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GLEICHHEIT/5973: Brexit-Referendum verschärft Konflikte in der Europäischen Union


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Brexit-Referendum verschärft Konflikte in der Europäischen Union

Von Alex Lantier
25. Juni 2016


Die Entscheidung Großbritanniens für den EU-Austritt löste am Freitag eine globale Finanzpanik aus. Wie sich zeigt, hat die Brexit-Abstimmung Folgen für ganz Europa und darüber hinaus. Der gesamte europäische Einigungsprozess droht zu scheitern. Begonnen hatte er nach dem Zweiten Weltkrieg als Versuch der EU-Vorläufer, einen neuen Weltkrieg unmöglich zu machen.

Europa steht nun vor jahrelangen erbitterten Verhandlungen über die juristischen und finanziellen Bedingungen des britischen Rückzugs aus der EU. Es geht um handels- und finanzpolitische Verträge im Wert von Billionen Euro. Seit Jahren schon entwickeln sich innerhalb der EU Spannungen, die sich durch die griechische Schuldenkrise, die Flüchtlingskrise und die US-Kriege im Nahen Osten und der Ukraine verschärft haben. Mehrere hohe EU-Vertreter gaben am Freitag düstere und pessimistische Kommentare zu den weiteren Aussichten Europas und der Welt nach dem Brexit ab.

Kanzlerin Merkel gab in Berlin vor der Presse nur eine kurze Erklärung über den Brexit ab, bei der sie keine weiteren Fragen zuließ. Sie nannte den Brexit "einen Einschnitt für Europa". Immer häufiger seien "grundsätzliche Zweifel an der Richtung" zu hören, "die der europäische Einigungsprozess eingeschlagen hat". Es gehe jetzt um die Fähigkeit der europäischen Staaten, "unsere Interessen - wirtschaftliche, soziale, ökologische, außen- und sicherheitspolitische - im globalen Wettbewerb auch weiter behaupten zu können".

Merkel erklärte offen, es gebe keine Garantie dafür, dass die explosiven Gegensätze, die sich zwischen den europäischen Großmächten entwickeln, nicht wieder zum Ausbruch von Kriegen führten: "Auch wenn es für uns heute kaum noch vorstellbar ist, so sollten wir nie vergessen, gerade auch in diesen Stunden, dass die Idee der europäischen Einigung eine Friedensidee war. Nach Jahrhunderten furchtbarsten Blutvergießens fanden die Gründer der Europäischen Einigung den Weg zu Versöhnung und Frieden, manifestiert in den Römischen Verträgen vor fast sechzig Jahren. Das ist und bleibt auch für die Zukunft alles andere als selbstverständlich."

Dem Gespenst eines neuen Kriegs in Europa hatte Merkel indessen weiter nichts entgegenzusetzen, als die verhasste Spar- und Kriegspolitik und die Staatsaufrüstung der EU in helleren Farben zu malen. "Wir müssen deshalb sicherstellen, dass die Bürgerinnen und Bürger konkret spüren können, wie sehr die Europäische Union dazu beiträgt, ihr persönliches Leben zu verbessern", sagte sie.

In Wirklichkeit zeigt die Brexit-Krise vor allem eins: Viele Menschen in Großbritannien und in ganz Europa haben verstanden, dass die EU eine reaktionäre Institution ist, die sich gegen ihre Interessen richtet. Sie ist ein Werkzeug des europäischen Kapitalismus. Deshalb wird sie in der Krise mehr und mehr zwischen den gegensätzlichen Interessen der europäischen Staaten aufgerieben.

Merkel versuchte erst gar nicht, die Spannungen zu verbergen, die innerhalb der EU anwachsen. Unbeschadet ihrer Aufrufe zur Einheit machte sie klar, dass die deutsche Regierung, die erst vor zwei Jahren das Ende der militärischen Zurückhaltung verkündet hatte, in erster Linie die Interessen Berlins vertreten werde. "Ein besonderes Augenmerk wird die Bundesregierung auf die Interessen der deutschen Bürgerinnen und Bürger und der deutschen Wirtschaft legen", sagte Merkel.

Am Montag empfängt Merkel den italienischen Regierungschef Matteo Renzi und den französischen Präsidenten François Hollande zu einem zweitägigen, außerordentlichen EU-Gipfel in Berlin. Die beiden treffen bereits heute in Paris zusammen. Während die Spitzenpolitiker versuchen, einen neuen EU-Rahmen auszuhandeln, brechen die Konflikte zwischen den unterschiedlichen Ländern Europas bereits offen auf.

So fordert Spanien Gibraltar zurück. Der felsige Landzipfel im Süden der Iberischen Spaniens zwischen Atlantik und Mittelmeer steht seit der Einnahme durch Briten und Holländer im Jahr 1704 unter britischer Souveränität. Sein Vorschlag sei "eine britisch-spanische Ko-Souveränität" für die Halbinsel, erklärte nun der spanische Außenminister José Manuel Garcia Margallo. "Der Moment, in dem die spanische Flagge in Gibraltar gehisst wird, ist näher gerückt". Britische Politiker lehnen Vorschläge einer gemeinsamen britisch-spanischen Souveränität über Gibraltar entschieden ab.

Vor allem verschärft der Brexit die Spannungen zwischen den zwei größten EU-Ländern Deutschland und Frankreich. Gestern forderte Hollande, die EU müsse sich "tiefgreifend ändern". Insbesondere müsse es die europäischen Militär- und Polizeikräfte stärken und sich auf das Wirtschaftswachstum konzentrieren.

