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GLEICHHEIT/5234: Erste Direktwahl des Präsidenten der Türkei


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Erste Direktwahl des Präsidenten der Türkei

Von Halil Celik
9. August 2014



Am Sonntag sind mehr als 52 Millionen Türken aufgerufen, den nächsten Präsidenten des Landes zu wählen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei wird der Präsident direkt vom Volk gewählt und nicht vom Parlament. Ein eventueller zweiter Wahlgang zwischen den beiden führenden Kandidaten wird am 24. August stattfinden.

Die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) sieht die Wahl des Präsidenten durch das Volk als wichtigen Schritt hin zu einem Präsidialsystem. Sie wird von der pro-kurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP) unterstützt. Die Unterstützung der HDP beruht für den Moment auf der Forderung nach "demokratischer Autonomie" für die Kurden im Rahmen der europäischen Charta für Kommunale Selbstverwaltung und nach der Freilassung kurdischer politischer Gefangener.

Ursprünglich hatten sich die Hauptoppositionsparteien, die Republikanische Volkspartei (CHP) und die rechte Nationalistische Bewegungspartei (MHP), dafür ausgesprochen, dass der Präsident auch weiterhin durch das Parlament gewählt werde. Jetzt aber haben auch sie die Direktwahl des Präsidenten durch das Volk akzeptiert.

Die Unterstützung aller wichtigen bürgerlichen Parteien für die Direktwahl des Präsidenten weist darauf hin, dass sich die herrschende Klasse auf autoritäre Regierungsformen und Krieg vorbereitet. Das ist eine internationale Tendenz. Sie ist Teil der Vorbereitung der türkischen herrschenden Klasse auf kommende Massenkämpfe der Arbeiterklasse, die sich gegen die soziale Konterrevolution und Unterdrückung und gegen die Kriegspolitik der Regierung erheben könnte.

In der Fraktionssitzung seiner Partei am 1. Juni hatte Ministerpräsident Recep Tayipp Erdogan betont, ein vom Volk gewählter Präsident werde ein starker Präsident sein, der aktiv politisch eingreifen könne, während ein vom Parlament gewählter Präsident "unter Vormundschaft" stehen würde. Erdogan gilt bei der Wahl als Favorit.

Allerdings muss die verfassungsmäßige und juristische Grundlage für die Konzentration einer starken exekutiven Macht in den Händen des Präsidenten erst noch geschaffen werden. Angesehene Akademiker und Medienkommentatoren sind der Meinung, dass das Fehlen einer juristischen Grundlage zu ernsthaften politischen Problemen führen kann, gleichgültig, welcher Kandidaten zum Präsidenten gewählt wird, und welche Partei bei der Parlamentswahl im nächsten Jahr die Mehrheit erringt. Die Strategie der AKP, zuerst de facto ein Präsidialsystem zu schaffen, und erst dann den verfassungsmäßigen und juristischen Rahmen dafür zu beschließen, zeigt deutlich, wie zynisch die türkische herrschende Klasse und ihre politischen Vertreter mit ihrer eigenen Verfassung umgehen.

Die bürgerliche Politik in der Türkei wird insgesamt nach religiösen Gesichtspunkten umorientiert. Das zeigen die ideologischen und politischen Positionen der beiden führenden Kandidaten, Erdogan von der AKP und Ekmeleddin Ihsanoglu von der CHP und der MHP, der noch von einigen weiteren bürgerlichen Parteien unterstützt wird.

Die CHP und die MHP gelten zwar bisher als Vertreter des säkularen Flügels des politischen Establishments der Türkei, doch auch sie unterstützen eine solche Umorientierung. Das Motto, "alles, nur nicht Erdogan" kann allein nicht erklären, warum die CHP ausgerechnet Ihsanoglu, den Generalsekretär der Organisation für Islamische Kooperation (OIC) von 2004 bis 2013, als Präsidentschaftskandidaten unterstützt.

