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GLEICHHEIT/5709: Soziale Krise dominiert Kommunalwahl in der Ukraine


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Soziale Krise dominiert Kommunalwahl in der Ukraine

Von Markus Salzmann
29. Oktober 2015


Die erste Runde der Kommunalwahlen in der Ukraine vom Sonntag wirft ein Schlaglicht auf die katastrophalen sozialen und politischen Bedingungen in dem Land. Eineinhalb Jahre nach dem Putsch gegen das Regime von Viktor Janukowitsch und der Vereinbarung eines Assoziierungsabkommens mit der EU befindet sich das Land wirtschaftlich und sozial im freien Fall. Oligarchenclans haben es weiterhin im Würgegriff und Korruption grassiert.

Obwohl seit der Machtübernahme des vom Westen gestützten Oligarchen Petro Poroschenko rund 6.000 Ukrainer im Bürgerkrieg getötet wurden, ist dieser nicht mehr das einzig dominierende Thema der Wahlen. Die soziale Unzufriedenheit spielt eine wachsende Rolle.

Die Wahl der Bürgermeister, Stadt- und Regionalparlamente war durch eine massive Wahlenthaltung und Betrugsvorwürfe gekennzeichnet. In mehreren ostukrainischen Städten, wie Mariupol, wurde die Wahl in letzter Minute abgesagt. In Teilen der von pro-russischen Separatisten kontrollierten Gebieten und Städten, wie Donezk, fand kein Urnengang statt.

Die Wahlbeteiligung betrug nur 46 Prozent. An der Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr hatten sich noch 59 Prozent beteiligt, an der Parlamentswahl 52 Prozent. Obgleich das Wahlergebnis noch nicht veröffentlicht ist, zeichnet sich eine weitere Spaltung zwischen dem Westen und dem Osten des Landes ab.

Breite Teile der Bevölkerung im Westen als auch im Osten des Landes sind durch den Krieg und die rücksichtslose Politik der Oligarchenclans in unvorstellbares Elend getrieben worden. Der Einbruch der Wirtschaft und die dramatische Abwertung der Landeswährung Hrywnja lassen weite Teile der Bevölkerung verarmen. "Sie können sich kein Brot mehr leisten, haben kein Geld mehr für die tägliche Fahrt mit der Tram. Die Armut frisst sich in die Mittelschicht", berichtete Die Zeit am Anfang dieses Jahres.

Im vergangenen Jahr schrumpfte die Wirtschaftsleistung der Ukraine um mehr als sieben Prozent, dieses Jahr werden es wohl bis zu zwölf Prozent werden. Die Inflationsrate liegt bei 50 Prozent. Im ersten Halbjahr 2015 sank der Reallohn um knapp ein Viertel. "Das ist auch eine Folge der Reformen, die die Regierung im Gegenzug für Kredite des Westens liefern muss", schreibt die Frankfurter Rundschau.

Der Mindestlohn in der Ukraine liegt mittlerweile unter dem Niveau von Ghana und Sambia. In Bangladesch bekommen Arbeiter mit rund 46 US-Dollar derzeit statistisch mehr als die Einwohner der Ukraine. Hier beträgt der durchschnittlich Lohn nur noch umgerechnet 42 US-Dollar im Monat. Das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine ist nur etwa halb so hoch wie das des ärmsten EU-Mitgliedsstaates Bulgarien.

Die österreichische Presse berichtet von der 59-jährigen Natalia Wasilewna aus Kiew. Sie lebt von 949 Hrywnja Pension im Monat, umgerechnet 38 Euro. Die Ausgaben für Strom, Gas und Wasser seien so hoch, dass kaum Geld für Essen übrig bleibe, klagt sie. "Der Premierminister hat höhere Pensionen versprochen", sagt Wasilewna. "Aber meine ist gleich geblieben." Sie habe das Gefühl, dass die Politiker doch nur für die eigene Tasche arbeiteten und nicht für die Menschen.

