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GEGENWIND/469: 25 Jahre Tschernobyl - Stunde Null für Fukushima


Gegenwind Nr. 271 - April 2011
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

25 Jahre Tschernobyl - Stunde Null für Fukushima

Von Eka von Kalben


Mitte März habe ich mich auf einen Gegenwind-Artikel zum 25jährigen Atomunfall in Tschernobyl vorbereitet. Schon das war ein trauriger Anlass und ich wollte meine Wut über die Laufzeitenverlängerungen zum Ausdruck bringen. Ich wollte darüber schreiben, dass selbst der GAU von Tschernobyl nicht zu einem Umdenken geführt hat und auch heute noch das sogenannte "Restrisiko" in Kauf genommen wird.


Nun ist alles anders. Japan befindet sich in der Katastrophe. Deutschland steht Kopf. Europa diskutiert eine neue Energiepolitik. In Deutschland wird die atomare Reißleine gezogen. Die Ereignisse überstürzen sich und ich weiss nicht, was morgen noch aktuell ist.

Doch gerade die Einmaligkeit der Katastrophen verlangen auch einen Rückblick auf die Katastrophe im April 1986, ohne dabei zu vergessen, dass wir nun - fast genau 25 Jahre nach Tschernobyl - eine erneute Atomkatastrophe in Fukushima erleben.


Was passierte 1986?

In der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 wurde am Block 4 des Kernkraftwerkes in Tschernobyl ein Test zur Überprüfung der Folgen eines Stromausfalles durchgeführt. Eine Kette von Fehlentscheidungen der handelnden Personen und Schwächen im System haben dann am 26. April 1986 um 1 Uhr zum größten anzunehmenden Unfall, zum GAU geführt. Die Brennstäbe überhitzten, der Druck im Reaktor stieg und größere Kernbereiche wurden dadurch zerstört. In der Folge brannten Teile der Anlage, darunter auch das Reaktorgebäude.

In den nächsten 10 Tagen wurde tonnenweise hochradioaktives Material freigesetzt und je nach Windrichtung über die gesamte nördliche Halbkugel gestreut. Relativ hohe Konzentrationen wurden damals zum Beispiel auch im japanischen Hiroshima, das über 8000 km von Tschernobyl entfernt liegt, gemessen. Durch den Brand des Graphits wurde die Radioaktivität auch in die Atmosphäre getragen und anschließend durch Regen relativ gleichmäßig nördlich des Äquators verteilt.

Viele Menschen, man spricht von 800.000 wurden eingesetzt, um den Brand zu bekämpfen. Diese sogenannten Liquidatoren, oft junge Wehrdienstleistende schütteten anschließend den Block zu, installierten eine Kühlanlage und zogen eine kühlbare Betonplatte ins Fundament ein, um das Durchschmelzen in den Untergrund zu verhindern und schließlich einen Betonsarg für die verseuchte Ruine zu bauen.


Was bleibt davon heute?

Noch heute leiden Menschen an den Folgen. Die eingesetzten Arbeiter in Tschernobyl sind zum großen Teil verstorben oder leiden an schweren Krankheiten. Genaue Zahlen zu bekommen fällt schwer. Außer den ca. 250 Menschen, die unmittelbar durch Strahlung ums Leben kamen, sind die langfristigen Schäden und auch die psychischen Auswirkungen noch lange nicht ausreichend erforscht. Das liegt zum einen an der schwierigen direkten Zuordnung von Folgeschäden und der - bezogen auf die Langfristigkeit der radioaktiven Prozesse - immer noch kurzen Zeitspanne seit der Freisetzung der Strahlung. Zum anderen aber an der möglicherweise auch politisch nicht gewollten Transparenz der Folgen einer Atomkatastrophe.

Bis 2005 wurden bei etwa 4.000 Kindern und Jugendlichen in Weißrussland, Russland und der Ukraine Schilddrüsenkrebs diagnostiziert. Diese Anzahl liegt weit über dem Durchschnittswert dieser Erkrankung. Der sogenannte TORCH-Bericht kommt zu dem Schluss, dass mit etwa 30-60.000 zusätzlichen Todesfällen durch Krebs zu rechnen ist. Schon heute ist in den am schwersten belasteten Regionen eine Zunahme bei verschiedenen Krebserkrankungen von durchschnittlich 40% festzustellen.

