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CORREOS/164: Massaker von Río Negro (1980/82) - Kampf um Gerechtigkeit


Correos des las Américas - Nr. 172, 14. Dezember 2012

GUATEMALA
«Wer sich jetzt zurückzieht, ist Komplize der Regierung»

von Barbara Müller



Der Kampf um Gerechtigkeit der Überlebenden und Hinterbliebenen der Opfer der Massakers von Río Negro (1980/82) hängt eng zusammen mit dem Bau des damals grössten Staudamms in Zentralamerika. Gebaut mit finanzieller Unterstützung der Weltbank, der Interamerikanischen Entwicklungsbank und europäischer Banken - auch aus der Schweiz. Die in Rabinal ansässige Menschenrechtsorganisation ADIVIMA (Vereinigung für die integralen Rechte der Opfer der Gewalt in den Verapaces, Maya Achi) vertritt die Opfer. Der Direktor von ADIVIMA, Juan de Dios García, weilte Ende September 2012 kurz in der Schweiz. Ein Gespräch über den aktuellen Stand der Prozesse in den Fällen Río Negro und Chixoy - und über die politischen Konsequenzen des Rückzugs von HEKS und des Schweizer Botschaft aus Guatemala.


Im Jahr 1975 begann die guatemaltekische Regierung mit einer Machbarkeitsstudie für das damals grösste Wasserkraftwerk in Zentralamerika: Chixoy. Damit begann auch die Repression gegen 33 Gemeinden im Gebiet des zukünftigen Stausees. Die Leute wurden eingeschüchtert: «Wer nicht geht, wird überflutet, besser, ihr akzeptiert die Angebote der Regierung, denn sonst werde ihr alles verlieren.» Vor allem die Gemeinde Río Negro war sehr aktiv im Widerstand gegen das Projekt und organisierte sich. Der Bau der Staumauer begann 1978 und dauerte zwei Jahre. Als sie fertig war, realisierten die guatemaltekische Regierung und das Elektrizitätswerk INDE, dass sie gewisse Versprechen gegenüber der Gemeinden nicht würden einlösen können. Am 3. März 1980 fand das erste Massaker in Río Negro statt. Umgebracht wurden die sieben Anführer des Protestes gegen das Wasserkraftwerk, welche die Verträge unterzeichnet hatten, in denen die Entschädigungsmassnahmen der Regierung festgehalten waren.

1980/81 wurde das Gelände geflutet und der See erreichte seinen heutigen Wasserspiegel. Dies und die Angst davor, dass ihnen dasselbe Schicksal wie den Leuten von Río Negro bevorstünde, veranlasste die meisten Gemeinden zur Umsiedelung. Anders Río Negro: Obwohl ihre Compañeros umgebracht worden waren, kämpften die BewohnerInnen der Gemeinde weiter und weigerten sich zu gehen. Obwohl ihre Felder, ihre Häuser und ihre Tiere im See versanken, bauten sie ihre Siedlung am gestiegenen Seeufer erneut auf. Die Regierung wusste die damalige repressive Konjunktur zu nutzen und beschuldigte die Río-NegrinerInnen, der Guerilla anzugehören. Am 19. Februar 1982 fand ein zweites Massaker statt. Mehr als 90 Männer wurden umgebracht, zurück blieben die Witwen und Waisen. Doch die Regierung wollte auch sie weghaben, und einen Monat später, am 13. März 1982, liess sie 70 Frauen und 107 Kinder umbringen. Nur wenige Personen konnten sich retten, indem sie in die Berge flüchteten. Am 24. Mai und am 14./15. September desselben Jahres wurden weitere Massaker ausgeführt. Allein in der Gemeinde Río Negro wurden mehr als 440 Personen umgebracht. Damit war der Weg frei für das das Wasserkraftwerks Chixoy. Die Regierung errichtete zwei Modelldörfer, in die nicht in erster Linie die Vertriebenen des Stausees, sondern zurückgekehrte Flüchtlinge und sog. reuige Guerilleros gesteckt wurden. Aber es kamen auch die Leute von Rio Negro dahin. Eines davon ist Pacux, an dessen Dorfeingang eine Militärkaserne erbaut wurde, um die Bewegungen der BewohnerInnen der Modelldörfer kontrollieren.

Frage: Woher kam das Geld für den Bau das Wasserkraftprojekts, wer wollte in Kriegszeiten in Guatemala investieren?

