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DA/589: "Armutseinwanderer"?


DA - Direkte Aktion Nr. 229 - Mai/Juni 2015
anarchosyndikalistische Zeitung der Freien ArbeiterInnen Union (FAU-IAA)

"Armutseinwanderer"?
Ein Diskussionsbeitrag zum Schwerpunkt der letzten Ausgabe

von Elka Holan und Peter Mrok


Die Politik macht sich Sorgen: Zehntausende neu zugewanderte Roma in Berlin, Camps in öffentlichen Parks und offensichtlich überfüllte Immobilien. Sie reagiert mit Stimmungsmache und der Wiederbelebung sämtlicher rassistischer Klischees gegenüber Roma als dem Teil der neuen osteuropäischen Migration, der am stärksten wahrgenommen wird.

Die Berliner außerparlamentarische Linke reagiert, wenn überhaupt, hilflos mit einem Antirassismus, der die Roma eher als hilfsbedürftige Objekte denn als mögliche Verbündete in einer sozialen Auseinandersetzung sieht und in dem ungewollt auch Klischees über "die Roma" mitschwingen. Auch weil die Lebenssituation so drastisch ist, dass sie nicht in die Vorstellungswelt deutscher Linker passt, gibt es kaum eine Wahrnehmung gemeinsamer Interessen. Das führt dazu, dass linke Aktivitäten zum Thema oft vor allem karitativen Charakter haben und bestenfalls Symptombekämpfung sind.Immerhin macht die gemeinsame Auseinandersetzung der rumänischen Kollegen und der FAU Berlin um die "Mall of Shame" Hoffnung auf einen Paradigmenwechsel.Wir, die AutorInnen dieses Textes haben auch keine endgültigen Antworten, hoffen aber mit unserem Text ein wenig zu einem besseren Verständnis der Situation beizutragen.


Neue "Gastarbeiter" und Zuzug von Arbeitsmigrantinnen aus Südosteuropa

Die EU-Osterweiterung bedeutet für das deutsche Kapital unter anderem den Zugang zu einem neuen riesigen Arbeitskräftereservoir. Zugleich ist die Arbeitsmigration - weil individuell - nicht wirklich steuerbar. Neben der regen Vermittlung von vertraglich abgesicherten Arbeitskräften, besonders für die Pflegearbeit über die rumänischen Arbeitsvermittlungsagenturen, wandern viele Menschen ein, die auf eigenes Risiko in Deutschland auf Arbeitssuche gehen.

Der Großteil der rumänischen sowie bulgarischen MigrantInnen findet lediglich ein extrem prekäres Auskommen. Als unterster Teil von oft ethnisch sortierten Subunternehmerketten (die deutsche Firma, der türkische Subunternehmer, der serbische Subunternehmer und dann der rumänische "Selbstständige"), arbeiten sie als Tagelöhner oder auf informeller Zeitarbeitsbasis in allen arbeitsintensiven Jobs wie etwa auf Baustellen, für die Lebensmittelindustrie oder in der Reinigung. Es gibt aber auch immer mehr offizielle Zeitarbeitsfirmen, welche sich auf Neuzugezogene ohne Berufsabschluss spezialisiert haben. Sie verleihen die Leute, meist als Logistikarbeiter direkt an Bahlsen, Coca Cola, die Fleischindustrie etc.

Rumänen und Bulgaren bauen das Gebäude der Deutschen Rentenversicherung, das Berliner Stadtschloss und den BER. Die Mall of Berlin ist nur das mittlerweile bekannteste Beispiel. Die dortigen Arbeitsbedingungen sind exemplarisch. Selbst DGB-Gewerkschaften sind seit einiger Zeit auf das Thema aufmerksam geworden und haben Beratungsstellen eingerichtet, wo man rumänisch und bulgarisch spricht.


Produktions- und Reproduktionskosten und das Drumherum

Die Einwanderungswelle senkt die Produktionskosten für das Kapital vor Ort enorm. Uns sind Beispiele von Leuten bekannt, die für Coca Cola 40 Stunden pro Woche im 3-Schicht-System arbeiten und am Wochenende den strassenfeger verkaufen, weil die Kohle nicht reicht. Die Löhne auf der Baustelle übersteigen, ob mit oder ohne Vertrag, in keinem Fall 8 Euro pro Stunde. Meist sind es weniger als 5 Euro. Wochenarbeitszeiten von 60 Stunden sind Standard. Auch die Reproduktion der neuen migrantischen ArbeiterInnen kostet das Kapital kaum etwas und den Staat meist gar nichts.

Der Zugang zu Kindergeld sowie ALG 2 wird immer mehr erschwert, die Anmeldung in Deutschland läuft über die Vermittlung von Beratungsstellen und NGOs oder über ein halbmafiöses System, das Meldebescheinigungen, Übersetzungen und andere öffentliche Dokumente als Dienstleistung teuer verkauft. Tatsächlich bis ins deutsche Sozialsystem schaffen es verhältnismäßig wenige.

