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GLEICHHEIT/4980: Weshalb sich die deutsche Außenpolitik für Chodorkowski einsetzt


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Weshalb sich die deutsche Außenpolitik für Chodorkowski einsetzt

Von Peter Schwarz
4. Januar 2014



Die Freilassung des russischen Oligarchen Michail Chodorkowski ist von der deutschen Außenpolitik als großer Erfolg gefeiert worden.

Chodorkowski flog nach seiner Entlassung aus einem russischen Gefängnis kurz vor Weihnachten direkt nach Berlin, wo ihn der frühere deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher persönlich am Flughafen empfing. Wie sich herausstellte, hatte sich Genscher in jahrelangen Geheimverhandlungen intensiv um die Freilassung des Oligarchen bemüht und dabei, in enger Absprache mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, auch zweimal den russischen Präsidenten Wladimir Putin persönlich getroffen.

Der Russlandexperte Alexander Rahr, der Genscher assistierte, bezeichnete die Freilassung Chodorkowskis im Spiegel als "Triumph für die deutsche Geheimdiplomatie". Sie zeige, "dass Deutschland in Moskau noch über Kanäle verfügt, die Briten oder Amerikaner nicht haben".

Allein schon der Begriff "Geheimdiplomatie" lässt aufhorchen. Er gilt seit dem Ersten Weltkrieg als verpönt, weil Geheimabkommen zwischen den Großmächten maßgeblich zum Kriegsausbruch beigetragen hatten. Spätestens der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 mit seinen Geheimklauseln über die Aufteilung Polens hatte ihn dann völlig diskreditiert.

Rahr gilt als Deutschlands namhaftester Russlandexperte und berät sowohl die Regierung wie Industriekonzerne. Dass er nun wieder von "Geheimdiplomatie" spricht, wirft die Frage auf, welche geheimen Vereinbarungen mit der Freilassung Chodorkowskis verknüpft sind und welche Ziele die deutsche Regierung damit verfolgt.

Dass es um wichtige Ziele geht, zeigt die Einschaltung Genschers. Der 86-Jährige FDP-Politiker ist ein politisches Schwergewicht. Er gehörte zwischen 1969 und 1992 jeder Bundesregierung an, erst fünf Jahre als Innen- und dann 18 Jahre als Außenminister. Er war an allen grundlegenden Weichenstellungen dieser Zeit beteiligt, insbesondere an der Auflösung des Warschauer Pakts und der deutschen Wiedervereinigung 1989/90.

Genschers eigene Begründung, es sei um rein humanitäre Gründe gegangen, ist nicht glaubhaft. Es gibt weltweit zehntausende politische Gefangene, die eine Freilassung aus humanitären Gründen weit eher verdient hätten als Chodorkowski, ohne dass sich Genscher oder die Bundesregierung um sie kümmern.

Der einst reichste Mann Russlands landete zwar hinter Gittern, weil er sich mit Präsident Putin und seinem Machtzirkel angelegt hatte. Aber das macht ihn nicht zu einem Märtyrer der Demokratie. Der mittlerweile 50-jährige Chodorkowski zählt zu jenem exklusiven Club von Oligarchen, die ihre Startposition im kommunistischen Jugendverband nutzten, um sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion durch Raub, Betrug und Spekulation hemmungslos am gesellschaftlichen Eigentum zu bereichern. Dabei hinterließen sie nicht nur eine Spur der sozialen Verwüstung, sondern auch etliche Leichen.

Den Justizbehörden, einmal auf Chodorkowski losgelassen, fiel es nicht schwer, Beweise für seine Verurteilung zu finden. Selbst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte billigte im September 2011 das Vorgehen der russischen Behörden gegen Chodorkowskis Ölkonzern Jukos. "Ungerecht" war seine Gefängnisstrafe höchstens, weil andere Oligarchen, die ähnliches verbrochen hatten, von der Justiz verschont blieben.

Was Chodorkowski für die deutsche Politik interessant macht, ist gerade sein uneingeschränktes Eintreten für die Plünderung des gesellschaftlichen Reichtums. "Unser Kompass ist der Gewinn, unser Idol ist Ihre Majestät, das Kapital", lautet sein viel zitiertes Credo aus dem Jahr 1993. Freiheit bedeutet für Chodorkowski in erster Linie die uneingeschränkte Freiheit des Marktes, einschließlich der Öffnung Russlands für westliches Kapital.

