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GEGENWIND/712: "Kein Kind soll mittags hungern"


Gegenwind Nr. 345 - Juni 2017
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

Soziales
"Kein Kind soll mittags hungern"

von Günther Stamer


"Das Plakat ist eine Provokation und ein Ärgernis. In Deutschland hungert kein Kind, muss kein Kind mittags hungern", empört sich Ute L. in einem Leserbrief in den Kieler Nachrichten (25.4.17) über ein Wahlplakat der Partei "Die Linke" im Vorfeld der Landtagswahl, auf dem eben diese Aussage zu lesen steht.


So wie diese Leserin ignorieren viele politische und gesellschaftliche Akteure nach wie vor gern offenkundige oder versteckte Kinderarmut in unserem Land. Dabei zeigen zwei jüngst veröffentlichte wissenschaftliche Studien, dass "Kinderarmut" ein zunehmend größer werdendes und sich verfestigendes Problem in unserer Gesellschaft ist.

So hat zum einen Michael Klundt, Professor für Kinderpolitik an der Hochschule Magdeburg-Stendal, in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) eine Studie verfasst, die aufzeigt, dass es nicht reicht, nur absolute Armut als Problem zu begreifen. Auch die relative, also im Vergleich zur entsprechenden Vergleichsgruppe vorhandene Armut, grenze Kinder schon früh gesellschaftlich aus und beeinträchtige deren Lebensperspektive gravierend [1].

Klundt stellte diese Studie Anfang Mai in Berlin bei einem Treffen des Netzwerks Kinderarmut vor, in dem sich Wissenschaftler und Sozialverbände zusammengeschlossen haben. Diese Studie widerspricht damit auch die zum Teil verharmlosenden Aussagen zur Kinderarmut im jüngst von der Bundesregierung veröffentlichten Armuts- und Reichtumsbericht [2].


Armutsbericht der Bundesregierung verharmlost die Kinderarmut

Die schwarz-rote Bundesregierung erhebt mit dem Armuts- und Reichtumsbericht den Anspruch, die soziale Lage in Deutschland unverfälscht und umfassend darzustellen. Und in der Tat liefert der Bericht viele Daten und greift auch Ansätze der modernen Armutsforschung auf - dennoch stellt er das Ausmaß der Kinderarmut eher "weichgezeichnet" dar. So ist die Zahl der Kinder, die in Hartz IV-Haushalten aufwachsen in den vergangenen Jahren auf über zwei Millionen gestiegen. In Schleswig-Holstein lebt mittlerweile jedes siebte Kind in einem derartigen Haushalt. Wie aus Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) hervorgeht, leben im "echten Norden" über 55.000 Personen unter 15 Jahren von staatlichen Hilfsleistungen. (siehe Gegenwind 335 - August 2016).

Auf 75 Seiten wird in dem Armutsbericht der Bundesregierung die existierende Kinderarmut an verschiedenen Dimensionen durchdekliniert, in denen sie den Alltag prägen. Danach haben arme Kinder nicht nur weniger Geld, sondern sie

  • weisen auch deutlich häufiger psychische Auffälligkeiten auf,
  • sind deutlich häufiger übergewichtig oder gar fettleibig,
  • treiben weniger Sport und sind seltener in Sportvereinen,
  • erfahren häufiger Gewalt und
  • wohnen häufiger in schmutziger, lauter und gefährlicher Umgebung

als ihre besser gestellten Altersgenossen.

Der renommierte Armutsforscher Christoph Butterwegge kritisiert an dem Bericht, dass es darin z.B. heißt: "Nur wenige Kinder in Deutschland leiden unter erheblichen materiellen Entbehrungen." Sind es wirklich "nur wenige Kinder"? Laut dem Bericht betrifft diese absolute Armut 4,7 Prozent der unter 18-Jährigen. Konkret geht es also um mehr als 600.000 Kinder in absoluter Armut. Eine Folge davon ist beispielsweise, dass geschätzt rund 500.000 Kinder in Deutschland sich mit Nahrung von den "Tafeln" versorgen müssen.

Und noch weit mehr Kinder sind relativ arm: Bis zu 2,7 Millionen leben in Haushalten mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens - auch ihr Anteil ist in den vergangenen Jahren gestiegen.

Was der Armutsbericht allerdings nicht thematisiert: Diese wachsende Kluft ist eine zwangsläufige Folge des Hartz-IV-Systems. Während die Gesamtzahl der Hartz-IV-Empfänger in den vergangenen Jahren leicht abgenommen hat, nimmt die Zahl der unter 18-Jährigen in Hartz IV sogar leicht zu. Und für die meisten betroffenen Kinder ist Hartz IV leider ein Dauerzustand: 49 Prozent der 7- bis 15-Jährigen leben seit vier oder mehr Jahren davon.

