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GLEICHHEIT/6313: Erneut Flüchtlingstragödie vor libyscher Küste


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Erneut Flüchtlingstragödie vor libyscher Küste

Von Martin Kreickenbaum
3. Mai 2017


Vor der libyschen Küste sind wahrscheinlich erneut mehr als hundert Flüchtlinge auf der Überfahrt nach Europa ertrunken. Wie die Sprecherin der deutschen Hilfsorganisation "Jugend Rettet", Pauline Schmidt, erklärte, haben freiwillige Helfer vor der Küste Libyens ein leeres Schlauchboot entdeckt, das Platz für 140 Personen bot. Zudem hat die Crew des von der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" (MSF) gecharterten Rettungsschiffes "Prudence" wenige Seemeilen entfernt fünf Leichen aus dem Meer gezogen.

Am Samstag hatte die italienische Küstenwache ein bei Nebel und hohen Wellen in Seenot geratenes Flüchtlingsboot gemeldet, woraufhin sich die "Iuventa" von "Jugend Rettet" auf die Suche machte. In der Nähe der libyschen Hafenstadt Suwara entdeckte die Besatzung dann am Sonntagmorgen das leere Schlauchboot.

Man könne von einem Unfall ausgehen, sagte Pauline Schmidt, denn das Wrack des Schlauchbootes sei erst kurze Zeit auf dem Meer gewesen und zeige auch nicht die üblicherweise von Rettungskräften hinterlassenen Markierungen. Es sei zudem unwahrscheinlich, dass libysche Fischer die Insassen gerettet hätten, da die Internationale Organisation für Migration (IOM) in den letzten Tagen keine derartigen Rettungseinsätze gemeldet hat. Die IOM wurde zudem über den Fund von Leichen an einem Strand, nur 30 Kilometer von Suwara entfernt, informiert.

Mit dieser neuerlichen Katastrophe steigt die Zahl der in diesem Jahr auf der zentralen Mittelmeerroute zwischen Libyen und Italien ertrunkenen Flüchtlinge auf fast 1150. Gleichzeitig erreichten mehr als 38.000 Flüchtlinge auf diesem Weg die italienische Küste, mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Alleine am Osterwochenende wurden rund 8500 Flüchtlinge aus dem Mittelmeer gerettet und nach Italien gebracht.

Auf die täglichen Dramen und Tragödien der Flüchtlinge im Mittelmeer reagieren führende Politiker der Europäischen Union mit Gleichgültigkeit. Sie rüsten die Außengrenzen Europas immer weiter militärisch auf, um sie gegen Flüchtlinge abzuschotten. Gleichzeitig machen sie das Leben der Flüchtlinge in den Flüchtlingslagern auf den griechischen und italienischen Inseln oder an der Grenze zwischen Ungarn und Serbien zur Hölle. Einwanderer werden massenhaft abgeschoben, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit gezielt geschürt.

Die großen europäischen Mächte Frankreich, Deutschland, Italien und Großbritannien sowie die USA haben mit ihren imperialistischen Kriegen ganze Landstriche im Nahen Osten und Nordafrika verwüstet und Millionen Menschen in die Flucht getrieben. Doch in ihrem grenzenlosen Zynismus macht die Europäische Union die Schleuser und Schlepper für die Fluchtbewegung nach Europa verantwortlich. Von der EU werden die Flüchtlinge als "illegale Einwanderer" kriminalisiert, obwohl es keine "legalen" Fluchtwege nach Europa gibt und die Flüchtlinge auf die Dienste skrupelloser Schleuser angewiesen sind.

Seit fast zwei Jahren operiert die von der Europäischen Union lancierte Mission "Sophia" im Mittelmeer, um gegen Schleuser vorzugehen und Fluchtrouten abzusperren. Kriegsschiffe, Flugzeuge, Hubschrauber, Drohnen und Grenzschützer aus 22 europäischen Ländern sind seither im Einsatz, um Flüchtlinge daran zu hindern, nach Europa zu gelangen. Kurz zuvor war die Mission "Mare Nostrum" der italienischen Marine auf Druck der Europäischen Union eingestellt worden, da ihr vorgeworfen wurde, zusätzlicher "Pull-Faktor" zu sein, der noch mehr Flüchtlinge aufs Meer treiben würde.

