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GLEICHHEIT/5137: Türkische Polizei riegelt die Katastrophenmine nach Zusammenstößen ab


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Türkische Polizei riegelt die Katastrophenmine nach Zusammenstößen ab

Von Patrick Martin
21. Mai 2014



Am Samstag wurden Tausende türkische Polizisten zur Unterdrückung von Protesten im Umfeld der Kohlenmine Soma aufgeboten, in der letzte Woche mehr als 300 Bergarbeiter in der größten Industriekatastrophe der türkischen Geschichte ums Leben kamen.

Die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan gab die endgültige Zahl der Toten mit 301 an und verfügte eine Abriegelung der Mine, nachdem die letzte Leiche geborgen worden war. Unmittelbar im Anschluss wurde eine Steinmauer am Unglücksort errichtet.

Abdurrahman Savas, der Gouverneur der Provinz Manisa, zu der auch Soma gehört, verhängte ein Demonstrationsverbot, nachdem es am Freitag zu Zusammenstößen zwischen der Polizei und Arbeitern sowie Anwohnern gekommen war, die die Katastrophe als Verbrechen bezeichneten, für das die Betreiberfirma und die Regierung verantwortlich seien. Der Gouverneur ordnete den Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern gegen die Demonstranten an, behauptete aber gleichzeitig: "Das soll die freie Meinungsäußerung nicht verhindern".

Laut Reuters war "Soma am 18. Mai nach der Errichtung von Kontrollstellen auf den wichtigsten Verbindungsstraßen zur Stadt durch die Polizei und Kräfte der Gendarmerie vollständig abgeriegelt ... Die in der Nähe von Soma stationierten Sicherheitskräfte wurden durch Kommandoeinheiten verstärkt, die von Garnisonen in Istanbul, Ankara, Izmir und Denizli bereitgestellt wurden. Außer Behördenvertretern, Rettungskräften, einigen Journalisten und Angehörigen der Bergleute ist niemandem erlaubt, die in einer Entfernung von 30 Kilometern zur Katastrophenmine errichteten Kontrollstellen zu passieren. Busse und Privatautos werden angehalten und überprüft".

Am Samstag wurden mehrere Dutzend Menschen festgenommen und in einem Sportzentrum in der Stadt festgehalten. Unter den Festgenommenen befanden sich acht Rechtsanwälte, die nach Soma gekommen waren, um die Familien der Opfer rechtlich zu vertreten. Mindestens einer von ihnen wurde von der Polizei geschlagen, entsprechende Fotos kursieren in den sozialen Netzwerken.

In Izmir, der im Südwesten von Soma gelegenen Großstadt, kam es zu Zusammenstößen, in deren Zusammenhang 40 Personen festgenommen wurden. Demonstranten errichteten Barrikaden und warfen mit Steinen und Feuerwerkskörpern.

Die Proteste in der Provinz Manisa und in Izmir sind ein schwerer politischer Schlag gegen die regierende Partei Erdogans, die islamistische Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), die in dieser Region sowohl bei den Parlamentswahlen 2011 als auch bei den Kommunalwahlen vom März leichte Wahlsiege erringen konnte. Das Hauptquartier der AKP in Soma wurde von Demonstranten geplündert.

Auch in Ankara und Istanbul, der größten Stadt der Türkei, kam es zu Protesten. Hier setzte die Polizei Tränengas, Wasserwerfer und Gummigeschosse ein, um die Demonstranten auseinander zu treiben. In beiden Städten wurden Dutzende verhaftet.

In ihren Sprechchören nahmen die Demonstranten das türkische Kurzwort für Wasserwerfer ("TOMA") auf und verbanden es mit dem Namen der Bergabeiterstadt Soma.

Über 1.000 Studenten der Technischen Universität Istanbul besetzten Freitagnacht den Fachbereich Bergbau und protestierten gegen die engen Verbindungen der Hochschule zum Bergbauunternehmen - zwei Manager von Soma sind Mitglieder des Fakkultätsbeirats.

Sie forderten darüber hinaus den Rücktritt eines Professors, der erklärt hatte, diejenigen, deren Tod durch Kohlenmonoxid herbeigeführt worden sei - die hauptsächliche Todesursache bei der Katastrophe von Soma - hätten einen "schönen Tod" gehabt.

Gegenüber einem Fernsehsender hatte er gesagt: "Kohlenmonoxid ist leichter als Sauerstoff, deshalb ist es eine günstige Methode, um Selbstmord zu begehen. Es ist ein sehr süßer Tod. Man merkt nichts".

Als Reaktion hierauf schrieben die Studenten die Namen aller 301 Opfer von Soma auf die Wände des von ihnen besetzten Gebäudes zusammen mit Parolen wie: "Wir werden keine Ingenieure für die Mörder sein. Wir werden Ingenieure des Volkes sein".

