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CORREOS/213: El Salvador - Perversion des Menschenrechtsdiskurses


Correos de las Américas - Nr. 185, 1. September 2016

Perversion des Menschenrechtsdiskurses
Die Welle «weisser Putsche» erfasst auch El Salvador.

von Dieter Drüssel


Am vergangenen 13. Juli erklärte die Verfassungskammer des Obersten Gerichts von El Salvador das berüchtigte Amnestiegesetz für verfassungswidrig. Es war von der regierenden Rechtspartei ARENA im März 1993, ein Jahr nach Friedensschluss und fünf Tage nach Veröffentlichung des Berichts der UNO-Wahrheitskommission(1) über die Kriegsverbrechen während des Bürgerkriegs von 1980-92 dekretiert worden. Die Ex-Guerilla des FMLN hatte leidenschaftlich, aber vergeblich gegen diesen offenen Bruch der Friedensabkommen von 1992 protestiert. Denn das Gesetz erklärte nicht nur alle Verbrechen gegen die Menschheit für straffrei, sondern machte auch die friedensvertraglich als verbindlich festgelegten «Empfehlungen» der Wahrheitskommission zur Ahndung und Wiedergutmachung der grauenhaften Ereignisse gegenstandslos.

Einen Tag nach dem Entscheid der Verfassungskammer zeigte sich Amnesty International erfreut und erklärte: «Heute ist ein historischer Tag für die Menschenrechte in El Salvador»(2). Für die Jesuitenuniversität UCA «öffnet der Mut» der Verfassungskammer «eine neue Phase in der Geschichte»(3). Ovidio Mauricio González leitet die ehemalige Menschenrechtsgruppe Tutela Legal, die der Erzbischof mit Segen der Verfassungskammer schliessen liess, um die während des Kriegs gesammelten Zeugnisse von Repressionsopfern über die Gräueltaten des Regimes unter Verschluss zu halten.(4) Er erkennt in der neuen Lage «eine Chance für Gerechtigkeit und Aussöhnung».(5) 22.000 Fälle habe die Wahrheitskommission dokumentiert, doch Gerechtigkeit für die Opfer sei am Amnestiegesetz gescheitert. Jetzt müsse die Justiz endlich Fälle wie die Armeemassaker von El Mozote oder vom Río Sumpul (schätzungsweise 1.000 resp. 600 ermordete ZivilistInnen) angehen.

Individuelle ARENA-VertreterInnen äusserten nach einer ersten Konsternation, die Entscheide der Kammer seien obligatorisch zu befolgen. Obwohl diese Partei das Amnestiegesetz geschaffen und seither durch dick und dann verteidigt hatte, hat sie bis dato kein Communiqué zu seiner Aufhebung veröffentlicht. Einige Ex-Offiziere der Armee sahen jetzt einen neuen Krieg kommen. Aktive Offiziere haben sich nicht geäussert, bis auf Verteidigungsminister David Munguía Payés, der vor möglichen destabilisierenden Folgen warnte. US-Botschafterin Jean Elizabeth Manes äusserte sich vorsichtig in Begriffen der «Respektierung» des Richterspruchs.

Zwei Tage nach dem Kammerurteil äusserte der FMLN eine harsche Kritik am Kammerentscheid: «Wir prangern die destabilisierende Absicht einer Gruppe von Richtern an, sich zu einer parallelen Regierung entwickeln zu wollen, einer Regierung der Richter [...]. Wir anerkennen wie stets in der Vergangenheit das Recht der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung als Weg zur Aussöhnung, entsprechend dem Geist der Friedensabkommen von 1992».(6) Präsident Salvador Sánchez Cerén sagte seinerseits: «Wir haben stets ein klares Engagement für die Opfer des Kriegs gehabt. Wie wir wiederholt anlässlich anderer Entscheide dieser Kammer gesagt haben, gehen diese nicht die echten und aktuellen Probleme des Landes an; sie verschärfen die Alltagsprobleme der Salvadorianer, statt sie lösen zu helfen.»(7)


Die Mechanik der Manipulation

Die Verfassungskammer hält in ihrem Entscheid(8) fest, dass das Amnestiegesetz in dem Mass verfassungswidrig ist, als es nach während des Krieges im Land geltendem internationalem Recht nicht amnestierbare Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen jeglicher Strafverfolgung entzogen hat. In diesem Punkt hat die Kammer die seit 1993 von Menschenrechtsgremien und vom FMLN vorgetragenen Argumente übernommen. Aber das Problem liegt anderswo.

