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DAS BLÄTTCHEN/1569: Putin und Lenin


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
19. Jahrgang | Nummer 4 | 15. Februar 2016

Putin und Lenin

von Erhard Crome


Anfang der 90er Jahre, kurz nach dem Ende der UdSSR, traf ich bei einem der vielen Workshops, die damals hierzulande zum Thema "Zerfall der Sowjetunion und die Folgen" stattfanden, einen russischen Philosophen, der sich abends im Gespräch als russischer Nationalist bekannte. Seine Grundthese war, beim Zaren sei das Reich in Gouvernements eingeteilt gewesen. Die waren nicht nach nationalen, ethnischen oder religiösen Gesichtspunkten organisiert, sondern es waren Verwaltungseinheiten, auch wenn hier die eine und dort die andere Nationalität stärker vertreten gewesen sei. Verwaltungseinheiten können aus dem Gesamtstaat nicht austreten. (Den Sonderstatus der Königreiche Polen und Finnland hatte er stillschweigend übergangen; in Bezug auf das "eigentliche" Russische Reich jedoch war die Beschreibung zutreffend.) Hauptfehler der Kommunisten sei gewesen, dass sie das ganze Land in national definierte Sowjetrepubliken umgewandelt hatten. Nur so konnten deren Anführer 1990 auf die Idee kommen, aus der Union auszutreten.

Genau diesen Gedanken vertrat kürzlich der russische Präsident Wladimir Putin. Am 21. Januar sagte er auf einer Sitzung des Rates für Forschung und Bildung der Russischen Föderation, mit dem Denken im Sinne einer Autonomisierung hätten die Bolschewiki "eine Atombombe unter das Gebäude, das Russland heißt, [gelegt] und die zerriss es dann auch". Putin setzte hinzu: "Und die Weltrevolution haben wir auch nicht gebraucht."

Darauf erhoben sich sofort Proteste. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) kritisierte Putins Äußerungen lautstark. Parteichef Gennadi Sjuganow dröhnte, Lenin habe "das bereits zerfallende Russländische Imperium geerbt" und "unser Land als den mächtigen föderativen Staat UdSSR hinterlassen". neues deutschland witzelte: "Russlands Präsident hat die Macht fest im Griff. Aber angesichts der wirtschaftlichen Krise braucht er offenbar einen Sündenbock. Dazu wählte er ausgerechnet Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Lenin." In der Neuen Rheinischen Zeitung (online) klagte Dietrich Schulze: "Ich bekenne, dass ich zutiefst empört bin über eine derartig verfälschende Geschichtsinterpretation, die alles konservativ-reaktionäre, gegen die Oktober-Revolution ins Feld geführte in den Schatten stellt." Und in der DKP-Zeitung UZ betonte Willi Gerns, es müsse "von einer antikommunistisch motivierten bewussten Entstellung der historischen Fakten die Rede sein". Der russische Historiker Juri Jemeljanow dagegen meinte, Putin finde sich in den historischen Ereignissen nicht zurecht.

Betrachtet man den Vorgang nicht ideologisch - Mit welchen Mustern und Schablonen, die wir aus Moskau kannten, bricht Putin jetzt? -, sondern stellt zunächst fest, dass der gewählte Herrscher aller Reußen sich mit der Geschichte befasst, dann ergeben sich Fragen: Was betont er? Welche Schwerpunkte setzt er? Warum tut er das?

Erinnern wir uns zunächst an zwei Aussagen aus der Vergangenheit, die unterschiedlich interpretiert wurden. Die erste war, der Zerfall der Sowjetunion sei "die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" gewesen. Das wurde im Westen oft so interpretiert, dass Putin die Sowjetunion wiederherstellen wolle, und die Entwicklungen um die Ukraine wurden als Beleg dafür genommen. Tatsächlich wurde auch von westlich orientierten Historikern und Publizisten in Moskau das Trauma des Zerfalls der Sowjetunion mit dem der Deutschen von "Versailles" verglichen: Man fühlte sich grundlos gedemütigt. Dem fügte Putin später hinzu: "Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz. Wer sie sich zurückwünscht, keinen Verstand." Abgesehen davon, dass dies die Abwandlung eines Satzes ist, der sich ursprünglich auf den Sozialismus bezieht und Churchill zugeschrieben wird, ist dies eine klare Aussage, die das Trauma aufnimmt, ohne es auf eine Wiederherstellung der Sowjetunion zu beziehen.

