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GLEICHHEIT/5563: EU streitet um Verteilung von Flüchtlingen


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

EU streitet um Verteilung von Flüchtlingen

Von Martin Kreickenbaum
18. Juni 2015


Die Frage der Verteilung einiger Zehntausend Flüchtlinge entwickelt sich immer mehr zum Gegenstand eines erbitterten Streits zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Einige drohen jetzt sogar damit, das Schengenabkommen und die damit verbundene Reisefreiheit innerhalb der EU aufzukündigen und wieder Grenzkontrollen einzuführen.

Wie erwartet, konnten sich die EU-Innenminister auf ihrer Sitzung am Dienstag nicht auf ein Quotensystem zur Verteilung von 40.000 Flüchtlingen innerhalb der nächsten zwei Jahre einigen. Vor allem die osteuropäischen Staaten, aber auch Spanien und Portugal widersetzten sich dem Vorschlag der EU-Kommission, Flüchtlinge nach einem verbindlichen Quotenschlüssel über die gesamte EU zu verteilen. Wahrscheinlich wird nun auf dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs nächste Woche nur eine freiwillige Umverteilung beschlossen.

Ein fester Verteilungsschlüssel würde die Interessen der Flüchtlinge völlig ignorieren, dort Schutz zu suchen, wo sie Verwandte oder andere soziale Bezugspunkte haben. Das ist aber nicht der Grund für den Widerstand gegen Flüchtlingsquoten. Vielmehr sperren sich die Gegner gegen jegliche Aufnahme zusätzlicher Flüchtlingen.

Die britische Innenministerin Theresa May, die eine Umverteilung der Flüchtlinge scharf ablehnt, brachte diese Haltung auf den Punkt, als sie erklärte: "Wir müssen gegen die Schleuserbanden kämpfen, und wir müssen die Menschen nach Nordafrika und in ihre Heimatländer zurückbringen."

Doch auch die Befürworter des Vorschlags der EU-Kommission handeln aus purem Eigennutz. So versprechen sich Italien, Frankreich, Italien und Griechenland von der Quotenregelung im Endeffekt, dass sie weniger Flüchtlinge aufnehmen müssen.

Dem Treffen der EU-Innenminister waren scharfe Wortgefechte sowie verschärfte Kontrollen der italienischen Grenze vorausgegangen. Der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi nannte in einem Interview mit der Zeitung Corriere della Sera den Vorschlag, in den nächsten zwei Jahren nur 24.000 Flüchtlinge aus Italien und 16.000 Flüchtlinge aus Griechenland in andere EU-Staaten umzuverteilen, "eine Provokation".

Weiter erklärte er: "Wenn Europa sich solidarisch zeigt, ist es gut. Wenn nicht, dann haben wir einen Plan B in der Schublade, der zuerst und vor allem für Europa schmerzhaft sein wird."

Worin dieser Plan B besteht, wollte Renzi nicht darlegen, aber sein Innenminister Angelino Alfano sagte dem Fernsehsender Sky TG24: "Ich will es deutlich sagen: Entweder organisieren wir eine gerechte Verteilung der Migranten in Europa, Flüchtlingslager in Libyen oder eine ernsthafte Abschiebepolitik. Ich kann unseren Plan B nicht offenlegen, aber wenn Europa uns nicht unterstützt, hat es mit einem anderen Italien zu tun. Wir werden ein selbstsüchtiges Europa nicht akzeptieren."

Im Gespräch ist auch die Errichtung von so genannten "Hotspots". Gemeint sind Aufnahmelager in Italien, in denen die europäische Grenzschutzagentur Frontex im Schnellverfahren Asylanträge durchzieht und abgelehnte Flüchtlinge in eigener Regie unverzüglich deportiert. Dazu soll Frontex mit einem zusätzlichen Mandat ausgestattet werden und selbständig Flüchtlinge abschieben können.

In den vergangenen Tagen hatte sich die Lage am italienisch-französischen Grenzübergang Ventimiglia-Menton dramatisch zugespitzt. Dort sind Hunderte Flüchtlinge gestrandet, die aus Italien ausreisen wollen, um zu Verwandten in Frankreich, Holland und Belgien zu ziehen. Doch an der Grenze steht ein Kordon von martialisch ausgerüsteten französischen Gendarmen, die bislang mehr als tausend Flüchtlinge zurückgedrängt haben. Am Dienstag stürmte die italienische Polizei das Flüchtlingscamp, jagte die Migranten und brachte sie zum Bahnhof Ventimiglia, um sie weiter abzutransportieren.