Um den Zorn der Öffentlichkeit umzulenken, der zunächst durch das riesige Ausmaß der Tragödie und in der Folge durch die völlige Gleichgültigkeit Erdogans und anderer führender Regierungsvertreter entstanden war, ordneten türkische Staatsanwälte die Festnahme von 19 Personen zu Untersuchungszwecken an. Darunter sind einige Manager des Unternehmens und der Chefingenieur Akin Çelik. Der Firmeneigentümer Alp Gürkan und der Betriebsleiter Ramazan Dogru befinden sich allerdings nicht unter den Festgenommenen.

Die wirklichen Prioritäten des türkischen Staates werden daraus deutlich, dass weit mehr Menschen wegen des Protestes gegen das Desaster festgenommen wurden als wegen des schlimmsten Industriemordes in der Geschichte des Landes.

Das Arbeitsministerium kündigte am Samstag an, es würden Todesfallleistungen zwischen 365 EUR und 730 EUR monatlich an die Familien der Opfer erbracht, während verletzte Bergarbeiter für lediglich drei Monate Leistungen erhalten.

Die Auswirkungen der Katastrophe in der ländlichen Bergbauregion spiegeln sich in einem Bericht wider, wonach im Dorf Elmadere, in der Nähe von Soma, 11 Männer bei einer Gesamtbevölkerung von 250 in der Mine starben.

Über die entsetzlichen letzten Minuten der todgeweihten Bergarbeiter wurden neue Einzelheiten bekannt. Die letzten geborgenen Leichen befanden sich offensichtlich in der Nähe der Methangasexplosion, die die Katastrophe ausgelöst hatte. Viele dieser Opfer waren so stark verbrannt, dass sie nur durch einen DNA-Test identifiziert werden konnten, um die Leichen ihren Familien für die Beerdigung übergeben zu können.

Die allermeisten Bergarbeiter überlebten die erste Explosion. Als sie den Rauch wahrnahmen, begaben sie sich jedoch, den Notfallplänen folgend, tiefer in den Schacht, um dort auf ihre Bergung oder auf die Zufuhr von Sauerstoff zu warten. Sie alle starben durch das Einatmen von Kohlenmonoxid, nachdem der Vorrat ihrer Sauerstoffmasken erschöpft war. Die Sensoren zeigten an, dass der Kohlenmonoxidgehalt noch drei Tage nach der Katastrophe tödlich war.

In einem Pressebericht wurde ein örtlicher Offizieller zitiert, der behauptete, es hätten nur Arbeiter überlebt, die entgegen den Notfallregeln durch den Rauch hindurch zum Ausgang liefen. Die Mine verfügt nicht über eine Sicherheitskammer für den Fall, dass ein Feuer ausbricht. Die Türkei ist neben Pakistan und Afghanistan eines von drei Ländern, in denen dies auch für besonders tiefe Gruben nicht vorgeschrieben ist.

Alp Gürkan, der Eigentümer des Soma Komur Isletmeleri Bergbauunternehmens, lehnte am Freitag auf einer Pressekonferenz jede Verantwortung für die Katastrophe ab. "Meine Betriebsleiter haben alles richtig gemacht, wenn es um die Dinge geht, die nach dem Gesetz zu tun waren, und sie haben die äußersten Sicherheitsvorkehrungen getroffen", sagte er.

Vor zwei Jahren prahlte Gürkan damit, er habe die Produktionskosten seit der Privatisierung der Mine im Jahre 2005 um mehr als 80 Prozent gesenkt, von 95 EUR auf weniger als 18 EUR pro Tonne. Im Jahre 2012, dem letzten Jahr, für das Zahlen vorliegen, produzierte Soma Holding 47 Prozent mehr Kohle als ursprünglich geplant. Die gesamte Kohle wurde an das Staatsunternehmen Turkish Coal Enterprise verkauft, das einen garantierten Abnahmemarkt bietet.

In Presseberichten wurde darauf hingewiesen, dass die türkischen Kohleminen unter einem 30 Jahre alten Arbeitsschutzgesetz arbeiten, das in der Praxis regelmäßig ignoriert wird. Der Energieminister behauptete, die Mine Soma sei in den letzten Jahren neunmal kontrolliert worden und alle Kontrollen seien bestanden worden. Dies beweist nur, dass die Inspektoren und ihre Vorgesetzten und Regierungsminister zusammen mit den Managern des Unternehmens auf der Anklagebank sitzen müssten.

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Quelle:
World Socialist Web Site, 21.05.2014
Türkische Polizei riegelt die Katastrophenmine nach Zusammenstößen ab
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Mai 2014