Das Bildungs- und Teilhabepaket für Kinder funktioniert nicht

Unter dem Druck eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts führte die Bundesregierung 2011 das sog. Bildungs- und Teilhabepaket für Kinder ein: Auf Antrag können Hartz-IV-Kinder Zuschüsse für Mittagessen, Sportverein, Musikschule, Klassenfahrten oder bei akuter Gefahr des Sitzenbleibens Nachhilfe erhalten. Insgesamt summieren sich die Zuschüsse auf höchstens 250 Euro im Jahr. Laut Armuts- und Reichtumsbericht ist das Problem damit gelöst: "Durch das Bildungs- und Teilhabepaket wird das spezifische soziokulturell Existenzminimum von hilfebedürftigen Kindern (...) gesichert", heißt es darin.

Aber wie sieht die Realität aus? Auch sechs Jahre nach Einführung dieses Bildungspakets werden viele Leistungen kaum genutzt, weil die Beantragung zu kompliziert oder die Zuschüsse zu niedrig sind. Ausgerechnet die Leistungen zur gesellschaftlichen Teilhabe aber - Sportverein, Musikunterricht, Museumsbesuche - sowie die Nachhilfe erreichen extrem wenig betroffene Kinder.

Zudem wurden die Leistungen seit 2011 nicht erhöht, obwohl sie schon damals zum Teil offenkundig unzureichend waren.

Unter dem Punkt "Was weiter zu tun ist" hat sich die Bundesregierung hier nur einen einzigen Punkt für Verbesserungen vorgenommen: Das Bildungspaket solle auf bürokratische Hürden überprüft und bekannter gemacht werden.

Wie kann Familien und Kindern wirklich wirkungsvoll geholfen werden?

Nach der eingangs erwähnten Studie von Prof. Klundt profitiert das reichste Zehntel der Gesellschaft deutlich mehr von familienpolitischen Fördermaßnahmen als das ärmste. Wie kann erfolgreich gegengesteuert werden?

In seiner Studie heißt es: "Im Feld der Familienpolitik lassen sich zwar der Kinderzuschlag und der Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen als wichtige Maßnahmen gegen Kinderarmut darstellen. Doch diese Maßnahmen erweisen sich immer wieder nur als Trostpflästerchen für die Verschärfung polarisierter Lebenslagen."

Nach seiner Auffassung müsste der Hartz IV-Regelsatz bedarfsorientiert angehoben werden zu einer armuts- und sanktionsfreien Grundsicherung, während Kinder eine Kindergrundsicherung erhalten sollten. Ferner müsste im Bildungsbereich eine inklusive Ganztagsschule für alle Kinder entwickelt und der gebührenfreie Ganztags-Rechtsanspruch auf Kita-Betreuung für Unter-Dreijährige und mit beitragsfreiem Mittagessen realisiert werden. Zu deren Finanzierung und zur Reduktion der Spaltungsprozesse in der Gesellschaft zwischen Arm und Reich sollte an eine Vermögenssteuer, eine gerechte Erbschaftssteuer, eine Finanzmarktsteuer und einen angehobenen Spitzensteuersatz gedacht werden.

"Wer zwischen absoluter und relativer Armut differenziert und das Problem materieller Unterversorgung nicht auf eine Schicksalsfrage im Überlebenskampf reduziert, hat die Alltagserfahrung der Menschen auf seiner Seite, dass soziale Ächtung schlimmer sein kann als körperliches Unbehagen: Wenn ein Kind, das im tiefsten Winter mit Sommerkleidung und Sandalen zur Schule kommt, von seinen Klassenkameraden ausgelacht wird, so leidet es darunter wahrscheinlich mehr als unter der Kälte. Trotzdem existiert Armut für manche Menschen nur dort, wo Menschen total verelenden", formuliert Christoph Butterwegge - und damit wären wir wieder bei dem Leserbrief der Kieler Bürgerin. "Das Plakat ist eine Provokation und ein Ärgernis."


Anmerkungen:
[1] www.rosalux.de/publikation/id/14836/kinderarmut-und-reichtum-in-deutschland
[2] www.armuts-und-reichtumsbericht.de/Shared-Docs/Downloads/Berichte/5-arb

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Quelle:
Gegenwind Nr. 345 - Juni 2017, Seite 21 - 22
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juli 2017

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