Juan de Dios García: Das Geld kam in erster Linie von der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank. Beteiligt waren aber auch venezolanische und Schweizer Banken, und verschiedene ausländische Unternehmen profitierten von Aufträgen. Diese Firmen wirkten nicht nur beim Bau mit, sondern stellten auch die Fahrzeuge zur Verfügung, mit denen das Militär zu den Massakern fuhr. In Bezug auf die Schweiz muss jedoch gesagt werden, dass die Schweizer Regierung später eine wichtige Rolle spielte bei der Suche nach Gerechtigkeit und Reparation.

Frage: Die Fälle Rio Negro und Chixoy hängen eng zusammen und trotzdem führt ADIVIMA sie als zwei getrennte Prozesse. Weshalb?

Juan de Dios García: Wir unterscheiden zwischen einer Strafjustiz für die Menschenrechtsverletzungen im Fall der Massaker von Río Negro und einer Justiz, die über Art und Höhe der Entschädigungen für die vertriebenen 33 Gemeinden im Umfeld des Stausees zu entscheiden hat. Wir trennen die beiden Fälle, denn über den Preis des Lebens kann man nicht verhandeln, wie man über Tomaten oder Zwiebeln verhandelt. Wer jemanden umbringt oder dessen Leben zerstört, soll bestraft werden. Über die materielle Schäden sind wir bereit zu verhandeln, da fordern wir keine Gefängnisstrafe, sondern Entschädigung.


Der Fall Rio Negro

Ihr habt 1994, noch vor der Unterzeichnung der Friedensabkommen, mit dem Strafverfolgungsprozess im Fall Rio Negro begonnen. Eine politisch nicht opportune Zeit für ein solches Unterfangen.

Es war damals eine Kriegsstrategie, das soziale Gefüge zu zerstören. Für die betroffenen Gemeinden hiess das, allein dazustehen und ungeschützt zu sein. Doch wir wollten dem guatemaltekischen Staat die Chance geben, die Verantwortlichen dieser Menschenrechtsverletzungen zu verurteilen und zu bestrafen. Das Risiko für uns war gross, aber wenn jemand seine Familienangehörigen auf diese Weise verloren hat, dann ist er oder sie zu allem bereit, um Gerechtigkeit zu erfahren.

Im Jahr 1999 erreichten wir die Verurteilung von drei verantwortlichen Zivilpatrouillisten (PAC)* des Massakers vom März 1982. Sie wurden zum Tode verurteilt, aber wir haben gegen das Urteil appelliert, denn nach allem, was wir durchlebt haben, ist die Todesstrafe keine Option, wir wollen nicht noch mehr Tote. Die Strafe wurde in Gefängnis umgewandelt, zwei von ihnen sitzen immer noch, der dritte ist gestorben.

Es war offentlichtlich, dass die hohen Militärs geschützt werden und die Verurteilten in der Mehrheit einfache Soldaten oder PACs sind. In einer nächsten Etappe wurden sechs Haftbefehle gegen PACs und einer gegen einen Oberst ausgestellt. Und wieder: Die sechs Patrouillisten sind verurteilt, der Haftbefehl gegen den Oberst wurde nie umgesetzt, im Gegenteil: er wird von der Regierung gedeckt, erhält seine Pension und lebt unbehelligt vor sich hin.

Deshalb entschied sich ADIVIMA, den Fall Río Negro vor das Interamerikanische Menschenrechtssystem zu bringen. Wir klagen den guatemaltekischen Staat an, uns den Zugang zu Justiz und Gerechtigkeit zu verwehren. Von 2005 bis Oktober 2010 dauerten die Formalitäten, bis der Interamerikanische Gerichtshof den Fall annahm. Erst im Juni 2012 wurden wir zu den ersten Verhandlungen vorgeladen, wir erwarten das Urteil für den kommenden November. Dieses Urteil kann nicht angefochten werden. Die Frage wird sein, ob sich die guatemaltekische Regierung dem Urteil beugt und die Empfehlungen umsetzt, die das Gericht auferlegt. Bei der heutigen Regierung, die selber in schlimme Menschenrechtsverletzungen involviert war, ist zu befürchten, dass sie sich nicht daran hält.

Frage: Und der Fall Chixoy?