Die "Mission Sophia" war von Anfang an nicht als Rettungsmission geplant. Die verantwortlichen Politiker in der EU nahmen wissentlich in Kauf, dass die Zahl der Toten im Mittelmeer drastisch steigen würde. Das wurde als Mittel der Abschreckung sogar begrüßt.

Trotzdem sind die Flüchtlingszahlen auf der zentralen Mittelmeerroute weiter angestiegen, was die Verantwortlichen nicht daran hindert, wieder dasselbe Argument aufzutischen - diesmal gegen die vor der libyschen Küste operierenden Rettungsschiffe von international tätigen Hilfsorganisationen.

Im Dezember 2016 beklagte die Europäische Grenz- und Küstenwachtagentur Frontex erstmals den Einsatz der Hilfsorganisationen im Mittelmeer. Im Februar legte Frontex-Chef Fabricio Leggeri nach. Der Tageszeitung Die Welt sagte er, die Arbeit der Hilfsorganisationen führe dazu, "dass die Schleuser noch mehr Migranten als in den Jahren zuvor auf die seeuntüchtigen Boote zwingen".

Es sind jedoch nicht die Schleuser, die die Flüchtlinge auf seeuntüchtige Boote "zwingen", sondern Kriege und Bürgerkriege, Repressionen und Verfolgung durch despotische Regime, mit denen die EU bei der Flüchtlingsabwehr aufs Engste zusammenarbeitet, und der Kampf um das nackte Überleben.

Zum "Pull-Faktor" werden dabei nicht Rettungsschiffe, sondern die Abschreckungspolitik der EU selbst. Samer Haddadin, Leiter des UNHCR in Tripolis, erklärte jüngst, dass umso mehr Migranten Libyen schnellstens auf dem Seeweg verlassen wollten, je lauter die EU über die "Invasion" von Flüchtlingen schreie und deren Zurückweisung fordere.

Die Attacken auf die Rettungsorganisationen [1] wurden jedoch durch Medien und fremdenfeindliche Parteien in Europa dankbar aufgenommen. Allen voran steht hier Beppe Grillos Bewegung Fünf Sterne (M5S) in Italien, die die Rettungsschiffe als "Miettaxis" bezeichnet und den Hilfsorganisationen vorwirft, von den Schleusern selbst bezahlt zu werden.

Schützenhilfe erhielt die M5S vom sizilianischen Staatsanwalt Carmelo Zuccaro, der die Hilfsorganisationen in der italienischen Tageszeitung La Stampa "direkter Kontakte mit Menschenhändlern in Libyen" beschuldigte, allerdings ohne den geringsten Beweis dafür vorzulegen.

Frontex-Chef Leggeri beklagte zudem, dass die Hilfsorganisationen mittlerweile 40 Prozent aller Rettungseinsätze im Mittelmeer leisten würden, vor einem Jahr seien es nur 5 Prozent gewesen. "Wir sollten deshalb das aktuelle Konzept der Rettungsmaßnahmen vor Libyen auf den Prüfstand stellen", erklärte er gegenüber der Welt.

Wie das aussieht, hat ein Frontex-Mitarbeiter in einem Interview mit The Intercept berichtet: "Um nicht zum 'Pull-Faktor' zu werden, patrouillieren unsere Schiffe nur nördlich von Malta. Wir fahren nicht runter bis zu den libyschen Gewässern." Dadurch würden die Migranten davon abgehalten, loszufahren. Mit anderen Worten, Frontex verzichtet bewusst auf Seenotrettung, um Flüchtlinge zur Abschreckung ertrinken zu lassen.