Die Magistraten schreiben den Bericht der UNO-Wahrheitskommission von 1993 radikal um. Das geht so: «In jedem einzelnen im Bericht der Wahrheitskommission festgehaltenen Fall ist ein gemeinsamer Nenner wahrzunehmen: die Existenz diverser Strukturen von militärischem, paramilitärischem oder aufständischem Charakter, die - ausserhalb der Rechtsordnung - schwere Verletzungen» der Menschenrechte begangen haben. «In diesen Strukturen ist ohne weiteres eine Spitze oder Leitung zu erkennen, die diese Befehle erteilte und die die Kontrolle über das Handeln der Untergebenen ausübte» (S. 28). Auf diesen «poderes de mando» (Strukturen mit Kommandohierarchie) insistiert die Kammer durchgängig. In der Nacht sind alle Katzen grau. Über diese formale (operative) konstruiert sie eine inhaltliche Gleichstellung von Armee und Guerilla. Die Wahrheitskommission ordnete 5 % der Kriegsmenschenrechtsverletzungen der Guerilla und 95 % dem Regime zu. Diesen enormen quantitativ-qualitativen Unterschied nivelliert die Kammer ohne materielle Begründung auf null.

Wiederholt betonen die Magistraten die Bestrafbarkeit von Verbrechen, die nicht im Bericht der Wahrheitskommission aufgetaucht seien - Verbrechen «gleicher oder grösserer Schwere und Bedeutung» als die im Bericht dokumentierten (S. 40). Aus spezifischen Gründen fehlt ein Verbrechen des FMLN im Bericht (s. Kasten unten), doch ändert dies nichts an dessen in den Friedensabkommen festgelegten Normativität Die UNO-Kommission hatte unvergleichlichen Zugang zu Archiven und Quellen beider Seiten, nicht spezifizierte «neue» Fälle erhalten jetzt jedoch per Spruch der Verfassungskammer das gleiche Gewicht. Um den Justizapparat unter einer angeblichen Flut möglicher Verfahren nicht zusammenbrechen zu lassen, weiss die Kammer ein ominöses Mittel: eine Prioritätenliste (S. 39) von zu ahnenden Fällen. Mehr dazu - wer erstellt diese? nach welchen Kriterien? - lässt sie sich in diesem Urteil nicht entlocken.

Es gibt weitere, beunruhigende Elemente in diesem Urteil. Auf S. 34 lesen wir: «Die neue Situation aufgrund dieses Verfassungsurteils unterstreicht die Notwendigkeit eines echten demokratischen Übergangs zum Frieden [und der Respektierung...] der Garantie der Nichtwiederholung von Verbrechen gegen die Menschheit und von Kriegsverbrechen.» Mehrmals thematisiert die Kammer, dass mit ihrem Spruch die Pforten für eine «Transitorische Justiz» geöffnet werden. 24 Jahre nach den Friedensabkommen - und unter einer FMLN-Regierung! (Diese ist offensichtlich «vor-transitorisch»...) Dies passt zum Diskurs rechter Thinktanks über ein neues «Friedensabkommen», einen neuen «Gesellschaftsvertrag» zwecks Absicherung des neoliberalen Modells, das schrittweise von der FMLN-Regierung durchbrochen wird.


