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GEGENWIND/411: Schleswig-Holstein - Freie Schulen sollen zu Regelschulen werden


Gegenwind Nr. 259 - April 2010
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

Ein Vorschlag:
Freie Schulen sollen zu Regelschulen werden

Von Karl-Martin Hentschel


Angesichts der Debatte um die gemeinsamen Unterricht ist die Rolle der freien Schulen etwas in den Hintergrund getreten. Das ist schade, denn freie Schulen waren oft ein Innovationsmotor im Schulwesen und gerade viele schulpolitisch engagierte Eltern schicken ihre Kinder auf freie Schulen. Aber freie Schulen haben auch immer ein Geruch von Exklusivität, selbst wenn sie selber das nicht wollen. Im Folgenden wird deshalb ein Vorschlag unterbreitet, welche Rolle freie Schulen in Rahmen der Weiterentwicklung des Schulsystems spielen können.

Die Debatte um die Weiterentwicklung des Schulsystems steht vor einem Dilemma: Je lauter der Ruf nach Gemeinschaftsschulen wird, je mehr sich die Erkenntnis durchsetzt, dass jede Form von Aussonderung von Kindern aus sozial schwachen Familien oder aus Einwandererfamilien eine schreiende Ungerechtigkeit ist, desto mehr versucht ein Teil der Eltern, ihre Kinder dem gemeinsamen Unterricht zu entziehen.


Noch steht die Bastion Gymnasium

Noch tobt der Kampf um das gemeinsame Lernen und es wird sogar versucht, Erreichtes zurückzuschrauben, wie mit dem Volksentscheid in Hamburg und der neuen Schulgesetznovelle in Schleswig-Holstein. Aber egal wie diese Auseinandersetzungen ausgehen - mittelfristig läuft alles auf ein neues zweigliedriges Schulsystem hinaus: Hier das Gymnasium, dort die Gemeinschaftsschule oder Stadtteilschule oder Oberschule oder wie sie auch immer heißen mag.

Und dabei wird es nicht bleiben. Entweder die Gemeinschaftsschulen werden so gut ausgestattet, dass sie dem Gymnasium gleichwertig werden - dann kann und muss man sie rechtlich gleichstellen. Wenn dies aber nicht gelingt, dann wird unweigerlich die soziale Spaltung in den Schulen weiter fortgesetzt. Dann werden sehr bald zwei Drittel und mehr Eltern ihre Kinder aufs Gymnasium schicken und die Gemeinschaftsschulen werden erneut zu Restschulen. Und damit stellt sich die Auflösung dieser Schulen erneut so wie heute die der Hauptschulen.

Aber egal ob die Gymnasien zu Gemeinschaftsschulen werden oder ob die Gemeinschaftsschulen erfolgreich neben das Gymnasien treten - die Entwicklung hin zu gemeinsamem Lernen führt zu weiteren Ausweichreaktionen - der Flucht in die freien Schulen. Schon heute ist diese Entwicklung vielerorts zu beobachten: Die Debatte um die gemeinsame Schule führt zu einem Boom dieser Schulart. Zwar haben die freien Schulen meist keineswegs elitäre Ziele - im Gegenteil verfolgen sie oft engagierte reformpädagogische Konzepte. Aber der Fakt bleibt trotzdem: Diese Schulen werden zum Refugium der Kinder des Bildungsbürgertums, das bewusst oder oft auch unbewusst ihren Kindern einen besseren Weg sucht und schafft.

Noch abstruser ist die Situation in Niedersachsen und NRW, wo es immer noch staatliche Bekenntnisschulen gibt, die nur katholische oder evangelische Kinder aufnehmen und so gewährleisten, dass der Anteil der Kinder aus Einwandererfamilien möglichst gering bleibt.

Um auf diese Fragen eine Antwort zu geben, hatten wir in Schleswig-Holstein im Rahmen der Landesarbeitsgemeinschaft Bildung (von Bündnis 90 / Die Grünen) einen Vorschlag diskutiert, der originell, konsequent - aber eben auch parteiintern umstritten ist. Bisher jedenfalls gibt es dazu keine Beschlüsse - es ist nur ein Denkmodell. Und das sieht so aus:

Wenn wir schon freie Schulen nicht verhindern können und wollen schließlich sind sie ja sehr innovativ und dazu noch vom Grundgesetz geschützt - dann machen wir sie eben zu Regelschulen.

Die Idee ist recht einfach: Im Schulgesetz soll geregelt werden, dass es in Zukunft neben den staatlichen Schulen auch Regelschulen in kommunaler und in freier Trägerschaft geben soll. Schließlich haben sich Einrichtungen in privater oder kommunaler Trägerschaft in vielen Bereichen bewährt.