Der französische Innenminister Bernard Cazeneuve erklärte verlogen, es gebe keine Blockade der Grenze, aber "wenn Migranten nach Frankreich kommen, die über Italien gereist und dort registriert worden sind, greifen die europäischen Regeln, und das heißt, sie müssen zurück nach Italien".

Er spielte damit auf das Dublin-Abkommen an, laut dem das Land für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständig ist, in das der Flüchtling zuerst eingereist ist. Das ist für Flüchtlinge nicht nur problematisch, weil in den verschiedenen EU-Staaten völlig unterschiedliche Chancen auf Asylgewährung bestehen und sich die Lebensbedingungen zuweilen drastisch unterscheiden. Selbst wenn sie den Asylstatus erhalten, werden sie von der Freizügigkeit innerhalb Europas ausgenommen und müssen in dem Land bleiben, das ihnen Schutz gewährt. Andernfalls werden sie als illegale Migranten behandelt und kriminalisiert.

Die Regierungen der anderen EU-Staaten verdächtigen die italienischen Behörden schon seit geraumer Zeit, Flüchtlinge nicht vollständig zu registrieren und weiterreisen zu lassen. Als Antwort haben sie die Kontrollen im Grenzraum massiv verschärft. Frankreich hat in den ersten Monaten dieses Jahres bereits über 6.000 Flüchtlinge wieder nach Italien abgeschoben.

Die deutsche Regierung hat den G7-Gipfel im bayerischen Elmau dazu genutzt, das Schengenabkommen außer Kraft zu setzen. Sie kontrollierte ab dem 26. Mai nicht nur bayerische Grenzübergänge, sondern führte auch Kontrollen in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und an großen Flughäfen durch. Dabei wurden keine Gipfelgegner aufgespürt, sondern vor allem Migranten. So zählte die Bundespolizei insgesamt 10.555 Verletzungen des Aufenthaltsrechts. Mehr als 3.500 Personen wurden vorläufig festgenommen. Die Bundespolizei ist zudem auch auf italienischem Hoheitsgebiet tätig, wo sie in Zügen und auf der Brennerautobahn kontrolliert.

Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière hat offen damit gedroht, wegen der Flüchtlingsfrage die Reisefreiheit in Europa aufzuheben. Er wolle "keine systematischen Grenzkontrollen wieder einführen", erklärte er am Rande des Innenministertreffens am Dienstag. Wenn aber Länder ihre Verpflichtungen aus dem europäischen Asylrecht nicht erfüllten, könne dies zum "Ende von freiem Verkehr in Europa" führen. "Jeder müsse sich dieser Gefahr bewusst sein." De Maizière schiebt damit die Verantwortung den Mittelmeerländern, insbesondere den italienischen und griechischen Behörden zu.

Die deutsche Regierung gibt sich in der Flüchtlingsfrage nach außen zwar generös, übt aber in den Verhandlungen mit den europäischen Partnern massiven Druck aus. Elias Bierdel von der Organisation borderline europe bezeichnetet in einem Interview mit dem Deutschlandfunk die deutsche Regierung nicht zufällig als "Zuchtmeister der Festung Europa". Er habe erlebt, dass sich deutsche Spitzenpolitiker ihm gegenüber gebrüstet hätten, "dass sie die Festung errichtet haben".

Dabei sind die menschenunwürdigen, katastrophalen Zustände in den hoffnungslos überfüllten Aufnahmeeinrichtungen und Flüchtlingslagern in Italien und Griechenland hinlänglich bekannt. Seit Beginn des Jahres sind offiziell fast 60.000 Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Italien gelangt.

Zusätzlich sind tausende Flüchtlinge an Bahnhöfen in Mailand und Rom gestrandet, weil ihre Weiterfahrt nach Norden blockiert wird. Am römischen Bahnhof Tiburtina, wo rund 800 Menschen, darunter Frauen mit Kleinkindern, unter Straßenbrücken campieren, kam es zu regelrechten Jagdszenen, als italienische Polizisten versuchten, die Flüchtlinge zur Identifizierung mitzunehmen.

In Griechenland spitzt sich die Lage für Flüchtlinge ebenfalls wieder zu. Da die griechische Regierung aus Geldmangel die Patrouillenfahrten in der Ägäis weitgehend eingestellt hat, nutzen Flüchtlinge vermehrt die Route über die Türkei und Griechenland, um nach Europa zu gelangen. Hier sind mit 52.000 Flüchtlingen mehr als achtmal so viele gelandet wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Fast die Hälfte davon wurde zunächst auf der Insel Lesbos in ein Aufnahmelager gebracht.

