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CORREOS/142: Bolivien - Der Tipnis-Konflikt


Correos des las Américas - Nr. 168, 23. November 2011

BOLIVIEN
Tipnis-Konflikt: eine Einleitung

von Dieter Drüssel


(2.11.11) Alles schien klar, als am 15. August 2011 etwa 250 Indígenas im amazonischen Tiefland zum Protestmarsch nach La Paz aufbrachen, um gegen die projektierte Strassenverbindung zwischen dem östlichen Departement Beni und dem westlicher gelegenen Cochabamba zu protestieren. Eine Strasse quer durch ihr traditionelles Habitat, den Regenwald des Tipnis (Indigenes Territorium und Nationalpark Isidoro-Sécure). Nun hatte also auch in Bolivien die Regierungsmacht ihre TrägerInnen korrumpiert, doch die Menschen aus den Urgemeinschaften setzten den fortschrittsbesessenen Erschliessungsplänen des Indígena Evo Morales Widerstand entgegen. Der Mainstream berichtete verhältnismässig ausgiebig und entdeckte sein Herz für Indígenas.

Im ZAS waren wir unsicher. Wir erinnerten uns nicht daran, schon ein anderes Mal Wochen vor Marschbeginn über verschiedene Email-Listen auf das transzendentale Ereignis hingewiesen worden zu sein. Was für einen formidablen Unterstützungskreis mussten doch die zu Beginn nur etwa 250 Marschierenden haben, welche Überzeugungskraft musste von ihnen ausstrahlen, um schon im Vorfeld derart mobilisieren zu können? Das Fragezeichen im Hinterkopf - wer agiert da? - konnten wir nicht wegradieren. Und ja, dass die Cidob, die beansprucht, alle indigenen Gemeinschaften und Völker in der bolivianischen Amazonía zu vertreten, den Marsch prominent anführte, nährte die Zurückhaltung. Die Cidob hatte schon letztes Jahr Protestdemos gegen die Regierung Morales angeführt, die auf begeisterten Zuspruch der Oligarchie der Media Luna, des östlichen, reichen Teils Boliviens stiess. Eine Oligarchie, die 2008 Indígenas aus dem Hochland durch die Strassen jagen und 19 Menschen massakrieren liess. Stets unterscheidend zwischen «ihren» «guten», amazonischen und wenig zahlreichen Indígenas und dem «Pöbel», den auf Arbeitssuche zugewanderten Aymaras und Quechuas aus dem Hochland.

Wir hörten von grossen logistischen Schwierigkeiten der Marschierenden, von erkrankten Kindern und erschöpften AktivistInnen. Wir registrierten aber auch, dass die Marschleitung alle logistische Hilfe seitens der Regierung (Zelte etc.) zurückwies - da diese Regierung ihr Vertrauen verspielt habe. Wir hörten von den indigenen CocapflanzerInnen, die die Strasse befürworteten. Es kam zu Strassensperren der colonizadores, zugewanderter indigener BäuerInnen aus dem Hochland, um den Marsch zu stoppen. Wir lasen wütende Erklärungen von MarschprotagonistInnen gegen die «Drogenmafia der Cocaleros» und wunderten uns: Worin unterschied sich diese Beschimpfung von jener, die die US-Botschaft seit zehn Jahren im Land verbreitet? Wir lasen widerliche Sentenzen aus dem Regierungslager: etwa den Ausspruch eines bekannten indigenen Gewerkschaftsführers aus dem Altiplano, dass die mit der Strasse verbundene Erschliessung des Tipnis die dortigen Völker aus ihrer «Wildheit» herauslösen würde. Wir hörten von verschiedenen MinisterInnendelegationen, die den Dialog suchten und bei der Marschleitung abblitzten: Evo himself müsse her. Wir lasen von 16 Forderungen der Marschierenden, darunter die Einstellung der wichtigsten Gasförderung im Land und die Zulassung eines CO2-Ablasshandels unter alleiniger Kontrolle der Tipnis-Gemeinschaften für ihr riesiges Gebiet. Niemand schien uns erklären zu können, was es mit der von Präsident Evo Morales mehrmals erwähnten, aber nie genauer bestimmten Umfahrungsroute um das Naturschutzgebiet auf sich hatte. Wir kämpften uns durch ein Dickicht verschiedenster Informationen, bis wir klar hatten, dass die vorgängige Konsultation der von Erschliessungsprojekten betroffenen indigenen Gemeinschaften nicht einfach nur vom (angeblich fehlenden) guten Willen von Evo Morales abhing, sondern sehr komplexe Fragen mit sich brachte: Welche Comunidades im Tipnis oder in den beiden betroffenen Departementen sollten konsultiert werden, nur die comunidades originales, oder auch die Gemeinschaften der Zugewanderten aus dem Hochland, die ganze Bevölkerung der Region oder - wie wir die Position der Marschleitung erst mit der Zeit begriffen - nur jene Comunidades, die gegen die Strasse opponierten? Denn offenbar gab es auch unter den traditionell ansässigen Gemeinschaften etliche, nach Angaben aus Regierungskreisen sogar eine Mehrheit, die die Strasse wünschten: wegen besserer Erreichbarkeit der lokalen Märkte, wegen Zugang zu Spitälern im Notfall und anderem mehr.

