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GEGENWIND/700: Ausführliche Reportagen aus Rojava - Buchvorstellung


Gegenwind Nr. 342 - März 2017
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

Buchvorstellung
Ausführliche Reportagen aus Rojava

von Reinhard Pohl


Was gegenwärtig in Rojava, in Westkurdistan im Norden Syriens passiert, bekommen wenig Menschen mit. Der Fokus liegt auf dem Kampf der Diktatur um den Machterhalt, lange rund um Aleppo ausgetragen, danach in Damaskus und später in Idlib. Und auf der Bekämpfung des "Islamischen Staates", ohne große Erfolge durch die Ex-Verbündeten Erdogan und Assad, sehr viel erfolgreicher durch die Kurdinnen und Kurden und die YPG.


Innerhalb Rojavas versuchen die Kurden und die anderen Teile der Bevölkerung allerdings, eine neue Ordnung zu schaffen. Ob und wie das gelingt, kann noch niemand sagen. Mitten im Krieg hütet sich die Regierung der drei Kantone, mögliche Probleme öffentlich zu thematisieren, denn der Feind hört mit. Die anderen Kriegsparteien, also der "Islamische Staat", die Assad-Regierung, die FSA, die Nusra-Front sowie die ausländische Beteiligten, vor allem Russland, die USA und die Türkei kommentieren das nicht, weil sie teils die kurdische Selbstorganisation bekämpfen, teils zur Zeit für ihre Pläne brauchen - und deshalb nicht sagen wollen, wie sie sich später dazu stellen.

Die Autorin und die Autoren des Buches fassen hier Reportagen aus mehreren Jahren zusammen. Diese sind nicht ganz aktuell, das Buch endet auf dem Höhepunkt der Kämpfe in Kobane. So stimmt die Beschreibung der basisdemokratischen Ordnung heute auch nicht mehr ganz, die kurdische Regierung hat einiges in Richtung der Angleichung an etablierte Verhältnisse verändert, auch um im Lande lebende andere Bevölkerungsgruppe einzubinden und sich auf mögliche Kompromisse mit der Assad-Diktatur in Position zu bringen.

Die AutroInnen beschreiben zunächst die Verhältnisse in dem Gebiet, die Geografie und Geschichte des Landes, ebenso die Bevölkerung. Hier leben nicht nur KurdInnen, sondern auch ArmenierInnen und Suryoye sowie immer mehr AraberInnen, teils von der Diktatur als "arabischer Gürtel" entlang der Grenze zur Türkei bewusst angesiedelt, in den letzten Jahren vor allem als Flüchtlinge hierher gelangt. Außerdem beschreiben sie, wie die syrische Diktatur die Wirtschaft so organisiert hat, dass jedes Landesteil auf andere angewiesen ist. So gab es in Kurdistan immer einen sehr ausgedehnten Getreideanbau, aber keine großen Getreidemühlen zur Herstellung von Mehl. Ähnlich waren andere Bereiche geordnet.

Die kurdischen Verantwortlichen haben noch während der offiziellen Herrschaft der Diktatur Basisorganisationen gegründet, eine Rätedemokratie etabliert. Heute ist die syrische Armee fast völlig abgezogen, dabei folgen die AutorInnen der Darstellung der FKK, die das dem kurdischen Widerstand zuschreibt.

Die AutorInnen beschreiben in der Folge die Organisation der Frauen, aber auch die Organisation der verschiedenen Berufsgruppe und beschreiben auch, inwieweit diese Basisstrukturen ein Modell für den gesamten Nahen Osten werden können. Es ist ein unvereinbares Gegenmodell zur Herrschaft von Assad, zur Herrschaft des "Islamischen Staates", aber auch zur Herrschaft von Erdogan oder Barsani. Wie weit es wirklich demokratisch ist, wie weit wirklich die Basisorganisationen die letzte Entscheidung haben (und nicht die militärische Führung der YPG), sprechen die AutorInnen kaum an. Sie glauben der Führung, dass es nicht so ist, sondern die Basis regiert, und können auch nichts anderes feststellen. Außerdem ist das Land natürlich stark im Wandel, verändert sich von Monat zu Monat, so dass sich der Ausgang des Experiments nicht voraussagen lässt.

Die Führung Südkurdistans (Irak), vor allem die PDK von Barsani wird von den AutorInnen glatt abgelehnt, immer in die Nähe von "Verrätern" gerückt. Das ist nachvollziehbar, macht doch Kurdistan das Embargo der türkischen Regierung weitgehend mit. Auf die PUK oder Talibani gehen sie nicht ein. Die Realität ist sicherlich komplizierter, der Anspruch der AutorInnen wird aber voll erfüllt: Sie wollen einen intensiven Blick in das Innere Rojavas anbieten, und das tun sie auch. Und bei allen Schwächen, die zwischen Theorie und Realität möglicherweise bestehen: Das System in Rojava ist das Beste, was der Bevölkerung in den letzten mehreren Hundert Jahren passiert ist, und ein Experiment, das weit über die Grenzen des Gebietes ausstrahlen könnte. Könnte vor allem, wenn die Regierungen Russlands, der USA, der Türkei und des Irak die Bevölkerung Rojavas machen lassen. Ob sie das tun, steht allerdings noch nicht fest. Vorgestellt wird hier die 2. Auflage, inzwischen ist die 3. Auflage fertig.


Anja Flach, Ercan Ayboga, Michael Knapp:
Revolution in Rojava. Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo.
VSA-Verlag (und "Tatort Kurdistan"), Hamburg 2015, 350 Seiten, 19,80 Euro

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Quelle:
Gegenwind Nr. 342 - März 2017, Seite 85
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. April 2017

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