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DAS BLÄTTCHEN/1606: Indiens Weltmachtansprüche


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
19. Jahrgang | Nummer 13 | 20. Juni 2016

Indiens Weltmachtansprüche

von Herbert Wulf


Indien ist eine aufstrebende Weltmacht. Doch trotz des dynamischen Wirtschaftswachstums und des technologischen Fortschritts leidet die Gesellschaft unter ungleicher Entwicklung. Amartya Sen, der indische Nobelpreisträger, spricht von dem ersten Indien, das Kalifornien ähnele und dem zweiten und größeren Indien, das mehr wie Schwarzafrika aus­sähe. Stephen Cohen, Indienexperte bei Brookings, bezeichnete den Subkontinent als "eine Kombination von Arroganz und Armut". Die krassen Gegensätze, interne Sicherheitsprobleme und komplizierte Beziehungen zu einigen Nachbarländern sind keine solide Basis für weltmachtpolitische Ambitionen. Heute verfolgt die Regierung Narendra Modis, seit Mai 2014 im Amt, eine vielseitige außenpolitische Strategie, die durch hindu-nationalistisches Selbstbewusstsein gefärbt ist.

Um die aktuelle Außenpolitik einordnen zu können, hilft ein Blick auf deren Konstanten und Veränderungen. Seit Indiens Unabhängigkeit im Jahr 1947 durchlief die Außenpolitik verschiedene Phasen, die jeweils auch durch unterschiedliche Konzepte und ideologische Grundlagen gekennzeichnet waren. In einer frühen Phase, als Indiens erster Premierminister Nehru quasi im Alleingang die Außenpolitik bestimmte, setzte er ganz auf Blockfreiheit. Er hob Indiens Einmaligkeit hervor und meinte, Indien sei als Land zu groß, um sich von anderen in globalen Fragen abhängig zu machen. Allerdings erlitten seine idealistisch ausgerichtete Außenpolitik und die Freundschaft zu China einen bis heute spürbaren Rückschlag durch den Krieg mit dem größeren Nachbarn im Jahr 1962. Danach folgte eine Umorientierung mit dem Abschluss des indisch-sowjetischen Freundschaftsvertrags im Jahr 1971, der intensive wirtschaftliche, politische und militärische Kooperation beinhaltete.

Das Ende des Kalten Krieges und der Zusammenbruch der Sowjetunion bedeuteten eine Zäsur. Die indische Regierung musste ihre Außenpolitik neu "erfinden", da die zentralen außenpolitischen Grundlagen nicht mehr existierten. Der Wegfall des wichtigsten Partners, die Besorgnis über US-amerikanischen Triumphalismus als alleinig verbliebene Supermacht und Ängste wegen Chinas befürchteter Expansion in Asien führten zur Formulierung des Look East-Konzepts mit der Konzentration auf die Nachbarschaft in Asien. Interessanterweise stellte die hindu-nationalistische Partei BJP, die von 1998 bis 2004 an der Macht war, das Look East-Konzept nicht in Frage.

Die BJP setzte sich für ein starkes Indien ein, das seinen rechtmäßigen Platz in der Welt einnehmen und Indien zu einem Machtzentrum der Weltpolitik machen sollte, statt sich von Großmächten herumschubsen oder gängeln zu lassen. Parallel zur Hinwendung nach Asien setzte die vom Congress dominierte Regierung des späteren Premierminister Singh auf Deregulierung und Liberalisierung der Wirtschaft. Das Ende der bipolaren Welt markierte den eigentlichen Wendepunkt sowohl in der indischen Außen- wie auch Wirtschaftspolitik: ein neue außenpolitische Orientierung und eine wirtschaftliche Öffnung bedingten sich gegenseitig. Vereinfacht dargestellt, basierten die verschiedenen Außenpolitiken Indiens auf vier unterschiedlichen theoretischen Grundlagen, die sich in der Praxis überlappten:

  • Erstens der Idealismus mit Indien als friedlichem, unabhängigem und nicht paktgebundenem Land.
  • Zweitens der Realismus, dessen Vertreter in verschiedenen Regierungen Indiens ihre außen- und militärpolitischen Strategien artikulierten. Sie heben auch heute noch geopolitische Faktoren hervor und fordern ein ökonomisch und militärisch starkes Indien in der Region und auch global. Die Abkehr von der Blockfreiheit, die Entwicklung von Atomwaffen sowie riesige Investitionen in moderne konventionelle Streitkräfte unterstreichen die globalen Ambitionen.
  • Drittens der Hindu-Nationalismus, der mit seiner Politik an Ideologien anknüpft, die bereits vor Indiens Unabhängigkeit propagiert wurden. Das ist die Gegenstrategie zur idealistischen Vision und zielt auf eine indische Nation auf Grundlage des Erbes und der Identität der Unabhängigkeit (swaraj), um sich international behaupten zu können. Dazu sei die Schaffung einer homogenen Hindu-Gesellschaft erforderlich.
  • Viertens schließlich eine Kombination aus Internationalismus und Neo-Liberalismus, die auf wirtschaftliche Deregulierung setzt und seit Anfang der 1990er Jahre weitgehend bestimmend war. Der Fokus liegt auf der Särkung der Rolle Indiens im Konzert der wirtschaftlich und militärisch starken Nationen.