Hollande wiederholt damit im Wesentlichen, was andere EU-Politiker schon vor ihm gesagt hatten. Die EU müsse jetzt ihre Repressionskräfte ausbauen und ihre außenpolitischen und militärischen Fähigkeiten stärken. Seine Forderung nach mehr Wirtschaftswachstum ist jedoch eine deutliche Spitze gegen Deutschland. Seit dem Ausbruch der griechischen Schuldenkrise nach dem Wall Street Crash von 2008 fordert Frankreich eine Lockerung der Geldpolitik. Auf deutscher Seite stieß diese Forderung jedoch bislang auf taube Ohren und teilweise offenen Widerstand.

Laut einem Mitarbeiter des französischen Präsidentenstabs rechnet Hollande nun damit, "dass Angela Merkel, die das bisher blockiert hat, nachgeben muss", berichtet die Zeitung Les Echos.

Nichts deutet jedoch darauf hin, dass die Regierungen in Berlin und Paris in der Lage wären, die wachsenden Konflikte innerhalb der Eurozone zu lösen. Als die Börsen am Freitag weltweit abstürzten, trat der ehemalige US-Notenbankchef, Alan Greenspan, im Fernsehen auf und sagte in einem Interview mit CNBC, die politischen Konflikte seien so verfahren, dass sie sich als schlimmer als beim Absturz von 1987 oder von 2008 erweisen könnten.

"Das ist die schlimmste Situation, an die ich mich erinnere", sagte Greenspan. "Es gibt nichts Vergleichbares, nicht einmal die Krise vom 19. Oktober 1987 [...], als der Dow einen Rekordabsturz von 23 Prozent erlebte. Damals dachte ich, ein schlimmeres Problem könne es nicht geben. Diese Krise hat schädliche Auswirkungen, die nicht so schnell verschwinden werden."

Greenspan deutete an, dass nun sowohl ein griechischer EU-Austritt als auch eine schottische Abspaltung von Großbritannien möglich seien. Seine schärfste Warnung bezog sich jedoch auf die wachsenden Spaltungen innerhalb der Eurozone: "Der Euro ist ein sehr ernstes Problem, weil der Norden der Eurozone und die Europäische Zentralbank den Süden finanzieren."

Was sich nun zeigt, ist der Zusammenbruch der EU und die Unmöglichkeit die historischen und wirtschaftlichen Widersprüche auf kapitalistischer Grundlage zu lösen. Der Kontinent ist weit von einer Einigung entfernt. Seit der Auflösung der UdSSR im Jahr 1991 hat Europa seine Angriffe auf soziale und demokratische Rechte der Arbeiter verschärft und seine Militärinterventionen ständig ausgeweitet. Das hat die EU diskreditiert und die im Kalten Krieg gewachsenen Beziehungen untergraben.

Die größte Gefahr liegt jedoch im fehlenden Einfluss der Arbeiterklasse. Sie ist die einzige Kraft, die sich der eskalierenden Krise und dem Kriegskurs entgegenstellen kann. Die Opposition gegen die EU wurde in Großbritannien nicht von der Linken als ein Kampf für die unabhängigen Interessen der Arbeiterklasse organisiert. Die Initiative kam stattdessen von rechts: von nationalistischen Elementen der Konservativen Partei und der UK Independence Party (UKIP). Reaktionäre pseudolinke Kleinbürger wie George Galloway unterstützten sie dabei.

Wie nicht anders zu erwarten, feierten die rechten Kräfte der anderen europäischen Länder den Brexit und sprachen sich für eine weitere Aufspaltung der EU aus.

Die Vorsitzende des neofaschistischen Front National, Marine Le Pen, sprach dazu am Freitag auf einem Kongress rechtsextremer Parteien in Wien. Le Pen selbst hat angekündigt, bei ihrem Wahlkampf für die französische Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr ein Referendum über den Austritt Frankreichs aus der EU zu fordern. Auf dem Kongress erklärte sie: "Genau wie viele Franzosen, bin ich sehr froh, dass die Briten durchgehalten und die richtige Entscheidung getroffen haben. Was wir gestern noch für unmöglich hielten, ist jetzt möglich geworden."

An dem Wiener Treffen nahm auch der niederländische Rechtsextremist Geert Wilders teil. Er bezeichnete den Brexit als "historisches" Ereignis und erklärte: "Jetzt sind wir dran. Ich glaube, jetzt müssen auch die Niederländer die Gelegenheit bekommen, in einem Referendum ihre Meinung zu sagen."

Washington bereiten die zunehmenden Spannungen innerhalb der EU ernsthafte Probleme. Die Nato, das Militärbündnis, in dem alle großen europäischen Mächte Mitglied sind, ist für die weltweite Politik der Vereinigten Staaten von zentraler Bedeutung. US-Präsident Barack Obama hatte sich entschieden gegen den Brexit ausgesprochen. Bei einem Besuch in Großbritannien hatte er gedroht, ein Austritt Großbritanniens aus der EU werde die britischen Beziehungen zu den USA schwer belasten. Großbritannien werde sich wieder "hinten anstellen" müssen.

Angesichts der Konflikte innerhalb der Nato, die sogar zur Auflösung des Bündnisses führen könnten, äußerte sich Obama am Freitag jedoch versöhnlicher. Er erklärte: "Die Bevölkerung Großbritanniens hat gesprochen, und wir respektieren ihre Entscheidung. Die besondere Beziehung zwischen den USA und Großbritannien wird weiterbestehen, und die Mitgliedschaft Großbritanniens in der Nato ist weiterhin eine wichtige Grundlage der amerikanischen Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik."

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Quelle:
World Socialist Web Site, 25.06.2016
Brexit-Referendum verschärft Konflikte in der Europäischen Union
http://www.wsws.org/de/articles/2016/06/25/euro-j25.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juni 2016

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