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GEGENSTANDPUNKT/217: Unsichere Zuschussrente gegen sichere Altersarmut


GEGENSTANDPUNKT
Politische Vierteljahreszeitschrift 4-2011

Unsichere Zuschussrente gegen sichere Altersarmut


Die Ministerin für Arbeit und Soziales entdeckt eine neue soziale Frage, die absehbar immer weiter wachsende Altersarmut, und eröffnet mit den zuständigen Abgeordneten, Sozialverbänden und Experten einen "Regierungsdialog Rente" über "Konzepte zur Bekämpfung der Altersarmut". Frau von der Leyen plant einen Zuschuss zu Kleinstrenten und erwartet "bereits 2013 bis zu 20.000 Empfänger, danach werde die Zahl der Zuschuss-Rentner schnell bis auf 100.000 steigen, 2035 sei mit 1 Mio. zu rechnen." (SZ, 8.9.11)

Während die Versicherten Beiträge entrichten und der Rente entgegen altern, weiß die Ministerin heute schon, dass sehr viele von ihnen, wenn es so weit ist, sehr arm sein werden. Kein Wunder - sie führt ja die Bücher der Kassen und kennt die Entwicklung ihrer Einnahmen und Ausgaben, denn sie macht die Gesetze, die zu den entsprechenden Einnahmen und Ausgaben führen. Die "Altersarmut", die sie nun unwürdig, ungerecht und sozialpolitisch schädlich findet, hat sie zusammen mit ihren Vorgängern selbst herbeiregiert. Und auch die Korrektur des unwürdigen Zustands bleibt ganz in ihrer Hand: Unbedrängt von gegenwärtigen oder zukünftigen Rentnern oder gesellschaftlichem Aufbegehren beschließt sie mit ihrer Expertenrunde, was die ärmsten unter den zukünftigen Rentnern brauchen und kriegen sollen.

Die Altersarmut, die Frau von der Leyen zu groß wird, ist das systematische Resultat der politischen Konstruktion der Rentenversicherung: In doppelter Weise knüpft sie die Versorgung der ausrangierten Arbeitnehmer an den Lohn. Erstens an den Gesamtlohn, den die aktiven Teile des Versicherten-Kollektivs jeweils verdienen und zweitens an den individuellen Lohn, den der Versicherte während seines Arbeitslebens verdient hat.

Nach dem seit 1957 bestehenden "Umlageverfahren" werden die Renten direkt aus Beiträgen finanziert, die von den aktiven Erwerbstätigen in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt werden - mit diesen säuberlich aufaddierten Beiträgen erwerben sie ihrerseits einen Anspruch auf Rente im Alter. Das Generationenvertrag" genannte Umlageverfahren macht die für Renten zur Verfügung stehende Finanzmasse abhängig von der Summe der im Land jeweils aktuell erarbeiteten und bezahlten Löhne, also zu einer sehr flexiblen Größe. So teilen die Rentner auch im Alter das Schicksal der lohnabhängigen Klasse, der sie während ihrer aktiven Jahre angehört haben.

