Menschen, die sich in freier Assoziation um diese Arbeiten kümmern. Die soziale Revolution versetzt die ganze Gesellschaft in ihren Grundelementen in Bewegung. Der Umwandlungsprozess führt zu neuen sozialwirtschaftlichen und produktiven Lebensbeziehungen. Aus der Nichtbeachtung des Staats und der Nichtunterstützung des Kapitalismus ergeben sich politische und ökonomische Folgerungen, die zum "Menschheitsfrühling des gewaltfreien Anarchismus" führen.


Anmerkung:
[1] Ramus, Pierre: Neuschöpfung der Gesellschaft ... und andere Texte zur Rekonstruktion der sozialen Balance. Wien 2005, S. 218

www.circampulus.de


*


Quelle:
graswurzelrevolution, 38. Jahrgang, GWR 339, Mai 2009, S. 4
Herausgeber: Verlag Graswurzelrevolution e.V.
Koordinationsredaktion Graswurzelrevolution:
Breul 43, D-48143 Münster
Tel.: 0251/482 90-57, Fax: 0251/482 90-32
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
Internet: www.graswurzel.net

Die "graswurzelrevolution" erscheint 10 Mal im Jahr.
Der Preis für eine GWR-Einzelausgabe beträgt 3 Euro.
Ein GWR-Jahresabo kostet 30 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juni 2009