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GLEICHHEIT/4097: Polnische Regierung plant neue Angriffe auf die Arbeiter


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Polnische Regierung plant neue Angriffe auf die Arbeiter

Von Christoph Dreier
1. März 2012


Schätzungen der Europäischen Kommission gehen davon aus, dass die Wirtschaft in Polen 2012 mit 2,5 Prozent so kräftig wächst, wie in keinem anderen Land der EU. Trotzdem steigen Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse rapide an, und die Regierung von Donald Tusk (PO) bereitet neuerliche Angriffe auf die Arbeiter vor.

Das wichtigste Projekt der Regierung ist in dieser Hinsicht die anstehende Rentenreform. Das Renteneinstiegsalter soll von derzeitig 65 Jahren für Männer und 60 Jahren für Frauen auf einheitliche 67 Jahre angehoben werden. Da es in Polen für zahlreiche besonders belastende Berufe zusätzlich einen Anspruch auf Frührente gibt, der mit dem neuen Gesetz ebenfalls wegfallen soll, würde sich die Lebensarbeitszeit für einige Berufsgruppen um über zehn Jahre erhöhen.

Begründet wird dieser massive Angriff mit der Überalterung der polnischen Gesellschaft. Tatsächlich kann angesichts einer Arbeitslosenquote von über zehn Prozent und einer massenhaften Abwanderung junger Arbeitskräfte nach Westeuropa die sinkende Geburtenrate kaum für die finanziellen Probleme der Rentenkassen verantwortlich gemacht werden.

In Wirklichkeit geht es auch nicht um die Erhöhung des Renteneintrittalters, sondern um eine Kürzung der Bezüge. Real haben schon heute Arbeiter über 55 Jahren kaum noch eine Möglichkeit, einen regulären Job zu finden. Schon heute haben nur 36 Prozent dieser Bevölkerungsgruppe in Polen eine Arbeitsstelle.

Die polnische Regierung folgt mit der Einführung der Rente ab 67 den Vorgaben der Europäischen Union. Mit dem "Pakt für mehr Wettbewerbsfähigkeit" hatten sich die Euroländer im Februar letzten Jahres darauf verständigt, die Rente mit 67 flächendeckend einzuführen. Da die polnische Regierung plant, die Kriterien für den Euroraum spätestens bis 2015 zu erfüllen, bereitet sie das Land schon heute auf die Bedingungen vor, zu denen auch die Reduzierung des Haushaltsdefizits gehört.

Anfang des Jahres ist bereits die Gesundheitsreform in Kraft getreten, die massive Verschlechterungen der Gesundheitsversorgung sowie der Arbeitsbedingungen in diesem Bereich zur Folge hat. Kommunen werden mit dem Gesetz dazu gezwungen, Krankenhäuser, die rote Zahlen schreiben, in privatrechtliche Formen zu überführen. Auf diese Weise werden die Kliniken einerseits dem Markt geöffnet und andererseits schlechtere Arbeitsbedingungen ermöglicht. Die Angestellten fallen dann nämlich nicht mehr unter das öffentliche Arbeitsrecht, was niedrigere Löhne sowie Wochenarbeitszeiten auch über 40 Stunden ermöglicht.

Außerdem können sich viele Polen seit der Reform ihre Medikamente nicht mehr leisten, weil die Zuzahlung auf sehr wenige Medikamente beschränkt wurde. Verschreibt der Arzt ein anderes Medikament, muss der Patient alles selbst zahlen oder auf die Arznei verzichten.

Diese Angriffe kommen in einer Situation, in der die polnische Wirtschaft kräftig wächst. Seit dem Jahr 2000 hat sich der Anteil Polens am Weltexport verdoppelt. Allein im vergangenen Jahr stieg der Export gegenüber dem Vorjahr um 10,5 Prozent. Auch wenn ein Großteil der Güter im Gesamtwert von 140 Milliarden Euro keine Fertigprodukte, sondern Zulieferungen für die westeuropäische und insbesondere deutsche Industrie sind, bedeutet die Steigerung doch ein erhebliches Wirtschaftswachstum.

Die polnischen Arbeiter spüren von diesem Aufschwung allerdings gar nichts. Vielmehr steigt die Arbeitslosigkeit im Land an und wächst die Zahl prekär Beschäftigter. Im Januar stieg die offizielle Arbeitslosenrate, die längst nicht alle Arbeitssuchenden erfasst, um 0,7 Prozent auf 13,3 Prozent. 14,2 Prozent leben laut geschönten Eurostat-Berechnungen unter der Armutsgrenze. Diese Zahlen sind auch deshalb bemerkenswert, weil in den letzten Jahren etwa zwei Millionen Arbeiter Polen auf der Suche nach Arbeit verließen und somit aus der Statistik herausfallen.

