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GLEICHHEIT/4736: Erneute Angriffe auf türkische Demonstranten


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Erneute Angriffe auf türkische Demonstranten

Von Justus Leicht
25. Juni 2013



Am Samstagabend ist die türkische Polizei nach sechs Tagen relativer Ruhe abermals mit Reizgas, Wasserwerfern, Gummigeschossen und Knüppeln gegen Demonstranten vorgegangen.

Nach der gewaltsamen Auflösung einer Kundgebung auf dem Taksim-Platz in Istanbul kam es auf der Einkaufsmeile Istiklal und deren Seitengassen sowie in den benachbarten Vierteln Tarlabasi, Harbiye und Cihangir zu stundenlangen Auseinandersetzungen. Es gab Festnahmen und Dutzende Verletzte. Auch eine Kundgebung in Ankara wurde gewaltsam aufgelöst. In Izmir in der Westtürkei und dem im überwiegend kurdischen Südosten gelegenen Tunceli wurden mehrere Haftbefehle erlassen.

Am frühen Abend waren etwa 10.000 Menschen auf den Taksim-Platz gekommen, um mit Nelken der fünf Menschen zu gedenken, die während der Proteste gegen die Regierung Erdogan ums Leben gekommen sind. Zunächst gelang es der Menge, die vorrückenden Sondereinsatzkommandos mit Menschenketten aufzuhalten. Doch dann setzten diese Wasserwerfer ein, in deren Wasser eine ätzende, schon bei wenigen Spritzern auf der Haut brennende Chemikalie beigemischt war.

In den Räumen der Ingenieurskammer richteten Helfer notdürftig ein Lazarett ein. Später schlugen Polizisten dort die Fensterscheiben ein und schossen Gaskartuschen ins Gebäudeinnere. Nach Presseberichten türkischer Zeitungen wurden in dem Notlazarett 30 Verletzte behandelt, darunter zehn, die von Gummigeschossen der Polizei getroffen worden waren. Neun weitere wurden im Büro der Istanbuler Rechtsanwaltskammer behandelt, vier davon wurden in ein Krankenhaus gebracht.

Eine Bilanz der Ärztekammer Istanbul macht deutlich, mit welcher Brutalität die Polizei gegen die Proteste vorgegangen ist, die am 28. Mai mit einer Demonstration gegen den geplanten Bau eines Einkaufzentrums auf dem Gelände des Gezi-Parks neben dem Taksim-Platz begonnen hatte und sich schnell zu einer landesweiten Protestwelle gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdogan von der islamistischen AKP ausweiteten.

Die zwanzig Protesttage forderten im ganzen Land 7.833 Verletzte sowie vier tote Demonstranten und einen toten Polizisten. 13 Menschen verloren ihr Augenlicht durch Gasgranaten, vier Verletzte befinden sich noch auf der Intensivstation. Es gibt Berichte über schwere Misshandlungen einzelner Demonstranten durch Zivilpolizisten und über Ärzte, die von der Polizei an der Behandlung von Verletzten gehindert wurden.

Bei den Demonstrationen der vergangenen drei Wochen hat die Polizei rund 130.000 Patronen mit Reizgas verschossen, wie eine türkische Zeitung meldete. Es sei nun geplant, kurzfristig 100.000 Patronen Tränengas und Pfefferspray zu beschaffen, um die Bestände aufzufüllen, berichtete die Zeitung Milliyet. Als Teil einer Ausschreibung sollen zudem 60 weitere Wasserwerfer angeschafft werden.

Die Zahl der Festnahmen geht in die Tausende. Dabei wurden nicht nur Demonstrationsteilnehmer verhaftet, sondern auch Menschen, die die Demonstrationen über Twitter und soziale Netzwerke unterstützten.

Das brutale Vorgehen der Regierung entspringt ihrer Angst, dass sich die Arbeiterklasse als unabhängige Kraft ins Geschehen einmischt. Hinter der Fassade des wirtschaftlichen Wachstums, das die über zehnjährige Regierungszeit von Premierminister Erdogan und seiner islamistischen AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) kennzeichnete, hat sich die soziale Ungleichheit dramatisch verschärft. Deshalb hat die Unterdrückung einer Demonstration, die sich gegen die Zerstörung eines Parks richtete, innerhalb kürzester Zeit eine landesweite Protestbewegung mit hunderttausenden Teilnehmern ausgelöst.

