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CORREOS/113: Die Parlamentswahlen in Venezuela vom 26. September 2010


Correos des las Américas - Nr. 164, 9. Dezember 2010

Die Parlamentswahlen in Venezuela vom 26. September 2010
Dümmliche Wahlbetrugsvorwürfe in den Medien.

Von Hans Schäppi


Eingeladen vom Consejo Nacional Electoral (CNE), der demokratisch gewählten Wahlbehörde in Venezuela, hatte ich die Gelegenheit, zusammen mit VertreterInnen aus der Schweiz und anderen Ländern die Parlamentswahlen in Venezuela vom 26. September zu begleiten. Diese Wahlen haben ohne Zweifel eine grosse Bedeutung für ganz Lateinamerika - mit der seit 2008 gesteigerten Aggressivität der USA gegenüber linken Regierungen in Lateinamerika, der Aktivierung der 4. Flotte, der Errichtung neuer Militärbasen in Kolumbien, mit dem Putsch in Honduras 2009, dem Putschversuch in Ecuador gegen Präsident Rafael Correa und der massiven internationalen Medienkampagne gegen Präsident Hugo Chavez im Vorfeld der Wahlen. Umso erfreulicher ist es, dass diese Wahlen nach übereinstimmender Aussage aller WahlbegleiterInnen, die aus verschiedenen politischen Lagern stammten, fair und korrekt durchgeführt werden konnten.


Die Resultate der Wahlen

Der PSUV, der Partido Socialista Unido de Venezuela, die Partei von Hugo Chávez, gewann die Wahlen, indem er in der Nationalversammlung 98 der 165 Mandate erhielt. Die Koalition verschiedener oppositioneller Parteien, die Mesa de la Unidad Democrática (MUD), erhielt 65 Mandate, wobei 22 Sitze an die Acción Democratica (AD), die Sozialdemokratie, und 43 Sitze an neun weitere Parteien gingen, darunter die Copei, die Christdemokratie, und zwei mit US-Hilfe und ausländischen Geldern neu aufgebaute Parteien, die Primera Justicia und die Partei Un Nuevo Tiempo (UNT). Die Partei Patria Para Todos (PPT), die das linke Wahlbündnis verlassen hat, aber auch nicht in die Koalition der Opposition eingetreten ist, erhielt 2 Sitze. Der PSUV gewann die Wahlen in 56 von 87 Wahldistrikten und machte in 16 von 24 Bundesstaaten die Mehrheit und in 2 Bundesstaaten gleich viele Mandate wie das Oppositionsbündnis MUD.


Der Medienkrieg gegen Präsident Hugo Chávez

Da im Vorfeld dieser Wahlen auch in den Schweizer Medien Fehlinformationen verbreitet wurden, lohnt sich ein Blick auf das Wahlsystem in Venezuela. Die Einmischung der USA in Venezuela erfolgt heute auch mit der Finanzierung und Schulung der Opposition und einem eigentlichen Medienkrieg mit Hilfe z.B. von CNN, FOX News, New York Times, Washingtoner Post oder konservativer Zeitungen in Europa wie El Pais, Le Monde, FAZ, der Welt, dem Spiegel oder der NZZ, um nur die wichtigsten zu nennen.

So hat haben die NZZ-Journalisten Werner Marti und Peter Gaupp in ihrer Berichterstattung zu den Wahlen kaum eine Falschmeldung ausgelassen, welche von der Opposition in Venezuela mit Hilfe der USNachrichtenagenturen in die Welt gesetzt worden ist. Am 20. September berichtete Marti in der NZZ, Chávez habe ein Wahlgesetz verabschiedet, welches die Opposition und die kleinen Parteien benachteilige. Im Chávez-freundlichen Bundesstaat Amazonas gebe es ein Parlamentsmandat auf 50.000, im oppositionellen Bundesstaat Zulia hingegen eines auf 250.000 Stimmberechtigte. Oder in der NZZ vom 28. September erzählt er, die Wahlkreise seien so abgeändert worden, dass die Opposition deutlich untervertreten sei. Gaupp behauptet in der NZZ vom 24. September, in Venezuela gebe es Phantomwähler in grossen Mengen, was durch das elektonische Wahlverfahren begünstigt werde.