Doch dort kommt es wegen völliger Überfüllung immer wieder zu Auseinandersetzungen. Am vergangenen Wochenende schritt die Polizei ein und knüppelte erbarmungslos auf sich streitende Flüchtlinge ein. Daraufhin kam es zu einem Marsch von Flüchtlingen zur Hafenstadt Mytilene, die gegen die unzumutbaren Zustände im Lager protestierten, wo es keine Elektrizität gibt und die hygienischen Bedingungen zum Himmel stinken. Die Flüchtlinge forderten die Bearbeitung ihres Asylgesuchs und eine reguläre Aufenthaltsgenehmigung. "Das ist kein Lager. Es ist ein Desaster, ein Zoo", sagte Sameer, ein irakischer Flüchtling, der drei Tage zuvor auf Lesbos angekommen war.

So zerstritten die europäischen Regierungen hinsichtlich der Frage der Aufnahme der Flüchtlinge sind, ziehen sie bei der Flüchtlingsabwehr an einem Strang. Gemeinsam beschlossen sie eine EU-Richtlinie zur Verschärfung der Maßnahmen, mit denen Flüchtlingen zu Registrierungszwecken Fingerabdrücke abgenommen werden. Dies soll nicht nur gegen den Willen der Flüchtlinge möglich sein, sondern auch unter Anwendung von Gewalt.

Wörtlich heißt es in der Richtlinie: "Wenn das Daten-Subjekt die Kooperation verweigert, wird vorgeschlagen, dass Beamte, die in der verhältnismäßigen Anwendung von Zwang ausgebildet sind, den minimal notwendigen Zwang anwenden."

Das gilt ausdrücklich auch für schwangere Frauen und Kinder. Bei Widerstand gegen die Fingerabdruckentnahme droht den Flüchtlingen darüberhinaus Inhaftierung, Abschiebung und eine Wiedereinreisesperre von fünf Jahren. Das ist der Willkommensgruß der EU an alle Flüchtlinge, die Gefängnis, Folter und Krieg entkommen sind.

Außerdem wurde bekannt, was die EU unter stärkerer Zusammenarbeit mit Transit- und Herkunftsstaaten in Afrika versteht. Der britische Guardian berichtete von Geheimdiplomatie Italiens, Großbritanniens und Norwegens mit der Regierung in Eritrea, einem der Hauptherkunftsländer der nach Europa strebenden Flüchtlinge. Anscheinend boten sie dem dortigen Regime die Aufhebung von Sanktionen und eine drastische Erhöhung der Entwicklungshilfe an, wenn es im Gegenzug seine Grenzen strenger bewacht.

Der Guardian zitiert einen Mitarbeiter der Vereinten Nationen mit den Worten: "Hochrangige europäische Diplomaten sind nach Asmara, der Hauptstadt Eritreas, gereist. Es ist klar, dass es die politische Absicht gibt, die Flüchtlingskrise durch die Schließung der Grenze von eritreischer Seite zu schließen - das ist eine sehr gefährliche Taktik."

Es wird befürchtet, dass Eritrea den Schießbefehl an der Grenze wieder einführt. In Deutschland wurden führende Funktionäre des DDR-Regimes wegen des Schießbefehls an der innerdeutschen Grenze vor Gericht gestellt; in Eritrea soll nun die Regierung auf Druck von EU-Staaten einen solchen Befehl erlassen.

In der Flüchtlingsfrage offenbart sich der menschenverachtende Charakter der Europäischen Union. Laut einem jüngst veröffentlichten Bericht von Amnesty International befinden sich weltweit mehr als 50 Millionen Menschen auf der Flucht, so viele wie noch nie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Doch in Europa, wo im letzten Jahr gerade einmal 600.000 Menschen ein Asylgesuch stellten, kaum mehr als ein Prozent der weltweiten Flüchtlinge, stürzt die Frage der Aufnahme einiger Tausend zusätzlicher Flüchtlinge die Europäische Union in eine Krise.

Dabei sind die europäischen Mächte selbst für die drastische Zunahme der Fluchtbewegungen verantwortlich. Sie haben sich an den Kriegen in Afghanistan, Irak, Syrien und Libyen beteiligt, die Millionen Menschen ins Verderben gerissen und in die Flucht getrieben haben.

Fast 2.000 Menschen haben alleine in diesem Jahr ihr Leben verloren, als sie versuchten, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, um dort Schutz und ein besseres Leben zu suchen. Die europäischen Regierungen reagieren darauf, indem sie die Abschottungsmaßnahmen verstärken und die Flüchtlinge lieber ertrinken lassen, als sie aufzunehmen.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 18.06.2015
EU streitet um Verteilung von Flüchtlingen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juni 2015

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