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DAS BLÄTTCHEN/1414: Mit Volldampf in den Feudal-Kapitalismus


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
17. Jahrgang | Nummer 16 | 4. August 2014

Mit Volldampf in den Feudal-Kapitalismus

von Axel Fair-Schulz, Potsdam, N. Y.



Marx warnte bekannter Weise in seiner sowohl sprachlich wie auch analytisch brillanten Arbeit "Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" unter anderem vor der Versuchung, neue Entwicklungen mit dem begrifflichen Apparat schon länger bekannter Phänomene begreifen zu wollen und sie eben dadurch misszuverstehen: "Die Tradition aller todten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparolen, Kostüme, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen."

Bei aller diesbezüglich zu Gebote stehenden Vorsicht, die Dynamik des Gegenwärtigen mit den Begriffen des Vergangenen zu erfassen, kann man sich allerdings kaum des Eindrucks erwehren, dass der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts zunehmend neo-feudalistische Züge annimmt. Die seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts kumulativen Versuche, die universellen und emanzipatorischen Werte von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit auf die Tagesordnung zu setzen, werden heute von den herrschenden Wirtschaftseliten und ihrer politischen Infanterie immer offener ins Gegenteil verkehrt. Denn neben der weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen arm und reich sind zugleich ein rapides Aushöhlen demokratischer Prozesse und Strukturen, verbunden mit einer fortschreitenden Dezimierung von Bürger- und Menschenrechten, auf der einen Seite und dem Auf- und Ausbau eines autoritären Überwachungsstaates auf der anderen zu verzeichnen. Besonders in den USA ist eben dieser ursächliche Zusammenhang zwischen obszöner Konzentration von Macht- und Reichtum aufseiten der herrschenden Klasse und zeitgleicher Verarmung selbst der Mittelschicht - nebst Expansion des Niedriglohnsektors, Demokratieabbau, Polizeigewalt und Militarisierung der Innenpolitik - schwerlich zu übersehen.

Linke haben seit geraumer Zeit auf die immer anti-demokratischeren Entwicklungen im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts hingewiesen. Aufwändige und auf breiter empirischer Grundlage basierende Studien einer wachsenden Zahl von Experten, die sich zumeist ganz und gar nicht als links verstehen, kommen zum gleichen Ergebnis. So beispielsweise die "Princeton Study", eine von Martin Gilens, Professor für Politologie an der Princeton University, und Benjamin Page, Professor auf dem selben Fachgebiet an der Northwestern University, im April diesen Jahres veröffentlichte Mammut-Untersuchung über den Zustand der amerikanischen Demokratie. Ihre durchaus nicht leichtsinnig formulierte Schlussfolgerung unter dem Titel Testing Theories of American Politics: Elites, Interest Groups, and Average Citizens: Die USA könnten nach objektiven Kriterien beim besten Willen nicht mehr als bürgerliche Demokratie beschrieben werden, sondern sie sind eine Plutokratie. Die übergroße Bevölkerungsmehrheit habe so gut wie keinen Einfluss auf die politischen Entscheidungen im Land. Der amerikanische Politik-Betrieb sei fest in den Händen einer winzigen Wirtschaftselite und reflektiere ausschließlich deren Interessen und Prioritäten.

Eine ebenso akribisch erarbeitete Studie ist Thomas Pikettys monumentales Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert". Auch dieser französische Wirtschafts-Professor macht unmissverständlich deutlich, dass seine politischen und philosophischen Sympathien durchaus nicht im linken Spektrum verortbar sind. Doch trotz einer ausdrücklich pro-kapitalistischen Grundeinstellung belegt Piketty an Hand seiner auf über 20 verschiedene Länder und einem Untersuchungszeitraum von dreihundert Jahren fokussierten Arbeit, wie der Kapitalismus systemimmanent willkürliche und leistungsunabhängige soziale Ungleichheit produziert. Historische Epochen, in denen der Kapitalismus zumindest relativ sozialstaatlich gezähmt und mit rechtsstaatlichen Mitteln demokratisiert worden wäre, seien zeitlich begrenzte Ausnahmen. Die zwischen den 1950er und den 1970er Jahren florierende soziale Marktwirtschaft sei nur durch eine unwiederholbare Konstellation von spezifischen Faktoren möglich gewesen, einschließlich des Wiederaufbau-Booms nach den schrecklichen Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges. Langfristig treibe die kapitalistische Grundtendenz vielmehr durch die immer extremere Anhäufung von Besitz und Macht aufseiten einer kleinen Schicht der Superreichen zurück in eine autoritäre Gesellschaft, dominiert von einer Wirtschafts-Aristokratie. In den kommenden Jahrzehnten würden die kapitalistischen Gesellschaften aller Wahrscheinlichkeit nach von immer tieferen sozialen Konflikten zerrissen, verbunden mit ökologischen Schäden, die weitere hunderte Millionen von Menschen weltweit obdachlos machen würden. Die dominierende Wirtschaftselite hebele zunehmend die letzten noch vorhandenen demokratischen Kontroll- und Korrekturmechanismen aus.