Das Wahlsystem für die Nationalversammlung - ein Vergleich mit der Schweiz

Die Grundsätze des Wahlsystems Venezuelas sind in der neuen Verfassung von 1999 und der Wahlrechtsreform von 2009 festgelegt. Über beide Vorlagen hat nicht Chávez, sondern das Volk abgestimmt. Als Legislative auf nationaler Ebene gibt es ein Einkammersystem, die Nationalversammlung, die in einem gemischten Wahlverfahren gewählt wird. 52 Sitze, ein Drittel der 165 Mandate, werden im Proporzverfahren gewählt, bei dem einer Partei der Wahlliste die Stimme gegeben wird (Listenmandate). 110 Sitze, zwei Drittel der Mandate, werden im Majorzverfahren gewählt, bei dem einer von den Parteien oder einer Parteikoalition vorgeschlagenen Person die Stimme gegeben wird (nominale Mandate). Für die Wahl der nominalen Mandate werden in jedem Bundesstaat Wahlkreise mit der möglichst gleichen Zahl von Stimmberechtigten gebildet, welche, wenn sich die Anzahl der Stimmberechtigten verändert, angepasst werden müssen. Dazu kommen 3 Sitze für die indigene Bevölkerung. Jeder Bundesstaat hat einen Mindestanspruch auf 3 Sitze, davon mindestens 2 Listenplätze und 1 nominales Mandat. Wer das Schweizer Wahlsystem kennt, bemerkt die Ähnlichkeiten mit demjenigen von Venezuela, da in der Schweiz ein kleiner Kanton wie Uri in der Bundesversammlung auch einen Mindestanspruch von 3 Mandaten hat, unabhängig von der Zahl der Wahlberechtigten. Es ist dies auch kein Zufall, da die Schweizer Demokratie in verschiedener Hinsicht ein Vorbild für die neue Verfassung in Venezuela war. Nur bei der NZZ scheint das nicht bekannt zu sein, weshalb sie im Falle der Schweiz nicht von Wahlmanipulationen der bürgerlichen Oligarchie spricht. Nebenbei sei noch erwähnt, dass im wahlprivilegierten, «Chávez-freundlichen» Amazonas nicht der PSUV die Wahlen gewonnen hat, sondern der PPT seine zwei Mandate gemacht hat.

Bei der Wahl der 52 Listenmandate lässt sich die Anzahl der Parteistimmen ermitteln. So stimmten 5.45 Mio., 48% der WählerInnen, für den PSUV, 5.33 Mio., 47%, für die im MUD zusammengeschlossenen oppositionellen Parteien, 350.000, 3%, für den PPT und etwa 170.000 für andere kleinere Parteien. Dem entspricht die ziemlich genau hälftige Verteilung der Listenmandate für den PSUV und das oppositionelle Wahlbündnis MUD. Anders sieht die Verteilung bei den nominalen Mandaten aus: Der PSUV erhielt 73 Sitze und die MUD 39, was zusammen mit den Listensitzen und den indigenen Mandaten die Verteilung von 96 Sitzen, ca. 60%, für den PSUV und 65 für die MUD, ca. 40%, ergibt.

Das Übergewicht des PSUV hat nichts mit der Wahlkreisgeometrie oder dem Mindestanspruch der Bundesstaaten zu tun, sondern damit, dass Majorzwahlen Personenwahlen sind, die - wie man auch aus der Schweiz weiss - nicht genau dem Parteienproporz folgen. Dies gilt auch für die Opposition. Im von der Opposition regierten Bundesstaat Zulia erhielt die MUD mit 55% der Listenstimmen 10, d.h. 83% der nominalen Sitze, der PSUV mit 44% 2 nominale Mandate. Oder im Bundesstaat Anzoátegui, in dem der PSUV bei den Regionalwahlen 2008 eine Mehrheit hatte, erhielt der PSUV noch 45% der Listenstimmen, während die MUD mit 52% alle nominalen Mandate eroberte. In einer Mehrzahl der Bundesstaaten gab es den umgekehrten Effekt, wo KandidatInnen des PSUV mehr überzeugten. Dies führte zur erwähnten Mandatsverteilung von 98 zu 65. Der PPT mit seinen etwa 3% hätte auch in der Schweiz nur wenige Mandate erhalten. Über Majorz und Proporz lässt sich streiten - in Venezuela mit seiner unüberblickbaren Zahl von an der Wahl beteiligten Parteien trägt die stärkere Gewichtung nominaler Mandate zur Bildung klarer Mehrheitsverhältnisse bei. Wenn man das Wahlsystem in Venezuela kritisiert, ist, was die Schweiz angeht, eine gewisse Vorsicht am Platz. Im Ständerat, der nach dem Majorz gewählt wird und der - im Gegensatz zu Venezuela - eine Sperrminorität bei Beschlüssen hat, besitzen CVP und FdP zusammen gemäss den eidgenössischen Wahlen von 2007 mit einem Parteistimmenanteil von 30% 27 der 46 Sitze, d.h. ca. 60% der Sitze und damit die absolute Mehrheit. Und auch in der Vereinigten Bundesversammlung haben CVP und FdP 15 Sitze mehr als ihrem 30%-WählerInnenanteil entsprechen würde, was in Venezuela für den PSUV mit 18 zusätzlichen Sitzen in etwa vergleichbarem Masse zutrifft. Viele sind mit der Übervertretung der Rechten in der Schweiz auch nicht gerade glücklich. Was aber nicht angeht, ist, dass ähnliche Verhältnisse im Falle von Venezuela und der Schweiz völlig anders beurteilt werden, wie in der NZZ.