Die aus individuellen "Entgeltpunkten" und Beitragsjahren errechneten Rentenansprüche der Versicherten addieren sich zu einer Summe, die mit der aktuell eingezahlten Summe der Rentenbeiträge höchstens zufällig zusammenpasst. Ja den frühen Jahren des bundesdeutschen Rentensystems, in dem eine vollbeschäftigte Arbeitnehmerschaft einer vom Krieg ausgedünnten Rentnermannschaft gegenüberstand, überstiegen die Einnahmen der Kasse stets ihre Auszahlungspflichten; seit Jahrzehnten ist es aber umgekehrt. Den erworbenen eigentumsähnlichen Rechtsansprüchen der Versicherten wird die Regierung dadurch gerecht, dass sie das Missverhältnis der beiden Seiten des Umlagesystems jährlich neu ausgleicht: Erstens durch Senkungen bzw. Erhöhungen der Lohnprozente, die an die Rentenkasse abzuführen sind, zweitens durch die Änderung inzwischen eindeutig Senkung - des Geldwerts der von den Versicherten erworbenen Entgeltpunkte, und drittens, indem sie das noch verbleibende Missverhältnis aus Mitteln des Staatshaushalts ausgleicht; gegenwärtig schießt sie ca. 80 Milliarden pro Jahr, etwa ein Drittel der Rentenausgaben, zu. Dafür wieder findet sie Gründe der Gerechtigkeit und der wirtschaftlichen Vernunft: Teils würde sie so für "versicherungsfremde Leistungen" bezahlen, die sie der Rentenkasse aufbürdet; teils dient die partielle Steuerfinanzierung der Rente dazu, dem Kapital im Land die berüchtigten Lohnnebenkosten zu ersparen, wenigstens in ihrer Höhe zu beschränken, um Arbeit rentabler und den nationalen Standort konkurrenzfähiger zu machen; denn Beitragssteigerungen zur Erfüllung der Versorgungsansprüche der Rentner, die zur Hälfte von den Arbeitgebern bezahlt werden müssten und insoweit die Löhne verteuern, sind in Deutschland schon lange ein Tabu. Schließlich gleicht der Staat mit seinem Steuerzuschuss konjunkturelle Schwankungen der Beitragseingänge aus, um Renten auch in schlechten Jahren nicht absolut senken zu müssen. Im Maß dieses Zuschusses weicht er also vom reinen Umlageverfahren ab - stets verbunden mit der Klage über die Last, die die versorgungsbedürftigen Alten seinem Haushalt verursachen.

Mit einem konjunkturellen Auf und Ab hat das insgesamt wachsende Missverhältnis zwischen dem Beitragsaufkommen und den Rentenansprüchen in den letzten Jahrzehnten allerdings nichts zu tun: Grund dafür sind langfristige "Trends": einerseits die hohen Arbeitslosenzahlen, die anzeigen, wie sehr das Kapital bezahlte Arbeit für sich effektiviert und relativ zu seinem Geschäftsumfang reduziert hat; andererseits die "Lohnzurückhaltung", die die Gewerkschaften zugunsten von Wachstum und Wirtschaftsstandort gezeigt haben; dazu kommen die verbreitete Übung, die Entlohnung überhaupt nicht mehr an Tarifverträgen zu orientieren, die Zunahme "prekärer Arbeitsverhältnisse" mit Zeitarbeit und Leiharbeit sowie das immer weiter wachsende deutsche Niedriglohn-Segment. Zusammen haben diese Faktoren den Lohn und die aus ihm gezahlten individuellen Rentenbeiträge massiv gesenkt. Der Staat selbst schmälert die Finanzmasse der Rentenversicherung, wenn er seiner Arbeitsagentur erlaubt, für Millionen ALG-II-Empfänger nicht mehr nur den mickrigen, auf die Höhe der Stütze berechneten Beitrag an die Rentenkasse zu überweisen, sondern auch davon nur noch die Hälfte.

Dem schwindenden Rententopf tragen Regierungen seit langem Rechnung, indem sie über verschiedene Stellschrauben die Rentenleistungen absenken und so die Rentenkasse in Ordnung halten, ohne eben die Versicherungsbeiträge zu erhöhen.

Drei größere "Anpassungen" bringen das Gros der Absenkung des Rentenniveaus zuwege und sorgen dafür, dass die Renten, auch wenn sie der Lohnentwicklung folgend einmal steigen, nicht im selben Maß steigen wie die Löhne.

- Die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre (in Stufen von 2012 bis 2025) legt gesetzlich fest, dass Rentner erstens länger, also mehr einzahlen und zweitens bis zu ihrem Tod nur kürzer, also insgesamt weniger Rente beziehen. Praktisch macht sich die Verlängerung der Lebensarbeitszeit in der Regel allerdings direkt als Verminderung der Monatsrente geltend: Schließlich bleibt kaum ein Arbeitnehmer - aus Gründen der Gesundheit oder der betrieblichen Personalpolitik - bis zum gesetzlichen Verrentungszeitpunkt beschäftigt. Für jeden Monat des früheren Renteneintritts müssen saftige Abschläge auf die Vollrente hingenommen werden.

