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GLEICHHEIT/5882: Massenabschiebungen aus Griechenland


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Massenabschiebungen aus Griechenland

Von Johannes Stern
5. April 2016


Am Montag begannen die ersten Massendeportationen von Flüchtlingen aus Griechenland in die Türkei und damit die Umsetzung des sogenannten EU-Türkei-Deals. Anfang März hatten die 28 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu eine Vereinbarung getroffen, um den Zuzug von Flüchtlingen nach Europa ein für alle Mal zu stoppen.

Jetzt wird der hässliche Inhalt dieses Deals sichtbar. Im Morgengrauen holten griechische Polizeieinheiten 120 Flüchtlinge in einem Internierungslager auf Lesbos aus ihren Betten, um sie auf zwei kleine Fähren zu verfrachten und in die türkische Hafenstadt Dikili zu überführen. "Begleitet" wurden die Boote von deutschen, französischen, estnischen, lettischen und litauischen Mitgliedern der europäischen Grenzschutzagentur Frontex.

Die griechische Nachrichtenagentur ANA-MPA berichtete von einem massiven Aufgebot von Sicherheitskräften. Auf jeden Flüchtling, der abgeschoben wurde, sei ein Beamter abgestellt worden. Der Sprecher des Krisenstabes, Giorgos Kyritsis, erklärte im griechischen Staatsfernsehen, unter den Deportierten seien nur Männer. Bis auf "freiwillig" zurückkehrende Syrer handle es sich dabei vor allem um Pakistaner.

Bilder der schrecklichen Szenen gab es so gut wie keine. Die Deportationen begannen drei Stunden früher als geplant. Journalisten, die aus der Nähe der mit Stacheldrahtzäunen und Überwachungskameras gesicherten Lager berichteten, wurden nach eigenen Angaben immer wieder von den Sicherheitskräften vor Ort vertrieben. Insgesamt sollen am Montag 250 Flüchtlinge von Lesbos und 250 weitere von der griechischen Insel Chios in die Türkei abgeschoben worden sein.

Berichten zufolge kam es auf Chios wenige Stunden vor Beginn der Maßnahmen zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und der örtlichen Bevölkerung, die gegen die geplanten Deportationen protestierte.

Die Massenabschiebungen entlarven die Mär von der sogenannten "Willkommenskultur", die der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor allem von ihren politischen Unterstützern unter den Grünen und in der Linkspartei angedichtet wurde. Nun wird sichtbar, um was es Merkel wirklich ging, wenn sie in der Vergangenheit eine einseitige Abriegelung der Grenzen innerhalb Europas kritisierte und für eine sogenannte "europäische Lösung" warb. Nicht um Humanität, sondern um die vollständige Abriegelung der Festung Europa. Bereits in ihrer letzten Regierungserklärung am 16. März hatte sie das Ziel formuliert, "die Zahl der Flüchtlinge nicht nur für einige, sondern für uns alle zu reduzieren, und zwar nachhaltig und dauerhaft".

Merkels "europäische Lösung" zeigt auch den reaktionären Charakter der pseudolinken griechischen Regierungspartei Syriza (Koalition der radikalen Linken), die eng mit Berlin zusammenarbeitet und eine Schlüsselrolle bei der Durchsetzung von Merkels Flüchtlingspolitik spielt.

Entgegen all ihren Wahlversprechen setzt Syriza nicht nur das bisher umfassendste Sparprogramm in Griechenland durch, sondern spielt nun auch in der Flüchtlingspolitik die Rolle des Gefängniswärters für Europa. Sie hat zunächst zehntausende Flüchtlinge in sogenannten "Hotspots" (vom griechischen Militär errichteten Konzentrationslagern) zusammengefasst und deportiert diese nun in enger Zusammenarbeit mit Frontex in die Türkei.

In einer Nacht- und Nebelaktion hatte die Syriza-Regierung dafür Freitagnacht im griechischen Parlament die "rechtlichen" Grundlagen geschaffen. Nur zwei Abgeordnete Syrizas stimmten gegen eine Gesetzesvorlage, die es erlaubt, alle Migranten, die seit dem 20. März auf den griechischen Inseln angekommen sind, in die Türkei zu deportieren. Laut offiziellen Zahlen sind dies mehr als 5.000 Menschen.