Ähnlich ergeht es Gemüsehändler Korujew, den die Süddeutsche Zeitung zitiert: "Wir haben jetzt neue, europäische Preise - aber nur alte, ukrainische Gehälter." Vier Tage in der Woche arbeitet Korujew auf dem Markt, drei Tage als Sportlehrer an einer Schule. "Schließlich brauche ich eine Rentenversicherung und Krankenversicherung für meine Familie. Die bekomme ich als Markthändler nicht." Drei Tage Sportunterricht pro Woche bringen ihm monatlich 1250 Hrywnja, umgerechnet 52 Euro, so die Süddeutsche Zeitung.

In der Hauptstadt, wo die Einkommen den Landesdurchschnitt deutlich übersteigen, liegt das Durchschnittseinkommen bei 5.000 bis 6.000 Hrywnja (200-240 Euro). "Ich bekomme 2.000 Hrywnja", zitiert die Presse Olena, eine Lehrerin aus Schytomyr, nur eineinhalb Autostunden außerhalb von Kiew.

Die Energiepreise sind in den letzten eineinhalb Jahren um über 200 Prozent gestiegen. Zahlreiche Familien heizen mit Holz, da selbst Kohle nicht mehr erschwinglich ist. Finanzministerin Natalie Jaresko kündigte bereits weitere Erhöhungen der Energiepreise an und begründete dies damit, dass die Bevölkerung die Reformen ja wolle. Jaresko war zuvor als Beraterin für das US-Außenministerium tätig und gründete später eine Investmentbank.

Junge und gut gebildete Ukrainer verlassen das Land in Scharen. "Die Visaabteilungen der westlichen Botschaften sind überlaufen", so ein Politologe. "Die Menschen versuchen rauszukommen, weil sie sich nicht über Wasser halten können." Entsprechend nimmt die private Verschuldung zu. Schon Ende 2014 wurde dem IWF zufolge ein Fünftel aller von ukrainischen Haushalten aufgenommenen Kredite nicht mehr fristgerecht bedient.

Während der Wahl in der Schwarzmeerstadt Odessa wurde beobachtet, dass von Oligarchen finanzierte Banden Säcke mit Zucker und Kartoffeln im Gegenzug für die Wahlstimme verschiedener Kandidaten verteilten.

Schon im März diesen Jahres warnte die Internationale Energieagentur (IEA) vor einer Energiekrise in beispielloser Größenordnung. Regierungschef Arsenij Jazenjuk hat bereits angekündigt, dass eine stabile Versorgung mit Strom und Heizung im kommenden Winter in den meisten Landesteilen nicht mehr gesichert ist. Hinzu kommt, dass in einigen Gebieten die Wasserversorgung nicht mehr funktioniert. "Alle Ingredienzien für eine schwere soziale Krise sind vorhanden, und die wird nicht ohne politische Folgen bleiben", bemerkt die Süddeutsche Zeitung.

Die Situation könnte sich in den kommenden Wochen noch weiter zuspitzen. Im August vereinbarte das am Rande des Staatsbankrott stehende Land mit den wichtigsten Gläubigern Schuldenerleichterungen, Laufzeitverlängerungen und Zinserleichterungen. Nach Angaben von Finanzministerin Natalija Jaresko wollten dabei die Gläubiger mit Ausnahme Russlands auf 20 Prozent ihrer Forderungen verzichten.

Russland hatte seitdem mehrfach angekündigt, es bestehe auf der vollständigen Rückzahlung der Schulden bis Ende des Jahres. Der IWF hatte insgesamt ein Hilfspaket für die Ukraine im Volumen von 40 Milliarden Dollar bereitgestellt.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 29.10.2015
Soziale Krise dominiert Kommunalwahl in der Ukraine
http://www.wsws.org/de/articles/2015/10/29/ukra-o29.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Oktober 2015

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