Putin hat in den vergangenen Wochen mehrere weitere Aussagen gemacht, die die obigen Fäden fortspinnen. Auf einer Tagung der Gesamtrussländischen Volksfront im südrussischen Stawropol hob er Ende Januar hervor, es bestehe nicht die Absicht, Lenins Leichnam umzubetten und vom Roten Platz in Moskau zu entfernen. Es sollte nichts getan werden, "was unsere Gesellschaft spalten könnte". Und er bekannte, dass er sein Parteibuch der Kommunistischen Partei nicht weggeworfen, sondern aufgehoben habe. Die Ideen des Sozialismus und Kommunismus hätten ihm immer sehr gefallen, sie seien der Bibel sehr ähnlich gewesen. "Die praktische Umsetzung dieser wunderbaren Ideen in unserem Land war jedoch weit von dem entfernt, was die Sozialisten-Utopisten vorgebracht hätten", zitierte ihn de.sputniknews.com. Auch hier wieder, wie bezüglich der "geopolitischen Katastrophe", die Betonung des historischen Bezuges auf die Sowjetunion, ohne eine historische Kontinuität zu postulieren.

Noch einmal ging er auch auf die Entscheidung der Bolschewiki in Sachen Autonomierechte ein: Kulturelle Autonomie wäre gut gewesen, das Recht auf Austritt aus der Sowjetunion dagegen sei die "Sprengladung" gewesen, die die Sowjetunion später zerstört habe. Hinzu kam die willkürliche Festlegung der Grenzen, wodurch zum Beispiel der Donbass zur Ukraine gekommen sei. Überdies kritisierte er die willkürlichen Erschießungen, etwa von Tausenden Bourgeois und Geistlichen im Jahre 1918, die auch auf ausdrücklichen Befehl Lenins erfolgt seien, und insbesondere die Erschießung der Zarenfamilie und ihrer Bediensteten, die schließlich auch nur proletarischer Herkunft gewesen seien. Insofern nahm er in Bezug auf Lenin nichts zurück, was er zuvor gesagt hatte.

Bemerkenswert sind zwei Aussagen. Die erste bezieht sich auf die Repressionen: "Alle warfen dem Zarenregime dessen Repressionen vor. Aber womit begann die Sowjetmacht ihre Existenz? Mit Massenrepressionen." Er sagt zwar nicht direkt, die Repressionen seien nach der Revolution schärfer gewesen als vorher. Aber es ist das Gemeinte. Insofern scheint Putin seinen Dmitri Wolkogonow schon genau gelesen zu haben.

Die zweite lautet: "Bekannt ist auch die Rolle der bolschewistischen Partei bei der Zersetzung der russischen Front im Ersten Weltkrieg. Und was haben wir davon gehabt? Wir haben gegen ein Land verloren, das ein paar Monate später selbst kapituliert hat. Und wir waren die Unterlegenen der Verlierer - eine in der Geschichte einmalige Situation. Und wofür das alles? Um des Kampfes um die Macht willen. Wie müssen wir heute die damalige Situation bewerten, die zu unendlichen Verlusten für das Land geführt hat?" Das ist die klare Gegenposition zu Sjuganow. Putin macht im Kern die Bolschewiki für die Niederlage im Ersten Weltkrieg verantwortlich. Was dechiffriert heißt: Russland hätte den Krieg damals fortsetzen sollen, um ihn nicht gegen die Deutschen zu verlieren, die später die eigentlichen Verlierer waren.

Vor dem Beirat des Verbandes erfolgreicher Unternehmer betonte Putin Anfang Februar: "Und es kann keine andere einigende Idee geben außer dem Patriotismus." Dafür braucht es den Bezug auf das Russische Reich, seine Traditionen und seine "Größe". Die der Sowjetunion war dagegen eine erschlichene; die Kommunisten kamen nur an die Macht, um den Preis der herbeigeführten Niederlage Russlands.

Einige Beobachter meinten, Putins Geschichtsinterpretationen zielten darauf, der Bevölkerung Russlands angesichts der verschlechterten Wirtschaftslage die Unsinnigkeit einer neuerlichen Revolution deutlich zu machen. "Patriotismus" kann aber auch mehr bedeuten. Als dieser Tage die Nachricht verbreitet wurde, angesichts des Vormarsches der syrischen Regierungstruppen auf Aleppo mit russischer Hilfe könnte die Türkei in Syrien einmarschieren, lautete ein Militärkommentar aus Moskau, die Türkei habe zwar die zweitgrößte Armee der NATO, aber der letzte Krieg, in dem die Türkei aktive Kampfhandlungen geführt hätte, sei der Erste Weltkrieg gewesen.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 4/2016 vom 15. Februar 2016, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 19. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. März 2016

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