Die Opfer missbrauchen

René Hernández Valiente, Mitglied der Verfassungskammer von 1994-97 und rechter Hardliner, gehört zum engen Umfeld der heutigen Verfassungskammer. Er freute sich: Das Kammerurteil «wird unsere Gesellschaft durcheinander wirbeln (...). Es gibt Anschuldigungen gegen Mitglieder der aktuellen Regierung; sie werden definitiv betroffen sein».(9) Im Visier Staatspräsident Salvador Sánchez Cerén und andere FMLN-Kader. Ins gleiche Horn blies am 1. August die ultrareaktionäre Lateinamerika-Kolumnistin des Wall Street Journal, Mary Anastasia O'Grady: «Wie der salvadorianische Ökonom Manuel Hinds in einer am 17. Juli in El Diario de Hoy veröffentlichten Kolumne anmerkte, wird eine erschöpfende Untersuchung die politische Struktur des FMLN köpfen. Viele Mitglieder dieser Leitung sind mutmasslich in Massaker, Morde und Entführungen auf einer Liste der Verfassungskammer verwickelt.»[10] Die in der salvadorianischen Rechten populäre Pinochet-Bewunderin O'Grady ruft deshalb ARENA dazu auf, sich hinter die Verfassungskammer zu stellen. (Hinds war Superminister in ARENA-Regierungen und Hauptpromotor der Dollarisierung des Landes 2001.) Zu diesem Zweck könnte sogar der unübersehbar in die Jesuitenmorde 1989 verwickelte ehemalige Staats- und ARENA-Präsident Cristiani geopfert werden, wie man in El Salvador mutmasst.(11)

Der renommierte Menschenrechtsanwalt David Morales, bis vor kurzem Leiter der regierungsunabhängigen Menschenrechtsprokuratur, begrüsste die Abschaffung des Amnestiegesetzes als «Errungenschaft» der Opfer der Menschenrechtsverletzungen, für die sie 20 Jahr gekämpft hätten(12). Doch gleichzeitig kündete er die Schaffung eines Mechanismus der Prokuratur an, um «mögliche opportunistische, politisch motivierte Anschuldigungen zu verhindern. Ich will nur, dass der Schmerz der Opfer (...) nicht instrumentalisiert wird, dass nicht andere Akteure ihre Gegner aus politischen Gründen mit unbegründeten Anschuldigungen (...) angreifen.» Weniger diplomatisch formulierte das die Parlamentspräsidentin Lorena Peña auf ihrer Facebookseite: Das Urteil «trägt nichts zur Wiedergutmachung für die Opfer bei, es missbraucht sie.»

Auch Regierungssprecher Eugenio Chicas begrüsste die Aufhebung des Straflosigkeitsgesetzes, gab aber zu bedenken, dass die bisherige «Passivität» der Justiz nicht allein dem Amnestiegesetz zu danken sei: «Es gibt mehr als 900 Dossiers im Obersten Gericht, die [mutmasslich korrupte] Operateure der Justiz betreffen, die nicht behandelt werden. Dies schafft Strafffreiheit.»(13) Für die Dossierbehandlung ist letztlich die Verfassungskammer zuständig. 2002 hatte zudem die damalige Verfassungskammer das Amnestiegesetz für die Zeit des ARENA-Regierungsantritts vom 1. Juni 1989 bis Kriegsende aufgehoben, da sich eine Regierung nicht selber amnestieren könne. Mehrere Massaker, so auch die Jesuitenmorde, hätten von der Generalstaatsanwaltschaft untersucht und von den Gerichten geahndet werden müssen, notfalls unter Druck der Verfassungskammer. Geschehen ist nichts.


Die «Unsichtbaren»

Einige Sektoren wollten, so Chicas, die Aufhebung des Amnestiegesetzes für das Anfachen von Widersprüchen zwischen Regierung und Armee missbrauchen. Doch «die jetzigen Streitkräfte haben nichts mit jener Institution zu tun, die während des bewaffneten Konflikts die Verbrechen beging.» «Die Streitkräfte tanzen nicht mehr automatisch nach der Pfeife Washingtons», versicherte kürzlich ein FMLN-Kader im Gespräch. Die längst pensionierten Armeeführungen aus der Kriegszeit haben politisch massiv an Gewicht verloren, Doch Strafverfahren gegen noch aktive Militärs, die im Krieg verbrecherische, aber untergeordnete Rollen hatten, könnten, so die Befürchtungen im FMLN, das Ziel haben, in der Armee negative und gefährliche Solidarisierungseffekte (Korpsgeist) zu provozieren. (Vergessen wir nicht: 201 musste die Armee einen öffentlichen Putschaufruf des in den Präsidentschaftswahlen unterlegenen ARENA-Kandidaten zurückweisen.)

