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DAS BLÄTTCHEN/1385: Was heißt Russland verstehen?


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
17. Jahrgang | Nummer 9 | 28. April 2014

Was heißt Russland verstehen?

von Erhard Crome



Die derzeitige staatstragende Propaganda hierzulande arbeitet daran, "Russlandversteher" zu einem Schimpfwort zu machen. Dabei zeigt bereits ein kurzer Blick in ein entsprechendes Wörterbuch der deutschen Sprache und Begriffe, dass Verstehen als das inhaltliche Begreifen eines Sachverhalts bestimmt ist, das über die bloße Kenntnisnahme hinausgeht. Es geht um intellektuelle Erfassung von Zusammenhängen, Kontextinformationen, Deutung und Sinn. Verstehen konnotiert mit Erklären, nicht mit Entschuldigen oder Verteidigen.

In diesem Sinne bestehe ich darauf, dass es keine belastbare Analyse der internationalen Beziehungen, keine tragfähige Perzeption der Politik von Mächten gibt, ohne zu verstehen, was sie warum tun. Die "Schlafwandler", die im Sommer 1914 den Ersten Weltkrieg ausgelöst haben, sind allesamt so sehr von sich ausgegangen, dass sie nicht in der Lage waren, zu verstehen, was die anderen taten und weshalb.

In einer aktuellen Studie zur "Ukraine-Krise" (April 2014) der Stiftung Wissenschaft und Politik, des außenpolitischen Forschungsinstituts der deutschen Regierung, heißt es, im Verhältnis zu Russland erscheine "ein Rückfall in die Konfrontation nicht unabwendbar, zumal die kennzeichnenden Elemente des Kalten Krieges fehlen: Ideologie- und Systemkonflikt und militärische Blockkonfrontation mit großangelegten Angriffs- und Eskalationsstrategien." Das ist unter der Perspektive der Erfahrungen des Kalten Krieges gedacht. Wenn wir allerdings auf 1914 schauen, bedürfen weder Blockkonfrontation - das waren Mittelmächte versus Entente als faktisch bipolare Bündnisstruktur auch - noch Eskalationsstrategien eines ideologischen oder Systemkonflikts. Marxistisch interpretiert, waren die am Ersten Weltkrieg beteiligten Mächte alle gleichermaßen kapitalistisch und die Großmächte "imperialistisch". Dass es um westliche Demokratie gegen autoritäre Herrschaft ginge, war eine Idee von Tomáš Garrigue Masaryk (nach 1918 Gründungspräsident der Tschechoslowakischen Republik) aus dem Jahre 1914, die Großbritannien, Frankreich und die USA als ideologische Waffe im Ersten Weltkrieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn gern aufnahmen - allerdings mit dem Makel: darunter fiel auch ihr Verbündeter, das zaristische Russland. Daraus folgt: Allein aus der Abwesenheit des Systemkonflikts folgt kein per se geringeres Eskalationspotential eines Mächtekonfliktes. Die Aussage, dass "ein Rückfall in die Konfrontation nicht unabwendbar" ist, bedarf jedoch ausdrücklicher Zustimmung; das hängt von den heutigen "Schlafwandlern" ab.

Das Verstehen Russlands beginnt mit der Betrachtung seiner Geschichte, und zwar vor der Errichtung der Herrschaft der Kommunistischen Partei. Als eine traumatische Periode gilt die "Zeit der Wirren" (1605-1613), die mit einem langjährigen polnisch-russischen Krieg und dem Versuch des polnischen Königs, sich zugleich die Krone Russlands zu sichern, verbunden war. Bereits zwanzig Jahre später war Russland, neu gestärkt, in der Lage, einen neuerlichen Krieg gegen Polen zu führen (1632-1634), in dessen Ergebnis der polnische König endgültig auf alle Ansprüche auf den russischen Thron verzichtete.