Uns ekelte jene «links»-sektiererische Hetze gegen die Regierung Morales und das MAS an, wie sie vor allem Gruppen, die sich auf den Trotzkismus berufen, aber auch einige «enttäuschte» ehemalige MAS- und RegierungsaktivistInnen zum Besten gaben. Wenn etwa im gleichen «atemlosen Atemzug» die Solidarität mit dem Kampf der Urvölker des Tipnis für die Rechte der Mutter Erde mit den Mobilisierungen letztes Jahr im Department Potosi für den Bau einer Zementfabrik, eines Flughafens und einer Autobahn gefeiert werden, ist das unredlich. Natürlich: Der Konflikt liegt von Anfang in der Bewegung drin. Vor einigen Jahren forderten die indigen-bäuerischen Revolten im «Gaskrieg» die Nationalisierung und Industrialisierung der Gaswirtschaft. Wie aber soll eine indigen-bäuerische Industrialisierung aussehen? Doch Widersprüche in Bewegungen sind etwas anders als tendenziöse Hetze von Gruppen, denen Mutter Erde ansonsten am Arsch vorbei geht. Auch Portale wie Bolpress in Bolivien oder die linke Rebelión in Spanien machen die Sache nicht viel besser, wenn sie ab und an einen Artikel mit Sichtweisen der sozialen Kräfte im Regierungslager unter ihre unzähligen entgegengesetzten mischen - ob Hetze aus der Sekte oder akademizistisch-dekolonialistische, selbstredend post-strukturierte Höhenflüge mit New Yorker oder Pariser Academia-Flair. Die in der Erkenntnis landen, dass uralte Weisheit vom wiederkehrenden Zyklus unabdingbar macht, die Messer gegen den linear orientierten «Entwicklungsproduktivisten» Evo Morales zu wetzen.

Dann kam am 25. September der Schock, die Polizeirepression gegen die Marschierenden in Yucumo. Hier hatten colonizadores den Marsch seit einer Woche aufgehalten, die Polizei positionierte sich zwischen den beiden Lagern, um Tätlichkeiten zu vermeiden. Den zum Gespräch hinzu gestossenen indigenen Aussenminister David Choquehuanca hatten die MarschierInnen kurzerhand festgehalten, um mit ihm als Schutzschild erfolgreich die Polizeisperren zu durchbrechen. Keine in Bolivien unbekannte Taktik, kein «Terrorismus». Choquehuanca liessen sie danach wieder frei; später griff die Polizei mit Gummischrott und Tränengas die Leute, darunter Mütter mit ihren Kleinkindern, an, verfolgte sie über die Felder und transportierte die Gefangen zurück in ihre Herkunftsorte. Das Vorgehen war brutal. Die Marschleitung, zugewandte «Menschenrechtsorganisationen» und die Medien sprachen erst von mehreren Ermordeten und Verschwundenen, danach von einem umgebrachten Kleinkind. Alles Lüge. Das hindert Rafael Quispe von der Marschleitung nicht, auch heute von «Massaker» zu reden. International berichteten die Medien vom indigenen «Bruderkampf».

Evo bat die Angegriffenen um Verzeihung: «Erneut will ich die betroffenen Familien um Verzeihung bitten. Ich möchte, dass sie wissen: Es gab keinen Befehl dafür und nie haben wir gedacht, dass so etwas geschehen könne, wo wir doch selber oft Opfer der polizeilichen Repression waren. Nie könnte ich eine Repression wie die von Yucumo befehlen». Es kam zu einem Proteststreik des Gewerkschaftsbundes COB, zwei Regierungsmitglieder traten zurück, die Staatsanwaltschaft und Parlamentskommissionen führen Untersuchungen zur Befehlskette. Unnötig, meint Cidob-Chef Adolfo Chávez. Er hatte zwei Tage nach der Prügelorgie vor Ort den Einsatzbefehl im Schlamm gefunden und an einer Pressekonferenz vorgezeigt. Detail: Das «gefundene» Papier war sauber und glatt. Regierungskreise ventilieren die These, dass die wegen Korruption und Willkür an die Kandare genommene Polizei sich bei Evo «revanchieren» wollte. Wie auch immer, Morales verfügte einen sofortigen Baustopp der Strasse und kündigte ein Referendum in den beiden Departementen Beni und Cochabamba an.