Ohne vertraglich geregelten Job oder Leistungen vom Jobcenter gibt es kaum Chancen eine Krankenversicherung zu erhalten. Trotz Versicherungspflicht vermeiden es die Krankenkassen, die MigrantInnen aufzunehmen, weil prekär Beschäftigte aus prekären Verhältnissen, die regelmäßig chronische oder anders schwerwiegende Krankheiten haben, ein unerwünschter Kostenfaktor sind. Viele ArbeiterInnen leiden z.B. unter Diabetes, Nierenschäden oder Herzerkrankungen, zudem gibt es viele Arbeitsunfälle. Im Problemfall heißt es, die ArbeiterInnen hätten sich der Versicherungspflicht entzogen. Versicherungslücken führen zu enormen Nachforderungen von Seiten der Kassen und haben Schulden sowie noch stärkere Rechtlosigkeit zur Folge. "Selbstzahler"-Beträge für ärztliche und stationäre Behandlung von mehreren tausend Euro pro Jahr pro Familie und somit wiederum Anhäufung von Schulden wären die Alternative.

Es gibt in Berlin für nicht regulär Beschäftigte fast keinen Zugang zum regulären Wohnungsmarkt. Das bedeutet, dass Wohnraum untereinander vermittelt wird und viele Leute in zu kleinen und heruntergekommenen Wohnungen leben. Häufig müssen sie Schmiergelder von zum Teil mehreren tausend Euro an (deutsche) Vermieter zahlen. Eine ganze Reihe findiger Vermieter sowie Hostelbesitzer hat sich mittlerweile auf diese Zielgruppe spezialisiert und vermietet ohne die üblichen Gehalts- und Schuldenfreiheitsnachweise zu unglaublichen Preisen.

Die Kinderbetreuung wird meist familiär geregelt. In Berlin gibt es zu wenig Kitaplätze. Das betrifft alle EinwohnerInnen der Stadt. Die EinwanderInnen sind diejenigen, die das am stärksten spüren. Deshalb kommt dann zum Beispiel die Großmutter aus Rumänien, damit sie auf die Kinder aufpasst.Bei geringem Einkommen ist kaum Geld für Mobilität übrig. Die Wege zur Arbeit, mit den Kindern zur Schule etc. müssen aber gefahren werden. Die Folge sind flächendeckend Schulden aus Bußgeldern bei der BVG, bzw. deren Inkassofirmen.

In den arbeitsintensiven Jobs arbeiten größtenteils die Männer. Das Familieneinkommen wird oft aufgestockt durch "Nebentätigkeiten" der Frauen bspw. durch Pfandflaschen sammeln, strassenfeger verkaufen, in Privathaushalten putzen etc.


Wohnungspolitik

Für niemanden gibt es mehr billige Wohnungen in Berlin. Diejenigen, die das am meisten zu spüren bekommen sind die Neueingewanderten Die Bedingungen, unter denen die neu eingewanderten ArbeiterInnen in Berlin leben, sind die Bedingungen, unter denen weltweit der größte Teil der Arbeiterklasse lebt. Weltweit gesehen gehört es nicht zum Standard, dass der Lohn die Kosten für eine angemessene Unterkunft deckt. Auch heute lebt ein großer Teil der Weltbevölkerung in Slums, Favelas, und ähnlichem, wo diese Kosten nicht anfallen und nicht vorgesehen sind, pendelt vom Dorf in die Fabrik oder lebt in Massenunterkünften, in denen die "Miete" direkt mit dem Lohn verrechnet wird. Auch in Berlin hat sich der Standard erst seit den 1950er Jahren geändert - mit dem fordistischen Klassenkompromiss, der höhere Löhne und die großen Wohnungsbauprojekte der Sozialdemokratie einschloss. In dieser Form ist der Klassenkompromiss allerdings passé. Die Reallöhne sinken. Sozialer Wohnungsbau findet nicht mehr statt.


Ethnisierung

Die Ethnisierung von Armut, als wichtigstes Merkmal des Antiziganismus, prägt alle hierzulande seit eh und je verbreiteten und nun wieder neu aufgewärmten Klischees sowie Vorurteile gegenüber "Zigeunern". Die damit geschürte Angst und Ablehnung von Seiten der Mehrheitsbevölkerung sind ein wichtiges Hilfsmittel um die Leute in ihre Schranken zu verweisen und sicherzustellen, dass sie die angebotenen Arbeits- und Lebensbedingungen akzeptieren. Natürlich ist es gleichzeitig auch hilfreich, einer ebenfalls von immer unsichereren Lebensbedingungen betroffenen Mehrheitsbevölkerung einen Sündenbock und die Fleischwerdung aller Abstiegsängste präsentieren zu können.