Etwa 40% der Fläche Europas wurden kontaminiert, wobei es Russland, Weißrussland und die Ukraine in besonderer Weise traf. Noch heute lassen sich vielerorts Restbestände aus der Tschernobylwolke im Boden finden.

In der Folge bleiben auch noch heute einige Lebensmittel so stark belastet, dass ihr Verzehr gesundheitsschädigend sein kann. Das gilt nicht nur für Produkte aus der Ukraine, Russland oder Weißrussland. Selbst in Großbritannien sind noch 374 Bauernhöfe von Einschränkungen betroffen. Auch in Deutschland können insbesondere Wildprodukte, Pilze, Beeren und Fische Cäsiumwerte erreichen, die weit über den Durchschnittswerten liegen.

Und dies wird noch über viele Jahr so bleiben.


Die Macht der Bilder

Was unterscheidet die heutige Situation von 1986? Natürlich gibt es Unterschiede technischer Art zwischen den Ereignissen in Tschernobyl und in Fukushima. Und auch die Auswirkungen der beiden Unfälle sind nicht identisch.

Vergleichen kann ich aber die Situation, in der sich die Bürgerin fühlt. Die Nachrichtenlage verwirrt und verängstigt. Das war 1986 so und ist 2011 nicht anders.

Über den Unfall in Tschernobyl erfuhr die Weltöffentlichkeit per dpa-Meldung erst am 28.4.86 am Abend - also fast drei Tage nach dem Reaktorunglück. Im Kraftwerk in Tschernobyl sei ein Schaden am Atomreaktor aufgetreten, hieß es. Das wahre Ausmaß der Katastrophe kam auch "Dank" der russischen Nachrichtensperre erst langsam ans Licht, als zum Beispiel in Schweden deutlich erhöhte Radioaktivität gemessen wurde.

Mangels Internet war man auf die Zeitungsmeldungen und die Nachrichten in Funk und Fernsehen angewiesen. Die Verunsicherung in der Bevölkerung war sehr groß. Die der Politik nicht minder. Immer wieder wurde eine Gefahr für die Bundesbürger vehement verneint und im gleichen Atemzug wird ab Anfang Mai davor gewarnt, die Kinder draußen spielen zu lassen, werden Schwimmbäder geschlossen, wird Salat und Milch vernichtet. Werden Fußballspiele abgesagt.

Anfang Mai 1986 wurden täglich neue erhöhte Strahlenwerte in Deutschland gemessen, die dann regelmäßig von offizieller Stelle wieder dementiert oder bagatellisiert wurden. Es war fast unmöglich ein klares Bild zu bekommen.


Und heute?

Über pausenlose Nachrichtensendungen und moderne Kommunikationswege des Web 2.0 ist die Nachrichtenlage unendlich groß. Aber erhalten wir dadurch mehr Klarheit? Ist die Verwirrung nicht fast noch ein bisschen größer? Und verbreiten sich nicht gerade über die Sozialen Netzwerke Falschmeldungen?

1986 hatte man wenige Nachrichten und stritt über einzelne Meldungen. Heute gibt es zigtausende Meldungen und die Orientierung fällt sehr schwer.

Die Unsicherheit bleibt. Die Masse der Informationen macht uns nicht schlauer. Expertinnen und Experten versuchen die dürren und widersprüchlichen Aussagen der japanischen Regierung zu interpretieren und fast scheint es, als ob auch der Regierung selbst das Ausmaß der Katastrophe nicht bekannt ist.

Vergleicht man die Meldungen aus Japan 2011 und Russland 1986, so schneidet die moderne Demokratie und Medienlandschaft nicht so gut ab, wie sie sollte!

Wir haben mehr Bilder, aber nicht mehr Klarheit. Wir schauen wie gebannt auf die unsichtbare Bedrohung. Der Wetterbericht erhält eine ganz neue Bedeutung. Wohin ziehen die radioaktiven Partikel? Wird es regnen? Welche Bereiche und welche Menschen werden betroffen sein? Und dabei ist es völlig unerheblich, dass die Lage in Fukushima eine andere ist, und vermutlich keine radioaktive Wolke den Erdball umkreisen wird. Es reicht, dass das Schicksal der Menschen in Tokio von der Windrichtung abzuhängen scheint.

