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GLEICHHEIT/4639: 63. Internationales Berliner Filmfestival - Teil 6


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

63. Internationales Berliner Filmfestival
Gold von Thomas Arslan: Immer in Bewegung - aber warum und wohin?
Teil 6

Von Bernd Reinhardt
16. März 2013



Dies ist der sechste Teil einer Artikelserie zum 63. Berliner Filmfestival, der Berlinale, vom 7.-17. Februar 2013. Teil 1 wurde am 5. März veröffentlicht, Teil 2 am 7. März, Teil 3 am 9. März, Teil 4 am 12. März. und Teil 5 am 14. März.

Regisseur Thomas Arslan drehte in der Vergangenheit einige interessante Filme. Seine Berlin-Trilogie, bestehend aus Geschwister (1997), Dealer (1999) und Der schöne Tag (2001), waren lebensnahe Filme über junge Berliner mit Migrationshintergrund.

In letzter Zeit scheint sein Hauptinteresse darin zu liegen, seine Ablehnung des Hollywood-Kinos zu demonstrieren, indem er klassische Genres in Art der sogenannten Berliner Schule "rationalisiert". Nach dem wenig überzeugenden Thriller Im Schatten (2010) lief dieses Jahr sein Western Gold im Wettbewerb.

Gold ist Arslans erster Film, der sich mit deutscher Vergangenheit befasst oder mit Deutschen in der Vergangenheit. Im 19. Jahrhundert verließen unzählige Menschen Deutschland, um ihr Glück in Amerika zu suchen. Es waren sechs Millionen von 1830 bis 1900. Der Regisseur, der auch das Drehbuch schrieb, erhielt seine Anregungen durch alte Fotos und Tagebücher.

Eine siebenköpfige Gruppe deutscher Siedler kämpft sich 1898, angelockt vom Goldfieber, durch die kanadischen Wälder Richtung Norden. Der deutsche Wegführer versprach einen bequemen Weg. Doch es kam anders. Dann stehen sie plötzlich in der Wildnis. Den Möchtegern-Goldsuchern steht eine lange, mühselige Reise bevor. 1500 Meilen (ca. 2.300 km) sind es bis zum Ziel, das letztlich niemand erreicht. Am weitesten kommt das ehemalige Dienstmädchen Emily (Nina Hoss).

Gold verzichtet auf Genre-Klischees wie atemberaubende Panoramaaufnahmen, reißende Flüsse, den legendären Pioniergeist. Auch die Musik, die an Jarmuschs Dead Man erinnert, erfüllt streckenweise eher eine ironische Funktion. Arslans dokumentarischer Blick ist auf das Alltägliche gerichtet. Er zeigt die täglichen Strapazen, Wege, die keine sind, ein Planwagen geht zu Bruch, ein Pferd verendet völlig entkräftet.

Die Menschen, arme Teufel, die der Armut entfliehen wollen, reden nur das Nötigste. Das Miteinander ist von der Rationalität einer Zweckgemeinschaft bestimmt.

Bereits sein Film Der schöne Tag zeigt ein ironisches Verhältnis gegenüber allzu großen Gefühlen und Träumen von einem besseren Leben. So, wenn die junge Schauspielerin Deniz eine emotionale Szene eines Eric Rohmer-Films synchronisieren soll, die durch ihre etwas monotone Stimme eine unfreiwillige Komik bekommt, oder als eine linksliberale Dozentin für Geschichte des Alltagslebens ihr im Café weitschweifig erklärt, dass im Gegensatz zu früher, die Liebe sich heute frei entfalten könne. Deniz ist skeptisch. Das Leben hat sie anderes gelehrt. Dennoch gibt sie die Suche nach wirklicher Liebe nicht auf.

Solche hartnäckigen Versuche trotz Schwierigkeiten ein Ideal zu erreichen, fehlen in Arslans letztem Film Im Schatten. Hier ist Bewegung alles. Die Welt des Trojan (Misel Marticevic), eines Kleinkriminellen, hat nichts mit einem Alltagsleben zu tun. Arslan zieht es vor, sich auf die nüchterne Darstellung des geplanten Verbrechens zu konzentrieren, was auch Präzisionsarbeit verlangt.