Rückendeckung erhält Frontex vor allem aus der italienischen, der deutschen und der österreichischen Regierung. Stellvertretend für seine europäischen Ministerkollegen sprach der österreichische Außenminister Sebastian Kurz von einem "NGO-Wahnsinn"; die private Seenotrettung sei "der absolut falsche Weg". Der österreichische Innenminister Wolfgang Sobotka forderte gar "die sofortige Sperrung der Mittelmeerroute".

Während eines Überraschungsbesuchs in Tripolis erneuerte Sebastian Kurz seine Forderung, aus Seenot gerettete Flüchtlinge umgehend nach Afrika zurückzubringen. "Eine Rettung im Mittelmeer darf nicht verbunden sein mit einem Ticket nach Mitteleuropa", sagte Kurz auf der Hinreise gegenüber Journalisten. Stattdessen sollten sie in Asylzentren außerhalb Europas gebracht werden.

Allerdings gibt es innerhalb der EU offenbar Konflikte darüber, ob diese Internierungslager für Flüchtlinge in Libyen selbst oder in Ägypten, Tunesien oder Algerien errichtet werden sollen. Während Kurz Libyen eher ausschloss, haben sich die Innen- und Justizminister der EU auf ihrer letzten Sitzung darauf geeinigt, in Libyen so genannte "Legalitätsinseln" zu schaffen. Wie die tageszeitung berichtete, sollen in diesen Legalitätsinseln "besonders gut ausgestattete Polizisten" für die Überwachung der Lager und die Rückführung der Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer zuständig sein.

Frontex hat dazu bereits die Mission zur Unterstützung der Grenzsicherung in Libyen (EUBAM Libya) ausgeweitet und auf die Suche nach geeigneten Orten für Internierungslager ausgesandt. Zudem wurden von der EU 90 Millionen Euro freigegeben, die nach Libyen fließen, um dort Grenzen zu sichern und Flüchtlinge an der Überfahrt nach Europa zu hindern.

Italien hat zudem die Lieferung von 10 Patrouillenbooten für die libysche Küstenwache zugesagt. Die offiziell von der EU unterstützte Einheitsregierung unter Fayiz as-Sarradsch hat eine weitere "Einkaufsliste" an die EU gesandt, die unter anderem die Lieferung von 130 Küstenwachbooten - darunter fünf 100 Meter lange, bewaffnete Offshore-Schnellboote - und Waffen verlangt.

Innerhalb der EU mehren sich jedoch Stimmen, die fordern, nicht nur einseitig mit as-Sarradsch zusammenzuarbeiten, der nur einen kleinen Teil des vom Krieg zerrissenen Landes beherrscht. Die Regierungen Frankreichs und Italiens verhandeln mittlerweile auch mit seinem Gegenspieler General Chalifa Haftar, der den Osten des Landes und damit die wichtigsten Ölhäfen kontrolliert.

Dabei geht es vor allem darum, den wachsenden Einfluss Russlands in Libyen zurückzudrängen, um den Rohstoffreichtum des Landes selbst ausbeuten zu können. Denn im Februar dieses Jahres haben der russische Ölkonzern Rosneft und die libysche Erdölgesellschaft, die unter Kontrolle von General Haftar steht, bereits ein Kooperationsabkommen unterzeichnet.

Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini erklärte über die Zusammenarbeit mit der libyschen Einheitsregierung vieldeutig: "Wir wollen immer sicherstellen, dass wir die richtigen Leute ausbilden und die richtige Ausrüstung liefern." Die EU treibt so ihre militärische Intervention in Nordafrika weiter voran. Die Flüchtlinge drohen dabei zwischen den Interessen der lokalen Milizen und der Abschottungspolitik der EU erbarmungslos zerrieben zu werden.


Anmerkung:
[1] http://www.wsws.org/de/articles/2017/04/27/ital-a27.html

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Quelle:
World Socialist Web Site, 03.05.2017
Erneut Flüchtlingstragödie vor libyscher Küste
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Mai 2017

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