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DAS BLÄTTCHEN/1737: Neue Normalität


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
20. Jahrgang | Nummer 22 | 23. Oktober 2017

Neue Normalität

von Ulrich Busch


Der Begriff stammt von dem US-amerikanischen Finanzwissenschaftler Richard Clarida. Er steht für die Tatsache, dass wir, bedingt durch das moderate Wirtschafts- und Produktivitätswachstum der letzten Jahre, die Finanzkrise von 2008 sowie die seitdem geltenden Regularien auf den Finanzmärkten, dauerhaft mit einem niedrigen Zinsniveau leben müssen. Was bisher als "anomal" galt und auch so empfunden wurde, erscheint nunmehr als "neue Normalität". Dies gilt für die Wirtschaft insgesamt, aber auch für jedes Unternehmen und für jeden einzelnen privaten Haushalt: Erhebliches Umdenken ist daher angesagt, verändertes Kalkulieren, Planen und Geldverhalten. Den meisten Menschen ist das bis jetzt aber noch nicht so richtig klar. Sie verharren in alten Verhaltensmustern und hoffen auf eine baldige Rückkehr zu den vertrauten Verhältnissen, einschließlich positiver Zinsen. Vergeblich, wie wir jetzt wissen, und zudem ein Verhalten, das nicht nur mit ökonomischen Nachteilen und Verlusten, sondern auch mit bisher unbekannten Risiken verbunden ist.

Als die Zentralbanken 2008 infolge der Finanzkrise und angesichts der drohenden Gefahr eines Kollapses der Finanzmärkte die Zinsen bis auf ein Niveau von nahe Null herabsetzten, gingen alle davon aus, dass es sich um eine Notmaßnahme temporären Charakters handeln würde. Inzwischen ist fast ein Jahrzehnt vergangen und die Krise weitestgehend überwunden, die Zinsen aber befinden sich immer noch auf einem historischen Tiefstand. Zunächst glaubte man, dabei handle es sich um ein Versäumnis der Notenbanken und das Verharren der Zinsen auf niedrigem Niveau sei Ausdruck einer "Irrationalität" der Geldpolitik. Als aber weitere Maßnahmen einer unkonventionellen Geldpolitik hinzukamen, die quantitative Lockerung durch das QE-Programm (Quantitative Easing), massive Ankäufe von Unternehmens- und Staatsanleihen, Negativzinsen und so weiter, dämmerte es allmählich, dass dem wohl nicht so sei. Heute weiß man mit Bestimmtheit, dass es sich anders verhält: Die anhaltend niedrigen Zinsen sind nicht das Ergebnis einer irrationalen Notenbankpolitik, sondern die Notenbanken reagieren damit vielmehr auf eine nachhaltig veränderte wirtschaftliche Situation. Es handelt sich also um einen Paradigmenwechsel, der sich gerade vor unseren Augen vollzieht.

Im Rahmen der traditionellen ökonomischen Theorie lässt sich diese Entwicklung nicht erklären. Die wirtschaftlichen Verhältnisse haben sich offenbar gewandelt und die Theorie hat darauf bisher noch keine Antwort gefunden. Die Notenbanken aber können nicht warten, bis eine den veränderten Bedingungen adäquate Theorie gefunden ist. Sie haben folglich "unkonventionell" reagiert, indem sie die Zinsen "unten" ließen und die Geldpolitik so gestalteten, wie es die praktischen Umstände eben erforderten. Was dabei herauskommt, ist nicht eine Wiederherstellung des alten Zustands, sondern eine "neue Normalität". Mithin geht es bei der weiteren Gestaltung der Geldpolitik auch nicht um eine "Normalisierung", wie man es hier und da immer noch lesen kann, sondern um die Verstetigung einer neuen, in der Krise bewährten Politik.

