Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


GLEICHHEIT/6333: Brasilien - Präsident Temer muss Befehl zum Einsatz der Armee gegen Demonstranten widerrufen


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Brasilien
Präsident Temer muss Befehl zum Einsatz der Armee gegen Demonstranten widerrufen

Von Bill van Aucken
29. Mai 2017


Am vergangenen Donnerstag sah sich Brasiliens Präsident Michel Temer gezwungen, seine Präsidentenverfügung zurückzunehmen, die er am Tag zuvor erlassen hatte. Damit sollte die Armee für die Dauer von einer Woche ermächtigt werden, bei Demonstrationen einzugreifen und Verhaftungen vorzunehmen.

Diese Maßnahme richtete sich offen gegen eine Demonstration, die am Mittwoch in der Hauptstadt Brasilia stattfand. Die Gewerkschaften und soziale Bewegungen hatten zu der Demonstration aufgerufen, um gegen die "Reform" der Renten und des Arbeitsmarktes zu protestieren, mit der grundlegende soziale Rechte angriffen werden. Außerdem wurde die Amtsenthebung von Temer und seine Ablösung durch Direktwahlen gefordert.

Der Armeeeinsatz im Innern durch den Präsidenten wirkte wie ein Akt der Verzweiflung. Gegen Temer laufen mehrere Korruptionsverfahren und von der Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung wird er als illegitim angesehen.

Neuesten Umfragen zufolge lehnen 95 Prozent der Bevölkerung Temer ab und 85 Prozent sind für sofortige Neuwahlen. Temer zog im Rahmen des Amtsenthebungsverfahrens gegen seine Vorgängerin, Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) im August 2016 in den Präsidentenpalast ein. Das Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff beruhte auf erfundenen Beschuldigungen wegen Unregelmäßigkeiten im Staatshaushalt.

Zehntausende Menschen schlossen sich am Mittwoch der Demonstration in Brasilia an, in der abgelegenen Hauptstadt im Landesinneren. Die Demonstration verlief zum größten Teil friedlich, bis eine Gruppe Maskierter des sogenannten Schwarzen Blocks auftauchte. Diese Gruppe ist immer wieder von Agents Provocateurs unterwandert worden. Sie griffen die Polizei an und beschädigten Regierungsgebäude. Eins davon, das Landwirtschaftsministerium, setzten sie in Brand.

Die Polizei reagierte mit extremer und unverhältnismäßiger Gewalt gegen alle Demonstranten. Dabei setzten sie große Mengen Tränengas ein, feuerten Blendgranaten und Gummigeschosse ab und schickten berittene Polizei mit Schlagstöcken in die Menge. Zumindest einmal wurde mit scharfer Munition auf Demonstranten geschossen.

Etwa 50 Menschen wurden verwundet. Zu den Schwerverletzten gehört ein Straßenverkäufer, der nicht mal an der Demonstration teilgenommen hatte. Er wurde ins Gesicht geschossen.

Der Befehl, bewaffnete Einheiten zum Schutz der Hauptstadt einzusetzen, erging, als sich die Demonstration schon zum größten Teil aufgelöst hatte. In der darauf folgenden Verwirrung und Panik kamen ernsthafte Befürchtung auf, dass Temer das Militär einsetzt, um seine krisengeschüttelte Regierung zu stützen und die Massenopposition zu unterdrücken.

In Brasilien werden Erinnerungen an die Geschichte wach, wenn in einer extremen Krisensituation wie der jetzigen das Militär bei Demonstrationen eingesetzt wird. Das Land wurde nach dem von den USA unterstützten Putsch 1964 zwei Jahrzehnte lang von einer Militärdiktatur regiert.

Mit der Verordnung gemäß dem brasilianischen Gesetz zur "Garantie von Recht und Ordnung" wurden kurzfristig Soldaten rund um die Ministerien und an anderen Plätzen der Hauptstadt eingesetzt. Zuvor waren schon seit einiger Zeit vor dem Planalto, dem Präsidentenpalast des Landes, Soldaten positioniert worden.