Die Enttäuschung und Desillusionierung über Nehrus Konzept des friedlichen Indiens, aber auch das Scheitern des Entwicklungsmodels eines dritten Weges, erforderte die Suche nach neuen Konzepten. Indiens Binnenorientierung, die Betonung der Blockfreiheit und der anti-amerikanische Reflex führten das Land nicht aus der Unterentwicklung heraus. Nach mehr als zwei Jahrzehnten liberaler und neo-liberaler Politik hat Indien jetzt ein Stadium erreicht, in dem die Ideen Nehrus zur globalen Rolle Indiens (weniger dessen moralisches Prestige) wiederbelebt werden: Man will die globalen Regeln mitbestimmen. Ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat zu werden, wird nicht nur als legitim, sondern als längst überfällig angesehen.

Indiens Selbstwahrnehmung ist die eines global players. Heute strebt die indische politische Elite außenpolitisch strategische Autonomie an, ein Schlüsselbegriff in Neu Delhi. Dies versucht man auf drei Ebenen zu verwirklichen: mit klassischem Multilateralismus (global engagiert, beispielsweise durch nachhaltige Unterstützung von UN-Friedensmissionen), durch Bilateralismus (beispielsweise durch eine strategische Partnerschaft mit den USA und kluge Nachbarschaftspolitik) und schließlich mit selektiven Koalitionen (vor allem über die BRICS-Initiative zusammen mit Brasilien, Russland, China und Südafrika als Alternative zu westlich dominierten Organisationen wie IWF und Weltbank).

Wenn sich diese Ansätze auch gelegentlich gegenseitig in die Quere kommen, so die strategische Partnerschaft mit den USA bei gleichzeitigem Engagement für BRICS, so versucht die Regierung Modi dennoch, diese außenpolitischen Ambivalenzen als "strategische Autonomie" ohne Selbstzweifel hochzuhalten. Modi hat viele Beobachter mit seinen vielfältigen, fast rastlosen, außen­politischen Initiativen überrascht. Außenpolitische Priorität genießen bevorzugte Beziehungen mit ausgesuchten Partnern (USA, Japan, EU), die Förderung der bilateralen Kooperation in der Region und die Verbindung von innergesellschaftlichen Entwicklungsnotwendigkeiten und Außenpolitik. Nicht in sämtlichen Bereichen konnte er Erfolge verbuchen. Die Beziehungen zu einigen Ländern verbesserten sich, doch China, mit seiner expansiven Politik in Asien, bleibt eine Herausforderung für Indien. Auch das Konzept "Priorität für die Nachbarschaft" klappte zwar mit einigen Nachbarn gut, nicht aber mit Pakistan und Nepal. Und ob die Verknüpfung von Außen- und Innenpolitik gelingt, bleibt abzuwarten. Denn ausländisches Kapital für Großprojekte wie "Make in India", "Digital India", "Smart Cities" und "Clean Ganga" anzulocken, ist schwierig. Manche dieser Großvorhaben, obwohl notwendig, muten eher wie eine Show denn als wirklich durchdachte Entwicklungsprojekte an.

Politik findet in Indien nach Regeln statt, die moderne und traditionelle Prozesse miteinander kombinieren, und nicht zuletzt deshalb bleibt die Entwicklung des Landes ein Paradox. Indiens soft power, die funktionierende, multikulturelle Demokratie, der politische Pluralismus, die säkulare Gesellschaft, die freie Presse, religiöse Vielfalt und das kulturelle Erbe machen das Land zu einem attraktiven Partner und bieten eine Perspektive für eine bedeutsamere globale Rolle. Gleichzeitig aber bleiben die internen Schwächen. Indien ist eine der korruptesten Gesellschaften, die von einem traditionellen, verkrusteten Kastensystem dominiert wird. Für ausländische Betrachter erscheinen die politischen Entscheidungsprozesse in Indien manchmal fremd, verwirrend, gar exotisch - ebenso wie das Verkehrschaos in den Megastädten des Landes. Sowohl das Bild des bürokratischen, armen und unterentwickelten Landes spiegelt die Realität wider, wie auch das der Modernisierung und des Wirtschaftswachstums. Die indische Gesellschaft ist hybrid; sie schafft es, sowohl Yoga als auch WLAN zu integrieren.

Zum indischen Paradox gehört auch, dass der Subkontinent eine der dynamischsten Wirtschaftsregionen der Welt ist, doch gleichzeitig so unterentwickelt, dass die Mehrheit der Bevölkerung unter dem Existenzminimum lebt, in absoluter Armut.

Trotzdem kann Indien als aufstrebende Macht bezeichnet werden. Der indische Einfluss in weltpolitischen Fragen wächst. Angesichts globaler Probleme ist die Zusammenarbeit mit Indien auf globaler Ebene erforderlich. Das gilt für die weltweite Friedenssicherung, die Bekämpfung des Terrorismus, die Lösung der Finanzkrise oder für die Klimaschutzziele. Und die indische Regierung ist erpicht darauf, sich aktiv in globalen Fragen zu engagieren, nicht zuletzt mit der Ambition, die globalen Spielregeln zu ihren Gunsten zu verändern.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 13/2016 vom 20. Juni 2016, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 19. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2016

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