Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

GLEICHHEIT/4318: BBC-Doku über Unruhen in Großbritannien verboten


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

BBC-Doku über Unruhen in Großbritannien verboten

Von Julie Hyland
26. Juli 2012



Im August 2011 kam es in London und andern britischen Städten zu massiven Jugendunruhen. Ein BBC-Doku-Drama zum Thema wurde jetzt durch richterlichen Beschluss verboten.

Der Film des preisgekrönten Dramatikers Alecky Blythe basiert auf vertraulichen Interviews mit 270 Menschen, die an den Unruhen beteiligt waren, und entstand im Rahmen der Studie "Reading the Riots" des Guardian und der London School of Economics.

Die Dokumentation sollte vergangenen Montag um 21 Uhr auf BBC2 gezeigt werden. Er wurde kurzfristig abgesagt und seine Ausstrahlung auf sämtlichen Medien "bis auf weiteres" gerichtlich verboten. Auch ein kurzer Ausschnitt, der auf der Webseite der BBC zu sehen war, wurde auf Geheiß des Gerichts entfernt. Ein zweiter BBC-Film, der auf Interviews mit Polizeibeamten basiert und am Mittwoch laufen sollte, wurde ebenfalls verboten.

Der Beschluss ist ein beunruhigender Angriff auf demokratische Grundrechte. Er geht sogar noch weiter: Laut dem Guardian ist es aus "rechtlichen Gründen" verboten, "den Richter, der die Entscheidung gefällt hat, das Gericht, an dem er tätig ist, oder den Fall, mit dem er betraut ist, namentlich zu nennen".

BBC erklärte dazu lapidar: "Ein richterlicher Beschluss untersagt BBC, die Sendung 'The Riots: In their own Words' heute Abend zu senden. Wir werden sie zu einem späteren Zeitpunkt senden."

Die Medien reagierten mit fast völligem Stillschweigen auf das Verbot.

Dieser Akt staatlicher Zensur und die Willfährigkeit der Medien entsprechen der offiziellen Reaktion auf die damaligen Unruhen. Sie brachen am 6. August im Nord-Londoner Stadtteil Tottenham aus und breiteten sich in Windeseile von der Hauptstadt auf andere englische Städte aus.

Der Polizeimord an dem 29-jährigen vierfachen Vater Mark Duggan hatte die Unruhen ausgelöst. Sie entzündeten sich an der elementaren gesellschaftlichen Wut tausender junger Menschen gegen die weitverbreitete Armut, Diskriminierung und Polizeibrutalität.

Die Regierung aus Konservativen und Liberaldemokraten, unterstützt von der Labour Party, die Medien, die Minderheitensprecher und viele andere schlossen soziale Ursachen für die Unruhen kategorisch aus. Sie bestanden darauf, dass die Unruhen ausschließlich das Produkt einer kriminellen "Unterschicht" gewesen sei.

Mit solchen Unterstellungen legitimierten sie eine beispiellose staatliche Unterdrückung der Jugend: Tausende wurden verhaftet und von extra geschaffenen Standgerichten im Schnellverfahren abgeurteilt.

Bis heute wurden 1.290 Menschen, hauptsächlich Jugendliche, verhaftet, oft für kleinste Vergehen. Einige wurden zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie auf Facebook die Unruhen begrüßt hatten. Ganzen Familien wurde mit dem Rauswurf aus Sozialwohnungen und dem Verlust von Sozialleistungen gedroht, sollte eins ihrer Mitglieder an den Unruhen beteiligt sein.

Nach den Unruhen lehnte die Regierung eine offizielle Untersuchung der Ursachen ab und setzte stattdessen eine "Kommission der Opfer" ein, deren einziger Zweck es war, härteres Vorgehen der Polizei und "Notfallpläne" gegen "öffentliche Unruhen" anzumahnen.

In dem verbotenen Doku-Drama sprechen Schauspieler Interviews mit Beteiligten nach. Für das Verbot wurden weder stichhaltige Gründe noch Rechtsgrundlagen genannt, also muss man annehmen, dass der Film als zu gefährlich betrachtet wird, weil er die offizielle Darstellung der Ereignisse zunichtemachen könnte.

Reading the Riots - bis heute die einzige umfassende Untersuchung der Hintergründe - bestätigt, dass Polizeigewalt, Armut und soziale Ungerechtigkeit die wichtigsten Auslöser der Unruhen waren. Tausende Menschen, die für die Studie befragt wurden, stammen aus allen Nationalitäten, und die meisten davon sind zwischen sechzehn und vierundzwanzig Jahre alt. Immer wieder nannten sie Duggans Ermordung als Hauptanlass für ihr Handeln.

85 Prozent erklärten, Armut sei ein "wichtiger" oder "sehr wichtiger" Anlass für die Unruhen gewesen.

In dem Bericht heißt es: "Die Teilnehmer an den Unruhen nannten eine Reihe von politischen Problemen, aber der tiefere Grund für ihre Beschwerden war ein unklares Gefühl der Ungerechtigkeit." (...) "Viele nannten wirtschaftliche Gründe: Geldmangel, fehlende Arbeitsplätze und keine Chancen. Für andere waren es allgemein gesellschaftliche Gründe: Die Art, wie sie sich, im Vergleich zu anderen, behandelt fühlen. Viele erwähnten die Erhöhung der Studiengebühren und die Abschaffung der staatlichen Unterstützung für ärmere Studenten durch die Koalitionsregierung."

