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GLEICHHEIT/3486: Bundesverfassungsgericht urteilt nicht zu Abschiebepolitik


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Bundesverfassungsgericht urteilt nicht zu Abschiebepolitik

Von Martin Kreickenbaum
2. Februar 2011


Mitte vergangener Woche hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe beschlossen das Verfahren zu Abschiebungen Asylsuchender nach Griechenland einzustellen. Vorangegangen war ein schamloses Manöver zwischen Verfassungsgericht und Bundesinnenministerium, mit dem verhindert werden sollte, dass das geltende Asylrecht als verfassungswidrig eingestuft wird. Unter allen Umständen sollte der Asylkompromiss aus dem Jahre 1993, mit dem das Recht auf Schutz vor Verfolgung in Deutschland faktisch abgeschafft wurde, unangetastet bleiben.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière kam einem Urteil des Gerichts zuvor, indem er wenige Tage vorher ein Abschiebemoratorium für Asylsuchende erließ, die über Griechenland nach Deutschland eingereist waren. De Maizière kam damit der Anregung der Karlsruher Richter nach, bei einem Abschiebestopp das Verfahren möglicherweise einzustellen.

Geklagt hatte ein irakischer Flüchtling, der über Griechenland nach Deutschland eingereist war und Asyl beantragt hatte. Dessen Asylantrag wurde als offensichtlich unbegründet abgelehnt, da der Iraker sich zuvor in Griechenland aufgehalten hatte, das als "sicherer Drittstaat" eingestuft wird und daher aufgrund der Dublin-II-Verordnung der Europäischen Union für den Asylantrag zuständig sei. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ordnete daher im Juni 2008 die Abschiebung des Flüchtlings nach Griechenland an.

Gegen diesen Abschiebebeschluss legte der Flüchtling Berufung ein und verlangte vor dem Oberverwaltungsgericht Münster die Gewährung eines Rechtsschutzes. Dies lehnte das Gericht ab, woraufhin der Iraker Verfassungsbeschwerde erhob. Infrage stand dabei der Absatz 2 des Grundgesetzartikels 16a, der Mitglieder der Europäischen Union automatisch zu sicheren Drittstaaten erklärt und "aufenthaltsbeendende Maßnahmen" ermöglicht ohne den betroffenen Flüchtlingen das Recht auf Widerspruch einzuräumen.

In Griechenland gibt es jedoch kein funktionierendes Asylsystem. Dort werden faktisch keine Asylverfahren durchgeführt, sondern reihenweise Ablehnungsbescheide erstellt, falls der Flüchtling überhaupt bis zu den zuständigen Behörden durchgedrungen ist. Die Anerkennungsquote liegt seit Jahren im Promillebereich, eine Berufungsinstanz, bei der Asylsuchende Klage gegen ablehnende Asylbescheide einreichen konnten, wurde 2009 abgeschafft. Schutzsuchende sind willkürlichen Inhaftierungen ausgesetzt, werden in völlig überfüllten Lagern mit unzumutbaren hygienischen Zuständen und ohne ausreichende Nahrung gepfercht. Auf freiem Fuß wird Flüchtlingen von staatlichen Stellen jede Hilfe verweigert und sie müssen von erbettelten Almosen und ohne Obdach leben.

Trotzdem pochten die Ausländerbehörden bis vor kurzem darauf, Asylsuchende, die über Griechenland nach Deutschland eingereist waren, umgehend wieder zurückzuschieben. Erst Verwaltungsgerichte stoppten seit 2009 vermehrt diese Massendeportation von Flüchtlingen ins Elend und auch das Bundesverfassungsgericht hat 13 Abschiebungen nach Athen im Eilverfahren verhindert und die Verfassungsbeschwerde des irakischen Flüchtlings zugelassen.

Am 28. Oktober 2010 fand in Karlsruhe die mündliche Verhandlung statt. Hier hatte das Bundesinnenministerium noch darauf beharrt, dass es zwar für Asylsuchende in Griechenland Probleme gäbe, diese aber nicht so schwerwiegend seien, dass es einen Rechtschutz gegen Überstellungen geben müsse. Der zweite Senat des Verfassungsgerichtes unter Vorsitz des Gerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle hatte jedoch eine andere Sichtweise angedeutet und erklärt, dass das Verfahren "grundsätzliche Fragen des Zusammenwirkens der verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Regelungen des Asylverfahrens" aufwerfe.

Damit hatten die Karlsruher Richter hohe Erwartungen geweckt. Doch im jetzt veröffentlichten Einstellungsbeschluss wird die grundsätzliche Bedeutung des Verfahrens einfach verneint. Es heißt dort, "die im vorliegenden Verfahren aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen lediglich abstrakt zu klären, ist nicht angezeigt".