In der Türkei werden alle Flüchtlinge, die nicht aus Syrien stammen, in Abschiebelager gesperrt und in ihre Heimatländer zurückgeschickt. Aber auch abgeschobenen Syrern drohen Folter, Misshandlungen und sogar der Tod. Nach Berichten von Amnesty International hat die Türkei in den vergangenen Wochen bereits Tausende Flüchtlinge gezwungen nach Syrien zurückzukehren, wo ein blutiger Regimewechsel-Krieg tobt. "Männer, Frauen und Kinder wurden in Gruppen von bis zu 100 nach Syrien abgeschoben", erklärte die Türkei-Expertin der Menschenrechtsorganisation, Marie Lucas.

Derartige Massenabschiebungen habe es seit Mitte Januar "fast täglich" gegeben. Auch Deportationen von Frauen und Kindern seien dokumentiert. In einem Fall habe Ankara drei kleine Kinder ohne ihre Eltern zurück nach Syrien gezwungen, in einem anderen sei eine hochschwangere Frau abgeschoben worden. Rückführungen aus dem von der EU finanzierten Abschiebelager in Erzurum im Osten der Türkei erfolgten dabei ohne jede juristische Prüfung oder Asylverfahren.

Politik und Medien sind diese Zustände seit langem bekannt. Bereits Anfang Februar berichtete Spiegel Online unter dem Titel "Flüchtlingsdeal mit der Türkei - 'Europas Türsteher'": "Die türkische Regierung beteuert, die Landesgrenze würde syrischen Flüchtlinge offenstehen. Die offiziellen Übergänge jedoch sind faktisch geschlossen. Bald schon soll eine Mauer, drei Meter hoch, 200 Kilometer lang, das Land gegen Flüchtlinge abschotten."

Mehrere Syrer berichteten dem Nachrichtenmagazin zufolge unabhängig voneinander von illegalen Abschiebungen. Sie seien "von türkischen Sicherheitskräften verhaftet, zum Teil misshandelt und nach Syrien deportiert worden".

Das hält den Spiegel jedoch nicht davon ab, die nun begonnene Abschiebepolitik zu bejubeln. Während die Deportationen auf Lesbos und Chios in vollem Gange waren, schrieb Sebastian Fischer: "Wenn von diesem Montag an die ersten paar Hundert Flüchtlinge von ein paar Hundert europäischen Frontex-Beamten von der griechischen Insel Lesbos aus in die Türkei zurück eskortiert werden, dann ist das vor allem ein Signal. Es ist das richtige Signal."

Und weiter: "Wer illegal übers Meer kommt, der hat künftig kaum Chancen, in Europa zu bleiben. Kritiker mögen dies als europäischen Festungsbau verdammen, doch klar ist: Kein Staat, keine Staatengemeinschaft kann auf Dauer ungeordnete Zuwanderung zulassen." Zur Not müsse man dabei auch "mit einem autoritären Machthaber wie dem türkischen Präsidenten Erdogan zusammenarbeiten. Realpolitik? Natürlich."

Fischer verfolgt dasselbe Ziel wie die Bundesregierung: die Schaffung eines europäischen Polizeistaats unter deutscher Führung. Er schreibt "Mit dem Türkei-Handel hat Angela Merkel erstmals seit der Grenzöffnung im September wieder eine aktive Politik in der Flüchtlingskrise betrieben. Die Schließung der Balkanroute, von der Deutschland profitiert, war ja nicht ihre Idee. Dagegen hat sie die anderen 28 EU-Staaten nun auf das gemeinsame Vorgehen mit der Türkei verpflichtet."

Damit trage "sie auch die Hauptverantwortung für das Gelingen dieses Unternehmens". In erster Linie gehe es um die "Schaffung eines gemeinsamen, effektiven europäischen Grenzschutzes. EU-Polizisten, nicht mehr nur die Nationalstaaten, sichern die Außengrenzen."

Das brutale Vorgehen gegen die Flüchtlinge und die Militarisierung Europas sind mit einer Verschärfung der Angriffe auf die Arbeiterklasse in Griechenland und auf dem gesamten Kontinent verbunden. Bezeichnenderweise kehrten am Montag Vertreter der berüchtigten Troika aus Internationalem Währungsfonds (IWF), EU-Kommission und Europäischer Zentralbank (EZB) nach Athen zurück, um zu überprüfen wie Syriza die vereinbarte Sparpolitik umsetzt.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 05.04.2016
Massenabschiebungen aus Griechenland
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. April 2016

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