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GLEICHHEIT/5849: Französische Sozialistische Partei über Ausnahmezustand gespalten


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Französische Sozialistische Partei über Ausnahmezustand gespalten

Von Alex Lantier
5. März 2016


In der Sozialistischen Partei Frankreichs (PS) ist es zu heftigen Fraktionskämpfen gekommen. Hintergrund sind die wachsende Spannungen in Europa und die Wut der Bevölkerung über die drakonischen Sparmaßnahmen der Regierung. Am letzten Donnerstag veröffentlichte Martine Aubry, die Oberbürgermeisterin von Lille und Präsidentschaftskandidatin von 2012, einen ganzseitigen Kommentar in Le Monde, der von etlichen PS-Abgeordneten und dem deutsch-französischen Grünen Daniel Cohn-Bendit unterzeichnet wurde. Darin wird die Politik Präsident François Hollandes kritisiert.

Aubry unterstützt in dem Brief die reaktionäre Linie der Partei. Sie sagt kein Wort zu den Nato-Kriegen und versichert, dass sie "den Ausnahmezustand billigt", der seit Monaten aufrecht erhalten wird. Sie betont auch, dass die PS in sozialen Fragen und Arbeitsmarktfragen "große Reformen" durchführen müsse. Ihr Artikel hat den Titel "Eine dauerhafte Schwächung Frankreichs bahnt sich an". Sie ruft darin zu einer taktischen Wende auf und greift Hollandes Politik an, weil sie darin eine fundamentale Bedrohung Frankreichs und der PS erblickt.

"Wenn wir die Abwärtsspirale nicht zum Halten bringen, in die wir hineingeraten sind, droht nicht mehr nur das heutige Präsidentschaftsteam zu scheitern, sondern es bahnt sich eine dauerhafte Schwächung Frankreichs und ganz offensichtlich der Linken an", schreibt sie. Sie kritisiert Hollandes geplante Arbeitsrechtsreform, seinen Vorschlag, bestimmten Straftätern die französische Staatsangehörigkeit zu entziehen, und die Verurteilung [1] der deutschen Flüchtlingspolitik durch Premierminister Manuel Valls auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Valls hatte dort zu einer restriktiveren Politik gegen Flüchtlinge aufgerufen und Annäherungsversuche an Moskau erkennen lassen.

Aubrys Kritik veranlasste die PS-Regierung zu einem halbherzigen Rückzug, da sie in einer Situation wachsender Wut von Jugendlichen und Arbeitern über den Ausnahmezustand erfolgte. Auch die geplante Arbeitsrechtsreform ist stark umstritten. Diese würde es Unternehmern erlauben, mit den Gewerkschaften Tarifverträge auf Betriebsebene auszuhandeln, die - entgegen dem französischen Arbeitsrecht - drakonische Verschlechterungen und Massenentlassungen beinhalten könnten.

Wirtschaftsminister Emmanuel Macron hat seither versichert, einige Aspekte der Arbeitsrechtsreform würden noch mit den Gewerkschaften neu verhandelt werden. "Wir befinden uns an einem Punkt in der Präsidentschaftsperiode, an dem wir nicht allzu brutal vorgehen können, weil wir damit langwierige Debatten riskieren, ohne die Probleme zu lösen."

Aubrys Brief bedeutet allerdings nicht, dass sie den Gewerkschaften entgegenkommen will, um kleinere Abänderungen in der Arbeitsrechtsreform zu ermöglichen. Schließlich haben diese längst ihre Zustimmung zum wesentlichen Prinzip der Reform signalisiert: dem Recht, Verträge auszuhandeln, die gegen das Arbeitsrecht verstoßen. Aubry geht es vielmehr darum, auf die geostrategischen Spaltungen innerhalb Europas hinzuweisen. Sie befürchtet, Hollande könnte die PS zerstören, die seit ihrer Gründung nach dem Generalstreik 1968 eine Hauptregierungspartei Frankreichs war.

Was den Angriff Valls auf Berlin angeht, so schließt sich Aubry einer Reihe anderer Kommentatoren an. Sie sind der Meinung, Valls offensichtliche Erwägung einer französisch-russischen Achse, die sich gegen Deutschlands Flüchtlingspolitik richten würde, sei ein schwerer Fehler. Valls knüpfe damit an die Bündnisstruktur vor dem Ersten Weltkrieg an. In einem Guardian-Artikel hatte Natalie Nougayrède, eine ehemalige Le Monde-Redakteurin, geschrieben: "Paris täte gut daran, die Brücke zu Berlin wieder aufzubauen - und zwar schnell. Merkel hat zu dieser bedauerlichen Episode zwar bisher geschwiegen, aber man sollte den Schaden nicht für gering halten."

Aubry schließt sich diesen Bemerkungen an und erklärt: "In der letzten Woche wurde durch die Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz über die Flüchtlingsfrage eine Wunde aufgerissen. Wenn man sich auf die Meinungsfreiheit beruft, entschuldigt das nicht alles. Nein, Herr Premierminister, Angela Merkel ist nicht naiv ... Frankreichs Aufgabe ist es nicht, Mauern zu errichten, sondern Brücken zu bauen."