Juan de Dios García: Im Jahr 2004 beschlossen wir zusammen mit den 33 vom Stausee betroffenen Gemeinden, die Regierung zu Verhandlungen über Entschädigungen und Wiedergutmachung aufzurufen. Mit einer riesigen Demonstration im September 2004 zogen wir die Aufmerksamkeit auf uns. Dies führte sofort wieder zu Repression und Verfolgung. Gegen neun von uns wurde ein Haftbefehl ausgestellt, zwei wurden verhaftet, wir andern stellten uns freiwillig. Wir erhielten die Auflage, uns regelmässig bei den Behörden zu melden. Die meisten der Compañeros sind Bauern und konnten es sich nicht leisten, über längere Zeit Arbeitstage zu verlieren, weil sie in die Bezirkshauptstadt fahren mussten. Es waren schwierige Momente, die Medien lancierten eine Schmutzkampagne gegen mich, bezeichneten mich auf ihren Titelseiten und mit Foto als Drogenhändler, Drogensüchtiger und Vergewaltiger. Der Staatsanwaltschaft dienten solche Berichte als «Beweis», um uns zu verfolgen. Unter anderem wurden wir wegen Gefährdung der inneren Sicherheit, in Anführungszeichen «Terrorismus», angeklagt.

Sogar Amnesty International qualifizierte uns im Jahr 2005 als politische Gefangene. Und all dies nur, weil wir das Recht einforderten, auf unser Land zurückzukehren. Weil wir Behausungen forderten, die diesen Namen verdienen und Anschluss ans Stromnetz - von den 33 betroffenen Gemeinden sind nach 30 Jahren 27 immer noch ohne Strom.

2003 präsentierten wir den Fall vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, doch diese wollte zuerst abwarten, wie sich der Staat in den Verhandlungen mit uns verhält. Denn zuerst müssen alle nationalen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, bevor die internationalen Gremien aktiv werden können.

Im Jahr 2006 wurde der von uns geforderte runde Tisch mit der Regierung offizialisiert, damals noch unter der Regierung von Oscar Berger. Wir starteten die Verhandlungen mit dem damaligen Vizepräsidenten Eduardo Stein, und mit der Machtübernahme von Alvaro Colom übernahm dessen Vizepräsident Rafael Espada das Geschäft. Es wurde ein detaillierter Bericht erstellt über die Schäden, welche die 33 Gemeinden durch den Bau des Wasserkraftwerks erlitten. Im Jahr 2009 akzeptierte, unterzeichnete und ratifizierte Präsident Colom diesen Bericht und die darin aufgeführten Menschenrechtsverletzungen und verpflichtete sich zur Wiedergutmachung.

Auch wenn nicht alle unsere Forderungen aufgenommen wurden, möchte ich betonen, dass dieser runde Tisch sehr wichtig war, denn er stellte einen Präzedenzfall dar. Moderiert wurde er von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), und wir luden auch die Weltbank, die Interamerikanische Entwicklungsbank, den Sonderbeauftragten für Menschenrechte der UNO und verschiedene Botschaften, darunter jene der Schweiz, ein, als Beobachter dabei zu sein.

Frage: Nahmen sie teil?

Juan de Dios García: Sie nahmen teil. Und sie alle unterzeichneten den oben erwähnten Bericht. im April 2010 wurde ein Wiedergutmachungsplan vorgelegt, der fünf Massnahmen enthält: Würdigung, Rehabilitierung, Wiederherstellung, ökonomische Entschädigung und Nichtwiederholung.

Frage: Wurden konkrete Zahlen genannt?

Juan de Dios García: Man sprach von 74 Caballerías Land, die zurückgegeben werden sollten, von den archäologischen Stätten und den heiligen Orten, die überschwemmt wurden, davon, die wie Quellen und Wasserläufe geschützt werden sollten, von neuen Häusern, von Bewegungsfreiheit, denn bis zum heutigen Tag können wir nicht ohne Erlaubnis des Eletrizitätswerks INDE unsere ehemalige Gemeinde Río Negro besuchen, wo nach wie vor zwölf Familien leben und wo all unsere Toten begraben sind. Man sprach von einer Brücke, die über den Stausee führen sollte, denn auf der gegenüberliegenden Seite liegen 14 Gemeinden. Und man sprach von einer Wiedergutmachungssumme von 1.400 Mio. Quetzales (ca. 700 Mio. US-$) für die 33 Gemeinden.