Das brachte ihn in Konflikt mit Putin, der zwar ebenfalls den Reichtum der russischen Oligarchen beschützt, aber einen starken russischen Nationalstaat, der auch international als Großmacht auftreten kann, als unabdingbare Voraussetzung für einen funktionierenden russischen Kapitalismus betrachtet.

Wohl wichtigster Grund für die Verhaftung Chodorkowskis im Herbst 2003 waren seine Bemühungen, bis zu 50 Prozent des Ölkonzerns Jukos an die US-Konzerne Exxon und Chevron zu verkaufen. Für den Kreml war dies nicht zu akzeptieren. Nach Chodorkowskis Verurteilung wurde Jukos zerschlagen und in den staatlich dominierten Ölkonzern Rosneft eingegliedert, der auch den Gasmonopolisten Gazprom kontrolliert und inzwischen vor Exxon größte Energiekonzern der Welt ist.

Öl und Gas spielen heute allerdings nicht mehr dieselbe strategische Rolle wie vor zehn Jahren. Neue Fördermethoden, wie Tiefseebohrungen und Fracking, haben weltweit neue Vorkommen erschlossen und Russlands Stellung als Energieexporteur unterhöhlt. Putin suchte daher nach neuen Mitteln, die Stellung Russlands zu stärken. Zentrales Projekt seiner dritten Amtszeit als Präsident ist der Aufbau einer Eurasischen Union. Sie soll nach dem Vorbild der Europäischen Union gestaltet werden und große Teile der früheren Sowjetunion sowie weitere Länder umfassen.

Putin hatte das Projekt am 3. Oktober 2011 noch vor der Präsidentenwahl in einem ausführlichen Artikel in der Iswestija vorgestellt. Er betonte darin, dass die Eurasische Union keine "Wiederbelebung der Sowjetunion in irgendeiner Form" bedeute. "Der Versuch, etwas wiederzubeleben oder nachzubilden, das der Geschichte anheim gegeben wurde, wäre naiv", schrieb er.

Putin erklärte, dass sich Russland von der Eurasischen Union eine Stärkung seiner globalen Stellung verspreche: "Wir schlagen einen mächtigen supranationalen Vereinigung vor, die in der Lage ist, zu einem Pol der modernen Welt zu werden und als wirkungsvolle Brücke zwischen Europa und der dynamischen asiatisch-pazifischen Region zu dienen."

Gleichzeitig bestritt er, dass das Projekt gegen die Europäische Union gerichtet sei. Vielmehr werde die Eurasische Union "in einen Dialog mit der EU treten". Ziel sei "eine abgestimmte Gemeinschaft von Volkswirtschaften, die sich von Lissabon bis Wladiwostock erstreckt". Die Partnerschaft zwischen der Eurasischen und der Europäischen Union werde "geo-politische und geo-ökonomische Veränderungen auf dem ganzen Kontinent mit garantierter globaler Wirkung hervorrufen".

Putins Artikel löste in den USA und Europa beunruhigte Reaktionen aus. Es gibt kaum eine größere Zeitung oder einen Think Tank, der ihn nicht ausführlich kommentierte. Die amerikanische und vor allem die deutsche Regierung sahen ihre Strategie gefährdet, nach Osteuropa auch große Teile der ehemaligen Sowjetunion unter ihre ökonomische und politische Kontrolle zu bringen, Russland zunehmend zu isolieren und ihren Einfluss im strategisch wichtigen Zentralasien zu stärken.

Auch Peking reagierte nervös. Es betrachtete Putins Vorstoß als Konkurrenzprojekt zur Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, mit der China seine Stellung in Zentralasien zu festigen versucht.

Der rechte amerikanische Think Tank Heritage Foundation warnte: "Russlands Eurasische Union könnte die Nachbarn und US-Interessen gefährden." Er empfahl den USA und ihren Verbündeten in Europa und Asien, "die geopolitische Offensive Russlands auszugleichen und US- und westliche Interessen zu schützen".