- Der Riesterfaktor veranschlagt seit 2001 das gewünschte private Sparen fürs Alter als einen Aufwand der aktiven Generation, der ihr verfügbares Einkommen schmälert. Dieser Aufwand wird vom Lohn, aus dem die Rentenanpassung errechnet wird, abgezogen, sodass die Renten einem Anstieg der Löhne nur gedämpft folgen.

- Der Nachhaltigkeitsfaktor, eingeführt 2004, liefert den zweiten Rechtsgrund für den gleichen Effekt: Er setzt die Anzahl der Beitragszahler, aus deren Aufkommen die Alten versorgt werden, mit der Zahl der Rentner in Bezug und lässt eine Verschlechterung der Relation gegen die Rentenhöhe ausschlagen.

Mit drei großen und einer Reihe kleiner Reformen haben die Arbeits- und Sozialminister der Republik die Rente - wie sie stolz verkünden - "zukunfts-, krisen- und demographiefest" gemacht, indem sie das Rentenniveau radikal vermindern: Von 53 % der letzten Nettoeinkommen vor den Reformen sinkt das Niveau auf 46 % im Jahr 2020 und 43 % in 2030.

Das Durchschnittseinkommen mit der Durchschnittsrente ist die eine Sache; eine andere ist die individuelle Rente: Und da wird die auf das jeweilige Einkommen bezogene Vollrente immer öfter nicht mehr erreicht. Die Auflösung ordentlich entlohnter, kontinuierlicher, sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse führt eben einerseits zu sinkendem Beitragsaufkommen und dem dadurch sinkenden allgemeinen Rentenniveau; dieselbe Ursache zerstört die Kontinuität des Geldverdienens und der Beitragszahlungen in der individuellen Erwerbsbiographie. Prekäre Formen der Beschäftigung, zeitweiser oder dauerhafter Niedriglohn mit und ohne Versicherungspflicht, Phasen der Arbeitslosigkeit, der Teilzeitbeschäftigung etc. sorgen dafür, dass das abgesenkte Rentenniveau für viele zum unerreichbaren Ideal wird: Viele Versicherte können in ihrem Arbeitsleben nicht genug "Entgeltpunkte" für die Rente sammeln, sodass sie trotz Arbeit und Beitragszahlung im Alter eine gesetzliche Rente beziehen, die unter dem Niveau der staatlichen Grundsicherung (gegenwärtig zwischen 380 und 660 Euro) liegt. "Immer mehr alte und kranke Menschen sind auf staatliche Sozialleistungen angewiesen" (BM für Arbeit und Soziales, 2010)

Das, nur das, ist der Missstand, der die Arbeitsministerin nicht ruhen lässt. Ihr Problem ist nicht, dass die Rentner insgesamt und langfristig ärmer werden, auch nicht, dass es massenhaft Langzeitarbeitslose und Sozialhilfeempfänger gibt, die auch im Alter von nichts als Hartz IV leben müssen. Aber dass Leute, die mehr oder weniger regelmäßig gearbeitet und Rentenbeiträge gezahlt haben, im Alter nicht besser dastehen als Dauerarbeitslose - das geht nicht. Nicht die Armut ist unerträglich, unerträglich ist, dass die Leistungsgerechtigkeit des Systems Schaden nimmt. Frau von der Leyen kann "niemandem vermitteln, warum jemand, der lebenslang gearbeitet hat, im Alter genauso viel bekommt, wie jemand, der jahrelang in der Grundsicherung ist". (ARD, 2.10.11)

Ansonsten ist sie mit dem Rentensystem, das die Alterseinkünfte von zwei Seiten her nach unten reformiert, ganz zufrieden: "Unser Rentensystem ist im Grundsatz fest aufgestellt. Doch es haben sich auch einige Schwachstellen gezeigt, an denen wir besser werden müssen." (Spiegel online, 7.9.11) Die Schwachstelle ist beseitigt, die "Gerechtigkeitslücke" geschlossen, sobald die Minirenten der Geringverdiener mit einem steuerfinanzierten Zuschuss auf 850 Euro aufgestockt, also um knapp 200 Euro über die Grundsicherung gehoben werden. Dem Alterswohlstand der "Zuschussrentner" steht nichts mehr im Wege, wenn - ja wenn sie vier Bedingungen erfüllen, die Frau von der Leyen vor diese staatliche Gunst setzt: Sie verlangt

- erstens 45 Jahre Mitgliedschaft in der Rentenversicherung; dazu zählen auch Schuljahre ab dem 17. Lebensjahr, Ausbildungs-, Studien- und Krankheitszeiten sowie Phasen der Arbeitslosigkeit. Unter den 45 Jahren müssen wenigstens

- 30 (später 35) versicherungspflichtige oder angerechnete Beitragsjahre sein.

- Drittens müssen darüber hinaus private Sparanstrengungen fürs Alter vorliegen, etwa ein Riester-Rentensparplan.

- Viertens darf kein Lebenspartner vorhanden sein, der finanziell besser dasteht und für den Unterhalt des Minirentners in Haftung genommen werden kann.

Die Bedingungen sorgen dafür, dass die staatlichen Ausgaben für diesen Zuwachs an Gerechtigkeit sehr begrenzt und die Zahl der Begünstigten klein bleibt: einige Zehntausend unter den Millionen Kleinrentnern. Der Ministerin kommt es weniger darauf an, deren Armut zu lindern, als auf ihre erzieherische Botschaft von der Leistungsgerechtigkeit des Rentensystems - und das sagt sie ihrem Publikum auch: "Die Botschaft der Reform müsse sein, dass Arbeit sich lohne und private Vorsorge sich in diesem Fall zusätzlich auszahle". (TAZ 9.9.)

Auch Klein- und Kleinstverdiener haben jede Arbeit anzunehmen und daraus Versicherungsbeiträge abzudrücken, auch wenn sich das für sie nicht lohnt. Auch und erst recht Leute, die es sich gar nicht leisten können, aus ihrem Hungerlohn noch eine private Rentenversicherung zu bezahlen und denen ein Riestervertrag die erworbene, unter der Grundsicherung liegende mickrige Rente auch gar nicht aufbessert, sollen "riestern" - um der Staatskasse mit ihrer Not so wenig wie möglich zur Last zu fallen. Dafür gibt es die Zuschuss-Rente: Sie gewährt einigen einen - irgendeinen - Unterschied zum Sozialhilfeniveau. Jeder Euro über diesem Niveau macht das Arbeiten und Sparen offenbar voll lohnend.

Und die Betroffenen? Die arbeiten und bezahlen Beiträge und lassen sich von der Ministerin vorrechnen, dass ihr Alter beschissen wird. Sie erklärt ihnen. dass für sie leider nicht mehr Geld da sein wird, weil sie nicht schnell genug sterben und die aktive Generation im Verhältnis zu ihnen schrumpft und natürlich weil die allgemeine Lohnentwicklung mehr Rente nicht hergibt. Dem heutigen oder künftigen Rentner setzt sie klar auseinander, dass er da ein Klassenschicksal teilt, dass der Lohn der ganzen durch die Pflichtversicherungsgrenze grob abgegrenzten Arbeiterklasse über seine Versorgung im Alter entscheidet und dass dieser Gesamtlohn für ein Leben auf dem bisherigen Niveau nicht mehr reicht. Ernst genommen bekommt das Kollektiv der abhängig Beschäftigten auf diese Weise mitgeteilt, dass es vom Lohn nicht leben kann, dass der Gesamtlohn für das Leben der gesamten Klasse nicht reicht. Und auch die Konsequenz, die die Betroffenen daraus ziehen sollen, buchstabiert die Ministerin ihnen mit der symbolischen Zuschussrente vor: Gegen das Klassenschicksal, dass der Lohn der Klasse für ein ganzes, das Alter einschließende Leben der Klasse nicht reicht, ist nur ein Gegenmittel angebracht und erlaubt: Mehr individuelle Vorsorge!

Denn Eines geht wirklich nicht: Dass Leute die Klassenfrage Rente als Klassenfrage angehen; und die Unbezahlbarkeit einer gescheiten Altersversorgung als Lohnfrage.


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Quelle:
Gegenstandpunkt 4-11, S. 16 - 20
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Januar 2012