Natürlich erwähnt auch die Kammer zwei Hauptkräfte bei den Menschenrechtsverbrechen während des Kriegs mit keinem Wort: die USA und die Oligarchie. In ihrem Facebook-Account schrieb Lorena Peña am 17. Juli: «Die Oligarchie benutzte die [Streitkräfte], die Paramilitärs, und finanzierte die Todesschwadronen. Dies hält der Anhang des Berichts der Wahrheitskommission fest. Die Gleichen stehen heute hinter der Verfassungskammer.» Die USA hatten in der Gesamtkriegsführung die Leitung übernommen, ohne «Details» wie die Ausbildung von Folterspezialisten zu vernachlässigen.


Die Erpressung

Am gleichen Tag, an dem die Kammer ihr Amnestieverdikt bekannt gab, verschärfte sie ihre Politik der finanziellen Strangulierung der Regierung(14) mit dem Verbot eines parlamentarisch abgesegneten Kredits von $900 Mio. Die Regierung hat akute Finanzprobleme, als Resultat der Blockadenpolitik der Rechten im Parlament. Für Verschuldungsbeschlüsse braucht es hier 2/3 der Stimmen; kommen die aufgrund spezieller Umstände doch einmal zusammen, rekurriert die Oligarchie an die Verfassungskammer. Diese hat darauf regelmässig angefochtene moderate Steuerreformen und Massnahmen gegen Steuerbetrug als verfassungswidrig annulliert. Und ebenfalls am gleichen Tag blockierte die Kammer auch einen 13-prozentigen Zuschlag auf die (billigen) Strompreise für die 30 % der grössten StrombezügerInnen, ein Zuschlag für die Finanzierung alternativer Energiequellen und der Stromsubventionen der restlichen 70 % der Bevölkerung. Als Resultat dieser systematischen Abschnürung wird die Regierung binnen kurzer Zeit grosse Schwierigkeiten haben, ihren Zahlungsverpflichtungen (von den Löhnen bis zu den Auslandsschulden) nachkommen zu können. Für ihre nötige parlamentarische Zustimmung zu neuen Krediten (und dem Stillhalten der Kammer) will die Rechte einen drastischen «Sparkurs» unter der Ägide des IWF durchsetzen. Ein Geheimtreffen Ende Juli zwischen der Verfassungskammer, rechten Medien und Grossunternehmern sickerte durch. Magistrat Meléndez begründete das Geheimtreffen mit dem Satz: «Wir, die dieses Land leiten, müssen den Dialog pflegen.»


«Mit einem Federstrich...»

Als vierten, formal in die Verweigerung der $900 Mio. eingebetteten Entscheid verkündete die Kammer am 13. Juli, dass es ab sofort bis zu den nächsten Parlamentswahlen 2018 keine ErsatzparlamentarierInnen mehr gäbe. Dann müssen sie einzeln auf den Wahlzetteln aufgeführt und angekreuzt werden. Seit Jahrzehnten wurden diese StellvertreterInnen (suplentes) nicht individuell, sondern automatisch mit den Hauptabgeordneten mit gewählt. Für das Funktionieren des Parlaments bis 2018 sind aufgrund dessen Funktionsweise (wöchentliche Sessionen plus zahlreiche Kommissionssitzungen u. a.) beträchtliche Schwierigkeiten vorauszusehen. Krankheiten, Todesfälle u. a. können das Kräfteverhältnis im Kongress ändern, insbesondere bei Beschüssen, welche eine Zweidrittelmehrheit erfordern. Die Parlamentspräsidentin betonte: «Wir können nicht den Kopf einziehen, wenn sie beschliessen, die Verfassung zu verletzen und einen Wahlprozess abzuerkennen, obwohl der nach ihren Regeln erfolgt ist. Der FMLN akzeptiert keine technischen Staatsstreiche, die mit suplentes beginnen und dann in viel schwierigeren Situationen enden können. [Die Magistraten...] spielen damit, Wahlen mit einem Federstrich verschwinden zu lassen.» Mit neun Entscheiden hatte die Kammer dramatisch in die Parlamentswahlen 2015 eingegriffen, ohne dabei aber die Frage der suplentes auch nur zu erwähnen.