Der Marsch ging weiter, am 19. Oktober, zwei Monate nach Beginn, kam er mit ca. 1000 Leuten in La Paz an, von einer grossen Solidaritätsmenge empfangen. Es kam endlich zum Dialog zwischen der Marschführung und Evo Morales. Ergebnis: Grundsätzlicher Beschluss, keine Strasse durch den Naturpark; keine weitere «Fremdbesiedlung» von colonizadores im Tipnis, das zudem, wie Evo Morales den Protestierenden vor der Casa Presidencial direkt mitteilte, auf Verlangen ihrer VertreterInnen den Begriff der «Intangibilität» erhält. Das meint: Das Tipnis steht nicht für Erschliessungsprojekte zur Disposition. Einen entsprechenden Gesetzesvorschlag nahm das Parlament umgehend an. Seither sollten eigentlich die weiteren Forderungen und die Ausführungsbestimmungen zum neuen Tipnisgesetz behandelt werden. Doch die Marschleitung will auf den von ihr zuvor energisch portierten Begriff der Intangibilität zurückkommen. Hintergrund: Darunter fallen auch eine Reihe von legalen und illegalen Businessaktivitäten, die einige der MarschführerInnen mit in- und ausländischen Unternehmen in Bereichen wie Abholzung im grossen Stil oder Luxustourismus samt Privatlandepisten im «unberührten Regenwald» unterhalten. (Ein weiteres Problem: die Operationen des Drogenhandels im Tipnis. Noch während des Marsches starben hier bei einem Feuergefecht ein Angehöriger der Drogenpolizei und ein kolumbianischer Narko.) Es ist dieser Tage keine Seltenheit, WortführerInnen des Marsches, die bisher durch ihre enge Verbundenheit mit der Mutter Erde brillierten, zu hören, wie sie «Intangibilität» ausschliesslich auf Fremdeinwirkung, nicht aber auf eigenes Handeln beziehen, das, da «indigen», von der Verfassung geschützt sei.

Der Tipnis-Konflikt ist symptomatisch für eine neue Strategie der Destabilisierung in den Ländern des Aufbruchs in Lateinamerika - sie gibt vor, von innen, aus den Bewegungen selbst, zu kommen. Nur, wo Rauch ist, ist auch Feuer. Regierungsstellen machen neue Erkenntnisse über eine mafiöse «Bewirtschaftung» des Tipnis öffentlich, die in direkter Komplizenschaft mit einem Teil der Marschleitung erfolgt. Aber warum mussten sie dann ein Projekt vorantreiben, das der schon angelaufenen «indigen-kapitalistischen» Waldzerstörung massiv geholfen hätte? Wie sind die Verhältnisse im Land, dass es der Regierung von Evo nicht gelungen ist, mit der marschierenden Basis direkt zu kommunizieren?

Ein Letztes noch: Wir dokumentieren auf den folgenden Seiten auch kontroverse Einschätzungen und Hintergrundinfos zum Tipnis-Konflikt. Es zeigt sich dabei, dass tatsächlich imperialistische Agenturen ihre Hand im Marsch-Spiel haben. Daraus zu schlussfolgern, das Ganze sei einem Manöver der CIA zu verdanken, stattet diese aber mit einem Machtvolumen - der Generierung realer sozialer Konflikte - aus, das sie natürlich nicht hat. Sie kann sich auf Widersprüche draufsetzen, nicht aber, sie erzeugen. Zweifellos haben die meisten MarschiererInnen die Strapazen aus absolut legitimen Gründen auf sich genommen. Umgekehrt ist die Haltung, wie sie Raúl Zibechi oder Paolo Stefanoni in diesem Heft ausdrücken - die destabilisierende Intervention von internationalen Apparaten sei vernachlässigbar - ein fauler ideologischer Trick, der erlaubt, Richtiges zu dozieren, ohne Partei zu ergreifen.

Vieles ist unklar. Aber eines steht fest: Wer sich wegen Tipnis oder anderen ähnlichen Dynamiken vorschnell mit «linken» Argumenten gegen diese Regierung bzw. das von ihr vertretene gesellschaftliche Umbruchlager stellt, hat vielleicht eines nicht begriffen: dass heute überall, wo linke Regierungen agieren, sie das in einem vom Feind besetzten Land tun. Nirgends ist das Kapital zerschlagen, nirgends ist die Macht der Medien über die Köpfe vieler Menschen entscheidend gebrochen, nirgends sind die herrschaftlichen Beziehungen im Alltag einfach aufgelöst.


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 168, 23. November 2011, S. 18-19
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Dezember 2011