Die Bilder ähneln sich. Menschen mit Schutzanzügen messen die Strahlungsdichte bei ihren Mitmenschen. Japanern und Japanerinnen, die noch nicht einmal durch eigene vier Wände geschützt sind, weil sie zum großen Teil durch den Tsunami oder das Erdbeben obdachlos wurden. Die Aufforderung Türen und Fenster zu schließen und vorerst nicht die Wohnung zu veranlassen - angesichts der Zustände in Japan wirkt sie geradezu absurd.


Die politischen Folgen

Die unmittelbaren politischen Folgen von Tschernobyl sind bekannt. Nach einem Erstarken der Antiatombewegung und den gegenüber den Betreibern mühsam errungenen Ausstieg aus der Atomenergie wurden 2010 die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängert.

Nun sei laut der schwarz-gelben Regierung eine neue Lage eingetreten, die die bisherige Bewertung der Kernkraft nicht mehr zulasse. Zugegeben, Japans Atomkraftwerke sind vom Sicherheitsstand nicht mit dem Kraftwerk in Tschernobyl zu vergleichen, doch rechtfertigt das tatsächlich die plötzliche Kehrtwende der Regierung? Um Missverständnissen vorzubeugen: Jede Kehrtwende ist willkommen und sollte ohne Häme akzeptiert werden. Es ist gut, dass auch im sogenannten bürgerlichen Lager eine Neubewertung der Risiken der Atomkraft eintritt.

Und doch ist die Lage seit heute nicht völlig neu. Schon 1986 mussten viel zu viele Menschen die unbeschreiblichen Folgen der Kernenergie tragen.

Bereits nach der Katastrophe von Tschernobyl waren viele Menschen der Meinung, dass ein Risiko, so klein es auch sei, ein sogenanntes Restrisiko nicht akzeptabel sei. Und diese Haltung bestand auch schon vor einem halben Jahr, als ohne Not die Laufzeiten der bestehenden Atomkraftwerke verlängert wurden.


Die politische Schlacht um die Empathie

Frau Merkel spricht von einer neuen Lage und will deshalb nicht den alten Dialog weiterführen. Wenn die Grünen betonen, dass sie nach wie vor der Meinung sind, dass die Laufzeitverlängerung falsch ist, dass sie sofort zurückgenommen werden muss, dass es sattelfest sein muss - und eben kein Moratorium - dann ist das ehrlich und logisch. Die Hilflosigkeit der Regierung macht sich zunehmend in einem Verzweiflungsangriff auf diejenigen bemerkbar, die vor einer Verlängerung der Laufzeiten gewarnt haben und vor dem Einknicken gegenüber der Atomlobby gewarnt haben.


Ausblick

Grundsätzlich muss der Ausstieg aus der Atomenergie bedeuten, dass wir uns neben Effizienz und Erneuerbaren Energien auch über Einsparungen Gedanken machen. Dieser Verantwortung sind wir uns bewusst und wir werden uns ihr stellen. Wir haben dazu die überzeugenden Konzepte.

Und wir müssen aktiv bleiben, auf die Straße gehen. Der Atomausstieg wird auch jetzt auch heute noch nicht von allen für selbstverständlich gehalten. Das Gedenken an Tschernobyl und die unbeschreiblichen neuen Bedrohungen, die uns in Japan begleiten, dürfen nicht im Politikalltag untergehen. Dafür brauchen wir ein breites Bündnis aller, die ein Ende dieser menschenverachtenden Technologie fordern:

Wir rufen dazu auf, sich an den Demonstrationen anlässlich des 25. Jahrestages von Tschernobyl zu beteiligen: Ostermontag, 25. April in Brunsbüttel und Krümmel.
www.brunsbüttel.tschernobyl25.de www.krümmel.tschernobyl25.de

Eka von Kalben ist Landesvorsitzende von Bündnis 90/ Die Grünen Schleswig-Holstein

Die meisten der hier verwendeten Informationen entstammen verschiedenen allgemeinverfügbaren Quellen aus dem Internet. Darüber hinaus wurden aber auch persönliche Erinnerungen der Autorin verarbeitet.


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Quelle:
Gegenwind Nr. 271 - April 2011, Seite 20-22
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
Schweffelstr. 6, 24118 Kiel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2011