Aber um all das umzusetzen, braucht es politischen Willen, es braucht ein entsprechendes Gesetz oder einen Regierungsdekret. Und daran mangelt es: Obwohl der Kongress fürs Jahr 2011 eine erste Tranche von 70 Mio. Quetzales ins Budget aufgenommen hatte, konnten sie mangels Dekret nicht ausbezahlt werden. Das Geld hätte uns über COPREDEH ausbezahlt werden müssen, gemäss Finanzministerium bekamen diese den Betrag auch, keine Ahnung, was damit geschah, zu uns kam es jedenfalls nicht.

Das ist der aktuelle Stand, es kamen und gingen die Regierungen ins Land. Um uns nicht zu sehr zu verausgaben, verlangen wir jetzt von der OAS, ihre Rolle als Mediatorin des Prozesses ernst zu nehmen und der Regierung nahezulegen, ihre Versprechen einzuhalten. Wir haben auch die Botschaften, die den Prozess begleitet haben, aufgefordert, zu intervenieren. Deshalb sagte ich vorher, dass die Schweizer Botschaft, unabhängig davon, was die Schweiz früher für eine Rolle in dieser Sache gespielt hat, ein wichtiger Partner ist.

Frage: Und was hat die Schweizer Botschaft gemacht?

Juan de Dios García: Sie sagten, dass sie interveniert hätten. In welcher Form, weiss ich nicht. Aber unabhängig davon, die Schweizer Botschaft, zusammen mit der norwegischen, war für uns wichtig bei der Suche nach Gerechtigkeit. Nun wird der norwegische Botschafter ausgewechselt, und wir wissen nicht, wie es weitergeht. Und die Schweizer Botschaft wird ganz geschlossen ... Für uns ist das ein harter Schlag. Es geht nicht so sehr um finanzielle Unterstützung, sondern um die politische. Der Rückzug der Schweiz macht uns traurig, und wir fühlen uns schutzlos. Wir akzeptieren den Entscheid der Schweizer Regierung, sie kann sich physisch zurückziehen, aber sie soll doch bitte die Programme weiter laufen lassen! Für die Gemeinden, die heute in Guatemala für Gerechtigkeit kämpfen, hinterlässt der Abzug der Entwicklungszusammenarbeit und der diplomatischen Vertretungen ein grosses Vakuum. Wer in unserem Land gegen dieses Monstrum aus wirtschaftlicher und politischer Macht kämpft, braucht die Unterstützung von aussen.

Frage: Auch das Hilfswerk der evangelischen Kirchen der Schweiz HEKS, ein wichtiger Schweizer Partner in der Entwicklungszusammenarbeit mit Guatemala, beendet seine Projekte auf 2014. Ist eure Arbeit davon auch betroffen?

Juan de Dios García: Es ist nicht nur das HEKS, sondern verschiedene europäische Entwicklungsorganisationen, die sich aus Guatemala zurückziehen, z. B. auch aus Holland und Schweden.

Selbstverständlich betrifft uns das! Das HEKS hat historisch eine sehr wichtige Rolle eingenommen, es hat an der Basis gearbeitet und denjenigen zu einer Stimme verholfen, die sonst keine haben. Mit dem Rückzug vom HEKS werden diese Leute wieder zum Schweigen gebracht. Es ist traurig, schwierig und bedauerlich, dass das HEKS geht. Ich sage das, obwohl ADIVIMA schon seit einem Jahr keine finanzielle Unterstützung mehr von Heks bekommt, aber es gibt -zig andere Basisorganisationen und Gemeinden, die Hilfe nötig haben. Wir können allen guten Willen der Welt aufbringen und uns noch so sehr anstrengen, um unsere Rechte einzufordern, aber machen wir uns nichts vor: für all dieses Engagement und diese Arbeit braucht es Geld.

Frage: Wenn du morgen die Gelegenheit hättest, mit Ueli Locher, dem Direktor vom HEKS, zu sprechen, was würdest du ihm sagen?

Juan de Dios García: Ich würde ihn bitten, die Sache nochmals zu überdenken und zu analysieren. Er begeht einen grossen Fehler. Mit einer repressiven Regierung, wie wir sie heute haben, die mit harter Hand gegen die sozialen Bewegungen vorgeht und AktivistInnen bedroht und verfolgt - illegalerweise - ist der Verlust dieser politischen und finanziellen Unterstützung für die Gemeinden ein Desaster. Die Mächtigen dieses Landes haben mit allen Mitteln dafür gesorgt, die Entwicklungszusammenarbeit und die Solidaritätsgruppen zu diffamieren, welche die sozialen Bewegungen unterstützen, und wer sich in einem solchen Moment zurückzieht, wird zum Komplizen jener mächtigen Gruppen. Mit Verlaub, aber so sehe ich das.