Die russisch-türkischen Kriege hatten jahrhundertelang eine schrittweise Zurückdrängung des Osmanischen Reiches zur Folge. Russland eroberte im 18. Jahrhundert den Zugang zum Schwarzen Meer und die Krim. Mitte des 19. Jahrhunderts wollten die anderen europäischen Großmächte, Großbritannien, Frankreich und Österreich, diesen Prozess stoppen; sie unterstützten das Osmanische Reich und es kam zum Krimkrieg (1853-1856). Russland erlitt eine Niederlage und musste mit dem Pariser Frieden von 1856 Bedingungen akzeptieren, wonach das Schwarze Meer neutralisiert wurde; Russland durfte dort keine Flotte und keine Verteidigungsanlagen unterhalten. Es hatte seine Stellung als stärkste Militärmacht Europas verloren. Nach dem deutsch-französischen Krieg, durch den Frankreich als Großmacht zeitweilig ausgeschaltet war, erreichte Russland bereits im März 1871 mit Unterstützung Bismarcks die Aufhebung der Schwarzmeerklauseln des Pariser Friedens und konnte dort wieder Flotte und Militäranlagen unterhalten. Bereits 1877-1878 war Russland in der Lage, den nächsten Krieg gegen das Osmanische Reich zu führen, dessen Ergebnis unter anderem die Befreiung Bulgariens vom türkischen Joch war.

Nehmen wir jetzt noch das 20. Jahrhundert hinzu, die große Schwäche Sowjetrusslands nach dem Ersten Weltkrieg sowie den nachrevolutionären Bürgerkriegen bis Anfang der 1920er Jahre und die Kriegsführungsfähigkeit der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, die entscheidend zur Niederlage Hitlerdeutschlands beitrug, so scheint es gewissermaßen eine Konstante der russischen Geschichte zu sein, dass das Land nach jeder Zeit der Schwäche - und das war auch die Lage am Ende des Ost-West-Konflikts und nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 - etwa zwanzig Jahre brauchte, um militärisch wieder handlungsfähig und stark zu sein. Die sind jetzt um. Als in Moskau Ende der 1990er Jahre der berühmte Satz von Zar Alexander III. in Umlauf gebracht wurde: "Russland hat nur zwei Verbündete: seine Armee und seine Flotte", wurde im Westen darüber gelacht. Das ist jetzt vergangen. Die Periode nach dem Kalten Krieg, während der die USA und der Westen meinten, in der Welt schalten und walten zu können, wie sie wollen, ist vorbei.

In der Krise um die Ukraine handelt Russland, und der Westen reagiert. Nun heißt es aus der Propagandamaschine, man müsse "größere Geschütze" gegen Russland auffahren, mit dem leiseren Nachsatz, das sei natürlich nicht militärisch, sondern politisch gemeint. Anders ist es auch kaum denkbar - außer den USA hat niemand eine Russland vergleichbare Kriegsführungsfähigkeit, und eine Eskalation, die sich nicht selbst begrenzt, hätte den Nuklearkrieg zur Konsequenz. Nun wird gemeint, man könne Russland wirtschaftlich erdrosseln. Aber Russlands militärische Macht beruhte niemals, auch das ganze 19. Jahrhundert lang, auf einer herausragenden wirtschaftlichen Grundlage. Es lag industriell weit hinter Großbritannien und Frankreich, dann Deutschland und den USA zurück. Und dennoch wäre Russland 1917 bereits wieder stärkste Militärmacht Europas gewesen - was für die deutsche Reichsleitung im Juli 1914 ja der Punkt war, weshalb sie den Krieg "jetzt oder nie" wollte.

Die USA in ihrer schwächer werdenden Position wollten sich von Europa nach Asien wenden. Obama bereist gerade Asien und macht in Japan, Südkorea, Malaysia und auf den Philippinen Station, den Ländern, die er im engeren Sinne für die Einkreisung Chinas braucht. Der Ukraine-Konflikt läuft dieser Strategie zuwider und entlastet China. Wer wollte denn glauben, dass China zuschauen würde, wenn die USA versuchten, Russland wirtschaftlich zu strangulieren? Mitten in der Ukraine-Krise und zeitgleich mit dem deutschen Außenminister Steinmeier war Außenminister Sergej Lawrow in Peking. Sie werden nicht nur über Erdgas und Asien geredet haben. Und Russland und China gleichzeitig zu erdrosseln, überstiege die Möglichkeiten auch des ganzen Westens. Kurzum: Wenn der Druck militärischer Art ist, nutzt auch die Drohung des Händlers, keinen Kredit mehr geben zu wollen, nichts. Es gibt keine ernsthafte Alternative zu echten politischen Verhandlungen.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 9/2014 vom 28. April 2014, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 17. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†), Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2014