Zur Ethnisierung des Problems gehört das auch in linken Kreisen verbreitete Argument, man müsste den Leuten helfen, denn die Roma sind auch in ihren Herkunftsländern diskriminiert und hätten keinen Zugang zu Bildungssystem, Arbeitsmarkt etc. Das ist so natürlich richtig, erzeugt aber alleingestellt ein Bild, in dem alle diese MigrantInnen aus dem letzten Bergdorf oder Ghetto kommen und noch nie einen Wasserhahn oder eine Schule von innen gesehen hätten. Es versperrt den Blick auf die Unterschiedlichkeit der Leute, aber auch auf ihre spezifischen Erfahrungen. Die Möglichkeit, dass es sich auch bei den rumänischen und bulgarischen Roma um einen Teil der ehemaligen osteuropäischen Industriearbeiterklasse handelt, wird mit diesem Blick von vornherein ausgeschlossen.

Stattdessen gilt es festzuhalten, dass viele mit beeindruckenden Erwerbs- und Migrationsbiografien aufwarten können. Neben ErntearbeiterInnen, die in den Jahren vor Krisenbeginn in Spanien, Italien, Griechenland ein im Vergleich zu Berlin sicheres Auskommen hatten und Leuten, die schon auf Baustellen an allen Ecken dieser Welt gearbeitet haben, gibt es genug ehemalige Industriearbeiterinnen, Bahnangestellte, Heizer, Monteure, Hausangestellte, Elektriker, die sich erst durch die Entlassungswellen in der Transformationsperiode in Osteuropa in die Situation gerieten, sich wieder auf ihre ethnische Zugehörigkeit reduziert zu sehen.

Es wäre ebenso eine Aufgabe der Linken in Deutschland die Erfahrungen der Leute ernst zu nehmen und die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass man ebenfalls von ihnen etwas lernen könnte. Außerdem erinnert die Biografie vieler osteuropäischer MigrantInnen daran, dass schulische Bildung nicht die einzige Art von Bildung ist, die ein Mensch erhalten kann und zudem alles andere als ein Garant für gesellschaftlichen Aufstieg ist.


Was hat das mit meiner Gewerkschaft zu tun?

Ein Heer rechtloser KollegInnen verschlechtert immer auch die Arbeitsbedingungen derjenigen, die zurzeit noch gewisse Rechte genießen. Je verzweifelter und prekärer die Lebenssituation der Arbeiterinnen ist, desto eher führt sie zur Entsolidarisierung. Extrem stigmatisierte Personengruppen, die zunächst erstmal beweisen müssen, dass sie überhaupt gute Arbeitende sein können, sind schwierige KollegInnen. Denn sie müssen sich dem Chef gegenüber profilieren und nicht in erster Linie gegenüber den KollegInnen. Am schnellsten arbeiten, keine Pause machen, die ganz schweren Sachen schleppen können,... Die Leute müssen den Job auf jeden Fall behalten, denn die Chancen einen anderen zu finden sind gering und oft hängen noch viele Familienmitglieder an diesem Einkommen.

Von offizieller Seite wird gerne behauptet, dass die Zahl der MigrantInnen aus Rumänien und Bulgarien steigt. Selbst wenn das so sein sollte, ist es wichtig im Hinterkopf zu behalten, dass ein Großteil der Leute seit drei bis fünf Jahren in Deutschland ist. Mit der Zeit und besonders mit dem Eintreten der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Arbeitskräfte aus Rumänien und Bulgarien, werden sich die Leute ihrer Rechte bewusst und trauen sich auch hin und wieder etwas zu riskieren. Erfreulicherweise gibt es, neben der Mall of Shame, mittlerweile einige Beispiele in Frankfurt am Main und Hamburg, wo rumänische Arbeiterinnen sich gegen ihre Arbeitsbedingungen gewehrt haben und diese Kämpfe gewonnen haben.

An dieser Stelle macht die politisch inszenierte Panikmache zur "Armutseinwanderung" und damit einhergehende Repression den ersten Ansätzen von Organisation sofort den Garaus. Für eine Basisgewerkschaft ist es zwingend notwendig einen Weg zu suchen, dem zu begegnen.

Es gilt, den gleichberechtigten Kontakt zu suchen und gemeinsame Ansätze für eine gewerkschaftliche Organisierung zu finden. Sich eine Vorstellung von den reellen Arbeits- und Lebensverhältnissen der neuen Kolleginnen zu machen ist Ausgangspunkt und Voraussetzung dafür.


URL des Beitrags:
https://www.direkteaktion.org/229/201earmutseinwanderer201c

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Quelle:
DA - Direkte Aktion Nr. 229 - Mai/Juni 2015, S. 8
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juli 2015

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