Nach fast einem Jahr ist noch immer kein Polizist für den Mord an Duggan angeklagt worden. Mittlerweile ist bekannt, dass die Behauptung der Polizei, er habe das Feuer eröffnet und sei aus Notwehr erschossen worden, gelogen war. Bisher gibt es keine Untersuchung zu Duggans Tod.

Letzten Monat kritisierte der Nord-Londoner Untersuchungsrichter Andrew Walker erbost die Independent Police Complaints Commission (IPCC), weil diese sich geweigert hatte, Beweise auszuhändigen, die sie während ihrer fast einjährigen Untersuchung gesammelt hatte. Er drohte der Behörde, sie missachte eine gerichtliche Anweisung, wenn sie das Material nicht bis in 28 Tagen zugänglich mache.

Die Weigerung der IPCC, zu kooperieren, macht jede weitere Untersuchung unmöglich. Duggans Familie fordert die Abschaffung der IPCC. Marks Tante Carole Duggan erklärte: "65 Prozent der IPCC sind ehemalige Polizisten. Wir trauen ihnen nicht: Sie muss abgeschafft und durch eine Organisation ersetzt werden, die aus einfachen Leuten besteht."

Die Socialist Equality Party in Großbritannien lehnt die Polizeistaatsmaßnahmen prinzipiell ab, die während und nach den Unruhen gegen die Arbeiterklasse aufgeboten wurden. Sie erklärt, dass die herrschende Elite, ihre politischen Vertreter und der Staatsapparat die wahren Verantwortlichen für die Unruhen sind. Seit mehr als dreißig Jahren führen sie im Auftrag einer parasitären Schicht von Superreichen einen erbarmungslosen Krieg gegen Errungenschaften und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse, und vor allem gegen die junge Generation.

Als diese Orgie aus Spekulation und Gier in der Wirtschaftskrise von 2008 zum Ausbruch kam, wurden Milliarden an die Banken und die Reichen verteilt, während die breite Masse der Bevölkerung brutalen Sparmaßnahmen unterworfen wurde. Vor dem Hintergrund wachsender sozialer Ungleichheit warnte die SEP, dass die Unterdrückung der Arbeiterklasse und Jugend symptomatisch dafür sei, dass die herrschende Elite gegen die arbeitende Bevölkerung immer stärker auf antidemokratische und autoritäre Maßnahmen zurückgreife.

Ein Jahr später wird diese Warnung eindrücklich bestätigt: Das Verbot des BBC-Films kommt zu einer Zeit, in der London praktisch unter Kriegsrecht steht und vor den Olympischen Spielen in eine militarisierte Zone verwandelt wird. Auf den Dächern von Wohnhäusern sind Flugabwehrraketen installiert, und nicht weniger als 49.000 Mann Sicherheitspersonal bewachen die Spiele. Sie sind bis an die Zähne bewaffnet, in einer Art und Weise, wie man es normalerweise aus Kriegsgebieten kennt.

Die Behauptung, dies sei nötig, um Terroranschläge abzuwehren, ist absurd und wird von Millionen von Menschen auch so eingeschätzt. Diese Maßnahmen deuten eher darauf hin, dass die herrschende Elite in Panik ist und den Kopf verloren hat. Sie weiß, was für eine soziale und wirtschaftliche Katastrophe sie verursacht hat und weiter verursacht, und sie sieht in den Unruhen vom letzten Jahr einen Vorgeschmack auf Kommendes. Was sie vor allen Dingen fürchtet, ist die Entstehung einer gesellschaftlichen Massenbewegung, die sich gegen das kapitalistische Profitsystem richtet.

Am Mittwoch wurde gemeldet, dass der berufsmäßige Graffiti-Künstler Darren Cullen, der auch schon für Adidas gearbeitet hat, von der britischen Transport Police aufgegriffen wurde und sich den Olympia-Austragungsorten nicht näher als bis zu einer Meile nähern darf. Er ist einer von vier Graffiti-Künstlern, gegen die vor den Spielen ein sogenannter "Präventivschlag" geführt wird.

Ihnen wird Verschwörung zu krimineller Sachbeschädigung vorgeworfen. Ihre Möglichkeiten, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen, wurden stark eingeschränkt, und der Besitz von Sprühfarbe und Filzstiften wurde ihnen verboten, obwohl sie überhaupt kein Vergehen begangen haben. Auch Cullens Computer, Telefon und iPad sollen beschlagnahmt worden sein.

*

Bitte senden Sie Ihren Kommentar an: psg[at]gleichheit.de

Copyright 2012 World Socialist Web Site - Alle Rechte vorbehalten

*

Quelle:
World Socialist Web Site, 26.07.2012
BBC-Doku über Unruhen in Großbritannien verboten
http://www.wsws.org/de/2012/jul2012/bbc-j26.shtml
Partei für Soziale Gleichheit,
Sektion der Vierten Internationale (PSG)
Postfach 040 144, 10061 Berlin
Telefon: (030) 30 87 27 86, Telefax: (032) 121 31 85 83
E-Mail: psg[at]gleichheit.de
Internet: www.wsws.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juli 2012