Frage: Werfen wir einen Blick in die Zukunft: Welche Entwicklungen sind in den beiden Fällen Río Negro und Chixoy zu erwarten?

Juan de Dios García: Im Falle des Massakers von Rio Negro warten wir auf das Urteil des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichts. Wir gehen davon aus, dass es vom guatemaltekischen Staat verlangen wird, die Verantwortlichen zu bestrafen und dass dann der Prozess im Land selber weitergeführt wird. Unsere Aufgabe ist es dann, einzufordern, dass das Urteil umgesetzt wird. Wer wird uns dabei helfen? Nebst Rio Negro und Chixoy führen wir noch drei weitere Klagen - was wird mit diesen Fällen geschehen, wenn wir keine Unterstützung haben? Was passiert jetzt, wo diese Fälle - zum Glück! - von den Departements- in die Hauptstadtgerichte übertragen wurden? Wir sind natürlich froh, dass sie einer höheren Instanz behandelt werden, aber für uns hat das zur Folge, dass wir mehr investieren müssen. Wie bringen wir all die Leute, die ZeugInnen, die AugenzeugInnen zu den Gerichten in der Hauptstadt? Wir können ihr Leben doch nicht aufs Spiel setzen, indem wir sie in einen öffentlichen Bus setzen! Wir sind im Besitz eines Mini-Buses für fünfzehn Personen, aber er ist zu klein für alle Leute, die wir jeweils in die Hauptstadt zu den Gerichten bringen müssen. Mir ist es egal, wenn ich zu Fuss nach Guatemala gehen muss, aber es geht um das Leben der ZeugInnen. Sie stellen heute ihr Leben aufs Spiel, damit die ganze Sache aufgeklärt und endlich Gerechtigkeit gesprochen wird. Und damit in Zukunft die Grundrechte der Menschen nicht mehr verletzt werden.

Das ist nur ein kleines Beispiel der Auswirkung des Rückzugs der Entwicklungszusammenarbeit. Höchstwahrscheinlich sind sich die Geldgeber, etwa der Direktor des HEKS, gar nicht bewusst, an was für Kleinigkeiten bei uns die jahrelangen Mühen scheitern können. Es sind kleine Dinge, kleine Schritte für uns, aber sie sind fundamental.

Frage: Wie geht es weiter im Fall Chixoy?

Juan de Dios García: Auch im Fall Chixoy machen wir weiter. Noch dieses Jahr soll es ein erstes Treffen mit der neuen Regierung geben, die sich bisher geweigert hat, sich mit uns zu treffen. Die OAS hat meines Wissens bereits interveniert und die Regierung auf den aktuellen Stand gebracht, denn diese behauptete, nirgendwo ein Abkommen zu finden. Wir wollen damit nichts mehr zu tun haben, es ist alles verhandelt, was es zu verhandeln gibt, jetzt geht es um die Einhaltung der ausgehandelten Abmachungen. Und wenn das Treffen nicht zustande kommt, werden wir im Januar 2013 den Fall vor das interamerikanischen Menschenrechtssystem tragen.

Frage: Habt ihr auch schon daran gedacht, eine Klage gegen die Weltbank, die Interamerikanische Entwicklungsbank oder die damals beteiligten Schweizer Banken einzureichen?

Juan de Dios García: Das muss genau überlegt sein, denn es ist noch eine Kiste grösser als das, was wir bereits machen. Die Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank haben ihren Sitz in Washington. Das ist noch ein bisschen weiter weg als Guatemala Stadt, und es braucht nicht nur einen Bus, sondern ein Flugzeug, um die ZeugInnen hinzubringen ... Ausserdem müssten wir nordamerikanische AnwältInnen finden, die bereit sind, den Fall führen.

Aber wir würden ihnen schon gerne eine Ohrfeige austeilen. Denn wir vermuten, dass die Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank Druck auf die guatemaltekische Regierung ausgeübt haben, damit diese das erwähnte notwendige Gesetz für die Umsetzung des Entschädigungsplans nicht erlassen. Und zwar mit der Drohung, dass es keine weiteren Darlehen für Guatemala mehr gibt.