Außerdem ist die Außenpolitik der Regierung Erdogan, die in enger Zusammenarbeit mit den USA und den europäischen Mächten ein militärisches Eingreifen in Syrien vorantreibt, um das Regime von Baschar al-Assad zu stürzen, in der türkischen Bevölkerung zutiefst unpopulär.

Neben polizeilicher Repression setzt Erdogan auf Chauvinismus und religiösen Fanatismus, um die Protestbewegung in Schach zu halten. Gleichzeitig versucht er, privilegierte Schichten der religiösen und ethnischen Minderheiten zu ködern.

Während sich die Polizei in Istanbul auf die Niederschlagung der Demonstration vorbereitete, appellierte Erdogan in der Stadt Samsun vor 15.000 Anhängern an deren religiöse Vorurteile und warnte vor einer internationalen Verschwörung - mit unverkennbar antisemitischen Untertönen. Er behauptete, die Demonstranten beträten Moscheen mit Schuhen, tränken darin Alkohol und bedrohten Mädchen in Kopftüchern. Drahtzieher der Proteste sei eine "internationale Zins-Lobby", die nach der Türkei nun auch Brasilien destabilisieren wolle.

Erdogan hielt seine Rede kurz vor dem zwanzigsten Jahrestag des Massakers im zentralanatolischen Sivas. Dort hatte am 2. Juli 1993 ein islamistischer Mob ein Hotel angezündet, in dem ein alewitisches Kulturfestival mit vielen linken und liberalen Intellektuellen und Künstlern stattfand, und die Eingeschlossenen an der Flucht gehindert. Es verbrannten 35 Menschen. Einige Täter gehörten Vorgängerparteien der AKP an. Erdogan deutete an, er werde nun eine AKP-Parteiveranstaltung in Sivas durchführen.

Gleichzeitig rief er seine Anhänger auf, als Zeichen der Unterstützung die türkische Nationalfahne aus dem Fenster zu hängen - ohne "Beiwerk", womit das Bild des von radikalen Islamisten abgelehnten Staatsgründers Kemal Atatürk gemeint war.

Auch an die Anhänger der rechtsextremen MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung oder "Graue Wölfe"), der zweitgrößten Oppositionspartei, wandte sich Erdogan. "Auch wenn ihr die drei Halbmonde entrollt, wären wir stolz, denn diese haben zum Osmanischen Reich gehört", sagte er unter Anspielung auf die Fahne der MHP, auf der drei Halbmonde abgebildet sind. Die Grauen Wölfe sind für mehrere Massaker an türkischen Aleviten berüchtigt.

Am Sonntag meldete dann die regierungsnahe Zeitung Today's Zaman, die Regierung plane eine Initiative zugunsten von Menschen alewitischen Glaubens. Deren Versammlungshäuser (Cemevi) sollten in Zukunft offizielle anerkannt werden und von den Gemeinden unentgeltlichen Baugrund erhalten. Alewitische Geistliche sollten staatlich anerkannt und besoldet werden. Auch zwei Universitäten wolle die Regierung nach bekannten alewitischen Persönlichkeiten umbenennen.

Es handelt sich um den offensichtlichen Versuch, konservativere Teile der alewitischen Minderheit, deren Anzahl je nach Quelle auf 10 bis 20 Millionen geschätzt wird und die sich sehr aktiv an den Protesten beteiligte, mit der Regierung zu versöhnen.

Auch die Verhandlungen der türkischen Regierung mit der kurdischen PKK (Arbeiterpartei Kudistans) stehen in diesem Zusammenhang. Erdogan braucht die Unterstützung der PKK, um die bitterarmen Kurdenregionen ruhig zu halten und um die Kurden in Syrien zu neutralisieren.

Die PKK unterhält in den syrischen Kurdengebieten mit der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) einen einflussreichen Ableger und ist damit ein bedeutender Faktor im syrischen Bürgerkrieg. Die syrischen Kurden fürchten die islamistischen Rebellen, die von der Türkei unterstützt werden, misstrauen aber auch dem Assad-Regime. Die PKK kann sie davon abhalten, sich offen auf dessen Seite zu stellen.