Ist Piketty zu pessimistisch? Eher lässt sich das Gegenteil sagen, wenn man die Sachlage ernsthaft untersucht. Hilfreich ist diesbezüglich ein Blick auf die Einkommensentwicklung von Personal aus amerikanischen Chefetagen sowie die von dortigen Durchschnittsangestellten. Im Jahre 1965 verdiente die durchschnittliche Führungsgruppe (CEOs) in Unternehmen pro Jahr rund zwanzig Mal so viel Geld wie Durchschnittsmitarbeiter. 1978 war die Vergütung der CEOs bereits dreißig Mal höher als bei Durchschnittsangestellten. 1995 konnten die CEOs dann über 123 Mal so viele Einkünfte mit nach Hause nehmen. Und im Jahre 2013 schließlich verdiente ein CEO sage und schreibe 295,9 Mal so viel wie ein Durchschnittsangestellter im gleichen Unternehmen. Wohlgemerkt handelt es sich bei diesen Zahlen um die Einkommen von Durchschnittsangestellten, also nicht um die des Reinigungspersonals oder des nächtlichen Sicherheitsdienstes.

Amerikanische Historiker bezeichnen die Jahrzehnte zwischen 1870 und dem frühen zwanzigsten Jahrhundert als das Gilded Age, das goldene - oder richtiger: vergoldete - Zeitalter. Dieser Begriff geht zurück auf die von Mark Twain und Charles Dudley Warner 1873 publizierte Satire "The Gilded Age: A Tale of Today", welche den riesigen Reichtum, den die Industrie-Kapitäne sich auf Kosten ihrer am Rand des Existenzminimums dahinvegitierenden Arbeiter zusammengestohlen hatten, kritisch thematisierte. (Sinnigerweise betitelte der Wirtschaftswissenschafts-Nobelpreisträger Paul Krugman seine Rezension von Pikettys Buch in The New York Review of Books mit der Frage "Why We're in a New Guilded Age".) Schon drei Jahre vor Erscheinen von Twain und Warners Roman verglich die liberal-konservative Zeitschrift The Atlantic die damalige amerikanische Wirtschaftselite mit den Robber Barons, also den Raubrittern des europäischen Mittelalters. Allerdings seien die Tricks der dominierenden Schwindelmillionäre noch schlimmer als die ihrer feudalen Brüder im Geiste - "[...] the old robber barons of the Middle Ages who plundered sword in hand and lance in rest were more honest than this new aristocracy of swindling millionaires".

In der Juli/August-Ausgabe der Zeitschrift The Progressive stellt Will Durst mit durchaus schwarzem Humor fest, dass im Jahre 1910 das obere eine Prozent der Wirtschaftsbosse 18 Prozent des amerikanischen Nationaleinkommens kontrollierten. Im Laufe des 20. Jahrhunderts gab es deshalb im Rahmen keynesianisch und sozial-staatlich orientierter Wirtschaftspolitik zumindest partiell und temporär erfolgreiche Versuche, durch die gezielte Förderung einer Mittelklasse zu mehr sozialer Gerechtigkeit beizutragen. Dies führte zeitweilig zu einer ausgewogeneren Verteilung des amerikanischen Nationalvermögens. Die neo-liberale und marktradikale Transformation des Kapitalismus seit den 1970er Jahren führt uns jedoch immer schneller zurück in die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts.

Im Jahre 2010 gehörten dem einen Prozent der Superreichen nun sogar 20 Prozent des Nationaleinkommens. Und: Die reichsten 400 Familien allein besitzen heute ein größeres Vermögen als 165 Millionen amerikanische Bürger zusammen. "If all 165 million knelt end to end, those 400 families would have footrests from any compass point". Da sind wir nun wahrlich im Feudal-Kapitalismus angekommen.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 16/2014 vom 4. August 2014, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 17. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†), Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. August 2014