Gemäß den Bestimmungen des Gesetzes soll die Armee nur für eine begrenzte Zeit zum Einsatz kommen, wenn die regulären Polizeikräfte nicht in der Lage sind, mit einer angenommenen Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung und der staatlichen Institutionen fertig zu werden.

Weder der Gouverneur des Bundesdistrikts von Brasilia noch die Armeeführung waren der Meinung, dass diese Voraussetzung am Mittwoch gegeben war.

Der Gouverneur von Brasilia Rodrigo Rollemberg erhob den Vorwurf, er sei nicht konsultiert worden, bevor die Truppen zum Einsatz kamen, so wie das Gesetz es verlangt. Er verurteilte die Entscheidung als "extreme Maßnahme", die durch die Situation in der Hauptstadt nicht gerechtfertigt sei.

General Eduardo da Costa Villas Bôas, der Oberbefehlshaber der brasilianischen Armee, äußerte sich am Mittwoch, nachdem der Befehl erteilt worden war, und versicherte der Bevölkerung, die Armee werde sich verfassungskonform verhalten. Er erklärte: "Unsere Demokratie ist nicht in Gefahr." Dass eine solche Zusicherung als notwendig erachtet wird, zeigt die Tiefe der gegenwärtigen politischen Krise.

Villas Bôas machte deutlich, dass er die Vorbedingungen für den Erlass als nicht gegeben ansah, und äußerte gegenüber der Presse: "Ich glaube, die Polizei sollte immer noch in der Lage sein, die Ordnung aufrechtzuerhalten." Er erklärte, das Militär bleibe in Alarmbereitschaft, "für den Fall, dass die Dinge außer Kontrolle geraten".

Der Befehlshaber der Streitkräfte räumte weiterhin ein, dass die Atmosphäre im Präsidentenpalast wie auch in der Armeeführung nach den letzten Enthüllungen über die Verwicklung von Temer in Korruption und Behinderung der Justiz von "Schock" und "großer Verunsicherung" geprägt sei.

Der oberste Gerichtshof Brasiliens hat letzte Woche ein Ermittlungsverfahren gegen Temer eingeleitet. Der Grund ist der Mitschnitt eines Telefongesprächs durch Joesley Batista, den Geschäftsführer des riesigen Fleischkonzerns JBS, in dem Temer sein Einverständnis zur Zahlung von Schmiergeldern an den ehemaligen Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha gegeben hat, dessen Schweigen erkauft werden sollte. Außerdem soll Temer die Nachricht erhalten haben, dass Batista und sein Unternehmen Staatsanwälte und Richter bestechen, um Ermittlungen gegen sein Unternehmen abzuwenden. Der Mitschnitt wurde der Staatsanwaltschaft im Rahmen einer Kronzeugenregelung übergeben.

Temer wiederholt zwar ständig, dass er nicht zurücktreten wird und dass man ihn aus dem Amt werfen muss. Seine engsten politischen Verbündeten im Kongress sollen ihn jedoch laut Berichten im Stich lassen und zum Rücktritt auffordern.

Die einflussreiche Tageszeitung Folha de S.P. berichtete am Donnerstag: "Die politischen Parteien, die ein Bündnis mit Michel Temers Regierung geschlossen haben, sind zu der Auffassung gelangt, dass der Präsident nicht mehr in der Lage ist, in seinem Amt zu verbleiben." Die Zeitung berichtet, dass die rechte PSDB (Sozialdemokratische Partei Brasiliens) an der Spitze der Schritte gegen Temer steht und dem brasilianischen Präsidenten ihre Haltung mitgeteilt hat. Dem Führungsmitglied der PSDB, der als Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen 2014 knapp hinter Rousseff auf dem zweiten Platz landete, wurde der Sitz im Senat aberkannt und der Pass abgenommen, weil die Staatsanwälte wegen ähnlichen Korruptionsvorwürfen seine Inhaftierung planen.