Das ist nicht ganz einfach zu begreifen, da hier gleich eine ganze Reihe bewährter Denk- und Handlungsmuster ins Rutschen gekommen ist: "Wir befinden uns in einer völlig neuen Welt." (John B. Taylor) Als ein Merkmal dieser "neuen Welt" gilt zum Beispiel, dass niedrige Zinsen, ja sogar Negativzinsen, mit einer Abwesenheit von Inflation einhergehen. In der Vergangenheit gehörte es zu den vordringlichsten Aufgaben der Notenbanken, die Inflation zu bekämpfen und den Anstieg des Preisniveaus mit Hilfe geldpolitischer Maßnahmen auf ein erträgliches Maß zu begrenzen. Als Minimalwert galt ein Preisanstieg von etwa zwei Prozent. Heute erscheint dieses Ziel beinahe als obsolet. Statt das Preisniveau zu drücken, sind die Notenbanken gegenwärtig bemüht, es zu heben und die Inflation anzuheizen. Dabei gelten die berühmten "zwei Prozent" Preisniveauanstieg beinahe schon als Maximalwert und die Gefahr einer Deflation erscheint als weitaus bedrohlicher als die einer Inflation.

Ähnlich verhält sich dies mit der seit der Krise zu verzeichnenden Expansion der Geldmenge: In den letzten Jahren explodierten die von den Notenbanken gehaltenen Geldvermögen geradezu. Während zum Beispiel das nominale Bruttoinlandsprodukt als Ausdruck der gesamtwirtschaftlichen Leistungserbringung in den USA, in der Euro-Zone und in Japan im letzten Jahrzehnt insgesamt um rund 2,1 Billionen US-Dollar zunahm, vergrößerten sich Geldbestände der Notenbanken im gleichen Zeitraum um 8,3 Billionen US-Dollar, von 4,6 Billionen 2008 auf 12,9 Billionen 2017. Das entspricht einer monetären Expansion im Vergleich zum BIP um das Vierfache! - Folgt man der monetaristischen Theorie, so müsste diese Entwicklung eine Hyperinflation zur Folge haben. Die Inflationsraten aber sind kaum gestiegen. Und das Wirtschaftswachstum auch nicht, jedenfalls nicht im erhofften Umfange. Die Notenbanken zogen daraus den Schluss, dass der alte Grundsatz der Theorie, wonach die Inflation ein "monetäres Phänomen" sei und sich deren Rate mit einer Ausdehnung der Geldmenge unweigerlich erhöhe, heute nicht mehr gilt. Ob dem tatsächlich so ist, lässt sich aber erst im Nachhinein feststellen. Doch selbst wenn es zutreffen sollte, ist damit noch längst nicht gesagt, dass eine derart expansive und unkonventionelle Geldpolitik langfristig nicht von enormen, bislang kaum bekannten Risiken begleitet sein könnte. Insofern ist höchste Vorsicht geboten - bei der Planung größerer Vorhaben und Investitionen ebenso wie beim Eingehen finanzieller Verpflichtungen und Verträge. Es liegt auf der Hand, dass die "neue Normalität" der Welt des Geldes nicht weniger risikohaft und krisenanfällig ist als die "alte" es war. Wir wissen nur noch nicht, wo die nächste Finanzkrise ihren Ausgangspunkt haben wird, wo also die Schwachstellen im System diesmal liegen werden. Auf jeden Fall bedarf es aber, wenn die Krise eintritt, sehr viel Phantasie, um ihr mit geeigneten Maßnahmen begegnen zu können. Denn die bei der letzten Krise von den Notenbanken erfolgreich eingesetzten Mittel wie Zinssenkung und Geldmengenexpansion sind im Rahmen der neuen Normalität bereits ausgereizt. Man wird sich also etwas gänzlich Neues einfallen lassen müssen, um auf die Herausforderungen reagieren zu können. Aber auch dafür wird wieder ein hoher Preis zu zahlen sein.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 22/2017 vom 23. Oktober 2017, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 20. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Oktober 2017

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