Auch bisher staatliche Schulen sollen dann auf Antrag eine selbständige Rechtsform bekommen können. Für die beruflichen Schulen ist das in Schleswig-Holstein schon möglich. Dafür kommen sowohl die rechtsfähige Anstalt Öffentlichen Rechts, eine gemeinnützige Gesellschaft, eine Stiftung, ein Verein oder andere Formen in Frage. Natürlich sollen aber Träger, die Gewinne erzielen können, nicht zugelassen sein.

Als Träger kommen sowohl kommunale Schulträger wie auch private Träger in Frage. Im letzteren Fall wird ein Vertrag des kommunalen Schulträgers mit dem privaten Träger geschlossen, der die Schule als Teil des Regelschulangebotes definiert.

Natürlich müssen solche Schulen die gleiche Qualität bei der Bildung, Förderung und Betreuung der Kinder und Jugendlichen sicherstellen wie öffentliche Schulen. Und sie sollen den gleichen Regeln zur Zusammenarbeit und zur Qualitätssicherung und Evaluation unterliegen wie staatliche Schulen. Darüber hinaus sind sie aber frei in der Verfügung über die Finanzen, in der Personalführung, in der Organisation und in der Gestaltung von Unterricht, Förderung und Betreuung.

Was unterscheidet diese Schulen dann von den heutigen freien Schulen?

Erstens: Sie sollen zu 100% öffentlich finanziert werden und dürfen deshalb auch kein Schulgeld erheben. Zusätzliche Mittel werden auf Grund eines Sozialindex gewährt, um die erforderliche Förderung zu finanzieren und Anreize dafür zu geben, sich gezielt auch um Kinder aus sozial schwächeren Milieus zu kümmern.

Zweitens: Die Schulen müssen offen sein für alle Kinder. Liegen mehr Bewerbungen für die Schule vor, als Plätze vorhanden sind, darf eine Auswahl der Kinder nur nach den Kriterien "Entfernung des Wohnortes" und "Berücksichtigung von Geschwisterkindern" erfolgen. Das subjektive Wahlrecht liegt allein bei den Eltern.

Auf diese Weise würden die "Privatschulen" Teil des allgemeinen Regelschulsystems. Wenn eine private/freie Schule das nicht will, bekommt sie dann auch keine Förderung mehr. Gespräche mit einzelnen Vertretern der Freien Schulen in Schleswig-Holstein haben ergeben, dass diese ein solches Modell sehr begrüßen würden.

Handelt es sich um Schulträger mit einem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis, dann muss sichergestellt sein, dass die Schulen trotzdem für alle Kinder offen sind und dass es am Ort auch weltanschaulich neutrale Angebote gibt. Tendenzschulen sind also nur als zusätzliches Angebot zulässig.

Besonders kritisch aus Sicht der Gewerkschaften ist die Frage nach der Bezahlung der LehrerInnen. Ich denke, das ist dann eine Frage von Tarifverträgen. Klar ist, dass die Anforderungen an das pädagogische Personal die gleichen Kriterien erfüllen müssen, wie dies an staatlichen Schulen der Fall ist. Das gilt ja heute bereits an den Schulen in freier Trägerschaft.

Problem ist auch, wenn solche Schulen aus bisher staatlichen Schulen entstehen - z. B. als kommunale Schule aufgrund einer Entscheidung der Gemeinde. Dann muss die Schule natürlich die verbeamteten LehrerInnen übernehmen und für diese einen finanziellen Ausgleich an das Land leisten. So wie das bei anderen Auslagerungen aus dem öffentlichen Dienst auch der Fall ist, würden diese Lehrer also Landesbeamte bleiben, und die Träger würden für sie einen Ausgleichsbetrag an das Land zahlen.

Natürlich erhoffen wir uns von einem solchen Angebot auch einen gewaltigen Schritt in Richtung mehr Autonomie und mehr kreativer Konkurrenz im Schulsystem. Regelschulen in freier Trägerschaft wären ja in aller Regel Gemeinschaftsschulen par Excellance und würden sich somit in Konkurrenz zu den staatlichen Schulen zu einem Innovationsmotor entwickeln können. Auch in den skandinavischen Ländern begann die große Schulreform bekanntlich überall damit, dass die Schulen selbständiger wurden.

Da der Aufbruch in eine neue Schule von unten kommen muss, müssen wir dafür Freiräume schaffen. Ich bin mir sicher, dass dazu eine Schullandschaft, in der Eigenverantwortung und Raum für Initiativen geschaffen werden, gute Rahmenbedingungen schafft. Denn Schule muss von denen entwickelt und getragen werden, die Schule machen - und nicht von denen, die Schule verwalten!


Karl-Martin Hentschel
Ehem. Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90 / Die Grünen im Landtag Schleswig-Holstein (bis 2009)


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Quelle:
Gegenwind Nr. 259 - April 2010, Seite 27-28
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. April 2010