Laut Folha setzen die bürgerlichen Parteien, die Temer während der Amtsenthebung von Rousseff unterstützt haben, jetzt auf Brasiliens Oberste Wahlbehörde, die Tribunal Superior Electoral (TSE), die Anfang nächsten Monats eine Entscheidung treffen soll, mit der die Wahl von Rousseff und Temer aus dem Jahr 2014 für ungültig erklärt wird. Damals war Temer Rousseffs Kandidat für die Vizepräsidentschaft. Begründet wird diese Entscheidung damit, dass die Wahlkampagne mit illegalen Mitteln finanziert wurde.

Die Folge einer solchen Entscheidung wären indirekte Wahlen durch den Kongress. Die Hauptsorge der Kongressmitglieder besteht darin, ihre eigene Haut zu retten. Gegen Dutzende von Kongressabgeordneten und ein Drittel des Senats wird wegen eines ausufernden Korruptionsskandals um mehrere Milliarden Dollar ermittelt. Im Mittelpunkt des Skandals stehen Schmiergeld- und Bestechungsgeldzahlungen rund um Verträge mit dem riesigen staatlichen Energiekonzern Petrobras.

Direkte Wahlen auszurufen würde erfordern, dass der Kongress die Verfassung ändert, was im Moment als unwahrscheinlich gilt. Folha berichtet, die Arbeiterpartei, die öffentlich Direktwahlen fordert, verhandele hinter den Kulissen mit anderen bürgerlichen Parteien über einen Kompromisskandidaten, der Temer bei einer Abstimmung im Kongress ersetzen soll. Offiziell propagiert sie den ehemaligen Präsidenten Lula da Silva, der ebenfalls mit einem Verfahren wegen Korruption rechnen muss, als ihren voraussichtlichen Spitzenkandidaten.

Die führende Finanzzeitschrift des Landes Valor veröffentlichte am Donnerstag ein Interview mit dem bekannten Wirtschaftswissenschaftler Yoshiaki Nakano, Dekan der Sao Paulo Hochschule für Wirtschaft in der Getulio-Vargas-Stiftung, in dem er argumentierte, Temers "Rücktritt ist das beste Szenario für die Wirtschaft".

Brasiliens Großkapital befürchtet, dass der Korruptionsskandal Temer daran hindert, die massiven Angriffe auf grundlegende Rechte und den Lebensstandard der brasilianischen Arbeiter durchzusetzen, die vor allem in den sogenannten Renten- und Arbeitsrechts-Reformgesetzen enthalten sind. Diese Gesetze sind zurzeit im Kongress blockiert.

Temer wurde an die Macht gebracht, um genau diese Maßnahmen durchzusetzen und die Angriffe der PT-Regierungen von Lula und Rousseff noch auszuweiten. Sie sollen der brasilianischen Arbeiterklasse die volle Last der schlimmsten Wirtschaftskrise im Land seit einem Jahrhundert aufbürden.

Die Regierung des Landes und sämtliche bürgerlichen Parteien, einschließlich der PT, sind mittlerweile so diskreditiert, dass die Durchsetzung einer solchen Politik ohne Rückkehr zu diktatorischen Herrschaftsformen immer schwieriger wird.

*

Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: sgp[at]gleichheit.de

Copyright 2017 World Socialist Web Site - Alle Rechte vorbehalten

*

Quelle:
World Socialist Web Site, 29.05.2017
Brasilien - Präsident Temer muss Befehl zum Einsatz der Armee gegen Demonstranten widerrufen
http://www.wsws.org/de/articles/2017/05/29/bras-m29.html
Vierte Internationale (SGP)
Postfach 040 144, 10061 Berlin
Telefon: (030) 30 87 27 86, Telefax: (032) 121 31 85 83
E-Mail: sgp[at]gleichheit.de
Internet: www.wsws.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Mai 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang