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DAS BLÄTTCHEN/975: Neoliberale Verwirrungen


Das Blättchen - Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
Nr. 15/2009 - 20. Juli 2009

Neoliberale Verwirrungen

Von Erhard Crome


Während dieser Text geschrieben wird, geht der - nicht "winterbedingte" - Teilzusammenbruch des Berliner S-Bahn-Verkehrs in die zweite Woche. Seit über hundert Jahren, über Kriege, Revolutionen und politische Systemwechsel hinweg, fuhr immer die S-Bahn. Es gab in der Leitung "Eisenbahner", das waren in aller Regel entsprechend ausgebildete Ingenieure, die wußten, wieviele Wagen man braucht, um den regelmäßigen Verkehr aufrechtzuerhalten bei gleichzeitiger Kontrolle und Wartung des Fahrzeugparks, welche Werkstattkapazitäten dafür erforderlich sind, wieviel ausgebildetes Fahrpersonal man braucht, um Engpässe und Ausfälle zu kompensieren. Dann kam Mehdorn mit dem Klassenauftrag, die Bahn an die Privaten zu verhökern, und ein jungdynamisches "Team" von BWLlern an die S-Bahn-Spitze, die alle diese Reserven liquidierten, um "Kosten zu sparen" und möglichst viel Geld bei Mehdorn abzuliefern. Das Ergebnis erleiden jetzt die Berliner und die diesjährigen Sommer-Touristen. Prima Reklame für die Hauptstadt.

Inzwischen wurde diese S-Bahn-Leitung als Gruppe davongejagt - allerdings hackt ja die eine Manager-Krähe der anderen kein Auge aus, und man wird sie schon irgendwo wiedertreffen; Mehdorn wurde ja auch gerade bei Air Berlin untergebracht. Doch die Tragweite des S-Bahn-Eklats reicht weiter. Dieser beispiellose Vorgang ist gleichsam der exemplarische, zusammengefaßte Ausdruck des Wirkens der neoliberalen Ideologie - was seit zwanzig Jahren in diesem Lande an Abbau zum Zwecke der Profitsteigerung allenthalben erfolgt ist, und beim Maschinenbauarbeiter, an der Kaufhallenkasse oder bei der Friseuse nicht so aufgefallen ist, trat nun in aller Handgreiflichkeit an das Licht des Tages. Der Satz: "Wirtschaft für die Menschen, nicht für den Profit", erhält hier seine augenscheinliche Bedeutung. Und das ist nicht mehr nur die Forderung linker Aktivisten oder der Globalisierungskritiker von Attac. Die Kommentare der vergangenen Tage zu diesem Thema waren zwischen dem "bürgerlichen" Westberliner Tagesspiegel und dem linken Ostberliner Neues Deutschland auswechselbar. Die Verkehrssenatorin spricht jetzt ähnlich.

Jede herrschende Klasse hält sich eine Kaste von Ideologieproduzenten, die für die Herstellung des herrschenden Bewußtseins, also des Bewußtseins, mit dem und durch das geherrscht wird, zuständig ist. Früher waren das die Pfaffen und im Realsozialismus die Parteisekretäre. Heute sind das die BWLler, die mit den Finanzierungsmodellen jonglieren und versprechen, aus dem Nichts Rendite zu schaffen. Am Beginn der Neuzeit zogen die "Goldmacher" von Hof zu Hof und versprachen, aus Dreck Gold zu machen. Spätestens dann, wenn zum zugesagten Termin kein Gold auf dem Tisch des Herrn lag, wurden sie jedoch gehenkt, es sei denn, sie waren rechtzeitig geflohen.

Nicht so heute die neoliberalen Alchimisten. Sie hocken schon wieder in den Talkshows und zelebrieren ihre Geisterbeschwörung. Kaum haben die Regierungen mit dem Geld der Steuerzahler die betrügerischen Banken gerettet, kommt zum Beispiel schon wieder der Herr Brüderle von der FDP und droht, der Staat solle endlich aufhören, Schulden zu machen. Oder anders gesagt: die Krise ist noch nicht vorbei, im Gegenteil, sie wird erst nach der Bundestagswahl so richtig "bei den Menschen" ankommen, und schon fordern diese Neoliberalen wieder ihre Wortführerschaft ein.

Im realen Sozialismus wurde den Parteisekretären übrigens nicht die technische Leitung der Betriebe überantwortet, wie auch den Pfaffen bei den alten Preußen nicht das Chirurgiewesen. Die Übergabe von Sachentscheidungen an die Schamanen ist erst eine Errungenschaft des Neoliberalismus oder besser: des Spätkapitalismus.

In Sachen S-Bahn hatte es offensichtlich im Eisenbahnbundesamt noch Ingenieure gegeben, die der S-Bahn-Leitung die technische Überprüfung der Wagen abverlangten, die jetzt zu den Ausfällen geführt haben. Wenn die dann auch durch BWLler ersetzt wurden, rechnet sich wahrscheinlich ein neues "Finanzprodukt": die "Risikoversicherung Bahnfahren".

Zwischenzeitlich - zwischen dem S-Bahn-Zusammenbruch im Winter, in dem es schneite, und dem im Sommer, in dem es nicht schneite - war in den Berliner Medien die Nichtzustellung beziehungsweise verspätete Zustellung von Briefen durch die Gelbe Post diskutiert worden. Am Ende heuchelte die Betriebsleitung, das gäbe es nicht, und die Schichten der Postboten seien nicht aus Profitgründen verlängert worden. Wer's glaubt ... Derzeit kommt die Post alle zwei Tage; an einem Tag ist der Kasten leer, am nächsten übervoll, dann wieder leer. Dafür ist die Postfiliale immer schön voll, weil das Filialnetz ja ausgedünnt wird. Aber das kann man ja noch ertragen. Die Nutzer des Kölner Stadtarchivs müssen - dank neoliberaler Machenschaften beim U-Bahnbau - noch länger warten, bis sie wieder in den Lesesaal kommen.


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Quelle:
Das Blättchen, Nr. 15, 12. Jg., 20. Juli 2009, S. 3-5
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2009