Der Film ist von den späten, zunehmend pessimistischen Filmen des französischen Regisseurs Jean-Pierre Melville (1917-1973) beeinflusst. Aber Arslan zufolge sind Melvilles strenge Filme übermäßig moralistisch. In Arslans krimineller Unterwelt gibt es keine Spur von Romantik. Trojan geht seiner Arbeit mit Präzision nach, frei von allen moralischen oder psychologischen Überlegungen. Warum er das tut - erschließt sich uns nicht. Wie der Held irgendeines Computerspiels rennt er lange Korridore und Straßen entlang, immer in Bewegung.

In einem Interview mit der Zeitung Hollywood-Reporter erklärt Arslan seine eher beschränkte Sichtweise: "Ich stelle gerne Leute dar, die etwas suchen, und den physischen Prozess, der sich daraus ergibt, ohne zu wissen, wohin das führt. (...) Menschen in Bewegung zu zeigen, zu versuchen, irgendeinen Weg zu meistern, und dies in Rhythmus und Form auszudrücken, das ist für mich Kino."

In Gold kommt der Traum der Einwanderer vom Reichtum in der Wildnis zu einem abrupten Ende. Sie bewegen sich im Vergleich zu Trojan im Schneckentempo. Aber an einem bestimmten Punkt sind sie genau so ziellos. Nacheinander gehen die Siedler an ihren persönlichen Schwächen zugrunde. Dem betrügerischen Führer der Gruppe wird die Geldgier zum Verhängnis. Der schmierige Reisejournalist, der sich als neuer Anführer aufspielt, tritt in eine Bärenfalle, den dritten lässt die Sehnsucht nach der Familie in der Wildnis verrückt werden.

Emily hält länger durch als alle anderen. Sie besitzt ähnliche Eigenschaften wie Trojan aus Im Schatten, was ihr mitunter den hölzernen Charme einer preußischen Offizierstochter verleiht. Beides sind Kunstfiguren. Arslan hat sie seinem einfachen Verständnis von Realität angepasst, in der rationales Denken auf die unmittelbarsten Tatsachen ausgerichtet ist. Träume und menschliche Schwächen haben dort keinen Platz. Rational Handeln heißt, sich perfekt anpassen. Menschliches Miteinander wird zur Zweckgemeinschaft. Eine kleine Hoffnung scheint es aber zu geben: Entgegen aller Vernunft reitet Emily allein weiter, nachdem der Mann, den sie liebte, erschossen wird. Sie tut es für ihn.

Das kommerzielle Hollywoodkino ist voller Beispiele von geheuchelten Gefühlen, verlogener Moral und sentimentalen Träumereien. Doch haben Träume von einer besseren Zukunft, Ideale und Moral in der Gesellschaft immer eine große Rolle gespielt. Ohne sie könnte keine Dampflok durch Arslans Film fahren. Gesellschaftliche Ideen, verbunden mit bestimmten moralischen Vorstellungen inspirierten ganze Generationen.

Wir wurden Zeuge, wie die Generation, die 1968 den gesellschaftlichen Aufbruch verkündete, ihre Ideale wegwarf, als seien sie nur sentimentale Hirngespinste gewesen. Dies ist an Arslan nicht spurlos vorübergegangen.

Wird fortgesetzt

Vorherige Teile der Artikelserie siehe unter:
Teil 1 - http://www.wsws.org/de/articles/2013/03/05/berl-m05.html
Teil 2 - http://www.wsws.org/de/articles/2013/03/05/berl-m07.html
Teil 3 - http://www.wsws.org/de/articles/2013/03/07/berl-m09.html
Teil 4 - http://www.wsws.org/de/articles/2013/03/12/boris-m12.html
Teil 5 - http://www.wsws.org/de/articles/2013/03/14/hait-m14.html

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Quelle:
World Socialist Web Site, 16.03.2013
63. Internationales Berliner Filmfestival - Teil 6
Gold von Thomas Arslan: Immer in Bewegung - aber warum und wohin?
http://www.wsws.org/de/articles/2013/03/16/berl-m16.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. März 2013