Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

GEGENWIND/618: "Jeder Mensch hat ein Recht auf Hoffnung"


Gegenwind Nr. 315 - Dezember 2014
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

Soziales
"Jeder Mensch hat ein Recht auf Hoffnung"

Von Günther Stamer



Kurz vor Inkrafttreten des ohnehin löchrigen Mindestlohngesetzes zum 1.1.2015 wird noch einmal kräftig der angeblich drohende wirtschaftliche Niedergang des Standortes Deutschland beschworen. In den "Kieler Nachrichten" zum Beispiel wird das ganzseitig am Beispiel des Kieler Taxengewerbes vorgeführt. "Viele befürchten, dass mehr und mehr Kollegen entlassen und Wagen abgemeldet werden. Ein Kieler Unternehmer hat bereits aufgegeben." (KN 13.11.14). Und in dem Jahresgutachten des Sachverständigenrates der sog. "Wirtschaftsweisen" vom 12. November heißt es, dass die Regierung "mehr Vertrauen in Marktprozesse zeigen" solle, "statt zunehmend Marktergebnisse festlegen zu wollen." Auch hier wird heftige Kritik an der Einführung des flächendeckenden Mindestlohns geübt. Der deutsche Arbeitsmarkt sei dadurch im Hinblick auf künftige Krisen nicht mehr anpassungsfähig genug.


Ebenfalls in der Kritik steht die Rentenpolitik der Bundesregierung. Aufgrund der alternden Bevölkerung müsse das Renteneintrittsalter nicht gesenkt, sondern vielmehr der "steigenden Lebenserwartung angepasst" werden.

Dabei werden die Lebensverhältnisse des großen Teils der Bevölkerung unseres Landes in den herrschenden Medien zu einem großen Teil ausgeblendet. So ist es schon die große Ausnahme, wenn z.B. das Flensburger Tageblatts (30.9.14) darüber berichtet, dass Teilzeitarbeit, Minijobs und Leiharbeit für immer mehr Menschen in Schleswig-Holstein die Regel sind. Fast jeder zweite Job im Land ist kein reguläres Beschäftigungsverhältnis mehr. Nach Zahlen der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung lag der Anteil der sogenannten atypischen Beschäftigung an den rund 1,15 Millionen abhängig Beschäftigten im Norden im vergangenen Jahr bei 47,3 Prozent - und damit höher als im Bundesschnitt (43,3 Prozent). In manchen Regionen wie zum Beispiel Flensburg oder im Kreis Ostholstein machen Teilzeit, Minijob und Leiharbeit mit 50,8 beziehungsweise 54,8 Prozent sogar mehr als die Hälfte aller Beschäftigungsverhältnisse aus. Waren 2005 noch 14,7 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse Teilzeitstellen, waren es vergangenes Jahr bereits 21,7 Prozent. Der Deutsche Gewerkschaftsbund Nord forderte angesichts der Zahlen, diese Entwicklung am Arbeitsmarkt zu stoppen. "Der Norden braucht eine neue Ordnung der Arbeit", so der Vorsitzende Uwe Polkaehn. "Mit Minijobs und anderen atypischen Beschäftigungen erreiche niemand eine Rente, die im Alter zum Leben reicht."

Michael Thomas Fröhlich, Hauptgeschäftsführer des Unternehmensverbands Nord (UVNord) verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass der Anteil sozialversicherungspflichtiger Jobs im Land selten so hoch gewesen sei wie derzeit. Viele der von der Gewerkschaft kritisierten Beschäftigungsverhältnisse seien zudem eine Chance gerade für gering und schwächer Qualifizierte, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Viele Arbeitsmarktexperten befürchten indes, dass genau dies ab nächstem Jahr schwerer werden dürfte - angeblich durch die Einführung des Mindestlohns. "Wir befürchten, dass im schlimmsten Fall 10.000 bis 15.000 Jobs bis Mitte 2015 verloren gehen", warnt auch Fröhlich. Der vom Bundestag beschlossene gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde soll ab Januar 2015 gelten und schätzungsweise vier Millionen Beschäftigten im Niedriglohnbereich zugute kommen. Doch die effektive Umsetzung könnte an fehlender Kontrolle scheitern. Nach Medienberichten sollen die geplanten zusätzlichen 1600 Stellen bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS), die das für die Kontrolle zuständige Bundesfinanzministerium anvisiert, erst im Jahr 2019 vollständig besetzt seien.

Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) sagte beim "Tag der Jobcenter" Mitte September in Berlin den schönen Satz "Jeder Mensch hat ein Recht auf Hoffnung." Anfang November ließ sie ihren Worten "Taten" folgen. Mit ihrem im Parlament vorgestellten "Konzept zum Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit" sollen sich demnächst ein paar zehntausend Menschen mehr in Zuversicht üben können, irgendwann einmal vielleicht in Lohn und Brot zu landen. Als langzeiterwerbslos gilt, wer ein Jahr und länger keinen Job hat. Das trifft in der Bundesrepublik auf mehr als eine Million Menschen zu. Unter den Industriestaaten liegt Deutschland damit zehn Prozent über dem Durchschnitt. Für die allermeisten Betroffenen bleibt dies allerdings ein schöner Traum. Die Ministerin hat lediglich zwei konkrete Projekte in Aussicht gestellt, die in ihrer Reichweite stark begrenzt sind. So soll ab Juli 2015 rund 100.000 Langzeitarbeitslosen durch staatlich finanzierte Lohnzuschüsse von bis zu 100 Prozent zu einem Job verholfen werden. Dafür will man im kommenden Jahr 75 Millionen Euro und danach jährlich 150 Millionen Euro bereitstellen. Zum Zug kommen sollen insbesondere gesundheitlich beeinträchtigte Personen sowie Mütter und Väter, die in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften leben. Bis zu 33.000 Erwerbslose sollen durch Lohnzulagen von maximal 75 Prozent und gezielte Beratung in den ersten Arbeitsmarkt befördert werden. Dazu soll ihnen ein Coach zur Seite gestellt werden, der sie ein halbes Jahr lang im Betrieb betreut. Die Kosten - insgesamt 885 Millionen Euro in fünf Jahren - sollen aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) und dem Hartz-IV-Eingliederungsbudget finanziert werden.

Aus Sicht von Kritikern greifen diese Maßnahmen aber viel zu kurz. "Tief enttäuscht" äußerte sich der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider. Die angekündigten Instrumente seien "bestenfalls ein sozialdemokratisches Trostpflästerchen" angesichts des Umstandes, dass die "Beschäftigungsmaßnahmen in den vergangenen drei Jahren tatsächlich mehr als halbiert worden" seien. Für ein "echtes Hilfsprogramm" braucht es laut Schneider zusätzlich drei Milliarden Euro.

Ein weiteres Schlaglicht über die soziale Realität: So ist die Zahl der Älteren, die von Sozialhilfe leben müssen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 2013 um 7,4 Prozent gestiegen. Ende des Jahres 2013 haben demnach rund 499.000 Personen ab 65 Jahren Leistungen der Grundsicherung bezogen. Untersuchungen der DRV Bund, aber auch aktuelle Zahlen der DRV Nord belegen, dass sich Altersarmut nicht über die Rentenversicherung verhindern lässt. Der Grundstein hierfür wird bereits im Erwerbsleben gelegt. Geringe Löhne und lange Ausfallzeiten z.B. aufgrund von Kindererziehung, Pflege von Angehörigen aber auch wegen Arbeitslosigkeit oder Erwerbsminderung verringern zwangsläufig die Rentenleistungen im Alter.

Die durchschnittlichen Renten von Frauen liegen derzeit bei rund 530 Euro, die der Männer bei ca. 1.060 Euro. Und auch ein lebenslanger Verdienst (45 Jahre) auf der Basis des Mindestlohns würde lediglich zu einer Altersrente von 643 Euro monatlich und damit in die Sozialhilfebedürftigkeit führen.

"Wir brauchen bundesweit einen staatlich geförderten sozialen Arbeitsmarkt, der gezielt Arbeit statt Langzeitarbeitslosigkeit finanziert. Wir brauchen eine Offensive gegen prekäre Beschäftigung, zuallererst die Abschaffung der Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen. Drittens muss Hartz IV durch eine armutsfeste Grundsicherung ohne Sanktionen ersetzt werden. Dafür müssen Milliarden, und nicht nur ein paar Millionen umverteilt werden. Dafür braucht es eine Gerechtigkeitswende bei den Steuern", so Bernd Riexinger, Vorsitzende der LINKEN.

*

Quelle:
Gegenwind Nr. 315 - Dezember 2014, Seite 18 - 19
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
Schweffelstr. 6, 24118 Kiel
Redaktion: Tel.: 0431/56 58 99, Fax: 0431/570 98 82
E-Mail: redaktion@gegenwind.info
Internet: www.gegenwind.info
 
Der "Gegenwind" erscheint zwölfmal jährlich.
Einzelheft: 3,00 Euro, Jahres-Abo: 33,00 Euro.
Solidaritätsabonnement: 46,20 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Januar 2015