Im Zentrum von Aubrys Brief steht jedoch die Befürchtung, dass Hollande der europäischen Sozialdemokratie, insbesondere der PS, irreparablen Schaden zufügen könnte. Wenn die PS heute den dauerhaften Ausnahmezustand ausruft, neofaschistische Stimmungen schürt und eine immer rigorosere Sparpolitik durchsetzt, zeigt sie den Arbeitermassen, dass sie nichts mit Sozialismus zu tun hat.

Zwar erwähnt Aubry nicht, welch verheerende Auswirkungen die Aberkennung der Staatsbürgerschaft in Frankreich zur Zeit des Zweiten Weltkriegs hatte, als das faschistische Vichy-Regime den Juden den französischen Pass entzog und sie am Ende in die Todeslager Europas deportierte. Aber sie kritisiert Hollande, weil er heute zu solchen Mitteln greifen will. Sie deutet an, dass ein Teil der PS und ihrer parlamentarischen Verbündeten, und sogar offen rechte Parteien diese Maßnahmen, die im Rahmen der Verfassungsänderung erfolgen sollen, nicht unterstützen würden.

Sie schreibt: "In den Händen einer künftigen Regierung mit üblen Absichten öffnet sie den Weg für jede Art von Missbrauch. Wenn das so dem Kongress in Versailles vorgelegt wird, dann wird es die Linke und das gesamte demokratische Lager spalten. Das müssen wir verhindern. Was die Aberkennung der Nationalität angeht, sollte sie durch eine gesetzlich festgeschriebene Strafe ersetzt werden, zum Beispiel durch die Aberkennung der Bürgerrechte oder der nationalen Würde, die auf alle Terroristen, woher sie auch immer stammen, anwendbar wäre."

Sie erklärt, dass die Arbeitsrechtsreform nicht nur "Enttäuschung, sondern Wut" hervorgerufen habe, und dass der Versuch der Regierung Hollande, sie fälschlicherweise als Maßnahme zur Schaffung von Arbeitsplätzen darzustellen, nach hinten losgehen werde. "Die Arbeiter werden permanent erpresst werden, und die Unternehmen sind einem verzerrten Wettbewerb ausgesetzt ... Wen wird das überzeugen, dass dies Arbeitsplätze schaffen soll? Arbeiterschutzrechte gegen Entlassungen abzubauen, wird zweifellos zu mehr Entlassungen führen!"

Aubry zieht eine äußerst verheerende Bilanz der reaktionären und betrügerischen Rolle ihrer eigenen Partei und warnt: "Werte, soziale Ziele, allgemeine Menschenrechte, Gleichgewicht der Kräfte - was bleibt von den Idealen des Sozialismus, wenn Tag für Tag seine grundlegenden Prinzipien und Fundamente untergraben werden?"

Tatsächlich machen Aubrys Bemerkungen deutlich, dass die Vorstellung von "Sozialismus", wie sie jahrzehntelang in führenden Kreisen Frankreichs und vieler Teile Europas vorgeherrscht hat - einer Politik nämlich, die im Kapitalismus von bürgerlichen Politikern gegen die Arbeiterklasse durchgesetzt wird - ein Betrug und eine Lüge ist. Heute tritt offen zutage, was der Politik jener Kräfte zugrunde liegt, die sich Ende der 1960er Jahre zusammenfanden, um die PS zu gründen.

In der PS sammelten sich Leute aus der alten bürgerlichen Radikalen Partei, die eng mit dem Vichy-Regime verbunden waren, wie der erste PS-Präsident François Mitterrand, Vertreter der katholischen Soziallehre wie Jacques Delors, der Vater Aubrys; Leute aus der alten französischen Partei namens SFIO (Sektion der sozialdemokratischen Arbeiter-Internationale), die durch ihre Unterstützung des Algerienkriegs vollkommen diskreditiert war, sowie halbe Sozialdemokraten, Ex-Trotzkisten und Ex-Stalinisten aus der Vereinigten Sozialistischen Partei (PSU).

Die PS regierte in Frankreich mehrere Jahrzehnte lang und setzte Austeritäts- und Kriegspolitik durch. PS-Politiker taten alles, was in ihrer Macht stand, um die marxistische Auffassung vom Sozialismus zu diskreditieren. Nur die trotzkistische Bewegung verteidigte diese. Für Trotzkisten ist Sozialismus das Ergebnis des revolutionären Kampfs für soziale Gleichheit unter Führung der internationalen Arbeiterklasse. Die tiefste Wirtschaftskrise seit der Großen Depression der 1930er Jahre und die immer weitere Rechtswende der PS haben das alte politische Gleichgewicht unterhöhlt, auf dem die PS beruhte.

Aubry ist besorgt, dass Hollande diesen falschen Sozialismus "unterhöhlt", denn die Bedingungen sind herangereift, unter denen die arbeitende Bevölkerung sich einem Kampf für Sozialismus gegen den Kapitalismus zuwendet und der PS und ihren politischen Verbündeten in Frankreich und ganz Europa den Rücken kehrt.


Anmerkung:
[1] http://www.wsws.org/de/articles/2016/02/18/pers-f18.html

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Quelle:
World Socialist Web Site, 05.03.2016
Französische Sozialistische Partei über Ausnahmezustand gespalten
http://www.wsws.org/de/articles/2016/03/05/soci-m05.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. März 2016

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