Die PKK revanchiert sich für das Entgegenkommen der türkischen Regierung, indem sie mäßigend auf die Proteste gegen Erdogan einwirkt. So lobte einer ihrer prominenten Führer, Murat Karayilan, die Erdogan-Regierung in einem Interview, sie habe mit Vertretern der Taksim-Bewegung Gespräche geführt und zugesagt, ein Gerichtsurteil über den Gezi-Park abzuwarten. "Die Widerstandskräfte hätten dies als Erfolg werten müssen", meinte er. Sie hätten den Widerstand aufgeben und sich auf demokratische Mittel beschränken müssen. Dies hätten sie leider versäumt.

Erdogan kann bei seinem Vorgehen gegen die Protestbewegung auf die Unterstützung der USA, der Europäischen Union und Deutschlands zählen. Sie benötigen Erdogan für ihre Kriegsvorbereitungen gegen Syrien.

Zwischen Berlin und Ankara kam es zwar vorübergehend zu Spannungen, weil Bundeskanzlerin Angela Merkel das gewaltsame Vorgehen gegen die Proteste kritisiert und der türkische EU-Minister Egemen Bagis sie deshalb öffentlich angegriffen hatte. Auf beiden Seiten wurden daraufhin die Botschafter einbestellt.

Doch auf einer Konferenz in Doha, bei der es bezeichnenderweise um die Kriegsvorbereitungen gegen Syrien ging, wurde der Konflikt am Samstag beigelegt. Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle traf dort seinen türkischen Amtskollegen Ahmet Davutoglu zu einem Gespräch unter vier Augen. Anschließend hieß es, man habe in "konstruktiver und freundschaftlicher Atmosphäre" aktuelle Fragen erörtert, auch zu den Beziehungen der EU zur Türkei.

Merkels Kritik am Vorgehen der türkischen Polizei ist zudem pure Heuchelei. In Deutschland geht die Polizei regelmäßig mit Wasserwerfern, Tränengas und Verhaftungen gewaltsam gegen Demonstranten vor - so 2007 beim G8-Gipfel in Heiligendamm oder Anfang dieses Monats gegen die Blockupy-Proteste in Frankfurt [1]. Merkel ging es in erster Linie darum, aus Rücksicht auf anti-türkische Kräfte im eigenen Lager die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu blockieren. Vergangene Woche scheiterte die geplante Wiederaufnahme dieser Verhandlungen am Veto Berlins.

Die Oppositionsparteien SPD, Grüne und Linkspartei haben Merkels Blockadehaltung heftig kritisiert und bemühen sich, die Organisatorischen der türkischen Proteste auf die Europäische Union zu orientieren.

So sprach sich SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles in der Welt gegen einen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen aus. "Die Demonstranten in Istanbul und anderswo beeindrucken uns alle. Diese Menschen wollen sicherlich mit der Türkei in die EU. Es wäre ein Armutszeugnis für Europa, wenn wir die Tür nun zuschlagen würden", sagte sie. Auch die Vorsitzende der Grünen, Claudia Roth, äußerte sich entsprechend.

Am Samstag sprachen Volker Beck von den Grünen, Rolf Mützenich von der SPD und Gregor Gysi von der Linken auf einer türkischen Solidaritätsdemonstration in Köln, zu der die Alevitische Gemeinde Deutschlands aufgerufen hatte und rund 40.000 Teilnehmer erschienen. Auch dort wurde der Beitritt der Türkei zur EU befürwortet.

Inzwischen haben sich auch Mitglieder der Taksim-Plattform - darunter Unternehmer, Schriftsteller und Professoren - in einem offenen Brief an die EU-Außenminister gewandt und diese gebeten, die EU-Verhandlungen mit der Türkei fortzusetzen.

Das ist eine politische Sackgasse. Die EU ist kein Garant für demokratische Rechte, sondern ein Werkzeug des Finanzkapitals, das überall in Europa die schärfsten Angriffe auf die sozialen und demokratischen Rechte der arbeitenden Bevölkerung führt.

Anmerkung:
[1] http://www.wsws.org/de/articles/2013/06/07/bloc-j07.html

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Quelle:
World Socialist Web Site, 25.06.2013
Erneute Angriffe auf türkische Demonstranten
http://www.wsws.org/de/articles/2013/06/25/tuer-j25.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juni 2013