Die ehemals kemalistische CHP, Verteidigerin des Säkularismus, signalisiert der türkischen Bourgeoisie und den imperialistischen Mächten, dass sie die Neuaufteilung des Nahen Ostens nach religiösen und ethnischen Gesichtspunkten unterstützt. (Der Kemalismus bezieht sich auf Mustafa Kemal Atatürk, den Begründer der modernen türkischen Republik, und die Ideologie der nationalistischen und säkularen türkischen Bourgeoisie).

Die Nominierung Ihsanoglus durch CHP und MHP zeigt, dass die gesamte türkische herrschende Klasse den radikalen Wandel der türkischen Außenpolitik, besonders im Nahen Osten, weitgehend akzeptiert. Während die imperialistischen Mächte Erdogan teilweise als "unzuverlässig" einstufen, betrachten sie die Kandidatur Ihsanoglus zweifellos mit Wohlgefallen.

Es gibt Unterschiede in der Klassenherkunft und politischen Kultur zwischen Ihsanoglu, einem international bekannten Akademiker und Diplomaten, und Erdogan, der, nach seinen eigenen Worten, in seiner Jugend schon "Brezeln und Zitronen verkauft hat", der schon in jungem Alter in die Politik ging und als islamistischer Kämpfer und Politiker groß geworden ist. Aber diese Unterschiede bedeuten nicht, dass Erdogan eine "militante", autoritäre" und "aggressive" Politik verfolgen wird, während Ihsanoglu als "Intellektueller" auf "demokratischen" und "pazifistischen" Pfaden wandeln wird.

Zwischen beiden liegen keine Welten. Unabhängig von ihrem persönlichen Hintergrund stehen beide im Dienste der gleichen bürgerlichen Klasseninteressen und des Imperialismus. Hinter den Differenzen und Konflikten zwischen Erdogan und Ihsanoglu stehen unterschiedliche taktische Lösungen für die Probleme des US-Imperialismus und der türkischen Bourgeoisie im Nahen Osten.

Die AKP-Regierung griff Ihsanoglu im Juli 2013 scharf an, als er den Putsch gegen den Präsidenten Mohammed Mursi von der Muslimbruderschaft in Ägypten nicht verurteilte, sondern stattdessen Mursi kritisierte, weil er "soziale Polarisierung" betreibe.

Im August 2013 erklärte Ministerpräsident Erdogan, die Organisation Islamische Zusammenarbeit habe sich mit Schande bedeckt. Der stellvertretende AKP-Vorsitzende Hussein Celik schrieb auf Twitter: "Weiß irgendjemand, was Ihanoglu da treibt? Nach dem Putsch beschuldigte diese Person Mursi. Da kann ich nur sagen: 'Schäm dich'. Unser hochverehrter Präsident und Ministerpräsident hatte sich vorher stark für die Wahl Ihsanoglus zum Generalsekretär der OIC eingesetzt."

Vizeministerpräsident Bekir Bozdag forderte Ihsanoglu auf, von seinem Amt zurückzutreten. Er sagte: "Wenn ich Generalsekretär der OIC wäre, hätte ich islamische Länder aufgefordert, zusammenzuarbeiten. Ich könnte die Schande des Schweigens nicht ertragen und würde zurücktreten, wenn sie keinen Schritt nachgäben."

Beim zweiten wichtigen Konflikt zwischen Erdogan und Ihsanoglu ging es um Syrien. In einer Pressekonferenz in Ramallah, Palästina, lehnte Ihsanoglu eine militärische Intervention in Syrien ab und sagte, das könne die Lage nur verschärfen. In einem Interview mit der türkischen Tageszeitung Cumhurriyet vom 17. Juni 2014 beharrte er auf einem Übergang in Zusammenarbeit mit dem gegenwärtigen syrischen Regime von Bashar al-Assad.

