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GEGENWIND/718: Wenn eine Arbeit nicht zum Leben reicht


Gegenwind Nr. 346 - Juli 2017
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

SOZIALES
Wenn eine Arbeit nicht zum Leben reicht

von Günther Stamer


Blickt man in die Medien, so wird der Eindruck erweckt, der "Arbeitsmarkt" ist zur Zeit ein wahres Füllhorn, aus dem die abhängig Beschäftigten nach Lust und Laune einen Arbeitsplatz wählen könnten. Demzufolge nimmt der Beschäftigungs-Boom kein Ende. In den vergangenen Jahren folgte Rekord auf Rekord, die offizielle Arbeitslosenzahl geht immer weiter zurück und die. Zahl der Beschäftigten steigt. So haben heute mehr Menschen in Deutschland einen Job als jemals zuvor. Einer aktuellen Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) zufolge (Kieler Nachrichten 12.6.17) sollen in diesem Jahr in der deutschen Wirtschaft rund 500.000 neue Jobs entstehen.

Mit 130.000 neuen Beschäftigten werden danach in keiner anderen Branche so viele neue Arbeitsverhältnisse geschaffen wie bei den Gesundheitsdienstleistern wie Krankenhäusern und Pflegeheimen. 100.000 neue Stellen sollen im Bereich Handel, Verkehr und Gastgewerbe geschaffen werden.

Was in dieser Analyse des DIHK aber nicht genannt wird, ist der Fakt, wie es um die Qualität der Beschäftigungsverhältnisse bei dieser Job-Prognose bestellt ist. Und da sieht es für die Menschen, die mit diesen Jobs ihr Leben sichern müssen, nicht so rosig aus. Denn gerade in den genannten Boom-Sparten gehen die Vollzeitstellen immer weiter zurück und stattdessen müssen immer mehr Arbeitnehmer*innen in Teilzeit-Jobs und in prekären Beschäftigungsverhältnisse arbeiten.

Prekäre Arbeitsverhältnisse boomen

Prekäre Beschäftigung liegt nach gewerkschaftlicher Definition vor, wenn Arbeitnehmer*innen nur schlecht oder gar nicht von ihrem Einkommen leben können, die Arbeit nicht auf Dauer angelegt ist oder sie unfreiwillig teilzeitbeschäftigt sind. Dazu gezählt werden Leih- und Zeitarbeit, Beschäftigung im Niedriglohnsektor, unfreiwillige Teilzeit, Minijobs oder geförderte Arbeitsgelegenheiten. Auch Selbständige können prekär beschäftigt sein, wenn sie beispielsweise als Scheinselbständige von nur einem Auftraggeber abhängig sind.

Gegenwärtig liegt die Zahl der Vollzeitstellen bereits wieder niedriger als noch zur Jahrtausendwende. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken im Bundestag hervor (shz vom 27.5.17).

So ging die Zahl der Vollzeitbeschäftigten unter den abhängig Beschäftigten um 3,2 Prozent zurück. Ihr Anteil an den sogenannten Kernerwerbstätigen (zwischen 15 und 64 Jahre alt und nicht in Ausbildung oder Wehr- oder Freiwilligendienst) ging von 66 Prozent auf 59,3 Prozent zurück. Der Anteil der Teilzeit am gesamten Arbeitsvolumen ist bundesweit von 13,4 Prozent auf 21,7 Prozent gestiegen. Das heißt also, dass für jeden fünften Arbeitsplatz kein "Normal-Beschäftigungsverhältnis" mehr gegeben ist. Mit einem Anstieg von 1,6 auf drei Millionen hat sich die Zahl der teilzeitbeschäftigten Frauen, die mehr als 20 Wochenstunden arbeiten, in den vergangenen Jahren fast verdoppelt. Auch bei den Frauen mit einer Teilzeitbeschäftigung, in der weniger als 20 Stunden pro Woche gearbeitet wird, ist deutlich gestiegen.

Und für rund fünf Millionen Arbeitnehmer*innen ist der Minijob die einzige Erwerbsquelle. 60 Prozent der Minijobber sind Frauen. Dabei geht es ihnen meist gar nicht nur darum, ein paar Euro dazu zu verdienen, sondern es ist für sie eine existenzielle, den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder sichernde Einnahmequelle. Bei den meisten heißt sie soziale Kehrseite eines Minijobs: Entgeltfortzahlung bei Krankheit oder im Urlaub - Fehlanzeige!