Weisser Putsch oder Gerechtigkeit

Die durch das Urteilspaket vom 13. Juli ausgelöste Unruhe kommt in einem Moment, in dem es der Regierung und dem FMLN gelungen ist, im Kampf gegen die brutale Gewalt im Land klare Fortschritte zu erzielen. Das Klima beginnt sich zu ändern, die Leute schöpfen Hoffnung. Die Kammer tut das ihre, um diese Dynamik abzuwürgen (ein Teil des $900-Millionenkredits war für diesen Kampf bestimmt).

Gerechtigkeit bedeutet heute für Opfer im Krieg tendenziell weniger, dass Täter den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen müssen. Ein anderes von Beginn weg präsentes Moment hingegen hat nichts an Dringlichkeit verloren: Die Unabdingbarkeit für die Opfer, die Wahrheit über die «Nacht- und Nebel»-Aktionen des Regimes zu kennen. Zu wissen, wie die Angehörigen gestorben sind, wer sie ermordet hat, wo ihre Leichen sind. Und dass die Täter sich nicht mehr hinter Lügen verstecken können.

Lorena Peña stellte in einem Fernsehinterview klar, wem die Kammer die Türen für Gerechtigkeit nicht öffnet: «Die Strafjustiz verlangt von allen Klagenden, dass sie Namen, Zeugen, Orte usw. benennen, um ihre Anklage zu dokumentieren. Dies wird für die überwältigende Mehrheit der KlägerInnen unmöglich sein. Was ich mir dagegen vorstellen kann, ist, dass irgendein ARENAThinktank auch mit falschen Zeugen irgendwelchen Kadern des FMLN oder gleich dem Präsidenten ein Verfahren anhängen will. Und wenn die Kammer gewählte Funktionäre absetzen kann, wird sie am Schluss Abgeordnete oder den Präsidenten absetzen wollen [...]. Ich äussere mich nicht zur Aufhebung des Amnestiegesetzes, weil dieses nur noch eine Hülle ohne Inhalt gewesen ist. [...] Die Kammer äussert sich zum Amnestiegesetz, um den Bericht der Wahrheitskommission zu annullieren.»(15)

Zur Begleitung der Opfer hat Präsident Salvador Sánchez Cerén am 23. Juli eine Initiative für ein Versöhnungsgesetz lanciert, die, so sein Sprecher Eugenio Chicas, «prioritär von [...] der Wiedergutmachung für die Opfer handelt»(16). Seinerseits betonte Der FMLN-Chef Medardo González: «Wir waren immer an der Seite der Opfer. Wir haben die Verfassungswidrigkeit [des Gesetzes] vertreten, weil wir Gerechtigkeit wollten.» «Aussöhnung und Frieden» setzten einen Prozess der Wiedergutmachung für die Opfer voraus, dieser beruhe seinerseits auf der Wahrheitsfindung. «Der FMLN will eine Gerechtigkeit der Wiedergutmachung, nicht der Strafverfolgung.»(17)