Im Dezember 2012 stellte die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton auf einer Pressekonferenz in Dublin klar, dass die USA Putins Projekt nicht hinnehmen werden. Es gebe "Schritte, die Region zu re-sowjetisieren", behauptete Clinton. Die Rede sei zwar von einer Eurasischen Union. "Aber wir sollten uns keiner Täuschung hingeben. Wir wissen, was das Ziel ist, und wir suchen nach effektiven Wegen es zu verlangsamen oder zu verhindern."

Die EU und Deutschland bemühten sich, ehemalige Sowjetrepubliken im Rahmen der "Östlichen Partnerschaft" auf ihre Seite zu ziehen. Dieses Projekt soll die Ukraine, Moldawien, Weißrussland, Georgien und Armenien an die Europäische Union heranführen. Eine gleichzeitige Mitgliedschaft in der Eurasischen Union und der Östlichen Partnerschaft schließt die EU dabei ausdrücklich aus.

Im vergangenen November eskalierte der Konflikt, als die ukrainische Regierung in letzter Minute die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU ablehnte. Tatsächlich blieb ihr kaum eine andere Wahl. Das Abkommen mit der EU war an massive Einsparungen bei den Renten und Sozialausgaben sowie an Gaspreiserhöhungen für Privathaushalte geknüpft, die die Regierung aufgrund des zu erwartenden Widerstands politisch kaum überlebt hätte. Russland bot dem nahezu bankrotten Land dagegen Kredite und Gaspreisrabatte im Umfang von 20 Milliarden Dollar.

Die EU und die USA reagierten, indem sie proeuropäische Proteste gegen Präsident Wiktor Janukowytsch und seine Regierung massiv unterstützten. Die Partei UDAR des Berufsboxers Vitali Klitschko, eines Wortführers der Opposition, wird von der Konrad-Adenauer-Stiftung der CDU Angela Merkels gesponsert und ausgebildet. Dass Klitschko regelmäßig Seite an Seite mit dem Faschisten Oleh Tjahnybok von der Allukrainischen Vereinigung "Swoboda" auftritt, stört sie dabei nicht.

Bisher ist es der Opposition zwar nicht gelungen, die Regierung und den Präsidenten zum Rücktritt zu zwingen, die vor allem im Osten des Landes erheblichen Rückhalt haben. Doch sie setzt ihre Demonstrationen mit westlicher Unterstützung fort und signalisiert so der russischen Regierung, dass sie bereit ist, das Land zu spalten, sollte sich dieses Putins Projekt anschließen. Ohne die Ukraine, mit ihren 45 Millionen Einwohner nach Russland größte ehemalige Sowjetrepublik, wäre die Eurasische Union lediglich ein Rumpfgebilde.

In diesem Zusammenhang steht die Freilassung Chodorkowskis. Seit der deutschen Wiedervereinigung vor 23 Jahren arbeitet die Bundesregierung systematisch daran, in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion Fuß zu fassen. Sie folgt dabei der traditionellen Stoßrichtung des deutschen Imperialismus, der bereits im Ersten und vor allem im Zweiten Weltkrieg die Ukraine und Teile Russlands erobert hatte.

Sie hat eine Zusammenarbeit mit Putin nie ausgeschlossen, solange sich dieser ihren Bedingungen fügt. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hatte mit dem russischen Präsidenten sogar eine persönliche Freundschaft geschlossen und ihm bescheinigt, er sei ein "lupenreiner Demokrat". Nun sieht die deutsche Regierung eine neue Chance, mit Putin unter ihren Bedingungen wieder ins Geschäft zu kommen. Während sie in der Ukraine die antirussischen Proteste unterstützt und organisiert, hofft sie gleichzeitig auf eine stärkere Öffnung Russlands für deutsches Kapital.

So interpretiert auch Alexander Rahr, Genschers Assistent bei den Verhandlungen über Chodorkowski, dessen Freilassung. "Wenn es Politiker gibt, die Einfluss auf Putin nehmen können, sind es die Bundeskanzlerin und die früheren Gestalter der deutschen Ostpolitik", schrieb er am 2. Januar in der Welt. "Dass Chodorkowski nach seiner Begnadigung nach Deutschland ausgeflogen wurde, zeigt, dass Putin über Berlin eine Wiederannäherung an den Westen sucht."

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Quelle:
World Socialist Web Site, 04.01.2014
Weshalb sich die deutsche Außenpolitik für Chodorkowski einsetzt
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Januar 2014