Wer hat die Wahlen gewonnen?

Am treffendsten hat dies wohl Eva Golinger, eine amerikanisch-venezolanische Doppelbürgerin und Spezialistin für internationales Recht, auf den Punkt gebracht. Sie sieht zwei Wahlsiegerinnen: den PSUV und die Einmischung der USA (Golinger 2010). Vom Krieg der Medien und der Einmischung der USA zugunsten der Opposition war schon die Rede. Dennoch muss festgehalten werden, dass das Resultat auch eine grosse Mobilisierungsleistung des erst vor vier Jahren gegründeten PSUV darstellt. Erstens hat die Wirtschaftskrise Venezuela, das immer noch stark von Erdöl abhängig ist, massiv getroffen. So haben zum Beispiel die Löhne mit der Inflation nicht Schritt gehalten. Zweitens kam es insbesondere anfangs Jahr auf Grund einer ausserordentlichen Trockenheit im Zusammenhang mit dem Phänomen El Niño/La Niña zu grossen Stromausfällen, für welche die Opposition und die internationalen Medien Chávez verantwortlich machten. Zudem gab es Probleme bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln u.a. auf Grund von Sabotageakten. Der Wahlkampf der Opposition wurde zudem gezielt, und hier stellt die Rechte Venezuelas ja keine Ausnahme dar, mit den Ängsten vor der Kriminalität und Unsicherheit geführt. Es ist dies zweifellos ein Thema, das bei den Mittelklassen Gewicht hat und das der Opposition zusätzliche Stimmen gebracht hat. Dieses Thema, genau so wie die ständige Infiltration von Paramilitärs aus Kolumbien und deren Aktivitäten vorab in den Bundesstaaten Tachira, Sucre und Zulia, sind von Chávez und dem PSUV lange unterschätzt worden. Erst relativ spät wurde mit dem Aufbau einer nicht korrupten nationalen Polizei begonnen, welche ihre Tätigkeit in den Städten, vorab in Caracas aufgenommen hat (vgl. Correos 163).

Dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Resultate dieser Wahlen auch einen ernsthaften Fingerzeig, eine gelbe Karte für den PSUV und für Chávez sind. Die Opposition hat gemäss meiner Schätzung gegenüber den Regionalwahlen von 2008 etwa 200.000 WählerInnen dazugewonnen, der PSUV ca. 300.000 Stimmen eingebüsst. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Unterschiede bei Regionalwahlen oder Parlamentswahlen immer geringer waren als bei den Präsidentenwahlen. Der Rückgang der Stimmen beim PSUV entspricht gerade etwa dem Stimmenanteil des PPT, welcher im Alleingang zur Wahl antrat, ist aber auch auf eine Stimmenthaltung unzufriedener WählerInnen des PSUV zurückzuführen, worauf der höhere JA-Stimmenanteil bei der Abstimmung über die Wahlrechtsreform 2009 hindeutet.


Pisten für die Zukunft

Es ist so für die Zukunft der bolivarischen Revolution wichtig, dass die Bestrebungen, die Wirtschaft zu diversifizieren und die Abhängigkeit von den Erdölexporten in die USA zu lockern, gezielt weitergeführt und verstärkt werden. Auch muss die Korruption im Staatsapparat energisch bekämpft werden und die Führung des PSUV muss stärker von den FunktionärInnen im Staatsapparat getrennt werden. Vorab aber sind die partizipativen Strukturen, die Mitbestimmungsrechte der Gemeinderäte und der Fabrikräte zu stärken und auszubauen. Das wichtigste Mittel zum Ausbau der gesellschaftlichen Demokratie ist der Ausbau der ArbeiterInnenkontrolle in den Betrieben und die Selbstverwaltung der Gemeinderäte in den Gemeinden. Denn das Bündnis von Chávez mit den sozialen Bewegungen und den ArbeiterInnenbelegschaften in den Betrieben gegen die neoliberale Oligarchie und auch die entstandene «bolivarische» Bourgeoise bildet die Achse, auf der die bolivarische Bewegung aufbaut und mit der sie steht und fällt. Die drei von Chávez propagierten «R» sind ernst zu nehmen: revisión, rectificación und reimpulso - Selbstkritik, Korrektur und Erneuerung. Denn über die Absichten der Opposition in Venezuela und der USA darf man sich keine Illusionen machen. Sie werden weiterhin alles daran setzen, Venezuela zu destabilisieren, auch wenn sie nun im Parlament sitzen, das sie vorher boykottiert haben. Umso wichtiger ist für den PSUV die Konsolidierung der eigenen Kräfte. Und hier liegt die Hoffnung: Tausende begeisterter junger Frauen und Männer, die für ein gerechteres und die imperialistische Ausplünderung überwindendes, souveränes Venezuela kämpfen, welche die Solidarität der Linken in Europa verdienen.


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 164, 9. Dezember 2010, S. 7-8
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
Redaktion: Postfach, 8031 Zürich, Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Februar 2011