Die Spur der Kammer

Die systematische Aggressivität gegen den FMLN seitens der hegemonialen Medien, der Unternehmerverbände, der ARENA-Partei und der Kammer zeigt: Sie sind nicht willens, den Frente seine Regierung in Ruhe 2019 beenden zu lassen, mit der Möglichkeit, die Wahlen erneut zu gewinnen. Begriffe wie «Diktatur der Richter» sind heute vielen geläufig. Sie verweisen auf die Funktion der Kammer im Szenario des weissen Putschs. Seit Beginn der ersten FMLN-Regierung 2009 hat sie sich per «Verfassungsinterpretation» Vollmachten des Parlaments und der Exekutive angeeignet. Sie hat ihren eigenen Präsidenten abgesetzt; ebenso die Präsidenten und andere Mitglieder des Nationalen Rats der Judikative, des Rechnungshofs, des Wahlgerichts; sie hat wichtige Artikel der Verfassung annulliert, die ihrer speziellen Vision einer von ihr «behüteten Demokratie» im Wege standen; sie hat sich in offenem Bruch der Verfassung zur konstituierenden (verfassungsgebenden) Entität, im Gegensatz zur konstituierten Institution, ernannt (nicht Verfassungskammer, sondern autoporkolamiertes Verfassungsgericht); sie hat eine parlamentarische Untersuchungskommission, die ermitteln wollte, wie die Hälfte der vier massgeblichen Kammermagistraten 2009 offen illegal zu ihrem Amt gekommen sind, als verfassungswidrig verboten; sie annulliert zunehmend häufiger Beschlüsse von Parlament und Exekutive; sie hat das im Friedensabkommen als eines seiner zentralen Komponenten vereinbarte Wahlsystem (das die Wahlsiege des FMLN nicht verhindert hat...) total verändert und das Oberste Wahlgericht, laut Verfassung höchste Autorität in Wahlbelangen, in beträchtlichem Ausmass zu einer die Kammerbeschlüsse ausführenden Behörde degradiert (jetzt gerade mit der Aberkennung der vom Wahlgericht zertifizierten suplentes), und manches mehr.

Kammermitglied Florentín Meléndez benutzte zur Begründung der Annullierung der suplentes eine gehörige Dosis Populismus, als er neben anderem meinte «Das Volk wählt die Abgeordneten, damit sie in den Sessionen und Kommissionen arbeiten».(18) Meléndez bediente sich damit aus einem begrifflichen Fundus («Parasiten im Parlament» etc.), wie sie die grossen Medien und viele oft gefakte Accounts in den Social Media unablässig servieren. Dazu Lorena Peña im erwähnten TV-Gespräch: «Wenn sie heute die stellvertretenden Abgeordneten nach einer Kampagne, sie seien Nichtnutze, absetzen... Denn das machen sie nicht einfach so, sie bereiten das Terrain für einen Schlag vor. Im Bericht der Wahrheitskommission steht, wie der Kommunikationsminister Sandoval [1989] eine grosse Kampagne startete, dass die Jesuiten Kommunisten wären, Zersetzer - dann brachten sie sie um. Bei den suplentes haben sie eine grosse Kampagne gemacht, damit die Leute sagen: Mal weg mit denen!»


Die Putschmeister

Aber woher hat die Kammer so viel Macht? Als das Parlament 2011/12 versuchte, an den Zentralamerikanischen Gerichtshof zu gelangen, um sich gegen die Beschneidung seiner Kompetenzen zu wehren, kam es zu einem heftigem internationalen Einsatz für «die Respektierung der Unabhängigkeit der Justiz». Beteiligt waren u. a. US-Kongressmitglieder, grosse US-Medien, die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte und eine Reihe NGOs. Der FMLN und die Parlamentsmehrheit gaben nach, um den Gewaltenkonflikt im Staat nicht noch weiter zu verschärfen. Im gleichen Jahr 2012 setzte in Honduras Juan Orlando Hernández, damals als Parlamentspräsident und heute als Staatschef der starke Mann im Land, die Magistraten der Verfassungskammer ab, weil sie ein einziges Mal gegen seine Pläne votiert hatten. Die Antwort der gleichen «internationalen Gemeinschaft» bestand in Schweigen.