Diese Argumentation ist nur schwer nachvollziehbar. Verfassungsfragen mögen juristisch gesehen vielleicht abstrakt sein, betreffen im Falle des Asylrechts aber konkret das Schicksal von Zehntausenden Flüchtlingen. Und welches Gericht wenn nicht das Bundesverfassungsgericht ist zuständig für die Klärung von abstrakten Rechtsfragen?

Hinzu kommt, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erst wenige Tage zuvor entschieden hat, dass eine Abschiebung nach dem Dublin-II-Abkommen nach Griechenland ohne jegliche Einzelfallprüfung und ohne Möglichkeit Berufung gegen die Abschiebung einzulegen, rechtswidrig sei und gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Das Gericht in Straßburg verurteilte daraufhin Belgien in einem ähnlich gelagerten Fall wie der jetzt von Karlsruhe eingestellte zur Zahlung einer hohen Geldstrafe.

Das Urteil in Straßburg stellt rechtlich gesehen das Dublin-II-Abkommen, das auf der deutschen Asylpraxis basiert, in Frage, und es ist sehr bemerkenswert, dass die Karlsruher Richter den Ball aus Straßburg nicht aufgenommen haben. Denn dann hätten sie das Asylrecht, so wie es jetzt im Grundgesetz steht, für verfassungswidrig erklären müssen. Damit hätten sie einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1996 widersprechen müssen, durch das der faule Asylkompromiss seinen verfassungsrechtlichen Segen erhalten hatte.

Heribert Prantl hat die Konsequenzen der Einstellung in der Süddeutschen Zeitung richtig als endgültige Erledigung des Flüchtlingsschutzes skizziert. Die Richter haben den Flüchtlingsschutz "der deutschen und europäischen Politik überlassen, obwohl die in den vergangenen 15 Jahren gezeigt haben, wie wenig ihnen am Flüchtlingsschutz gelegen ist".

Dass das oberste deutsche Gericht weiterhin Menschenrechtsverletzungen im deutschen Asylrecht duldet ist skandalös. Dass dies geschieht, indem die Richter sich zuvor auf eine Kungelei mit der Regierung einlassen, die sie doch eigentlich kontrollieren sollen, wie Ursula Rüssmann in der Frankfurter Rundschau schreibt, offenbart darüber hinaus den keineswegs unabhängigen Charakter des Bundesverfassungsgerichts.

Schon bei seinem Urteil 1996 zum Asylkompromiss stellten die Richter in Karlsruhe fest, dass der Gesetzgeber sehr wohl dazu befugt sei, Grundrechte einzuschränken. Den Richtern war nämlich bewusst, dass mit der Grundgesetzänderung von 1993 das Asylrecht in Deutschland faktisch abgeschafft und auch die Rechtsschutzgarantie des Artikels 19 des Grundgesetzes eingeschränkt worden war. Damit waren wesentliche Bestandteile der Menschenrechte und rechtsstaatlicher Prinzipien außer Kraft gesetzt worden. Doch das Bundesverfassungsgericht begriff sich damals wie heute als Handlanger und Erfüllungsgehilfe der Politik.

1992 errichte die Hetze gegen Flüchtlinge, die als Scheinasylanten gebrandmarkt wurden, ihren Höhepunkt. Heute werden Migranten und Flüchtlinge unverhohlen als Integrationsverweigerer und Sozialschmarotzer diskriminiert. Anders als vor 15 Jahren werden heute aber auch die griechischen Behörden angegriffen. So behauptete der Parlamentarische Staatssekretär im Innenministerium Ole Schröder (CDU), dass Griechenland Asylbewerber demnächst einfach nach Deutschland schicken werde. Der CDU-Rechtsexperte Günter Krings forderte gar, Griechenland aus dem Schengen-Raum auszuschließen, und unterstrich dies mit der Bemerkung, dass sich "Deutschland nicht erpressen lasse dürfe".

Von daher ist es kein Zufall, dass das Bundesverfassungsgericht den Faden nicht aufgenommen hat, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gesponnen hat. In Zeiten der Wirtschaftskrise zeigt sich immer mehr, dass eine friedliche Einigung Europas unter kapitalistischen Bedingungen unmöglich ist. Die wachsenden Spannungen zwischen den Nationalstaaten verstärken die Fliehkräfte innerhalb der EU. Auch beim Asylrecht ist daher keine Harmonisierung in Europa in Sicht, vielmehr ist der Wettbewerb um den restriktivsten Umgang mit den Flüchtlingen wieder voll entbrannt, seit die EU-Kommission neue Vorschläge auf den Tisch gelegt hat.

Durch die Einstellung des Verfahrens kann die deutsche Regierung bei den anstehenden Verhandlungen in der EU weiter auf ihrer harten Haltung beim Flüchtlingsschutz bestehen. Das oberste deutsche Gericht hat der herrschenden Elite damit einen großen Dienst erwiesen. Als Institution des Staates ist auch das Bundesverfassungsgericht Teil der herrschenden nationalen Klasse und urteilt letztlich immer in deren Interesse.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 02.02.2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Februar 2011