Ihsanoglu ist nicht völlig gegen eine Neuaufteilung der Region. Auf seiner Pressekonferenz in Ramallah nannte er die vom britischen und französischen Imperialismus im "Sykes Picot Abkommen" gezogenen Grenzen ein vom Osmanischen Reich vorzeitig ausgebrütetes Baby. Er fügte hinzu, die Grenzen seien "zerschlagen", und es sei an der Zeit, "das Problem zu lösen". Seine Positionen zum Putsch in Ägypten ähneln denen der amerikanischen und europäischen Imperialisten. Seine Vorstellungen zu Syrien waren auch schon in Washington und anderen imperialistischen Zentren zu hören. Mit anderen Worten, Ihsanoglus Haltung zur türkischen Außenpolitik korrespondiert durchaus mit den Plänen der Imperialisten zur Neugestaltung des Nahen Ostens.

Seine "Lösung" unterscheidet sich von der Erdogans durch den Einsatz "weicher Mittel" (wirtschaftliche, diplomatische, Sanktionen) vor einer militärischen Intervention und anstelle ständiger Kriegstreiberei. Vor dem Hintergrund einer global angelegten Perspektive bevorzugt er, zumindest im Moment, moderatere Mittel.

Erdogans Perspektive mit ihrem stark neo-osmanischen Einschlag und ihrer engstirnigen, auf Ankara beschränkten Sichtweise, ist trotz ihrem doktrinär anmutenden Auftreten eher pragmatisch. Das bringt ihn gelegentlich in Konflikt mit seinen wichtigsten Freunden im Westen. Er zögert auch nicht, nationalistische türkische Gefühle zu mobilisieren, wenn er das für nötig hält, selbst auf die Gefahr hin, seine kurdisch-nationalistischen Anhänger zu verprellen.

Die Präsidentschaftswahl am Sonntag ist stark von Kriegsvorbereitungen im Nahen Osten geprägt, wo jetzt schon ein blutiger spalterischer Krieg tobt. Daher spricht keine der großen bürgerlichen Parteien von wachsender Arbeitslosigkeit, Armut, Korruption und sozialer Ungleichheit. Sie sagen nichts zum täglichen Polizeiterror oder zu Ankaras destruktiver Rolle in Libyen, Syrien oder dem Irak. In ihren politischen Reden geht es nur um reaktionäre Themen wie Religion, Sektierertum und ethnische Zugehörigkeit.

Die sunnitisch-islamische Politik der AKP-Regierung und ihr Traum vom "Neo-Osmanentum" haben auch den ideologischen Rahmen für die enge Zusammenarbeit zwischen Ankara und der kurdischen nationalistischen Führung in der Türkei und im Irak geschaffen.

Die Demokratische Volkspartei (HDP), die dem kurdischen Nationalismus ein "linkes" Gesicht geben soll, nominierte bei ihrer Fraktionssitzung am 1. Juli ihren Mitvorsitzenden Selahattin Demirtas als Präsidentschaftskandidaten. Man kann davon ausgehen, dass er nur in der ersten Runde der Wahl dabei sein wird und dass die Anhänger der HDP in der zweiten Runde für Erdogan oder für Ihsanoglu stimmen werden.

Die HDP nutzt die Präsidentschaftswahl, um ihre Position zu konsolidieren und Konzessionen von der Regierung zu erlangen. Am 26 Juni brachte die AKP-Regierung unter dem Druck der Ereignisse im Irak einen Gesetzentwurf mit dem Titel "Gesetz zur Beendigung von Terror und zur Stärkung gesellschaftlicher Integration" ein. Es soll den juristischen Rahmen für Gespräche mit der PKK schaffen. Es gewährt den Verhandlungsführern Immunität.

Erdogan will mit diesem Gesetz kurdische Wähler auf seine Seite ziehen. Es wird von dem inhaftierten kurdischen Führer Abdullah Öcalan unterstützt und bietet der von der HDP vertretenen kurdisch-nationalistischen Bewegung eine Gelegenheit, ihre so genannte Friedensallianz mit der AKP zu stärken.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 09.08.2014
Erste Direktwahl des Präsidenten der Türkei
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2014