Frage: Und in der Zwischenzeit sterben die ZeugInnen ...

Juan de Dios García: Das ist ein grosses Risiko, denn viele von ihnen sind schon alt. Das Schlimme ist: sie konnten ihr Leben nie leben. Man hat ihnen diese Möglichkeit, dieses Recht zerstört. Und das Allerschlimmste ist, dass die Enkel dieser Menschen heute in den miserablen urbanen Siedlungen leben und Leim sniffen. Weshalb? Weil sie nichts zu essen und keine Lebensperspektive haben. Oft sperren die Eltern ihre Kinder zur Mittagessenszeit ein, damit sie nicht mitbekommen, dass die Nachbarkinder etwas zu essen - Tortilla mit Salz - bekommen. Früher hatten diese Leute Land, mit dem sie sich selber versorgen und zusätzlich etwas von der Ernte verkaufen konnten. Die Leute lebten von der Landwirtschaft, der Viehzucht, der Fischerei ... und heute leben auf engstem Raum zwei bis drei Familien in einem Haus in einer solchen Siedlung. Sie waren Bauern, heute müssen sie als Hilfsarbeiter auf dem Bau oder als temporäre Arbeitskräfte auf den Zucker- oder Kaffeeplantagen an der Küste arbeiten. Die Frauen mussten ihre Tracht ausziehen und westliche Kleidung tragen, damit sie als Haushaltshilfen bei den nicht-Indígenas arbeiten können.

Am runden Tisch mit der Regierung verkaufte das INDE dies als «Fortschritt»: Die Männer müssen nicht mehr harte Landarbeit machen und die Frauen haben endlich Lohnarbeit. Das ist unsere Realität. Noch Fragen?

Nein.


Nachtrag 1

Am 19. Oktober 2012 verurteilte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte den guatemaltekischen Staat für die fünf Massaker, die in den Jahren 1980 und 1982 in der Gemeinde Río Negro verübt wurden.

Der guatemaltekische Staat wird angehalten, «ohne weitere Verzögerungen seriös und effektiv die Taten zu untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen». Ebenso ordneten die RichterInnen an, dass ein genauer Plan vorgelegt werden müsse, um das Schicksal der Verschwundenen zu erkunden und die vermutlich Ermordeten zu lokalisieren, exhumieren und identifizieren. Im Rahmen eines öffentlichen Aktes soll der Staat seine Verantwortung anerkennen und Infrastrukturprojekte bauen, sowie die Grundbedürfnisse derjenigen Gemeindemitglieder befriedigen, die heute in der Colonia Pacux leben. Eine weitere Empfehlung betrifft die Umsetzung von Projekten zur Wiederbelebung und Bewahrung der Kultur der Maya Achí sowie eine Reihe von Massnahmen zur Entschädigung der Opfer und ihrer Angehörigen.


Nachtrag 2

An ihrer Sitzung vom 20. November hat sich die Aussenpolitische Kommission des Schweizer Nationalrats mit einer Motion zur Botschaftsschliessung in Guatemala befasst. Mit Stichentscheid des Kommissionspräsidenten wird der Bundesrat «eingeladen», die Botschaft in Guatemala nicht zu schliessen. Die Gründe, die dafür genannt wurden, sollten jedoch alle NGOs und Hilfswerke, die sich gegen die Schliessung ausgesprochen haben , aufhorchen lassen: Nebst der Menschenrechtssituation in Guatemala, der zahlreichen Schweizer Entwicklungsorganisationen, die vor Ort tätig sind, der Eröffnung einer guatemaltekischen Botschaft in Bern, wurden an erster Stelle die laufenden Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen mit Zentralamerika als Argument aufgeführt, weshalb der Bundesrat den Entscheid nochmals überdenken solle.

Die NGOs und Hilfswerke, die sich für den Erhalt der Schweizer Botschaft eingesetzt haben, sind somit in der Pflicht, jene guatemaltekischen Organisationen zu unterstützen, die sich gegen die Folgen eines Freihandelsabkommens wehren ... Chixoy lässt grüssen.

*

Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 172, 14. Dezember 2012, S. 28-31
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
Tel.: 0041-(0)44/271 57 30
E-Mail: zas11@sunrise.ch
 
Correos erscheint viermal jährlich.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Januar 2013