Widerstand

Nun gibt es noch ein wichtiges Moment zu erwähnen. Am Forum von São Paulo (Treffen linker und leicht progressiver lateinamerikanischer Parteien) letzten Juni war eine der wichtigsten Botschaften: Es reicht nicht, technisch gut zu regieren; regierende Linksparteien müssen in den gesellschaftlichen Kämpfen präsent sind. Dies hatte der FMLN schon an seinem Kongress von letztem Oktober begriffen; seither gibt es eine Zunahme der Strassenmobilisierungen etwa für einen höheren Mindestlohn. Nun, tatsächlich haben wir in El Salvador eine Partei mit grosser Erfahrung, fest in wichtigen Sektoren der Bevölkerung verankert, die sich nicht einfach abfertigen lässt. Die Putschkräfte wissen das und versuchen, dem Rechnung zu tragen. Die Frage ist, ob sie das können.


Kasten:

Das Massaker der FPL

1990 kam es in der «parazentralen» Front der FPL/ FMLN im Department San Vicente zu einer Säuberung von angeblichen Spitzeln. Sie weitete sich zu einer Massentötung von Guerillas aus, bis die vom heutigen Staatspräsidenten geleitete FPL-Kommandantur die Angelegenheit untersuchte, die Frontleitung absetzte und den Hauptverantwortlichen hinrichtete. Unabhängig davon, ob dieser Mann paranoid gewesen oder während einer früheren Gefangenschaft «umgedreht» worden war, bleibt die Frage, wie es zu dieser militaristischen Pervertierung kommen konnte.

Was ist der Unterschied zwischen diesem Massaker und den Kriegsgräueln der Gegenseite? Weder in diesem Fall noch bei anderen Vorkommnissen weit geringerer Dimension erfolgten die Verbrechen in Befolgung einer Generallinie, im Gegensatz zum systematischen, West-gesponsorten Staatsterrorismus der Gegenseite. Genau das will die Kammer «einebnen».

Von diesem Unterschied wussten die Angehörigen der Ermordeten des Frente Paracentral, als sie weigerten, der Wahrheitskommission gegenüber dazu auszusagen. Trotz enormem Schmerz, trotz tiefer Verbitterung wollten sie sich nicht gegen die Guerilla einspannen lassen. Es gibt keinen Vergleich zwischen der revolutionären Grösse dieser leidtragenden Menschen und der Schäbigkeit der Kammermagistraten.


Anmerkungen:

(1) http://www.pddh.gob.sv/memo/verdad

(2) 14.7.16: El Salvador rechaza ley de amnistía...

(3) http://uca.edu.sv/noticias/texto-4324

(4) ZAS-Blog, Oktober 2015: Gestohlene Archive.

(5) Diario Co-Latino, 19.7.16: *S una oportunidad...»

(6) http://fmln.org.sv, 16.7.16 : ante las recientes resoluciones

(7) http://www.presidencia.gob.sv, 15.7.16: Mensaje a la Nación...

(8) http://ow.ly/d/51gl

(9) BBC Mundo, 14.7.16: ¿Qué cambia en El Salvador con la declaración de inconstitucionalidad de la polémica Ley de Amnistía?

(10) WSJ, 31.7.16: a Salvadoran Lesson for Colombia

(11) La Página, 26.7.16: Funes: La oligarquía está dispuesta a sacrificar Cristiani.

(12) Co-Latino, 20.7.16: Procurador Morales insta a la creación de una ley de reconciliación

(13) Co-Latino, 19.7.16: Chicas: No hemos cambiado el discurso ...

(14) Correos 183, Dez. 2015: Die Rolle der Verfassungskammer.

(15) https://www.youtube.com/watch?v=bzUiQaqbcQ&sns=tw

(16) presidencia.gob.sv, 26.7.16: Ley de reconciliación tendrá como prioridad...

(17) Co-Latino, 20.7.16: FMLN considera que «de la democracia podemos pasarnos a la dictadura de los jueces»

(18) La Página, 22.7.16: Vayan a trabajar a la Asamblea todos los días...

*

Quelle:
Correos de las Américas, Nr. 185, 1. September 2016, S. 18-21
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. November 2016

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