Prekäre Beschäftigung in Schleswig-Holstein

Die Entwicklung der prekären Beschäftigung in Schleswig-Holstein verläuft ähnlich. So gab es nach den Zahlen der Bundesregierung 2015 rund 10.000 Vollzeitbeschäftigte in Schleswig-Holstein weniger als noch 15 Jahre zuvor. In derselben Zeit stieg die Zahl der Teilzeitbeschäftigten im Land, die mehr als 20 Stunden arbeiten, um 58.000. Gab es zur Jahrtausendwende noch 71.000 Menschen, die in Teilzeit beschäftigt waren, so galt dies zuletzt für mehr als 129.000. Frank Hornschu, DGB-Vorsitzender der Region Kiel auf der 1. Mai-Kundgebung: "Allein in Kiel arbeiten von rund 125.000 Beschäftigten mehr als 70.000 atypisch. Sie sind entweder befristet, in Leih- und Zeitarbeit oder in Werkverträgen, sie arbeiten als Schein-Selbstständige oder unfreiwillig in Teilzeit oder in Minijobs, und das als Hauptverdienstquelle."

Gastronomiegewerbe: Jeder siebte Betrieb in Schleswig-Holstein ohne Mindestlohn

So konnte man im Flensburger Tageblatt (29.5.17) lesen, wie prekär die Beschäftigungssituation beispielsweise im Gastronomiegewerbe ist. Danach haben die für Schleswig-Holstein zuständigen Hauptzollämter Itzehoe und Kiel im vergangenen Jahr lediglich 307 Betriebe der Gastronomie, d.h. fünf Prozent, daraufhin kontrolliert, ob dort der Mindestlohn gezahlt und die Sozialabgaben regelkonform abgeführt wurden. Bei 13 Prozent der unter die Lupe genommenen Betriebe wurde dabei Ermittlungsverfahren wegen Schwarzarbeit, Lohn-Prellerei und Sozialversicherungsbetrug eingeleitet.

"Alarmierend" nennt der Geschäftsführer der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) in der Region Schleswig-Holstein-Nord, Finn Petersen, diese Zahlen. "Von der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns Anfang 2015 sollten die Beschäftigten im Gastgewerbe besonders profitieren. Aber viele Kellner, Köche und Co gehen offenbar leer aus." Petersen ruft "dringend" nach mehr Kontrollen: "Die Politik hat den Mindestlohn vorgeschrieben. Jetzt muss sie endlich dafür sorgen, dass er überall eingehalten wird." Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, der Mindestlohn von derzeit 8,84 Euro pro Stunde gelte nur auf dem Papier."

Bundesweit sank die Zahl der Zoll- Kontrollen im Gastgewerbe nach Angaben des Bundesfinanzministeriums allein im letzten Jahr um 17 Prozent. Die NGG zweifelt dabei an einem "ernsthaften Interesse des Ministeriums, künftig mehr zu kontrollieren". Stattdessen habe sich Wolfgang Schäuble zuletzt für eine Lockerung des Arbeitszeitgesetzes und tägliche Arbeitszeiten von bis zu 13 Stunden im Gastgewerbe ausgesprochen.

Wie man sich ein "Jobwunder" in Schleswig-Holstein zurecht rechnet

Cornelia Möhring, schleswig-holsteinische Bundestagsabgeordnete der LINKEN weist in einer Presseerklärung nach, wie Arbeitslosenzahlen schön gerechnet werden. So werden Arbeitslose, die krank sind, einen Ein-Euro-Job haben oder an Weiterbildungen teilnehmen, bereits seit längerem nicht als arbeitslos gezählt. Viele der Arbeitslosen, die älter als 58 sind, erscheinen nicht in der offiziellen Statistik. Im Juli 2009 kam eine weitere Ausnahme hinzu: Wenn private Arbeitsvermittler tätig werden, zählt der von ihnen betreute Arbeitslose nicht mehr als arbeitslos, obwohl er keine Arbeit hat.

Nach ihren Berechnungen waren im Mai 2017 demnach tatsächlich 126.000 Menschen in Schleswig-Holstein erwerbslos (siehe Grafik).

Offizielle Arbeitslosigkeit im Mai 2017 = 89.899
Tatsächliche* Arbeitslosigkeit im Mai 2017 = 125.838

* Nicht berücksichtigt wurden:

Älter als 58, beziehen ALG I und/oder ALG II
Ein-Euro-Jobs
geförderte Arbeitsverhältnisse
fremd geförderte Arbeitsverhältnisse
Bundesprogramm Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt
berufliche Weiterbildung
Aktivierung und berufliche Eingliederung
Beschäftigungszuschuss für schwer Vermittelbare
Krankheit (Paragraph 126 SGB III)
Nicht gezählte Arbeitslose gesamt
4.832
2.825
93
9.435
340
5.463
10.520
76
2.355
35.939

Quellen: Bundesagentur für Arbeit: Arbeits- und Ausbildungsmarkt. Monatsbericht 05/2017

*

Quelle:
Gegenwind Nr. 346 - Juli 2017, Seite 56 - 57
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. August 2017

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