Welche brutalen Formen die Armut in Polen annimmt, zeigt sich an der monatlichen Statistik der Kältetoten. Allein im Februar dieses Jahres vermeldete die Polizei 72 Fälle erfrorener Menschen, deren Tod durch einfachste Maßnahmen hätte verhindert werden können. Hinzu kamen 23 Opfer mangelhafter Heizinstallationen, die in desaströsen Wohnverhältnissen an einer Kohlenmonoxidvergiftung starben.

Doch dieser schreienden Armut steht in Polen auch entsprechender Reichtum gegenüber. Laut Eurostat lag die soziale Ungleichheit in Polen deutlich über dem EU-Durchschnitt. Der GlobalWealth Bericht der Großbank Credit Suisse weist für das Jahr 2011 in Polen 48.000 Dollar-Millionäre aus. Eine Studie der Deloitte LLP geht davon aus, dass sich diese Zahl im Jahr 2020 auf 126.000 mehr als verdoppelt haben wird.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Angriffe auf die sozialen Rechte der Arbeiter in ganz Europa nicht direkt von der Verschuldung oder Wirtschaftsleistung eines Landes abhängen. Die Arbeiter werden auch dann attackiert, wenn die Wirtschaftsentwicklung positiv ausfällt und der Reichtum der Gesellschaft beachtlich wächst. Die Angriffe sind vielmehr Teil einer europäischen Offensive der herrschenden Elite, die sozialen Errungenschaften der Arbeiter in jedem einzelnen Land zu zerschlagen.

In Polen wird zugleich deutlich, welche zentrale Rolle die EU-Institutionen bei der Zerschlagung der sozialen Errungenschaften spielen. Schon in der Vergangenheit wurden die Abwicklung des Bergbaus und der Landwirtschaft, die Zerschlagung des Gesundheitssystems und vor allem die Privatisierung von Staatsbetrieben von der EU diktiert. Schon in den 90er Jahren verordnete die EU dem Land als Aufnahmebedingung zahlreiche "Strukturreformen", die zu dem beschriebenen Massenelend führten.

Nun geschieht das Gleiche bezüglich des Beitritts zur Eurozone. Während die Rentenreform direkt auf den "Pakt für mehr Wettbewerbsfähigkeit" zurück geht, werden zahllose weitere Kürzungen und Privatisierungen mit den Stabilitätskriterien der Eurozone begründet, laut denen das Haushaltsdefizit drei Prozent des BIP nicht überschreiten darf. Griechenland zeigt dabei, dass sich die Situation der Arbeiter nach dieser Rosskur im Euroraum keinesfalls verbessert.

Wie in Griechenland und anderen europäischen Staaten wächst in Polen der Widerstand. 1,4 Millionen Polen haben sich mit ihrer Unterschrift gegen die Rentenreform der Regierung ausgesprochen. In Umfragen ist die regierende Bürgerplattform binnen eines Monats um fast neun Zähler auf nur noch 28 Prozent gefallen. 77 Prozent der Befragten sind mit der Arbeit der Regierung unzufrieden.

Gegen die Ratifizierung des internationalen ACTA-Abkommens, das gerade in ärmeren Ländern Millionen junge Menschen vom Zugang zu Kultur abschneiden würde, demonstrierten in Polen so viele Menschen wie in keinem anderen Land.

Erst kürzlich haben die Arbeiter der Eisenbahngesellschaften PKP und TK Telekom damit gedroht, während der Fußball-Europameisterschaft zu streiken, sollte die Regierung im Zuge der Privatisierung der Bahn keine Arbeitsplatzgarantie zusichern.

Doch viele dieser Proteste drohen zu scheitern, weil sie von den Gewerkschaften dominiert werden, die eng mit der Regierung zusammenarbeiten und die Kämpfe der Arbeiter in der Vergangenheit systematisch behindert haben. Erst kürzlich stellte das statistische Hauptamt fest, dass es im Jahr 2011 in ganz Polen nur 53 Streiks mit weniger als 19.000 Teilnehmern gegeben habe.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 01.03.2012
Polnische Regierung plant neue Angriffe auf die Arbeiter
http://www.wsws.org/de/2012/mar2012/pole-m01.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2012